Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
by
Rainer Maria Rilke

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Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge

Rainer Maria Rilke



Ich sehe seit einer Weile ein, daß ich Menschen, die in der
Entwicklung ihres Wesens zart und suchend sind, streng davor warnen
muß, in den Aufzeichnungen Analogien für das zu finden, was sie
durchmachen; wer der Verlockung nachgibt und diesem Buch parallel geht,
muß notwendig abwärts kommen; erfreulich wird es wesentlich nur denen
werden, die es gewissermaßen gegen den Strom zu lesen unternehmen.

Diese Aufzeichnungen indem sie ein Maß an sehr angewachsene Leiden
legen, deuten an, bis zu welcher Höhe die Seligkeit steigen könnte,
die mit der Fülle dieser selben Kräfte zu leisten wäre.

R.M.R (Aus den Briefen vom Februar 1912) II. September, rue Toallier.




So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen,
es stürbe sich hier. Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen:
Hospitäler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und
umsank. Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den Rest.
Ich habe eine schwangere Frau gesehen. Sie schob sich schwer an
einer hohen, warmen Mauer entlang, nach der sie manchmal tastete, wie
um sich zu überzeugen, ob sie noch da sei. Ja, sie war noch da.
Dahinter? Ich suchte auf meinem Plan: Maison d'Accouchement. Gut.
Man wird sie entbinden--man kann das. Weiter, rue Saint-Jacques, ein
großes Gebäude mit einer Kuppel. Der Plan gab an Val-de-grâce,
Hôspital militaire. Das brauchte ich eigentlich nicht zu wissen, aber
es schadet nicht. Die Gasse begann von allen Seiten zu riechen. Es
roch, soviel sich unterscheiden ließ, nach Jodoform, nach dem Fett von
pommes frites, nach Angst. Alle Städte riechen im Sommer. Dann habe
ich ein eigentümlich starblindes Haus gesehen, es war im Plan nicht zu
finden, aber über der Tür stand noch ziemlich leserlich: Asyle de nuit.
Neben dem Eingang waren die Preise. Ich habe sie gelesen. Es war
nicht teuer.

Und sonst? ein Kind in einem stehenden Kinderwagen: es war dick,
grünlich und hatte einen deutlichen Ausschlag auf der Stirn. Er
heilte offenbar ab und tat nicht weh. Das Kind schlief, der Mund war
offen, atmete Jodoform, pommes frites, Angst. Das war nun mal so.
Die Hauptsache war, daß man lebte. Das war die Hauptsache.

Daß ich es nicht lassen kann, bei offenen Fenster zu schlafen.
Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen
über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe
herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die kleinen Splitter
kichern. Dann plötzlich dumpfer, eingeschlossener Lärm von der
anderen Seite, innen im Hause. Jemand steigt die Treppe. Kommt,
kommt unaufhörlich. Ist da, ist lange da, geht vorbei. Und wieder
die Straße. Ein Mädchen kreischt: Ah tais-toi, je ne veux plus. Die
Elektrische rennt ganz erregt heran, darüber fort, fort über alles.
Jemand ruft. Leute laufen, überholen sich. Ein Hund bellt. Was für
eine Erleichterung: ein Hund. Gegen Morgen kräht sogar ein Hahn, und
das ist Wohltun ohne Grenzen. Dann schlafe ich plötzlich ein.

Das sind die Geräusche. Aber es giebt hier etwas, was furchtbarer ist:
die Stille. Ich glaube, bei großen Bränden tritt manchmal so ein
Augenblick äußerster Spannung ein, die Wasserstrahlen fallen ab, die
Feuerwehrleute klettern nicht mehr, niemand rührt sich. Lautlos
schiebt sich ein schwarzes Gesimse voroben, und eine hohe Mauer,
hinter welcher das Feuer auffährt, neigt sich, lautlos. Alles steht
und wartet mit hochgeschobenen Schultern, die Gesichter über die Augen
zusammengezogen, auf den schrecklichen Schlag. So ist hier die Stille.


Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer
in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer
zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wußte. Alles
geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.

Ich habe heute einen Brief geschrieben, dabei ist es mir aufgefallen,
daß ich erst drei Wochen hier bin. Drei Wochen anderswo, auf dem Lande zum
Beispiel, das konnte sein wie ein Tag, hier sind es Jahre. Ich will auch
keinen Brief mehr schreiben. Wozu soll ich jemandem sagen, daß ich mich
verändere, bleibe ich ja doch nicht der, der ich war, und bin ich etwas
anderes als bisher, so ist klar, daß ich keine Bekannten habe. Und an
fremde Leute, an Leute, die mich nicht kennen, kann ich unmöglich schreiben.


Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen--ja, ich fange an. Es geht
noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen.

Daß es mir zum Beispiel niemals zum Bewußtsein gekommen ist, wieviel
Gesichter es giebt. Es giebt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr
Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die tragen ein
Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es
bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf
der Reise getragen hat. Das sind sparsame, einfache Leute; sie
wechseln es nicht, sie lassen es nicht einmal reinigen. Es sei gut
genug, behaupten sie, und wer kann ihnen das Gegenteil nachweisen?
Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun
sie mit den andern? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie tragen.
Aber es kommt auch vor, daß ihre Hunde damit ausgehen. Weshalb auch
nicht? Gesicht ist Gesicht.

Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter auf, eins nach
dem andern, und tragen sie ab. Es scheint ihnen zuerst, sie hätten
für immer, aber sie sind kaum vierzig; da ist schon das letzte. Das
hat natürlich seine Tragik. Sie sind nicht gewohnt, Gesichter zu
schonen, ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat Löcher, ist an
vielen Stellen dünn wie Papier, und da kommt dann nach und nach die
Unterlage heraus, das Nichtgesicht, und sie gehen damit herum.

Aber die Frau, die Frau: sie war ganz in sich hineingefallen, vornüber
in ihre Hände. Es war an der Ecke rue Notre-Dame-des-Champs. Ich
fing an, leise zu gehen, sowie ich sie gesehen hatte. Wenn arme Leute
nachdenken, soll man sie nicht stören. Vielleicht fällt es ihnen doch
ein.

Die Straße war zu leer, ihre Leere langweilte sich und zog mir den
Schritt unter den Füßen weg und klappte mit ihm herum, drüben und da,
wie mit einem Holzschuh. Die Frau erschrak und hob sich aus sich ab,
zu schnell, zu heftig, so daß das Gesicht in den zwei Händen blieb.
Ich konnte es darin liegen sehen, seine hohle Form. Es kostete mich
unbeschreibliche Anstrengung, bei diesen Händen zu bleiben und nicht
zu schauen, was sich aus ihnen abgerissen hatte. Mir graute, ein
Gesicht von innen zu sehen, aber ich fürchtete mich doch noch viel
mehr vor dem bloßen wunden Kopf ohne Gesicht.

Ich fürchte mich. Gegen die Furcht muß man etwas tun, wenn man sie
einmal hat. Es wäre sehr häßlich, hier krank zu werden, und fiele es
jemandem ein, mich ins Hôtel-Dieu zu schaffen, so würde ich dort gewiß
sterben. Dieses Hôtel ist ein angenehmes Hôtel, ungeheuer besucht.
Man kann kaum die Fassade der Kathedrale von Paris betrachten ohne
Gefahr, von einem der vielen Wagen, die so schnell wie möglich über
den freien Plan dort hinein müssen, überfahren zu werden. Das sind
kleine Omnibusse, die fortwährend läuten, und selbst der Herzog von
Sagan müßte sein Gespann halten lassen, wenn so ein kleiner Sterbender
es sich in den Kopf gesetzt hat, geradenwegs in Gottes Hôtel zu wollen.
Sterbende sind starrköpfig, und ganz Paris stockt, wenn Madame
Legrand, brocanteuse aus der rue des Martyrs, nach einem gewissen
Platz der Cité gefahren kommt. Es ist zu bemerken, daß diese
verteufelten kleinen Wagen ungemein anregende Milchglasfenster haben,
hinter denen man sich die herrlichsten Agonien vor stellen kann; dafür
genügt die Phantasie einer Concierge. Hat man noch mehr
Einbildungskraft und schlägt sie nach anderen Richtungen hin, so sind
die Vermutungen geradezu unbegrenzt. Aber ich habe auch offene
Droschken ankommen sehen, Zeitdroschken mit aufgeklapptem Verdeck, die
nach der üblichen Taxe fuhren: Zwei Francs für die Sterbestunde.

Dieses ausgezeichnete Hôtel ist sehr alt, schon zu König Chlodwigs
Zeiten starb man darin in einigen Betten. Jetzt wird in 559 Betten
gestorben. Natürlich fabrikmäßig. Bei so enormer Produktion ist der
einzelne Tod nicht so gut ausgeführt, aber darauf kommt es auch nicht
an. Die Masse macht es. Wer giebt heute noch etwas für einen gut
ausgearbeiteten Tod? Niemand. Sogar die Reichen, die es sich doch
leisten könnten, ausführlich zu sterben, fangen an, nachlässig und
gleichgültig zu werden; der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wird
immer seltener. Eine Weile noch, und er wird ebenso selten sein wie
ein eigenes Leben. Gott; das ist alles da. Man kommt, man findet ein
Leben, fertig, man hat es nur anzuziehen. Man will gehen oder man ist
dazu gezwungen: nun, keine Anstrengung: Voilà votre mort, monsieur.
Man stirbt, wie es gerade kommt; man stirbt den Tod, der zu der
Krankheit gehört, die man hat (denn seit man alle Krankheiten kennt,
weiß man auch, daß die verschiedenen letalen Abschlüsse zu den
Krankheiten gehören und nicht zu den Menschen; und der Kranke hat
sozusagen nichts zu tun).

In den Sanatorien, wo ja so gern und mit so viel Dankbarkeit gegen
Ärzte und Schwestern gestorben wird, stirbt man einen von den an der
Anstalt angestellten Toden; das wird gerne gesehen. Wenn man aber zu
Hause stirbt, ist es natürlich, jenen höflichen Tod der guten Kreise
zu wählen, mit dem gleichsam das Begräbnis erster Klasse schon anfängt
und die ganze Folge seiner wunderschönen Gebräuche. Da stehen dann
die Armen vor so einem Haus und sehen sich satt. Ihr Tod ist
natürlich banal, ohne alle Umstände. Sie sind froh, wenn sie einen
finden, der ungefähr paßt. Zu weit darf er sein: man wächst immer
noch ein bißchen. Nur wenn er nicht zugeht über der Brust oder würgt,
dann hat es seine Not.

Wenn ich nach Hause denke, wo nun niemand mehr ist, dann glaube ich,
das muß früher anders gewesen sein. Früher wußte man (oder vielleicht
man ahnte es), daß man den Tod in sich hatte wie die Frucht den Kern.
Die Kinder hatten einen kleinen in sich und die Erwachsenen einen
großen. Die Frauen hatten ihn im Schooß und die Männer in der Brust.
Den hatte man, und das gab einem eine eigentümliche Würde und einen
stillen Stolz.

Meinem Großvater noch, dem alten Kammerherrn Brigge, sah man es an,
daß er einen Tod in sich trug. Und was war das für einer: zwei Monate
lang und so laut, daß man ihn hörte bis aufs Vorwerk hinaus.

Das lange, alte Herrenhaus war zu klein für diesen Tod, es schien, als
müßte man Flügel anbauen, denn der Körper des Kammerherrn wurde immer
größer, und er wollte fortwährend aus einem Raum in den anderen
getragen sein und geriet in fürchterlichen Zorn, wenn der Tag noch
nicht zu Ende war und es gab kein Zimmer mehr, in dem er nicht schon
gelegen hatte. Dann ging es mit dem ganzen Zuge von Dienern, Jungfern
und Hunden, die er immer um sich hatte, die Treppe hinauf und, unter
Vorantritt des Haushofmeisters, in seiner hochseligen Mutter
Sterbezimmer, das ganz in dem Zustande, in dem sie es vor
dreiundzwanzig Jahren verlassen hatte, erhalten worden war und das
sonst nie jemand betreten durfte. Jetzt brach die ganze Meute dort
ein. Die Vorhänge wurden zurückgezogen, und das robuste Licht eines
Sommernachmittags untersuchte alle die scheuen, erschrockenen
Gegenstände und drehte sich ungeschickt um in den aufgerissenen
Spiegeln. Und die Leute machten es ebenso. Es gab da Zofen, die vor
Neugierde nicht wußten, wo ihre Hände sich gerade aufhielten, junge
Bediente, die alles anglotzten, und ältere Dienstleute, die
herumgingen und sich zu erinnern suchten, was man ihnen von diesem
verschlossenen Zimmer, in dem sie sich nun glücklich befanden, alles
erzählt hatte.

Vor allem aber schien den Hunden der Aufenthalt in einem Raum, wo alle
Dinge rochen, ungemein anregend. Die großen, schmalen russischen
Windhunde liefen beschäftigt hinter den Lehnstühlen hin und her,
durchquerten in langem Tanzschritt mit wiegender Bewegung das Gemach,
hoben sich wie Wappenhunde auf und schauten, die schmalen Pfoten auf
das weißgoldene Fensterbrett gestützt, mit spitzem, gespanntem Gesicht
und zurückgezogener Stirn nach rechts und nach links in den Hof.
Kleine, handschuhgelbe Dachshunde saßen, mit Gesichtern, als wäre
alles ganz in der Ordnung, in dem breiten, seidenen Polstersessel am
Fenster, und ein stichelhaariger, mürrisch aussehender Hühnerhund rieb
seinen Rücken an der Kante eines goldbeinigen Tisches, auf dessen
gemalter Platte die Sèvrestassen zitterten.

Ja, es war für diese geistesabwesenden, verschlafenen Dinge eine
schreckliche Zeit. Es passierte, daß aus Büchern, die irgendeine
hastige Hand ungeschickt geöffnet hatte, Rosenblätter heraustaumelten,
die zertreten wurden; kleine, schwächliche Gegenstände wurden
ergriffen und, nachdem sie sofort zerbrochen waren, schnell wieder
hingelegt, manches Verbogene auch unter Vorhänge gesteckt oder gar
hinter das goldene Netz des Kamingitters geworfen. Und von Zeit zu
Zeit fiel etwas, fiel verhüllt auf Teppich, fiel hell auf das harte
Parkett, aber es zerschlug da und dort, zersprang scharf oder brach
fast lautlos auf, denn diese Dinge, verwöhnt wie sie waren, vertrugen
keinerlei Fall.

Und wäre es jemandem eingefallen zu fragen, was die Ursache von
alledem sei, was über dieses ängstlich gehütete Zimmer alles
Untergangs Fülle herabgerufen habe,--so hätte es nur eine Antwort
gegeben: der Tod.

Der Tod des Kammerherrn Christoph Detlev Brigge auf Ulsgaard. Denn
dieser lag, groß über seine dunkelblaue Uniform hinausquellend, mitten
auf dem Fußboden und rührte sich nicht. In seinem großen, fremden,
niemandem mehr bekannten Gesicht waren die Augen zugefallen: er sah
nicht, was geschah. Man hatte zuerst versucht, ihn auf das Bett zu
legen, aber er hatte sich dagegen gewehrt, denn er haßte Betten seit
jenen ersten Nächten, in denen seine Krankheit gewachsen war. Auch
hatte sich das Bett da oben als zu klein erwiesen, und da war nichts
anderes übrig geblieben, als ihn so auf den Teppich zu legen; denn
hinunter hatte er nicht gewollt.

Da lag er nun, und man konnte denken, daß er gestorben sei. Die Hunde
hatten sich, da es langsam zu dämmern begann, einer nach dem anderen
durch die Türspalte gezogen, nur der Harthaarige mit dem mürrischen
Gesicht saß bei seinem Herrn, und eine von seinen breiten, zottigen
Vorderpfoten lag auf Christoph Detlevs großer, grauer Hand. Auch von
der Dienerschaft standen jetzt die meisten draußen in dem weißen Gang,
der heller war als das Zimmer; die aber, welche noch drinnen geblieben
waren, sahen manchmal heimlich nach dem großen, dunkelnden Haufen in
der Mitte, und sie wünschten, daß das nichts mehr wäre als ein großer
Anzug über einem verdorbenen Ding.

Aber es war noch etwas. Es war eine Stimme, die Stimme, die noch vor
sieben Wochen niemand gekannt hatte: denn es war nicht die Stimme des
Kammerherrn. Nicht Christoph Detlev war es, welchem diese Stimme
gehörte, es war Christoph Detlevs Tod.

Christoph Detlevs Tod lebte nun schon seit vielen, vielen Tagen auf
Ulsgaard und redete mit allen und verlangte. Verlangte, getragen zu
werden, verlangte das blaue Zimmer, verlangte den kleinen Salon,
verlangte den Saal. Verlangte die Hunde, verlangte, daß man lache,
spreche, spiele und still sei und alles zugleich. Verlangte Freunde
zu sehen, Frauen und Verstorbene, und verlangte selber zu sterben:
verlangte. Verlangte und schrie.

Denn, wenn die Nacht gekommen war und die von den übermüden
Dienstleuten, welche nicht Wache hatten, einzuschlafen versuchten,
dann schrie Christoph Detlevs Tod, schrie und stöhnte, brüllte so
lange und anhaltend, daß die Hunde, die zuerst mitheulten, verstummten
und nicht wagten sich hinzulegen und, auf ihren langen, schlanken,
zitternden Beinen stehend, sich fürchteten. Und wenn sie es durch die
weite, silberne, dänische Sommernacht im Dorfe hörten, daß er brüllte,
so standen sie auf wie beim Gewitter, kleideten sich an und blieben
ohne ein Wort um die Lampe sitzen, bis es vorüber war. Und die Frauen,
welche nahe vor dem Niederkommen waren, wurden in die entlegensten
Stuben gelegt und in die dichtesten Bettverschläge; aber sie hörten es,
sie hörten es, als ob es in ihrem eigenen Leibe wäre, und sie flehten,
auch aufstehen zu dürfen, und kamen, weiß und weit, und setzten sich
zu den andern mit ihren verwischten Gesichtern. Und die Kühe, welche
kalbten in dieser Zeit, waren hülflos und verschlossen, und einer riß
man die tote Frucht mit allen Eingeweiden aus dem Leibe, als sie gar
nicht kommen wollte. Und alle taten ihr Tagwerk schlecht und vergaßen
das Heu hereinzubringen, weil sie sich bei Tage ängstigten vor der
Nacht und weil sie vom vielen Wachsein und vom erschreckten Aufstehen
so er mattet waren, daß sie sich auf nichts besinnen konnten. Und
wenn sie am Sonntag in die weiße, friedliche Kirche gingen, so beteten
sie, es möge keinen Herrn mehr auf Ulsgaard geben: denn dieser war ein
schrecklicher Herr. Und was sie alle dachten und beteten, das sagte
der Pfarrer laut von der Kanzel herab, denn auch er hatte keine Nächte
mehr und konnte Gott nicht begreifen. Und die Glocke sagte es, die
einen furchtbaren Rivalen bekommen hatte, der die ganze Nacht dröhnte
und gegen den sie, selbst wenn sie aus allem Metall zu läuten begann,
nichts vermochte. Ja, alle sagten es, und es gab einen unter den
jungen Leuten, der geträumt hatte, er wäre ins Schloß gegangen und
hätte den gnädigen Herrn erschlagen mit seiner Mistforke, und so
aufgebracht war man, so zu Ende, so überreizt, daß alle zuhörten, als
er seinen Traum erzählte, und ihn, ganz ohne es zu wissen, daraufhin
ansahen, ob er solcher Tat wohl gewachsen sei. So fühlte und sprach
man in der ganzen Gegend, in der man den Kammerherrn noch vor einigen
Wochen geliebt und bedauert hatte. Aber obwohl man so sprach,
veränderte sich nichts. Christoph Detlevs Tod, der auf Ulsgaard
wohnte, ließ sich nicht drängen. Er war für zehn Wochen gekommen, und
die blieb er. Und während dieser Zeit war er mehr Herr, als Christoph
Detlev Brigge es je gewesen war, er war wie ein König, den man den
Schrecklichen nennt, später und immer.

Das war nicht der Tod irgendeines Wassersüchtigen, das war der böse,
fürstliche Tod, den der Kammerherr sein ganzes Leben lang in sich
getragen und aus sich genährt hatte. Alles Übermaß an Stolz, Willen
und Herrenkraft, das er selbst in seinen ruhigen Tagen nicht hatte
verbrauchen können, war in seinen Tod eingegangen, in den Tod, der nun
auf Ulsgaard saß und vergeudete.

Wie hätte der Kammerherr Brigge den angesehen, der von ihm verlangt
hätte, er solle einen anderen Tod sterben als diesen. Er starb seinen
schweren Tod.

Und wenn ich an die andern denke, die ich gesehen oder von denen ich
gehört habe: es ist immer dasselbe. Sie alle haben einen eigenen Tod
gehabt. Diese Männer, die ihn in der Rüstung trugen, innen, wie einen
Gefangenen, diese Frauen, die sehr alt und klein wurden und dann auf
einem ungeheueren Bett, wie auf einer Schaubühne, vor der ganzen
Familie, dem Gesinde und den Hunden diskret und herrschaftlich
hinübergingen. Ja die Kinder, sogar die ganz kleinen, hatten nicht
irgendeinen Kindertod, sie nahmen sich zusammen und starben das, was
sie schon waren, und das, was sie geworden wären.

Und was gab das den Frauen für eine wehmütige Schönheit, wenn sie
schwanger waren und standen, und in ihrem großen Leib, auf welchem die
schmalen Hände unwillkürlich liegen blieben, waren zwei Früchte: ein
Kind und ein Tod. Kam das dichte, beinah nahrhafte Lächeln in ihrem
ganz ausgeräumten Gesicht nicht davon her, daß sie manchmal meinten,
es wüchsen beide?

Ich habe etwas getan gegen die Furcht. Ich habe die ganze Nacht
gesessen und geschrieben, und jetzt bin ich so gut müde wie nach einem
weiten Weg über die Felder von Ulsgaard. Es ist doch schwer zu denken,
daß alles das nicht mehr ist, daß fremde Leute wohnen in dem alten
langen Herrenhaus. Es kann sein, daß in dem weißen Zimmer oben im
Giebel jetzt die Mägde schlafen, ihren schweren, feuchten Schlaf
schlafen von Abend bis Morgen.

Und man hat niemand und nichts und fährt in der Welt herum mit einem
Koffer und mit einer Bücherkiste und eigentlich ohne Neugierde. Was
für ein Leben ist das eigentlich: ohne Haus, ohne ererbte Dinge, ohne
Hunde. Hätte man doch wenigstens seine Erinnerungen. Aber wer hat
die? Wäre die Kindheit da, sie ist wie vergraben. Vielleicht muß man
alt sein, um an das alles heranreichen zu können. Ich denke es mir
gut, alt zu sein.

Heute war ein schöner, herbstlicher Morgen. Ich ging durch die
Tuilerien. Alles, was gegen Osten lag, vor der Sonne, blendete. Das
Angeschienene war vom Nebel verhangen wie von einem lichtgrauen
Vorhang. Grau im Grauen sonnten sich die Statuen in den noch nicht
enthüllten Gärten. Einzelne Blumen in den langen Beeten standen auf
und sagten: Rot, mit einer erschrockenen Stimme. Dann kam ein sehr
großer, schlanker Mann um die Ecke, von den Champs-Elysées her; er
trug eine Krücke, aber nicht mehr unter die Schulter geschoben,--er
hielt sie vor sich her, leicht, und von Zeit zu Zeit stellte er sie
fest und laut auf wie einen Heroldstab. Er konnte ein Lächeln der
Freude nicht unterdrücken und lächelte, an allem vorbei, der Sonne,
den Bäumen zu. Sein Schritt war schüchtern wie der eines Kindes, aber
ungewöhnlich leicht, voll von Erinnerung an früheres Gehen.

Was so ein kleiner Mond alles vermag. Da sind Tage, wo alles um einen
licht ist, leicht, kaum angegeben in der hellen Luft und doch deutlich.
Das Nächste schon hat Töne der Ferne, ist weggenommen und nur
gezeigt, nicht hergereicht; und was Beziehung zur Weite hat: der Fluß,
die Brücken, die langen Straßen und die Plätze, die sich verschwenden,
das hat diese Weite eingenommen hinter sich, ist auf ihr gemalt wie
auf Seide. Es ist nicht zu sagen, was dann ein lichtgrüner Wagen sein
kann auf dem Pont-neuf oder irgendein Rot, das nicht zu halten ist,
oder auch nur ein Plakat an der Feuermauer einer perlgrauen
Häusergruppe. Alles ist vereinfacht, auf einige richtige, helle plans
gebracht wie das Gesicht in einem Manetschen Bildnis. Und nichts ist
gering und überflüssig. Die Bouquinisten am Quai tun ihre Kästen auf,
und das frische oder vernutzte Gelb der Bücher, das violette Braun der
Bände, das größere Grün einer Mappe: alles stimmt, gilt, nimmt teil
und bildet eine Vollzähligkeit, in der nichts fehlt.

Unten ist folgende Zusammenstellung: ein kleiner Handwagen, von einer
Frau geschoben; vorn darauf ein Leierkasten, der Länge nach. Dahinter
quer ein Kinderkorb, in dem ein ganz Kleines auf festen Beinen steht,
vergnügt in seiner Haube, und sich nicht mag setzen lassen. Von Zeit
zu Zeit dreht die Frau am Orgelkasten. Das ganz Kleine stellt sich
dann sofort stampfend in seinem Korbe wieder auf, und ein kleines
Mädchen in einem grünen Sonntagskleid tanzt und schlägt Tamburin zu
den Fenstern hinauf.

Ich glaube, ich müßte anfangen, etwas zu arbeiten, jetzt, da ich sehen
lerne. Ich bin achtundzwanzig, und es ist so gut wie nichts geschehen.
Wiederholen wir: ich habe eine Studie über Carpaccio geschrieben,
die schlecht ist, ein Drama, das 'Ehe' heißt und etwas Falsches mit
zweideutigen Mitteln beweisen will, und Verse. Ach, aber mit Versen
ist so wenig getan, wenn man sie früh schreibt. Man sollte warten
damit und Sinn und Süßigkeit sammeln ein ganzes Leben lang und ein
langes womöglich, und dann, ganz zum Schluß, vielleicht könnte man
dann zehn Zeilen schreiben, die gut sind. Denn Verse sind nicht, wie
die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug),--es sind
Erfahrungen. Um eines Verses willen muß man viele Städte sehen,
Menschen und Dinge, man muß die Tiere kennen, man muß fühlen, wie die
Vögel fliegen, und die Gebärde wissen, mit welcher die kleinen Blumen
sich auftun am Morgen. Man muß zurückdenken können an Wege in
unbekannten Gegenden, an unerwartete Begegnungen und an Abschiede, die
man lange kommen sah,--an Kindheitstage, die noch unaufgeklärt sind,
an die Eltern, die man kränken mußte, wenn sie einem eine Freude
brachten und man begriff sie nicht (es war eine Freude für einen
anderen--), an Kinderkrankheiten, die so seltsam anheben mit so vielen
tiefen und schweren Verwandlungen, an Tage in stillen, verhaltenen
Stuben und an Morgen am Meer, an das Meer überhaupt, an Meere, an
Reisenächte, die hoch dahinrauschten und mit allen Sternen flogen,
--und es ist noch nicht genug, wenn man an alles das denken darf. Man
muß Erinnerungen haben an viele Liebesnächte, von denen keine der
andern glich, an Schreie von Kreißenden und an leichte, weiße,
schlafende Wöchnerinnen, die sich schließen. Aber auch bei Sterbenden
muß man gewesen sein, muß bei Toten gesessen haben in der Stube mit
dem offenen Fenster und den stoßweisen Geräuschen. Und es genügt auch
noch nicht, daß man Erinnerungen hat. Man muß sie vergessen können,
wenn es viele sind, und man muß die große Geduld haben, zu warten, daß
sie wiederkommen. Denn die Erinnerungen selbstes noch nicht. Erst
wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebärde, namenlos und nicht
mehr zu unterscheiden von uns selbst, erst dann kann es geschehen, daß
in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in
ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht.

Alle meine Verse aber sind anders entstanden, also sind es keine.--Und
als ich mein Drama schrieb, wie irrte ich da. War ich ein Nachahmer
und Narr, daß ich eines Dritten bedurfte, um von dem Schicksal zweier
Menschen zu erzählen, die es einander schwer machten? Wie leicht ich
in die Falle fiel. Und ich hätte doch wissen müssen, daß dieser
Dritte, der durch alle Leben und Literaturen geht, dieses Gespenst
eines Dritten, der nie gewesen ist, keine Bedeutung hat, daß man ihn
leugnen muß. Er gehört zu den Vorwänden der Natur, welche immer
bemüht ist, von ihren tiefsten Geheimnissen die Aufmerksamkeit der
Menschen abzulenken. Er ist der Wandschirm, hinter dem ein Drama sich
abspielt. Er ist der Lärm am Eingang zu der stimmlosen Stille eines
wirklichen Konfliktes. Man möchte meinen, es wäre allen bisher zu
schwer gewesen, von den Zweien zu reden, um die es sich handelt; der
Dritte, gerade weil er so unwirklich ist, ist das Leichte der Aufgabe,
ihn konnten sie alle. Gleich am Anfang ihrer Dramen merkt man die
Ungeduld, zu dem Dritten zu kommen, sie könnten ihn kaum erwarten.
Sowie er da ist, ist alles gut. Aber wie langweilig, wenn er sich
verspätet, es kann rein nichts geschehen ohne ihn, alles steht, stockt,
wartet. Ja und wie, wenn es bei diesem Stauen und Anstehn bliebe?
Wie, Herr Dramatiker, und du, Publikum, welches das Leben kennt, wie,
wenn er verschollen wäre, dieser beliebte Lebemann oder dieser
anmaßende junge Mensch, der in allen Ehen schließt wie ein
Nachschlüssel? Wie, wenn ihn, zum Beispiel, der Teufel geholt hätte?
Nehmen wirs an. Man merkt auf einmal die künstliche Leere der Theater,
sie werden vermauert wie gefährliche Löcher, nur die Motten aus den
Logenrändern taumeln durch den haltlosen Hohlraum. Die Dramatiker
genießen nicht mehr ihre Villenviertel. Alle öffentlichen
Aufpassereien suchen für sie in entlegenen Weltteilen nach dem
Unersetzlichen, der die Handlung selbst war.

Und dabei leben sie unter den Menschen, nicht diese 'Dritten', aber
die Zwei, von denen so unglaublich viel zu sagen wäre, von denen noch
nie etwas gesagt worden ist, obwohl sie leiden und handeln und sich
nicht zu helfen wissen.

Es ist lächerlich. Ich sitze hier in meiner kleinen Stube, ich,
Brigge, der achtundzwanzig Jahre alt geworden ist und von dem niemand
weiß. Ich sitze hier und bin nichts. Und dennoch, dieses Nichts
fängt an zu denken und denkt, fünf Treppen hoch, an einem grauen
Pariser Nachmittag diesen Gedanken:

Ist es möglich, denkt es, daß man noch nichts Wirkliches und Wichtiges
gesehen, erkannt und gesagt hat? Ist es möglich, daß man Jahrtausende
Zeit gehabt hat, zu schauen, nachzudenken und aufzuzeichnen, und daß
man die Jahrtausende hat vergehen lassen wie eine Schulpause, in der
man sein Butterbrot ißt und einen Apfel?

Ja, es ist möglich.

Ist es möglich, daß man trotz Erfindungen und Fortschritten, trotz
Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfläche des Lebens
geblieben ist? Ist es möglich, daß man sogar diese Oberfläche, die
doch immerhin etwas gewesen wäre, mit einem unglaublich langweiligen
Stoff überzogen hat, so daß sie aussieht, wie die Salonmöbel in den
Sommerferien?

Ja, es ist möglich.

Ist es möglich, daß die ganze Weltgeschichte mißverstanden worden ist?
Ist es möglich, daß die Vergangenheit falsch ist, weil man immer von
ihren Massen gesprochen hat, gerade, als ob man von einem Zusammenlauf
vieler Menschen erzählte, statt von dem Einen zu sagen, um den sie
herumstanden, weil er fremd war und starb?

Ja, es ist möglich.

Ist es möglich, daß man glaubte, nachholen zu müssen, was sich
ereignet hat, ehe man geboren war? Ist es möglich, daß man jeden
einzelnen erinnern müßte, er sei ja aus allen Früheren entstanden,
wüßte es also und sollte sich nichts einreden lassen von den anderen,
die anderes wüßten?

Ja, es ist möglich.

Ist es möglich, daß alle diese Menschen eine Vergangenheit, die nie
gewesen ist, ganz genau kennen? Ist es möglich, daß alle
Wirklichkeiten nichts sind für sie; daß ihr Leben abläuft, mit nichts
verknüpft, wie eine Uhr in einem leeren Zimmer--?

Ja, es ist möglich.

Ist es möglich, daß man von den Mädchen nichts weiß, die doch leben?
Ist es möglich, daß man 'die Frauen' sagt, 'die Kinder', 'die Knaben'
und nicht ahnt (bei aller Bildung nicht ahnt), daß diese Worte längst
keine Mehrzahl mehr haben, sondern nur unzählige Einzahlen?

Ja, es ist möglich.

Ist es möglich, daß es Leute giebt, welche 'Gott' sagen und meinen,
das wäre etwas Gemeinsames?--Und sieh nur zwei Schulkinder: Es kauft
sich der eine ein Messer, und sein Nachbar kauft sich ein ganz
gleiches am selben Tag. Und sie zeigen einander nach einer Woche die
beiden Messer, und es ergiebt sich, daß sie sich nur noch ganz
entfernt ähnlich sehen,--so verschieden haben sie sich in
verschiedenen Händen entwickelt. (Ja, sagt des einen Mutter dazu:
wenn ihr auch gleich immer alles abnutzen müßt.--) Ach so: Ist es
möglich, zu glauben, man könne einen Gott haben, ohne ihn zu
gebrauchen?

Ja, es ist möglich.

Wenn aber dieses alles möglich ist, auch nur einen Schein von
Möglichkeit hat,--dann muß ja, um alles in der Welt, etwas geschehen.
Der Nächstbeste, der, welcher diesen beunruhigenden Gedanken gehabt
hat, muß anfangen, etwas von dem Versäumten zu tun; wenn es auch nur
irgend einer ist, durchaus nicht der Geeignetste: es ist eben kein
anderer da. Dieser junge, belanglose Ausländer, Brigge, wird sich
fünf Treppen hoch hinsetzen müssen und schreiben, Tag und Nacht. Ja
er wird schreiben müssen, das wird das Ende sein.

Zwölf Jahre oder höchstens dreizehn muß ich damals gewesen sein. Mein
Vater hatte mich nach Urnekloster mitgenommen. Ich weiß nicht, was
ihn veranlaßte, seinen Schwiegervater aufzusuchen. Die beiden Männer
hatten sich jahrelang, seit dem Tode meiner Mutter, nicht gesehen, und
mein Vater selbst war noch nie in dem alten Schlosse gewesen, in
welches der Graf Brahe sich erst spät zurückgezogen hatte. Ich habe
das merkwürdige Haus später nie wiedergesehen, das, als mein Großvater
starb, in fremde Hände kam. So wie ich es in meiner kindlich
gearbeiteten Erinnerung wiederfinde, ist es kein Gebäude; es ist ganz
aufgeteilt in mir; da ein Raum, dort ein Raum und hier ein Stück Gang,
das diese beiden Räume nicht verbindet, sondern für sich, als Fragment,
aufbewahrt ist. In dieser Weise ist alles in mir verstreut,--die
Zimmer, die Treppen, die mit so großer Umständlichkeit sich
niederließen, und andere enge, rundgebaute Stiegen, in deren Dunkel
man ging wie das Blut in den Adern; die Turmzimmer, die hoch
aufgehängten Balkone, die unerwarteten Altane, auf die man von einer
kleinen Tür hinausgedrängt wurde:--alles das ist noch in mir und wird
nie aufhören, in mir zu sein. Es ist, als wäre das Bild dieses Hauses
aus unendlicher Höhe in mich hineingestürzt und auf meinem Grunde
zerschlagen.


Ganz erhalten ist in meinem Herzen, so scheint es mir, nur jener Saal,
in dem wir uns zum Mittagessen zu versammeln pflegten, jeden Abend um
sieben Uhr. Ich habe diesen Raum niemals bei Tage gesehen, ich
erinnere mich nicht einmal, ob er Fenster hatte und wohin sie aussahen;
jedes mal, so oft die Familie eintrat, brannten die Kerzen in den
schweren Armleuchtern, und man vergaß in einigen Minuten die Tageszeit
und alles, was man draußen gesehen hatte. Dieser hohe, wie ich
vermute, gewölbte Raum war stärker als alles; er saugte mit seiner
dunkelnden Höhe, mit seinen niemals ganz aufgeklärten Ecken alle
Bilder aus einem heraus, ohne einem einen bestimmten Ersatz dafür zu
geben. Man saß da wie aufgelöst; völlig ohne Willen, ohne Besinnung,
ohne Lust, ohne Abwehr. Man war wie eine leere Stelle. Ich erinnere
mich, daß dieser vernichtende Zustand mir zuerst fast Übelkeit
verursachte, eine Art Seekrankheit, die ich nur dadurch überwand, daß
ich mein Bein ausstreckte, bis ich mit dem Fuß das Knie meines Vaters
berührte, der mir gegenübersaß. Erst später fiel es mir auf, daß er
dieses merkwürdige Benehmen zu begreifen oder doch zu dulden schien,
obwohl zwischen uns ein fast kühles Verhältnis bestand, aus dem ein
solches Gebaren nicht erklärlich war. Es war indessen jene leise
Berührung, welche mir die Kraft gab, die langen Mahlzeiten auszuhalten.
Und nach einigen Wochen krampfhaften Ertragens hatte ich, mit der
fast unbegrenzten Anpasssung des Kindes, mich so sehr an das
Unheimliche jener Zusammenkünfte gewöhnt, daß es mich keine
Anstrengung mehr kostete, zwei Stunden bei Tische zu sitzen; jetzt
vergingen sie sogar verhältnismäßig schnell, weil ich mich damit
beschäftigte, die Anwesenden zu beobachten.

Mein Großvater nannte es die Familie, und ich hörte auch die andern
diese Bezeichnung gebrauchen, die ganz willkürlich war. Denn obwohl
diese vier Menschen miteinander in entfernten verwandtschaftlichen
Beziehungen standen, so gehörten sie doch in keiner Weise zusammen.
Der Oheim, welcher neben mir saß, war ein alter Mann, dessen hartes
und verbranntes Gesicht einige schwarze Flecke zeigte, wie ich erfuhr,
die Folgen einer explodierten Pulverladung; mürrisch und malkontent
wie er war, hatte er als Major seinen Abschied genommen, und nun
machte er in einem mir unbekannten Raum des Schlosses alchymistische
Versuche, war auch, wie ich die Diener sagen hörte, mit einem
Stockhause in Verbindung, von wo man ihm ein- oder zweimal jährlich
Leichen zusandte, mit denen er sich Tage und Nächte einschloß und die
er zerschnitt und auf eine geheimnisvolle Art zubereitete, so daß sie
der Verwesung widerstanden. Ihm gegenüber war der Platz des Fräuleins
Mathilde Brahe. Es war das eine Person von unbestimmtem Alter, eine
entfernte Cousine meiner Mutter, von der nichts bekannt war, als daß
sie eine sehr rege Korrespondenz mit einem österreichischen
Spiritisten unterhielt, der sich Baron Nolde nannte und dem sie
vollkommen ergeben war, so daß sie nicht das geringste unternahm, ohne
vorher seine Zustimmung oder vielmehr etwas wie seinen Segen
einzuholen. Sie war zu jener Zeit außerordentlich stark, von einer
weichen, trägen Fülle, die gleichsam achtlos in ihre losen, hellen
Kleider hineingegossen war; ihre Bewegungen waren müde und unbestimmt,
und ihre Augen flossen beständig über. Und trotzdem war etwas in ihr,
das mich an meine zarte und schlanke Mutter erinnerte.

Ich fand, je länger ich sie betrachtete, alle die feinen und leisen
Züge in ihrem Gesichte, an die ich mich seit meiner Mutter Tode nie
mehr recht hatte erinnern können; nun erst, seit ich Mathilde Brahe
täglich sah, wußte ich wieder, wie die Verstorbene ausgesehen hatte;
ja, ich wußte es vielleicht zum erstenmal. Nun erst setzte sich aus
hundert und hundert Einzelheiten ein Bild der Toten in mir zusammen,
jenes Bild, das mich überall begleitet. Später ist es mir klar
geworden, daß in dem Gesicht des Fräuleins Brahe wirklich alle
Einzelheiten vorhanden waren, die die Züge meiner Mutter bestimmten,
--sie waren nur, als ob ein fremdes Gesicht sich dazwischen geschoben
hätte, auseinandergedrängt, verbogen und nicht mehr in Verbindung
miteinander.

Neben dieser Dame saß der kleine Sohn einer Cousine, ein Knabe, etwa
gleichaltrig mit mir, aber kleiner und schwächlicher. Aus einer
gefältelten Krause stieg sein dünner, blasser Hals und verschwand
unter einem langen Kinn. Seine Lippen waren schmal und fest
geschlossen, seine Nasenflügel zitterten leise, und von seinen schönen
dunkelbraunen Augen war nur das eine beweglich. Es blickte manchmal
ruhig und traurig zu mir herüber, während das andere immer in dieselbe
Ecke gerichtet blieb, als wäre es verkauft und käme nicht mehr in
Betracht.

Am oberen Ende der Tafel stand der ungeheure Lehnsessel meines
Großvaters, den ein Diener, der nichts anderes zu tun hatte, ihm
unterschob und in dem der Greis nur einen geringen Raum einnahm. Es
gab Leute, die diesen schwerhörigen und herrischen alten Herrn
Exzellenz und Hofmarschall nannten, andere gaben ihm den Titel General.
Und er besaß gewiß auch alle diese Würden, aber es war so lange her,
seit er Ämter bekleidet hatte, daß diese Benennungen kaum mehr
verständlich waren. Mir schien es überhaupt, als ob an seiner in
gewissen Momenten so scharfen und doch immer wieder aufgelösten
Persönlichkeit kein bestimmter Name haften könne. Ich konnte mich nie
entschließen, ihn Großvater zu nennen, obwohl er bisweilen freundlich
zu mir war, ja mich sogar zu sich rief, wobei er meinem Namen eine
scherzhafte Betonung zu geben versuchte. Übrigens zeigte die ganze
Familie ein aus Ehrfurcht und Scheu gemischtes Benehmen dem Grafen
gegenüber, nur der kleine Erik lebte in einer gewissen Vertraulichkeit
mit dem greisen Hausherrn; sein bewegliches Auge hatte zuzeiten rasche
Blicke des Einverständnisses mit ihm, die ebensorasch von dem
Großvater erwidert wurden; auch konnte man sie zuweilen in den langen
Nachmittagen am Ende der tiefen Galerie auftauchen sehen und
beobachten, wie sie, Hand in Hand, die dunklen alten Bildnisse entlang
gingen, ohne zu sprechen, offenbar auf eine andere Weise sich
verständigend.

Ich befand mich fast den ganzen Tag im Parke und draußen in den
Buchenwäldern oder auf der Heide; und es gab zum Glück Hunde auf
Urnekloster, die mich begleiteten; es gab da und dort ein Pächterhaus
oder einen Meierhof, wo ich Milch und Brot und Früchte bekommen konnte,
und ich glaube, daß ich meine Freiheit ziemlich sorglos genoß, ohne
mich, wenigstens in den folgenden Wochen, von dem Gedanken an die
abendlichen Zusammenkünfte ängstigen zu lassen. Ich sprach fast mit
niemandem, denn es war meine Freude, einsam zu sein; nur mit den
Hunden hatte ich kurze Gespräche dann und wann: mit ihnen verstand ich
mich ausgezeichnet. Schweigsamkeit war übrigens eine Art
Familieneigenschaft; ich kannte sie von meinem Vater her, und es
wunderte mich nicht, daß während der Abendtafel fast nichts gesprochen
wurde.

In den ersten Tagen nach unserer Ankunft allerdings benahm sich
Mathilde Brahe äußerst gesprächig. Sie fragte den Vater nach früheren
Bekannten in ausländischen Städten, sie erinnerte sich entlegener
Eindrücke, sie rührte sich selbst bis zu Tränen, indem sie
verstorbener Freundinnen und eines gewissen jungen Mannes gedachte,
von dem sie andeutete, daß er sie geliebt habe, ohne daß sie seine
inständige und hoffnungslose Neigung hätte erwidern mögen. Mein Vater
hörte höflich zu, neigte dann und wann zustimmend sein Haupt und
antwortete nur das Nötigste. Der Graf, oben am Tisch, lächelte
beständig mit herabgezogenen Lippen, sein Gesicht erschien größer als
sonst, es war, als trüge er eine Maske. Er ergriff übrigens selbst
manchmal das Wort, wobei seine Stimme sich auf niemanden bezog, aber,
obwohl sie sehr leise war, doch im ganzen Saal gehört werden konnte;
sie hatte etwas von dem gleichmäßigen unbeteiligten Gang einer Uhr;
die Stille um sie schien eine eigene leere Resonanz zu haben, für jede
Silbe die gleiche.

Graf Brahe hielt es für eine besondere Artigkeit meinem Vater
gegenüber, von dessen verstorbener Gemahlin, meiner Mutter, zu
sprechen. Er nannte sie Gräfin Sibylle, und alle seine Sätze
schlossen, als fragte er nach ihr. Ja es kam mir, ich weiß nicht
weshalb, vor, als handle es sich um ein ganz junges Mädchen in Weiß,
das jeden Augenblick bei uns eintreten könne. In demselben Tone hörte
ich ihn auch von 'unserer kleinen Anna Sophie' reden. Und als ich
eines Tages nach diesem Fräulein fragte, das dem Großvater besonders
lieb zu sein schien, erfuhr ich, daß er des Großkanzlers Conrad
Reventlow Tochter meinte, weiland Friedrichs des Vierten Gemahlin zur
linken Hand, die seit nahezu anderthalb hundert Jahren zu Roskilde
ruhte. Die Zeitfolgen spielten durchaus keine Rolle für ihn, der Tod
war ein kleiner Zwischenfall, den er vollkommen ignorierte, Personen,
die er einmal in seine Erinnerung aufgenommen hatte, existierten, und
daran konnte ihr Absterben nicht das geringste ändern. Mehrere Jahre
später, nach dem Tode des alten Herrn, erzählte man sich, wie er auch
das Zukünftige mit demselben Eigensinn als gegenwärtig empfand. Er
soll einmal einer gewissen jungen Frau von ihren Söhnen gesprochen
haben, von den Reisen eines dieser Söhne insbesondere, während die
junge Dame, eben im dritten Monate ihrer ersten Schwangerschaft, fast
besinnungslos vor Entsetzen und Furcht neben dem unablässig redenden
Alten saß.

Aber es begann damit, daß ich lachte. Ja ich lachte laut und ich
konnte mich nicht beruhigen. Eines Abends fehlte nämlich Mathilde
Brahe. Der alte, fast ganz erblindete Bediente hielt, als er zu ihrem
Platze kam, dennoch die Schüssel anbietend hin. Eine Weile verharrte
er so; dann ging er befriedigt und würdig und als ob alles in Ordnung
wäre weiter. Ich hatte diese Szene beobachtet, und sie kam mir, im
Augenblick da ich sie sah, durchaus nicht komisch vor. Aber eine
Weile später, als ich eben einen Bissen in den Mund steckte, stieg mir
das Gelächter mit solcher Schnelligkeit in den Kopf, daß ich mich
verschluckte und großen Lärm verursachte. Und trotzdem diese
Situation mir selber lästig war, trotzdem ich mich auf alle mögliche
Weise anstrengte, ernst zu sein, kam das Lachen stoßweise immer wieder
und behielt völlig die Herrschaft über mich.

Mein Vater, gleichsam um mein Benehmen zu verdecken, fragte mit seiner
breiten gedämpften Stimme: "Ist Mathilde krank?" Der Großvater
lächelte in seiner Art und antwortete dann mit einem Satze, auf den
ich, mit mir selber beschäftigt, nicht achtgab und der etwa lautete:
Nein, sie wünscht nur, Christinen nicht zu begegnen. Ich sah es also
auch nicht als Wirkung dieser Worte an, daß mein Nachbar, der braune
Major, sich erhob und, mit einer undeutlich gemurmelten Entschuldigung
und einer Verbeugung gegen den Grafen hin, den Saal verließ. Es fiel
mir nur auf, daß er sich hinter dem Rücken des Hausherrn in der Tür
nochmals umdrehte und dem kleinen Erik und zu meinem größten Erstaunen
plötzlich auch mir winkende und nickende Zeichen machte, als forderte
er uns auf, ihm zu folgen. Ich war so überrascht, daß mein Lachen
aufhörte, mich zu bedrängen. Im übrigen schenkte ich dem Major weiter
keine Aufmerksamkeit; er war mir unangenehm, und ich bemerkte auch,
daß der kleine Erik ihn nicht beachtete.

Die Mahlzeit schleppte sich weiter wie immer, und man war gerade beim
Nachtisch angelangt, als meine Blicke von einer Bewegung ergriffen und
mitgenommen wurden, die im Hintergrund des Saales, im Halbdunkel, vor
sich ging. Dort war nach und nach eine, wie ich meinte, stets
verschlossene Türe, von welcher man mir gesagt hatte, daß sie in das
Zwischengeschoß führe, aufgegangen, und jetzt, während ich mit einem
mir ganz neuen Gefühl von Neugier und Bestürzung hinsah, trat in das
Dunkel der Türöffnung eine schlanke, hellgekleidete Dame und kam
langsam auf uns zu. Ich weiß nicht, ob ich eine Bewegung machte oder
einen Laut von mir gab, der Lärm eines umstürzenden Stuhles zwang mich,
meine Blicke von der merkwürdigen Gestalt abzureißen, und ich sah
meinen Vater, der aufgesprungen war und nun, totenbleich im Gesicht,
mit herabhängenden geballten Händen, auf die Dame zuging. Sie bewegte
sich indessen, von dieser Szene ganz unberührt, auf uns zu, Schritt
für Schritt, und sie war schon nicht mehr weit von dem Platze des
Grafen, als dieser sich mit einem Ruck erhob, meinen Vater beim Arme
faßte, ihn an den Tisch zurückzog und festhielt, während die fremde
Dame, langsam und teilnahmlos, durch den nun freigewordenen Raum
vorüberging, Schritt für Schritt, durch unbeschreibliche Stille, in
der nur irgendwo ein Glas zitternd klirrte, und in einer Tür der
gegenüberliegenden Wand des Saales verschwand.

In diesem Augenblick bemerkte ich, daß es der kleine Erik war, der mit
einer tiefen Verbeugung diese Türe hinter der Fremden schloß.

Ich war der einzige, der am Tische sitzengeblieben war; ich hatte mich
so schwer gemacht in meinem Sessel, mir schien, ich könnte allein nie
wieder auf. Eine Weile sah ich, ohne zu sehen. Dann fiel mir mein
Vater ein, und ich gewahrte, daß der Alte ihn noch immer am Arme
festhielt. Das Gesicht meines Vaters war jetzt zornig, voller Blut,
aber der Großvater, dessen Finger wie eine weiße Kralle meines Vaters
Arm umklammerten, lächelte sein maskenhaftes Lächeln. Ich hörte dann,
wie er etwas sagte, Silbe für Silbe, ohne daß ich den Sinn seiner
Worte verstehen konnte. Dennoch fielen sie mir tief ins Gehör, denn
vor etwa zwei Jahren fand ich sie eines Tages unten in meiner
Erinnerung, und seither weiß ich sie. Er sagte: "Du bist heftig,
Kammerherr, und unhöflich. Was läßt du die Leute nicht an ihre
Beschäftigungen gehn?" "Wer ist das?" schrie mein Vater dazwischen.
"Jemand, der wohl das Recht hat, hier zu sein. Keine Fremde.
Christine Brahe."--Da entstand wieder jene merkwürdig dünne Stille,
und wieder fing das Glas an zu zittern. Dann aber riß sich mein Vater
mit einer Bewegung los und stürzte aus dem Saale.

Ich hörte ihn die ganze Nacht in seinem Zimmer auf und ab gehen; denn
auch ich konnte nicht schlafen. Aber plötzlich gegen Morgen erwachte
ich doch aus irgend etwas Schlafähnlichem und sah mit einem Entsetzen,
daß mich bis ins Herz hinein lähmte, etwas Weißes, das an meinem Bette
saß. Meine Verzweiflung gab mir schließlich die Kraft, den Kopf unter
die Decke zu stecken, und dort begann ich aus Angst und Hülflosigkeit
zu weinen. Plötzlich wurde es kühl und hell über meinen weinenden
Augen; ich drückte sie, um nichts sehen zu müssen, über den Tränen zu.
Aber die Stimme, die nun von ganz nahe auf mich einsprach, kam lau
und süßlich an mein Gesicht, und ich erkannte sie: es war Fräulein
Mathildes Stimme. Ich beruhigte mich sofort und ließ mich trotzdem,
auch als ich schon ganz ruhig war, immer noch weiter trösten; ich
fühlte zwar, daß diese Güte zu weichlich sei, aber ich genoß sie
dennoch und meinte sie irgendwie verdient zu haben. "Tante", sagte
ich schließlich und versuchte in ihrem zerflossenen Gesicht die Züge
meiner Mutter zusammenzufassen: "Tante, wer war die Dame?"

"Ach", antwortete das Fräulein Brahe mit einem Seufzer, der mir
komisch vorkam, "eine Unglückliche, mein Kind, eine Unglückliche."

Am Morgen dieses Tages bemerkte ich in einem Zimmer einige Bediente,
die mit Packen beschäftigt waren. Ich dachte, daß wir reisen würden,
ich fand es ganz natürlich, daß wir nun reisten. Vielleicht war das
auch meines Vaters Absicht. Ich habe nie erfahren, was ihn bewog,
nach jenem Abend noch auf Urnekloster zu bleiben. Aber wir reisten
nicht. Wir hielten uns noch acht Wochen oder neun in diesem Hause auf,
wir ertrugen den Druck seiner Seltsamkeiten, und wir sahen noch
dreimal Christine Brahe.

Ich wußte damals nichts von ihrer Geschichte. Ich wußte nicht, daß
sie vor langer, langer Zeit in ihrem zweiten Kindbett gestorben war,
einen Knaben gebährend, der zu einem bangen und grausamen Schicksal
heranwuchs,--ich wußte nicht, daß sie eine Gestorbene war. Aber mein
Vater wußte es. Hatte er, der leidenschaftlich war und auf Konsequenz
und Klarheit angelegt, sich zwingen wollen, in Fassung und ohne zu
fragen, dieses Abenteuer auszuhalten? Ich sah, ohne zu begreifen, wie
er mit sich kämpfte, ich erlebte es, ohne zu verstehen, wie er sich
endlich bezwang.

Das war, als wir Christine Brahe zum letztenmal sahen. Dieses Mal war
auch Fräulein Mathilde zu Tische erschienen; aber sie war anders als
sonst. Wie in den ersten Tagen nach unserer Ankunft sprach sie
unaufhörlich ohne bestimmten Zusammenhang und fortwährend sich
verwirrend, und dabei war eine körperliche Unruhe in ihr, die sie
nötigte, sich beständig etwas am Haar oder am Kleide zu richten,--bis
sie unvermutet mit einem hohen klagenden Schrei aufsprang und
verschwand.

In demselben Augenblick wandten sich meine Blicke unwillkürlich nach
der gewissen Türe, und wirklich: Christine Brahe trat ein. Mein
Nachbar, der Major, machte eine heftige, kurze Bewegung, die sich in
meinen Körper fortpflanzte, aber er hatte offenbar keine Kraft mehr,
sich zu erheben. Sein braunes, altes, fleckiges Gesicht wendete sich
von einem zum andern, sein Mund stand offen, und die Zunge wand sich
hinter den verdorbenen Zähnen; dann auf einmal war dieses Gesicht fort,
und sein grauer Kopf lag auf dem Tische, und seine Arme lagen wie in
Stücken darüber und darunter, und irgendwo kam eine welke, fleckige
Hand hervor und bebte.

Und nun ging Christine Brahe vorbei, Schritt für Schritt, langsam wie
eine Kranke, durch unbeschreibliche Stille, in die nur ein einziger
wimmernder Laut hineinklang wie eines alten Hundes. Aber da schob
sich links von dem großen silbernen Schwan, der mit Narzissen gefüllt
war, die große Maske des Alten hervor mit ihrem grauen Lächeln. Er
hob sein Weinglas meinem Vater zu. Und nun sah ich, wie mein Vater,
gerade als Christine Brahe hinter seinem Sessel vorüberkam, nach
seinem Glase griff und es wie etwas sehr Schweres eine Handbreit über
den Tisch hob. Und noch in dieser Nacht reisten wir.




Bibliothèque Nationale.

Ich sitze und lese einen Dichter. Es sind viele Leute im Saal aber
man spürt sie nicht. Sie sind in den Büchern. Manchmal bewegen sie
sich in den Blättern, wie Menschen, die schlafen und sich umwenden
zwischen zwei Träumen. Ach, wie gut ist es doch, unter lesenden
Menschen zu sein. Warum sind sie nicht immer so? Du kannst hingehen
zu einem und ihn leise anrühren: er fühlt nichts. Und stößt du einen
Nachbar beim Aufstehen ein wenig an und entschuldigst dich, so nickt
er nach der Seite, auf der er deine Stimme hört, sein Gesicht wendet
sich dir zu und sieht dich nicht, und sein Haar ist wie das Haar eines
Schlafenden. Wie wohl das tut. Und ich sitze und habe einen Dichter.
Was für ein Schicksal. Es sind jetzt vielleicht dreihundert Leute im
Saale, die lesen; aber es ist unmöglich, daß sie jeder einzelne einen
Dichter haben. (Weiß Gott, was sie haben.) Dreihundert Dichter giebt
es nicht. Aber sieh nur, was für ein Schicksal, ich, vielleicht der
armsäligste von diesen Lesenden, ein Ausländer: ich habe einen Dichter.
Obwohl ich arm bin. Obwohl mein Anzug, den ich täglich trage,
anfängt, gewisse Stellen zu bekommen, obwohl gegen meine Schuhe sich
das und jenes einwenden ließe. Zwar mein Kragen ist rein, meine
Wäsche auch, und ich könnte, wie ich bin, in eine beliebige Konditorei
gehen, womöglich auf den großen Boulevards, und könnte mit meiner Hand
getrost in einen Kuchenteller greifen und etwas nehmen. Man würde
nichts Auffälliges darin finden und mich nicht schelten und
hinausweisen, denn es ist immerhin eine Hand aus den guten Kreisen,
eine Hand, die vier- bis fünfmal täglich gewaschen wird. Ja, es ist
nichts hinter den Nägeln, der Schreibfinger ist ohne Tinte, und
besonders die Gelenke sind tadellos. Bis dorthin waschen arme Leute
sich nicht, das ist eine bekannte Tatsache. Man kann also aus ihrer
Reinlichkeit gewisse Schlüsse ziehen. Man zieht sie auch. In den
Geschäften zieht man sie. Aber es giebt doch ein paar Existenzen, auf
dem Boulevard Saint-Michel zum Beispiel und in der rue Racine, die
lassen sich nicht irremachen, die pfeifen auf die Gelenke. Die sehen
mich an und wissen es. Die wissen, daß ich eigentlich zu ihnen gehöre,
daß ich nur ein bißchen Komödie spiele. Es ist ja Fasching. Und sie
wollen mir den Spaß nicht verderben; sie grinsen nur so ein bißchen
und zwinkern mit den Augen. Kein Mensch hats gesehen. Im übrigen
behandeln sie mich wie einen Herrn. Es muß nur jemand in der Nähe
sein, dann tun sie sogar untertänig. Tun, als ob ich einen Pelz
anhätte und mein Wagen hinter mir herführe. Manchmal gebe ich ihnen
zwei Sous und zittere, sie könnten sie abweisen; aber sie nehmen sie
an. Und es wäre alles in Ordnung, wenn sie nicht wieder ein wenig
gegrinst und gezwinkert hätten. Wer sind diese Leute? Was wollen sie
von mir? Warten sie auf mich? Woran erkennen sie mich? Es ist wahr,
mein Bart sieht etwas vernachlässigt aus, ein ganz, ganz klein wenig
erinnert er an ihre kranken, alten, verblichenen Bärte, die mir immer
Eindruck gemacht haben. Aber habe ich nicht das Recht, meinen Bart zu
vernachlässigen? Viele beschäftigte Menschen tun das, und es fällt
doch niemandem ein, sie deshalb gleich zu den Fortgeworfenen zu zählen.
Denn das ist mir klar, daß das die Fortgeworfenen sind, nicht nur
Bettler; nein, es sind eigentlich keine Bettler, man muß Unterschiede
machen. Es sind Abfälle, Schalen von Menschen, die das Schicksal
ausgespieen hat. Feucht vom Speichel des Schicksals kleben sie an
einer Mauer, an einer Laterne, an einer Plakatsäule, oder sie rinnen
langsam die Gasse herunter mit einer dunklen, schmutzigen Spur hinter
sich her. Was in aller Welt wollte diese Alte von mir, die, mit einer
Nachttischschublade, in der einige Knöpfe und Nadeln herumrollten, aus
irgendeinem Loch herausgekrochen war? Weshalb ging sie immer neben
mir und beobachtete mich? Als ob sie versuchte, mich zu erkennen mit
ihren Triefaugen, die aussahen, als hätte ihr ein Kranker grünen
Schleim in die blutigen Lider gespuckt. Und wie kam damals jene graue,
kleine Frau dazu, eine Viertelstunde lang vor einem Schaufenster an
meiner Seite zu stehen, während sie mir einen alten, langen Bleistift
zeigte, der unendlich langsam aus ihren schlechten, geschlossenen
Händen sich herausschob. Ich tat, als betrachtete ich die ausgelegten
Sachen und merkte nichts. Sie aber wußte, daß ich sie gesehen hatte,
sie wußte, daß ich stand und nachdachte, was sie eigentlich täte.
Denn daß es sich nicht um den Bleistift handeln konnte, begriff ich
wohl: ich fühlte, daß das ein Zeichen war, ein Zeichen für Eingeweihte,
ein Zeichen, das die Fortgeworfenen kennen; ich ahnte, sie bedeutete
mir, ich müßte irgendwohin kommen oder etwas tun. Und das Seltsamste
war, daß ich immerfort das Gefühl nicht los wurde, es bestünde
tatsächlich eine gewisse Verabredung, zu der dieses Zeichen gehörte,
und diese Szene wäre im Grunde etwas, was ich hätte erwarten müssen.

Das war vor zwei Wochen. Aber nun vergeht fast kein Tag ohne eine
solche Begegnung. Nicht nur in der Dämmerung, am Mittag in den
dichtesten Straßen geschieht es, daß plötzlich ein kleiner Mann oder
eine alte Frau da ist, nickt, mir etwas zeigt und wieder verschwindet,
als wäre nun alles Nötige getan. Es ist möglich, daß es ihnen eines
Tages einfällt, bis in meine Stube zu kommen, sie wissen bestimmt, wo
ich wohne, und sie werden es schon einrichten, daß der Concierge sie
nicht aufhält. Aber hier, meine Lieben, hier bin ich sicher vor euch.
Man muß eine besondere Karte haben, um in diesen Saal eintreten zu
können. Diese Karte habe ich vor euch voraus. Ich gehe ein wenig
scheu, wie man sich denken kann, durch die Straßen, aber schließlich
stehe ich vor einer Glastür, öffne sie, als ob ich zuhause wäre, weise
an der nächsten Tür meine Karte vor (ganz genau wie ihr mir eure Dinge
zeigt, nur mit dem Unterschiede, daß man mich versteht und begreift,
was ich meine--), und dann bin ich zwischen diesen Büchern, bin euch
weggenommen, als ob ich gestorben wäre, und sitze und lese einen
Dichter.

Ihr wißt nicht, was das ist, ein Dichter?--Verlaine... Nichts? Keine
Erinnerung? Nein. Ihr habt ihn nicht unterschieden unter denen, die
ihr kanntet? Unterschiede macht ihr keine, ich weiß. Aber es ist ein
anderer Dichter, den ich lese, einer, der nicht in Paris wohnt, ein
ganz anderer. Einer, der ein stilles Haus hat im Gebirge. Der klingt
wie eine Glocke in reiner Luft. Ein glücklicher Dichter, der von
seinem Fenster erzählt und von den Glastüren seines Bücherschrankes,
die eine liebe, einsame Weite nachdenklich spiegeln. Gerade der
Dichter ist es, der ich hätte werden wollen; denn er weiß von den
Mädchen so viel, und ich hätte auch viel von ihnen gewußt. Er weiß
von Mädchen, die vor hundert Jahren gelebt haben; es tut nichts mehr,
daß sie tot sind, denn er weiß alles. Und das ist die Hauptsache. Er
spricht ihre Namen aus, diese leisen, schlankgeschriebenen Namen mit
den altmodischen Schleifen in den langen Buchstaben und die
erwachsenen Namen ihrer älteren Freundinnen, in denen schon ein klein
wenig Schicksal mitklingt, ein klein wenig Enttäuschung und Tod.
Vielleicht liegen in einem Fach seines Mahagonischreibtisches ihre
verblichenen Briefe und die gelösten Blätter ihrer Tagebücher, in
denen Geburtstage stehen, Sommerpartien, Geburtstage. Oder es kann
sein, daß es in der bauchigen Kommode im Hintergrunde seines
Schlafzimmers eine Schublade giebt, in der ihre Frühjahrskleider
aufgehoben sind; weiße Kleider, die um Ostern zum erstenmal angezogen
wurden, Kleider aus getupftem Tüll, die eigentlich in den Sommer
gehören, den man nicht erwarten konnte. O was für ein glückliches
Schicksal, in der stillen Stube eines ererbten Hauses zu sitzen unter
lauter ruhigen, seßhaften Dingen und draußen im leichten, lichtgrünen
Garten die ersten Meisen zu hören, die sich versuchen, und in der
Ferne die Dorfuhr. Zu sitzen und auf einen warmen Streifen
Nachmittagssonne zu sehen und vieles von vergangenen Mädchen zu wissen
und ein Dichter zu sein. Und zu denken, daß ich auch so ein Dichter
geworden wäre, wenn ich irgendwo hätte wohnen dürfen, irgendwo auf der
Welt, in einem von den vielen verschlossenen Landhäusern, um die sich
niemand bekümmert. Ich hätte ein einziges Zimmer gebraucht (das
lichte Zimmer im Giebel). Da hätte ich drinnen gelebt mit meinen
alten Dingen, den Familienbildern, den Büchern. Und einen Lehnstuhl
hätte ich gehabt und Blumen und Hunde und einen starken Stock für die
steinigen Wege. Und nichts sonst. Nur ein Buch in gelbliches,
elfenbeinfarbiges Leder gebunden mit einem alten blumigen Muster als
Vorsatz: dahinein hätte ich geschrieben. Ich hätte viel geschrieben,
denn ich hätte viele Gedanken gehabt und Erinnerungen von Vielen.
Aber es ist anders gekommen, Gott wird wissen, warum. Meine alten
Möbel faulen in einer Scheune, in die ich sie habe stellen dürfen, und
ich selbst, ja, mein Gott, ich habe kein Dach über mir, und es regnet
mir in die Augen.

Manchmal gehe ich an kleinen Läden vorbei in der rue de Seine etwa.
Händler mit Altsachen oder kleine Buchantiquare oder
Kupferstichverkäufer mit überfüllten Schaufenstern. Nie tritt jemand
bei ihnen ein, sie machen offenbar keine Geschäfte. Sieht man aber
hinein, so sitzen sie, sitzen und lesen, unbesorgt; sorgen nicht um
morgen, ängstigen sich nicht um ein Gelingen, haben einen Hund, der
vor ihnen sitzt, gut aufgelegt, oder eine Katze, die die Stille noch
größer macht, indem sie die Bücherreihen entlang streicht, als wischte
sie die Namen von den Rücken.

Ach, wenn das genügte: ich wünschte manchmal, mir so ein volles
Schaufenster zu kaufen und mich mit einem Hund dahinterzusetzen für
zwanzig Jahre.

Es ist gut, es laut zu sagen: "Es ist nichts geschehen." Noch einmal:
"Es ist nichts geschehen." Hilft es?

Daß mein Ofen wieder einmal geraucht hat und ich ausgehen mußte, das
ist doch wirklich kein Unglück. Daß ich mich matt und erkältet fühle,
hat nichts zu bedeuten. Daß ich den ganzen Tag in den Gassen
umhergelaufen bin, ist meine eigene Schuld. Ich hätte ebensogut im
Louvre sitzen können. Oder nein, das hätte ich nicht. Dort sind
gewisse Leute, die sich wärmen wollen. Sie sitzen auf den Samtbänken,
und ihre Füße stehen wie große leere Stiefel nebeneinander auf den
Gittern der Heizungen. Es sind äußerst bescheidene Männer, die
dankbar sind, wenn die Diener in den dunklen Uniformen mit den vielen
Orden sie dulden. Aber wenn ich eintrete, so grinsen sie. Grinsen
und nicken ein wenig. Und dann, wenn ich vor den Bildern hin und her
gehe, behalten sie mich im Auge, immer im Auge, immer in diesem
umgerührten, zusammengeflossenen Auge. Es war also gut, daß ich nicht
ins Louvre gegangen bin. Ich bin immer unterwegs gewesen. Weiß der
Himmel in wie vielen Städten, Stadtteilen, Friedhöfen, Brücken und
Durchgängen. Irgendwo habe ich einen Mann gesehen, der einen
Gemüsewagen vor sich herschob. Er schrie: Choufleur, Chou-fleur, das
fleur mit eigentümlich trübem eu. Neben ihm ging eine eckige,
häßliche Frau, die ihn von Zeit zu Zeit anstieß. Und wenn sie ihn
anstieß, so schrie er. Manchmal schrie er auch von selbst, aber dann
war es umsonst gewesen, und er mußte gleich darauf wieder schreien,
weil man vor einem Hause war, welches kaufte. Habe ich schon gesagt,
daß er blind war? Nein? Also er war blind. Er war blind und schrie.
Ich fälsche, wenn ich das sage, ich unterschlage den Wagen, den er
schob, ich tue, als hätte ich nicht bemerkt, daß er Blumenkohl ausrief.
Aber ist das wesentlich? Und wenn es auch wesentlich wäre, kommt es
nicht darauf an, was die ganze Sache für mich gewesen ist? Ich habe
einen alten Mann gesehen, der blind war und schrie. Das habe ich
gesehen. Gesehen.

Wird man es glauben, daß es solche Häuser giebt? Nein, man wird sagen,
ich fälsche. Diesmal ist es Wahrheit, nichts weggelassen, natürlich
auch nichts hinzugetan. Woher sollte ich es nehmen? Man weiß, daß
ich arm bin. Man weiß es. Häuser? Aber, um genau zu sein, es waren
Häuser, die nicht mehr da waren. Häuser, die man abgebrochen hatte
von oben bis unten. Was da war, das waren die anderen Häuser, die
danebengestanden hatten, hohe Nachbarhäuser. Offenbar waren sie in
Gefahr, umzufallen, seit man nebenan alles weggenommen hatte; denn ein
ganzes Gerüst von langen, geteerten Mastbäumen war schräg zwischen den
Grund des Schuttplatzes und die bloßgelegte Mauer gerammt. Ich weiß
nicht, ob ich schon gesagt habe, daß ich diese Mauer meine. Aber es
war sozusagen nicht die erste Mauer der vorhandenen Häuser (was man
doch hätte annehmen müssen), sondern die letzte der früheren. Man sah
ihre Innenseite. Man sah in den verschiedenen Stockwerken Zimmerwände,
an denen noch die Tapeten klebten, da und dort den Ansatz des
Fußbodens oder der Decke. Neben den Zimmerwänden blieb die ganze
Mauer entlang noch ein schmutzigweißer Raum, und durch diesen kroch in
unsäglich widerlichen, wurmweichen, gleichsam verdauenden Bewegungen
die offene, rostfleckige Rinne der Abortröhre. Von den Wegen, die das
Leuchtgas gegangen war, waren graue, staubige Spuren am Rande der
Decken geblieben, und sie bogen da und dort, ganz unerwartet, rund um
und kamen in die farbige Wand hineingelaufen und in ein Loch hinein,
das schwarz und rücksichtslos ausgerissen war. Am unvergeßlichsten
aber waren die Wände selbst. Das zähe Leben dieser Zimmer hatte sich
nicht zertreten lassen. Es war noch da, es hielt sich an den Nägeln,
die geblieben waren, es stand auf dem bandbreiten Rest der Fußböden,
es war unter den Ansätzen der Ecken, wo es noch ein klein wenig
Innenraum gab, zusammengekrochen. Man konnte sehen, daß es in der
Farbe war, die es langsam, Jahr um Jahr, verwandelt hatte: Blau in
schimmliches Grün, Grün in Grau und Gelb in ein altes, abgestandenes
Weiß, das fault. Aber es war auch in den frischeren Stellen, die sich
hinter Spiegeln, Bildern und Schränken erhalten hatten; denn es hatte
ihre Umrisse gezogen und nachgezogen und war mit Spinnen und Staub
auch auf diesen versteckten Plätzen gewesen, die jetzt bloßlagen. Es
war in jedem Streifen, der abgeschunden war, es war in den feuchten
Blasen am unteren Rande der Tapeten, es schwankte in den abgerissenen
Fetzen, und aus den garstigen Flecken, die vor langer Zeit entstanden
waren, schwitzte es aus. Und aus diesen blau, grün und gelb gewesenen
Wänden, die eingerahmt waren von den Bruchbahnen der zerstörten
Zwischenmauern, stand die Luft dieser Leben heraus, die zähe, träge,
stockige Luft, die kein Wind noch zerstreut hatte. Da standen die
Mittage und die Krankheiten und das Ausgeatmete und der jahrealte
Rauch und der Schweiß, der unter den Schultern ausbricht und die
Kleider schwer macht, und das Fade aus den Munden und der Fuselgeruch
gärender Füße. Da stand das Scharfe vom Urin und das Brennen vom Ruß
und grauer Kartoffeldunst und der schwere, glatte Gestank von
alterndem Schmalze. Der süße, lange Geruch von vernachlässigten
Säuglingen war da und der Angstgeruch der Kinder, die in die Schule
gehen, und das Schwüle aus den Betten mannbarer Knaben. Und vieles
hatte sich dazugesellt, was von unten gekommen war, aus dem Abgrund
der Gasse, die verdunstete, und anderes war von oben herabgesickert
mit dem Regen, der über den Städten nicht rein ist. Und manches hatte
die schwachen, zahm gewordenen Hauswinde, die immer in derselben
Straße bleiben, zugetragen, und es war noch vieles da, wovon man den
Ursprung nicht wußte. Ich habe doch gesagt, daß man alle Mauern
abgebrochen hatte bis auf die letzte--? Nun von dieser Mauer spreche
ich fortwährend. Man wird sagen, ich hätte lange davorgestanden; aber
ich will einen Eid geben dafür, daß ich zu laufen begann, sobald ich
die Mauer erkannt hatte. Denn das ist das Schreckliche, daß ich sie
erkannt habe. Ich erkenne das alles hier, und darum geht es so ohne
weiteres in mich ein: es ist zu Hause in mir.

Ich war etwas erschöpft nach alledem, man kann wohl sagen angegriffen,
und darum war es zuviel für mich, daß auch er noch auf mich warten
mußte. Er wartete in der kleinen Crémerie, wo ich zwei Spiegeleier
essen wollte; ich war hungrig, ich war den ganzen Tag nicht dazu
gekommen zu essen. Aber ich konnte auch jetzt nichts zu mir nehmen;
ehe die Eier noch fertig waren, trieb es mich wieder hinaus in die
Straßen, die ganz dickflüssig von Menschen mir entgegenrannen. Denn
es war Fasching und Abend, und die Leute hatten alle Zeit und trieben
umher und rieben sich einer am andern. Und ihre Gesichter waren voll
von dem Licht, das aus den Schaubuden kam, und das Lachen quoll aus
ihren Munden wie Eiter aus offenen Stellen. Sie lachten immer mehr
und drängten sich immer enger zusammen, je ungeduldiger ich versuchte
vorwärts zu kommen. Das Tuch eines Frauenzimmers hakte sich irgendwie
an mir fest, ich zog sie hinter mir her, und die Leute hielten mich
auf und lachten, und ich fühlte, daß ich auch lachen sollte, aber ich
konnte es nicht. Jemand warf mir eine Hand Confetti in die Augen, und
es brannte wie eine Peitsche. An den Ecken waren die Menschen
festgekeilt, einer in den andern geschoben, und es war keine
Weiterbewegung in ihnen, nur ein leises, weiches Auf und Ab, als ob
sie sich stehend paarten. Aber obwohl sie standen und ich am Rande
der Fahrbahn, wo es Risse im Gedränge gab, hinlief wie ein Rasender,
war es in Wahrheit doch so, daß sie sich bewegten und ich mich nicht
rührte. Denn es veränderte sich nichts; wenn ich aufsah, gewahrte ich
immer noch dieselben Häuser auf der einen Seite und auf der anderen
die Schaubuden. Vielleicht auch stand alles fest, und es war nur ein
Schwindel in mir und ihnen, der alles zu drehen schien. Ich hatte
keine Zeit, darüber nachzudenken, ich war schwer von Schweiß, und es
kreiste ein betäubender Schmerz in mir, als ob in meinem Blute etwas
zu Großes mittriebe, das die Adern ausdehnte, wohin es kam. Und dabei
fühlte ich, daß die Luft längst zu Ende war und daß ich nur mehr
Ausgeatmetes einzog, das meine Lungen stehen ließen.

Aber nun ist es vorbei; ich habe es überstanden. Ich sitze in meinem
Zimmer bei der Lampe; es ist ein wenig kalt, denn ich wage es nicht,
den Ofen zu versuchen; was, wenn er rauchte und ich müßte wieder
hinaus? Ich sitze und denke: wenn ich nicht arm wäre, würde ich mir
ein anderes Zimmer mieten, ein Zimmer mit Möbeln, die nicht so
aufgebraucht sind, nicht so voll von früheren Mietern wie diese hier.
Zuerst war es mir wirklich schwer, den Kopf in diesen Lehnstuhl zu
legen; es ist da nämlich eine gewisse schmierig-graue Mulde in seinem
grünen Bezug, in die alle Köpfe zu passen scheinen. Längere Zeit
gebrauchte ich die Vorsicht, ein Taschentuch unter meine Haare zu
legen, aber jetzt bin ich zu müde dazu; ich habe gefunden, daß es auch
so geht und daß die kleine Vertiefung genau für meinen Hinterkopf
gemacht ist, wie nach Maß. Aber ich würde mir, wenn ich nicht arm
wäre, vor allem einen guten Ofen kaufen, und ich würde das reine,
starke Holz heizen, welches aus dem Gebirge kommt, und nicht diese
trostlosen têtes-de-moineau, deren Dunst das Atmen so bang macht und
den Kopf so wirr. Und dann müßte jemand da sein, der ohne grobes
Geräusch aufräumt und der das Feuer besorgt, wie ich es brauche; denn
oft, wenn ich eine Viertelstunde vor dem Ofen knien muß und rütteln,
die Stirnhaut gespannt von der nahen Glut und mit Hitze in den offenen
Augen, gebe ich alles aus, was ich für den Tag an Kraft habe, und wenn
ich dann unter die Leute komme, haben sie es natürlich leicht. Ich
würde manchmal, wenn großes Gedränge ist, einen Wagen nehmen,
vorbeifahren, ich würde täglich in einem Duval essen... und nicht mehr
in die Crémerien kriechen... Ob er wohl auch in einem Duval gewesen
wäre? Nein. Dort hätte er nicht auf mich warten dürfen. Sterbende
läßt man nicht hinein. Sterbende? Ich sitze ja jetzt in meiner Stube;
ich kann ja versuchen, ruhig über das nachzudenken, was mir begegnet
ist. Es ist gut, nichts im Ungewissen zu lassen. Also ich trat ein
und sah zuerst nur, daß der Tisch, an dem ich öfters zu sitzen pflegte,
von jemandem anderen eingenommen war. Ich grüßte nach dem kleinen
Buffet hin, bestellte und setzte mich nebenan. Aber da fühlte ich ihn,
obwohl er sich nicht rührte. Gerade seine Regungslosigkeit fühlte
ich und begriff sie mit einem Schlage. Die Verbindung zwischen uns
war hergestellt, und ich wußte, daß er erstarrt war vor Entsetzen.
Ich wußte, daß das Entsetzen ihn gelähmt hatte, Entsetzen über etwas,
was in ihm geschah. Vielleicht brach ein Gefäß in ihm, vielleicht
trat ein Gift, das er lange gefürchtet hatte, gerade jetzt in seine
Herzkammer ein, vielleicht ging ein großes Geschwür auf in seinem
Gehirn wie eine Sonne, die ihm die Welt verwandelte. Mit
unbeschreiblicher Anstrengung zwang ich mich, nach ihm hinzusehen,
denn ich hoffte noch, daß alles Einbildung sei. Aber es geschah, daß
ich aufsprang und hinausstürzte; denn ich hatte mich nicht geirrt. Er
saß da in einem dicken, schwarzen Wintermantel, und sein graues,
gespanntes Gesicht hing tief in ein wollenes Halstuch. Sein Mund war
geschlossen, als wäre er mit großer Wucht zugefallen, aber es war
nicht möglich zu sagen, ob seine Augen noch schauten: beschlagene,
rauchgraue Brillengläser lagen davor und zitterten ein wenig. Seine
Nasenflügel waren aufgerissen, und das lange Haar über seinen Schläfen,
aus denen alles weggenommen war, welkte wie in zu großer Hitze.
Seine Ohren waren lang, gelb, mit großen Schatten hinter sich. Ja, er
wußte, daß er sich jetzt von allem entfernte, nicht nur von den
Menschen. Ein Augenblick noch, und alles wird seinen Sinn verloren
haben, und dieser Tisch und die Tasse und der Stuhl, an den er sich
klammert, alles Tägliche und Nächste wird unverständlich geworden sein,
fremd und schwer. So saß er da und wartete, bis es geschehen sein
würde. Und wehrte sich nicht mehr.

Und ich wehre mich noch. Ich wehre mich, obwohl ich weiß, daß mir das
Herz schon heraushängt und daß ich doch nicht mehr leben kann, auch
wenn meine Quäler jetzt von mir abließen. Ich sage mir: es ist nichts
geschehen, und doch habe ich jenen Mann nur begreifen können, weil
auch in mir etwas vor sich geht, das anfängt, mich von allem zu
entfernen und abzutrennen. Wie graute mir immer, wenn ich von einem
Sterbenden sagen hörte: er konnte schon niemanden mehr erkennen. Dann
stellte ich mir ein einsames Gesicht vor, das sich aufhob aus Kissen
und suchte, nach etwas Bekanntem suchte, nach etwas schon einmal
Gesehenem suchte, aber es war nichts da. Wenn meine Furcht nicht so
groß wäre, so würde ich mich damit trösten, daß es nicht unmöglich ist,
alles anders zu sehen und doch zu leben. Aber ich fürchte mich, ich
fürchte mich namenlos vor dieser Veränderung. Ich bin ja noch gar
nicht in dieser Welt eingewöhnt gewesen, die mir gut scheint. Was
soll ich in einer anderen? Ich würde so gerne unter den Bedeutungen
bleiben, die mir lieb geworden sind, und wenn schon etwas sich
verändern muß, so möchte ich doch wenigstens unter den Hunden leben
dürfen, die eine verwandte Welt haben und dieselben Dinge.

Noch eine Weile kann ich das alles aufschreiben und sagen. Aber es
wird ein Tag kommen, da meine Hand weit von mir sein wird, und wenn
ich sie schreiben heißen werde, wird sie Worte schreiben, die ich
nicht meine. Die Zeit der anderen Auslegung wird anbrechen, und es
wird kein Wort auf dem anderen bleiben, und jeder Sinn wird wie Wolken
sich auflösen und wie Wasser niedergehen. Bei aller Furcht bin ich
schließlich doch wie einer, der vor etwas Großem steht, und ich
erinnere mich, daß es früher oft ähnlich in mir war, eh ich zu
schreiben begann. Aber diesmal werde ich geschrieben werden. Ich bin
der Eindruck, der sich verwandeln wird. Oh, es fehlt nur ein kleines,
und ich könnte das alles begreifen und gutheißen. Nur ein Schritt,
und mein tiefes Elend würde Seligkeit sein. Aber ich kann diesen
Schritt nicht tun, ich bin gefallen und kann mich nicht mehr aufheben,
weil ich zerbrochen bin. Ich habe ja immer noch geglaubt, es könnte
eine Hülfe kommen. Da liegt es vor mir in meiner eigenen Schrift, was
ich gebetet habe, Abend für Abend. Ich habe es mir aus den Büchern,
in denen ich es fand, abgeschrieben, damit es mir ganz nahe wäre und
aus meiner Hand entsprungen wie Eigenes. Und ich will es jetzt noch
einmal schreiben, hier vor meinem Tisch kniend will ich es schreiben;
denn so habe ich es länger, als wenn ich es lese, und jedes Wort
dauert an und hat Zeit zu verhallen.

'Mécontent de tous et mécontent de moi, je voudrais bien me racheter
et m'enorgueillir un peu dans le silence et la solitude de la nuit.
Âmes de ceux que j'ai aimés, âmes de ceux que j'ai chantés,
fortifiez-moi, soutenez-moi, éloignez de moi le mensonge et les
vapeurs corruptrices du monde; et vous, Seigneur mon Dieu!
accordez-moi la grâce de produire quelques beaux vers qui me prouvent
à moi-même que je ne suis pas le dernier des hommes, que je ne suis
pas inférieur à ceux que je méprise.'

'Die Kinder loser und verachteter Leute, die die Geringsten im Lande
waren. Nun bin ich ihr Saitenspiel worden und muß ihr Märlein sein.

... sie haben über mich einen Weg gemacht...

... es war ihnen so leicht, mich zu beschädigen, daß sie keiner Hülfe
dazu durften.

... nun aber geußet sich aus meiner Seele über mich, und mich hat
ergriffen die elende Zeit.

Des Nachts wird mein Gebein durchbohret allenthalben; und die mich
jagen, legen sich nicht schlafen.

Durch die Menge der Kraft werde ich anders und anders gekleidet; und
man gürtet mich damit wie mit dem Loch meines Rocks...

Meine Eingeweide sieden und hören nicht auf; mich hat überfallen die
elende Zeit...

Meine Harfe ist eine Klage worden, und meine Pfeife ein Weinen.'

Der Arzt hat mich nicht verstanden. Nichts. Es war ja auch schwer zu
erzählen. Man wollte einen Versuch machen mit dem Elektrisieren. Gut.
Ich bekam einen Zettel: ich sollte um ein Uhr in der Salpêtrère sein.
Ich war dort. Ich mußte lange an verschiedenen Baracken vorüber,
durch mehrere Höfe gehen, in denen da und dort Leute mit weißen Hauben
wie Sträflinge unter den leeren Bäumen standen. Endlich kam ich in
einen langen, dunklen, gangartigen Raum, der auf der einen Seite vier
Fenster aus mattem, grünlichem Glase hatte, eines vom anderen durch
eine breite, schwarze Zwischenwand getrennt. Davor lief eine Holzbank
hin, an allem vorbei, und auf dieser Bank saßen sie, die mich kannten,
und warteten. Ja, sie waren alle da. Als ich mich an die Dämmerung
des Raumes gewöhnt hatte, merkte ich, daß unter denen, welche Schulter
an Schulter in endloser Reihe dasaßen, auch einige andere Leute sein
konnten, kleine Leute, Handwerker, Bedienernnen und Lastkutscher.
Unten an der Schmalseite des Ganges auf besonderen Stühlen hatten sich
zwei dicke Frauen ausgebreitet, die sich unterhielten, vermutlich
Conciergen. Ich sah nach der Uhr; es war fünf Minuten vor Eins. Nun
in fünf, sagen wir in zehn Minuten, mußte ich drankommen; es war also
nicht so schlimm. Die Luft war schlecht, schwer, voll Kleider und
Atem. An einer gewissen Stelle schlug die starke, steigernde Kühle
von Äther aus einer Türspalte. Ich begann auf und ab zu gehen. Es
kam mir in den Sinn, daß man mich hierher gewiesen hatte, unter diese
Leute, in diese überfüllte, allgemeine Sprechstunde. Es war sozusagen
die erste öffentliche Bestätigung, daß ich zu den Fortgeworfenen
gehörte; hatte der Arzt es mir angesehen? Aber ich hatte meinen
Besuch in einem leidlich guten Anzuge gemacht, ich hatte meine Karte
hineingeschickt. Trotzdem, er mußte es irgendwie erfahren haben,
vielleicht hatte ich mich selbst verraten. Nun, da es einmal Tatsache
war, fand ich es auch gar nicht so arg; die Leute saßen still und
achteten nicht auf mich. Einige hatten Schmerzen und schwenkten ein
wenig das eine Bein, um sie leichter auszuhalten. Verschiedene Männer
hatten den Kopf in die flachen Hände gelegt, andere schliefen tief mit
schweren, verschütteten Gesichtern. Ein dicker Mann mit rotem,
angeschwollenem Halse saß vorübergebeugt da, stierte auf den Fußboden
und spie von Zeit zu Zeit klatschend auf einen Fleck, der ihm dazu
passend schien. Ein Kind schluchzte in einer Ecke; die langen magern
Beine hatte es zu sich auf die Bank gezogen, und nun hielt es sie
umfaßt und an sich gepreßt, als müßte es von ihnen Abschied nehmen.
Eine kleine, blasse Frau, der ein mit runden, schwarzen Blumen
geputzter Krepphut schief auf den Haaren saß, hatte die Grimasse eines
Lächelns um die dürftigen Lippen, aber ihre wunden Lider gingen
beständig über. Nicht weit von ihr hatte man ein Mädchen hingesetzt
mit rundem glatten Gesicht und herausgedrängten Augen, die ohne
Ausdruck waren; sein Mund stand offen, so daß man das weiße,
schleimige Zahnfleisch sah mit den alten, verkümmerten Zähnen. Und
viele Verbände gab es. Verbände, die den ganzen Kopf Schichte um
Schichte umzogen, bis nur noch ein einziges Auge da war, das niemandem
mehr gehörte. Verbände, die verbargen, und Verbände, die zeigten, was
darunter war. Verbände, die man geöffnet hatte und in denen nun, wie
in einem schmutzigen Bett, eine Hand lag, die keine mehr war; und ein
eingebundenes Bein, das aus der Reihe herausstand, groß wie ein ganzer
Mensch. Ich ging auf und ab und gab mir Mühe, ruhig zu sein. Ich
beschäftigte mich viel mit der gegenüberliegenden Wand. Ich bemerkte,
daß sie eine Anzahl einflügeliger Türen enthielt und nicht bis an die
Decke reichte, so daß dieser Gang von den Räumen, die daneben liegen
mußten, nicht ganz abgetrennt war. Ich sah nach der Uhr; ich war eine
Stunde auf und ab gegangen. Eine Weile später kamen die Ärzte.
Zuerst ein paar junge Leute, die mit gleichgültigen Gesichtern
vorbeigingen, schließlich der, bei dem ich gewesen war, in lichten
Handschuhen, Chapeau ähuit reflets, tadellosem Überzieher. Als er
mich sah, hob er ein wenig den Hut und lächelte zerstreut. Ich hatte
nun Hoffnung, gleich gerufen zu werden, aber es verging wieder eine
Stunde. Ich kann mich nicht erinnern, womit ich sie verbrachte. Sie
verging. Ein alter Mann kam in einer fleckigen Schürze, eine Art
Wärter, und berührte mich an der Schulter. Ich trat in eines der
Nebenzimmer. Der Arzt und die jungen Leute saßen um einen Tisch und
sahen mich an, man gab mir einen Stuhl. So. Und nun sollte ich
erzählen, wie das eigentlich mit mir wäre. Möglichst kurz, s'il vous
plaît. Denn viel Zeit hätten die Herren nicht. Mir war seltsam zumut.
Die jungen Leute saßen und sahen mich an mit jener überlegenen,
fachlichen Neugier, die sie gelernt hatten. Der Arzt, den ich kannte,
strich seinen schwarzen Spitzbart und lächelte zerstreut. Ich dachte,
daß ich in Weinen ausbrechen würde, aber ich hörte mich französisch
sagen: "Ich hatte bereits die Ehre, Ihnen, mein Herr, alle Auskünfte
zu geben, die ich geben kann. Halten Sie es für nötig, daß diese
Herren eingeweiht werden, so sind Sie nach unserer Unterredung gewiß
imstande, dies mit einigen Worten zu tun, während es mir sehr schwer
fällt." Der Arzt erhob sich mit höflichem Lächeln, trat mit den
Assistenten ans Fenster und sagte ein paar Worte, die er mit einer
waagerechten, schwankenden Handbewegung begleitete. Nach drei Minuten
kam einer von den jungen Leuten, kurzsichtig und fahrig, an den Tisch
zurück und sagte, indem er versuchte, mich strenge anzusehen: "Sie
schlafen gut, mein Herr?" "Nein, schlecht." Worauf er wieder zu der
Gruppe zurück sprang. Dort verhandelte man noch eine Weile, dann
wandte sich der Arzt an mich und teilte mir mit, daß man mich rufen
lassen würde. Ich erinnerte ihn, daß ich auf ein Uhr bestellt worden
sei. Er lächelte und machte ein paar schnelle, sprunghafte Bewegungen
mit seinen kleinen weißen Händen, die bedeuten wollten, daß er
ungemein beschäftigt sei. Ich kehrte also in meinen Gang zurück, in
dem die Luft viel lastender geworden war, und fing wieder an, hin und
her zu gehen, obwohl ich mich todmüde fühlte. Schließlich machte der
feuchte, angehäufte Geruch mich schwindlig; ich blieb an der
Eingangstür stehen und öffnete sie ein wenig. Ich sah, daß draußen
noch Nachmittag und etwas Sonne war, und das tat mir unsagbar wohl.
Aber ich hatte kaum eine Minute so gestanden, da hörte ich, daß man
mich rief. Eine Frauenperson, die zwei Schritte entfernt bei einem
kleinen Tische saß, zischte mir etwas zu. Wer mich geheißen hätte,
die Türe öffnen. Ich sagte, ich könnte die Luft nicht vertragen. Gut,
das sei meine Sache, aber die Türe müsse geschlossen bleiben. Ob es
denn nicht anginge, ein Fenster aufzumachen. Nein, das sei verboten.
Ich beschloß, das Aufundabgehen wieder aufzunehmen, weil es
schließlich eine Art Betäubung war und niemanden kränkte. Aber der
Frau an dem kleinen Tische mißfiel jetzt auch das. Ob ich denn keinen
Platz hätte. Nein, den hätte ich nicht. Das Herumgehen sei aber
nicht gestattet; ich müßte mir einen Platz suchen. Es würde schon
noch einer da sein. Die Frau hatte recht. Es fand sich wirklich
sogleich ein Platz neben dem Mädchen mit den herausdrängenden Augen.
Da saß ich nun in dem Gefühle, daß dieser Zustand unbedingt auf etwas
Fürchterliches vorbereiten müsse. Links war also das Mädchen mit dem
faulenden Zahnfleisch; was rechts von mir war, konnte ich erst nach
einer Weile erkennen. Es war eine ungeheuere, unbewegliche Masse, die
ein Gesicht hatte und eine große, schwere, reglose Hand. Die Seite
des Gesichtes, die ich sah, war leer, ganz ohne Züge und ohne
Erinnerungen, und es war un heimlich, daß der Anzug wie der einer
Leiche war, die man für den Sarg angekleidet hatte. Die schmale,
schwarze Halsbinde war in derselben losen unpersönlichen Weise um den
Kragen geschnallt, und dem Rock sah man es an, daß er von anderen über
diesen willenlosen Körper gezogen worden war. Die Hand hatte man auf
diese Hose gelegt, dorthin wo sie lag, und sogar das Haar war wie von
Leichenwäscherinnen gekämmt und war, wie das Haar ausgestopfter Tiere,
steif geordnet. Ich betrachtete das alles mit Aufmerksamkeit, und es
fiel mir ein, daß dies also der Platz sei, der für mich bestimmt
gewesen war, denn ich glaubte nun endlich an diejenige Stelle meines
Lebens gekommen zu sein, an der ich bleiben würde. Ja, das Schicksal
geht wunderbare Wege.

Plötzlich erhoben sich ganz in der Nähe rasch hintereinander die
erschreckten, abwehrenden Schreie eines Kindes, denen ein leises,
zugehaltenes Weinen folgte. Während ich mich anstrengte,
herauszufinden, wo das könnte gewesen sein, verzitterte wieder ein
kleiner, unterdrückter Schrei, und ich hörte Stimmen, die fragten,
eine Stimme, die halblaut befahl, und dann schnurrte irgend eine
gleichgültige Maschine los und kümmerte sich um nichts. Jetzt
erinnerte ich mich jener halben Wand, und es war mir klar, daß das
alles von jenseits der Türen kam und daß man dort an der Arbeit war.
Wirklich erschien von Zeit zu Zeit der Wärter mit der fleckigen
Schürze und winkte. Ich dachte gar nicht mehr daran, daß er mich
meinen könnte. Galt es mir? Nein. Zwei Männer waren da mit einem
Rollstuhl; sie hoben die Masse hinein, und ich sah jetzt, daß es ein
alter, lahmer Mann war, der noch eine andere, kleinere, vom Leben
abgenutzte Seite hatte mit einem offenen, trüben, traurigen Auge. Sie
fuhren ihn hinein, und neben mir entstand eine Menge Platz. Und ich
saß und dachte, was sie wohl dem blöden Mädchen tun wollten und ob es
auch schreien würde. Die Maschinen dahinten schnurrten so angenehm
fabrikmäßig, es hatte gar nichts Beunruhigendes.

Plötzlich aber war alles still, und in die Stille sagte eine
überlegene, selbstgefällige Stimme, die ich zu kennen glaubte:

"Riez!" Pause. "Riez. Mais riez, riez." Ich lachte schon. Es war
unerklärlich, weshalb der Mann da drüben nicht lachen wollte. Eine
Maschine ratterte los, verstummte aber sofort wieder, Worte wurden
gewechselt, dann erhob sich wieder dieselbe energische Stimme und
befahl: "Dites-nous le mot: avant." Buchstabierend: "a-v-a-n-t"...
Stille. "On n'entend rien. Encore une fois:... "

Und da, als es drüben so warm und schwammig lallte: da zum erstenmal
seit vielen, vielen Jahren war es wieder da. Das, was mir das erste,
tiefe Entsetzen eingejagt hatte, wenn ich als Kind im Fieber lag: das
Große. Ja, so hatte ich immer gesagt, wenn sie alle um mein Bett
standen und mir den Puls fühlten und mich fragten, was mich erschreckt
habe: Das Große. Und wenn sie den Doktor holten und er war da und
redete mir zu, so bat ich ihn, er möchte nur machen, daß das Große
wegginge, alles andere wäre nichts. Aber er war wie die andern. Er
konnte es nicht fortnehmen, obwohl ich damals doch klein war und mir
leicht zu helfen gewesen wäre. Und jetzt war es wieder da. Es war
später einfach ausgeblieben, auch in Fiebernächten war es nicht
wiedergekommen, aber jetzt war es da, obwohl ich kein Fieber hatte.
Jetzt war es da. Jetzt wuchs es aus mir heraus wie eine Geschwulst,
wie ein zweiter Kopf, und war ein Teil von mir, obwohl es doch gar
nicht zu mir gehören konnte, weil es so groß war. Es war da, wie ein
großes totes Tier, das einmal, als es noch lebte, meine Hand gewesen
war oder mein Arm. Und mein Blut ging durch mich und durch es, wie
durch einen und denselben Körper. Und mein Herz mußte sich sehr
anstrengen, um das Blut in das Große zu treiben: es war fast nicht
genug Blut da. Und das Blut trat ungern ein in das Große und kam
krank und schlecht zurück. Aber das Große schwoll an und wuchs mir
vor das Gesicht wie eine warme bläuliche Beule und wuchs mir vor den
Mund, und über meinem letzten Auge war schon der Schatten von seinem
Rande.

Ich kann mich nicht erinnern, wie ich durch die vielen Höfe
hinausgekommen war. Es war Abend, und ich verirrte mich in der
fremden Gegend und ging Boulevards mit endlosen Mauern in einer
Richtung hinauf und, wenn dann kein Ende da war, in der
entgegengesetzten Richtung zurück bis an irgendeinen Platz. Dort
begann ich eine Straße zu gehen, und es kamen andere Straßen, die ich
nie gesehen hatte, und wieder andere. Elektrische Bahnen rasten
manchmal überhell und mit hartem, klopfendem Geläute heran und vorbei.
Aber auf ihren Tafeln standen Namen, die ich nicht kannte. Ich wußte
nicht, in welcher Stadt ich war und ob ich hier irgendwo eine Wohnung
hatte und was ich tun mußte, um nicht mehr gehen zu müssen.

Und jetzt auch noch diese Krankheit, die mich immer schon so
eigentümlich berührt hat. Ich bin sicher, daß man sie unterschätzt.
Genau wie man die Bedeutung anderer Krankheiten übertreibt. Diese
Krankheit hat keine bestimmten Eigenheiten, sie nimmt die Eigenheiten
dessen an, den sie ergreift. Mit einer somnambulen Sicherheit holt
sie aus einem jeden seine tiefste Gefahr heraus, die vergangen schien,
und stellt sie wieder vor ihn hin, ganz nah, in die nächste Stunde.
Männer, die einmal in der Schulzeit das hülflose Laster versucht haben,
dessen betrogene Vertraute die armen, harten Knabenhände sind, finden
sich wieder darüber, oder es fängt eine Krankheit, die sie als Kinder
überwunden haben, wieder in ihnen an; oder eine verlorene Gewohnheit
ist wieder da, ein gewisses zögerndes Wenden des Kopfes, das ihnen vor
Jahren eigen war. Und mit dem, was kommt, hebt sich ein ganzes Gewirr
irrer Erinnerungen, das daranhängt wie nasser Tang an einer
versunkenen Sache. Leben, von denen man nie erfahren hätte, tauchen
empor und mischen sich unter das, was wirklich gewesen ist, und
verdrängen Vergangenes, das man zu kennen glaubte: denn in dem, was
aufsteigt, ist eine ausgeruhte, neue Kraft, das aber, was immer da war,
ist müde von zu oftem Erinnern.

Ich liege in meinem Bett, fünf Treppen hoch, und mein Tag, den nichts
unterbricht, ist wie ein Zifferblatt ohne Zeiger. Wie ein Ding, das
lange verloren war, eines Morgens auf seiner Stelle liegt, geschont
und gut, neuer fast als zur Zeit des Verlustes, ganz als ob es bei
irgend jemandem in Pflege gewesen wäre--: so liegt da und da auf
meiner Bettdecke Verlorenes aus der Kindheit und ist wie neu. Alle
verlorenen Ängste sind wieder da.

Die Angst, daß ein kleiner Wollfaden, der auf dem Saum der Decke
heraussteht, hart sei, hart und scharf wie eine stählerne Nadel; die
Angst, daß dieser kleine Knopf meines Nachthemdes größer sei als mein
Kopf, groß und schwer; die Angst, daß dieses Krümchen Brot, das jetzt
von meinem Bette fällt, gläsern und zerschlagen unten ankommen würde,
und die drückende Sorge, daß damit eigentlich alles zerbrochen sei,
alles für immer; die Angst, daß der Streifen Rand eines aufgerissenen
Briefes etwas Verbotenes sei, das niemand sehen dürfe, etwas
unbeschreiblich Kostbares, für das keine Stelle in der Stube sicher
genug sei; die Angst, daß ich, wenn ich einschliefe, das Stück Kohle
verschlucken würde, das vor dem Ofen liegt; die Angst, daß irgendeine
Zahl in meinem Gehirn zu wachsen beginnt, bis sie nicht mehr Raum hat
in mir; die Angst, daß das Granit sei, worauf ich liege, grauer Granit;
die Angst, daß ich schreien könnte und daß man vor meiner Türe
zusammenliefe und sie schließlich aufbräche, die Angst, daß ich mich
verraten könnte und alles das sagen, wovor ich mich fürchte, und die
Angst, daß ich nichts sagen könnte, weil alles unsagbar ist,--und die
anderen Ängste... die Ängste.

Ich habe um meine Kindheit gebeten, und sie ist wiedergekommen, und
ich fühle, daß sie immer noch so schwer ist wie damals und daß es
nichts genützt hat, älter zu werden.

Gestern war mein Fieber besser, und heute fängt der Tag wie Frühling
an, wie Frühling in Bildern. Ich will versuchen, auszugehen in die
Bibliothèque Nationale zu meinem Dichter, den ich so lange nicht
gelesen habe, und vielleicht kann ich später langsam durch die Gärten
gehen. Vielleicht ist Wind über dem großen Teich, der so wirkliches
Wasser hat, und es kommen Kinder, die ihre Schiffe mit den roten
Segeln hineinlassen und zuschauen.

Heute habe ich es nicht erwartet, ich bin so mutig ausgegangen, als
wäre das das Natürlichste und Einfachste. Und doch, es war wieder
etwas da, das mich nahm wie Papier, mich zusammenknüllte und fortwarf,
es war etwas Unerhörtes da.

Der Boulevard St-Michel war leer und weit, und es ging sich leicht auf
seiner leisen Neigung. Fensterflügel oben öffneten sich mit gläsernem
Aufklang, und ihr Glänzen flog wie ein weißer Vogel über die Straße.
Ein Wagen mit hellroten Rädern kam vorüber, und weiter unten trug
jemand etwas Lichtgrünes. Pferde liefen in blinkernden Geschirren auf
dem dunkel gespritzten Fahrdamm, der rein war. Der Wind war erregt,
neu, mild, und alles stieg auf: Gerüche, Rufe, Glocken.

Ich kam an einem der Caféhäuser vorbei, in denen am Abend die falschen
roten Zigeuner spielen. Aus den offenen Fenstern kroch mit schlechtem
Gewissen die übernächtige Luft. Glattgekämmte Kellner waren dabei,
vor der Türe zu scheuern. Der eine stand gebückt und warf, handvoll
nach handvoll, gelblichen Sand unter die Tische. Da stieß ihn einer
von den Vorübergehenden an und zeigte die Straße hinunter. Der
Kellner, der ganz rot im Gesicht war, schaute eine Weile scharf hin,
dann verbreitete sich ein Lachen auf seinen bartlosen Wangen, als wäre
es darauf verschüttet worden. Er winkte den andern Kellnern, drehte
das lachende Gesicht ein paarmal schnell von rechts nach links, um
alle herbeizurufen und selbst nichts zu versäumen. Nun standen alle
und blickten hinuntersehend oder -suchend, lächelnd oder ärgerlich,
daß sie noch nicht entdeckt hatten, was Lächerliches es gäbe.

Ich fühlte, daß ein wenig Angst in mir anfing. Etwas drängte mich auf
die andere Seite hinüber; aber ich begann nur schneller zu gehen und
überblickte unwillkürlich die wenigen Leute vor mir, an denen ich
nichts Besonderes bemerkte. Doch ich sah, daß der eine, ein
Laufbursche mit einer blauen Schürze und einem leeren Henkelkorb über
der einen Schulter, jemandem nachschaute. Als er genug hatte, drehte
er sich auf derselben Stelle nach den Häusern um und machte zu einem
lachenden Kommis hinüber die schwankende Bewegung vor der Stirne, die
allen geläufig ist. Dann blitzte er mit den schwarzen Äugen und kam
mir befriedigt und sich wiegend entgegen.

Ich erwartete, sobald mein Auge Raum hatte, irgendeine ungewöhnliche
und auffallende Figur zu sehen, aber es zeigte sich, daß vor mir
niemand ging, als ein großer hagerer Mann in einem dunklen Überzieher
und mit einem weichen, schwarzen Hut auf dem kurzen, fahlblonden Haar.
Ich vergewisserte mich, daß weder an der Kleidung, noch in dem
Benehmen dieses Mannes etwas Lächerliches sei, und versuchte schon, an
ihm vorüber den Boulevard hinunter zu schauen, als er über irgend
etwas stolperte. Da ich nahe hinter ihm folgte, nahm ich mich in acht,
aber als die Stelle kam, war da nichts, rein nichts. Wir gingen
beide weiter, er und ich, der Abstand zwischen uns blieb derselbe.
Jetzt kam ein Straßenübergang, und da geschah es, daß der Mann vor mir
mit ungleichen Beinen die Stufen des Gangsteigs hinunterhüpfte in der
Art etwa, wie Kinder manchmal während des Gehens aufhüpfen oder
springen, wenn sie sich freuen. Auf den jenseitigen Gangsteig kam er
einfach mit einem langen Schritt hinauf. Aber kaum war er oben, zog
er das eine Bein ein wenig an und hüpfte auf dem anderen einmal hoch
und gleich darauf wieder und wieder. Jetzt konnte man diese
plötzliche Bewegung wieder ganz gut für ein Stolpern halten, wenn man
sich einredete, es wäre da eine Kleinigkeit gewesen, ein Kern, die
glitschige Schale einer Frucht, irgend etwas; und das Seltsame war,
daß der Mann selbst an das Vorhandensein eines Hindernisses zu glauben
schien, denn er sah sich jedesmal mit jenem halb ärgerlichen, halb
vorwurfsvollen Blick, den die Leute in solchen Augenblicken haben,
nach der lästigen Stelle um. Noch einmal rief mich etwas Warnendes
auf die andere Seite der Straße, aber ich folgte nicht und blieb
immerfort hinter diesem Manne, indem ich meine ganze Aufmerksamkeit
auf seine Beine richtete. Ich muß gestehen, daß ich mich merkwürdig
erleichtert fühlte, als etwa zwanzig Schritte lang jenes Hüpfen nicht
wiederkam, aber da ich nun meine Äugen aufhob, bemerkte ich, daß dem
Manne ein anderes Ärgernis entstanden war. Der Kragen seines
Überziehers hatte sich aufgestellt; und wie er sich auch, bald mit
einer Hand, bald mit beiden umständlich bemühte, ihn niederzulegen, es
wollte nicht gelingen. Das kam vor. Es beunruhigte mich nicht. Aber
gleich darauf gewahrte ich mit grenzenloser Verwunderung, daß in den
beschäftigten Händen dieses Menschen zwei Bewegungen waren: eine
heimliche, rasche, mit welcher er den Kragen unmerklich hochklappte,
und jene andere ausführliche, anhaltende, gleichsam übertrieben
buchstabierte Bewegung, die das Umlegen des Kragens bewerkstelligen
sollte. Diese Beobachtung verwirrte mich so sehr, daß zwei Minuten
vergingen, ehe ich erkannte, daß im Halse des Mannes, hinter dem
hochgeschobenen Überzieher und den nervös agierenden Händen dasselbe
schreckliche, zweisilbige Hüpfen war, das seine Beine eben verlassen
hatte. Von diesem Augenblick an war ich an ihn gebunden. Ich begriff,
daß dieses Hüpfen in seinem Körper herumirrte, daß es versuchte, hier
und da auszubrechen. Ich verstand seine Angst vor den Leuten, und ich
begann selber vorsichtig zu prüfen, ob die Vorübergehenden etwas
merkten. Ein kalter Stich fuhr mir durch den Rücken, als seine Beine
plötzlich einen kleinen, zuckenden Sprung machten, aber niemand hatte
es gesehen, und ich dachte mir aus, daß auch ich ein wenig stolpern
wollte, im Falle jemand aufmerksam wurde. Das wäre gewiß ein Mittel,
Neugierige glauben zu machen, es hätte da doch ein kleines,
unscheinbares Hindernis im Wege gelegen, auf das wir zufällig beide
getreten hätten. Aber während ich so auf Hülfe sann, hatte er selbst
einen neuen, ausgezeichneten Ausweg gefunden. Ich habe vergessen zu
sagen, daß er einen Stock trug, nun, es war ein einfacher Stock, aus
dunklem Holze mit einem schlichten, rund gebogenen Handgriff. Und es
war ihm in seiner suchenden Angst in den Sinn gekommen, diesen Stock
zunächst mit einer Hand (denn wer weiß, wozu die zweite noch nötig
sein würde) auf den Rücken zu halten, gerade über die Wirbelsäule, ihn
fest ins Kreuz zu drücken und das Ende der runden Krücke in den Kragen
zu schieben, so daß man es hart und wie einen Halt hinter dem
Halswirbel und dem ersten Rückenwirbel spürte. Das war eine Haltung,
die nicht auffällig, höchstens ein wenig übermütig war; der
unerwartete Frühlingstag konnte das entschuldigen. Niemandem fiel es
ein, sich umzusehen, und nun ging es. Es ging vortrefflich. Freilich
beim nächsten Straßenübergange kamen zwei Hüpfer aus, zwei kleine,
halbunterdrückte Hüpfer, die vollkommen belanglos waren; und der eine,
wirklich sichtbare Sprung war so geschickt angebracht (es lag gerade
ein Spritzschlauch quer über dem Weg), daß nichts zu befürchten war.
Ja, noch ging alles gut; von Zeit zu Zeit griff auch die zweite Hand
an den Stock und preßte ihn fester an, und die Gefahr war gleich
wieder überstanden. Ich konnte nichts dagegen tun, daß meine Angst
dennoch wuchs. Ich wußte, daß, während er ging und mit unendlicher
Anstrengung versuchte, gleichgültig und zerstreut auszusehen, das
furchtbare Zucken in seinem Körper sich anhäufte; auch in mir war die
Angst, mit der er es wachsen und wachsen fühlte, und ich sah, wie er
sich an den Stock klammerte, wenn es innen in ihm zu rütteln begann.
Dann war der Ausdruck dieser Hände so unerbittlich und streng, daß ich
alle Hoffnung in seinen Willen setzte, der groß sein mußte. Aber was
war da ein Wille. Der Augenblick mußte kommen, da seine Kraft zu Ende
war, er konnte nicht weit sein. Und ich, der ich hinter ihm herging
mit stark schlagendem Herzen, ich legte mein bißchen Kraft zusammen
wie Geld, und indem ich auf seine Hände sah, bat ich ihn, er möchte
nehmen, wenn er es brauchte.

Ich glaube, daß er es genommen hat; was konnte ich dafür, daß es nicht
mehr war.

Auf der Place St-Michel waren viele Fahrzeuge und hin und her eilende
Leute, wir waren oft zwischen zwei Wagen und dann holte er Atem und
ließ sich ein wenig gehen, wie um auszuruhen, und ein wenig hüpfte es
und nickte ein wenig. Vielleicht war das die List, mit der die
gefangene Krankheit ihn überwinden wollte. Der Wille war an zwei
Stellen durchbrochen, und das Nachgeben hatte in den besessenen
Muskeln einen leisen, lockenden Reiz zurückgelassen und den zwingenden
Zweitakt. Aber der Stock war noch an seinem Platz, und die Hände
sahen böse und zornig aus; so betraten wir die Brücke, und es ging.
Es ging. Nun kam etwas Unsicheres in den Gang, nun lief er zwei
Schritte, und nun stand er. Stand. Die linke Hand löste sich leise
vom Stock ab und hob sich so langsam empor, daß ich sie vor der Luft
zittern sah; er schob den Hut ein wenig zurück und strich sich über
die Stirn. Er wandte ein wenig den Kopf, und sein Blick schwankte
über Himmel, Häuser und Wasser hin, ohne zu fassen, und dann gab er
nach. Der Stock war fort, er spannte die Arme aus, als ob er
auffliegen wollte, und es brach aus ihm aus wie eine Naturkraft und
bog ihn vor und riß ihn zurück und ließ ihn nicken und neigen und
schleuderte Tanzkraft aus ihm heraus unter die Menge. Denn schon
waren viele Leute um ihn, und ich sah ihn nicht mehr.

Was hätte es für einen Sinn gehabt, noch irgendwohin zu gehen, ich war
leer. Wie ein leeres Papier trieb ich an den Häusern entlang, den
Boulevard wieder hinauf.




Ein Briefentwurf.

Ich versuche es, Dir zu schreiben, obwohl es eigentlich nichts giebt
nach einem notwendigen Abschied. Ich versuche es dennoch, ich glaube,
ich muß es tun, weil ich die Heilige gesehen habe im Pantheon, die
einsame, heilige Frau und das Dach und die Tür und drin die Lampe mit
dem bescheidnen Lichtkreis und drüben die schlafende Stadt und den
Fluß und die Ferne im Mondschein. Die Heilige wacht über der
schlafenden Stadt. Ich habe geweint. Ich habe geweint, weil das
alles auf einmal so unerwartet da war. Ich habe davor geweint, ich
wußte mir nicht zu helfen.


Ich bin in Paris, die es hören freuen sich, die meisten beneiden mich.
Sie haben recht. Es ist eine große Stadt, groß, voll merkwürdiger
Versuchungen. Was mich betrifft, ich muß zugeben, daß ich ihnen in
gewisser Beziehung erlegen bin. Ich glaube, es läßt sich nicht anders
sagen. Ich bin diesen Versuchungen erlegen, und das hat gewisse
Veränderungen zur Folge gehabt, wenn nicht in meinem Charakter, so
doch in meiner Weltanschauung, jedenfalls in meinem Leben. Eine
vollkommen andere Auffassung aller Dinge hat sich unter diesen
Einflüssen in mir herausgebildet, und es sind gewisse Unterschiede da,
die mich von den Menschen mehr als alles Bisherige abtrennen. Eine
veränderte Welt. Ein neues Leben voll neuer Bedeutungen. Ich habe es
augenblicklich etwas schwer, weil alles zu neu ist. Ich bin ein
Anfänger in meinen eigenen Verhältnissen.

Ob es nicht möglich wäre, einmal das Meer zu sehen?

Ja, aber denke nur, ich bildete mir ein, Du könntest kommen. Hättest
Du mir vielleicht sagen können, ob es einen Arzt giebt? Ich habe
vergessen, mich danach zu erkundigen. Übrigens brauche ich es jetzt
nicht mehr.

Erinnerst Du Dich an Baudelaires unglaubliches Gedicht 'Une Charogne'?
Es kann sein, daß ich es jetzt verstehe. Abgesehen von der letzten
Strophe war er im Recht. Was sollte er tun, da ihm das widerfuhr? Es
war seine Aufgabe, in diesem Schrecklichen, scheinbar nur
Widerwärtigen das Seiende zu sehen, das unter allem Seienden gilt.
Auswahl und Ablehnung giebt es nicht. Hältst Du es für einen Zufall,
daß Flaubert seinen Saint-Julien-l'Hospitalier geschrieben hat? Es
kommt mir vor, als wäre das das Entscheidende: ob einer es über sich
bringt, sich zu dem Aussätzigen zu legen und ihn zu erwärmen mit der
Herzwärme der Liebesnächte, das kann nicht anders als gut ausgehen.

Glaube nur nicht, daß ich hier an Enttäuschungen leide, im Gegenteil.
Es wundert mich manchmal, wie bereit ich alles Erwartete aufgebe für
das Wirkliche, selbst wenn es arg ist.

Mein Gott, wenn etwas davon sich teilen ließe. Aber wäre es dann,
wäre es dann? Nein, es ist nur um den Preis des Alleinseins.

Die Existenz des Entsetzlichen in jedem Bestandteil der Luft. Du
atmest es ein mit Durchsichtigem; in dir aber schlägt es sich nieder,
wird hart, nimmt spitze, geometrische Formen an zwischen den Organen;
denn alles, was sich an Qual und Grauen begeben hat auf den Richt
plätzen, in den Folterstuben, den Tollhäusern, den Operationssälen,
unter den Brückenbögen im Nachherbst: alles das ist von einer zähen
Unvergänglichkeit, alles das besteht auf sich und hängt, eifersüchtig
auf alles Seiende, an seiner schrecklichen Wirklichkeit. Die Menschen
möchten vieles davon vergessen dürfen; ihr Schlaf feilt sanft über
solche Furchen im Gehirn, aber Träume drängen ihn ab und ziehen die
Zeichnungen nach. Und sie wachen auf und keuchen und lassen einer
Kerze Schein sich auflösen in der Finsternis und trinken, wie
gezuckertes Wasser, die halbhelle Beruhigung. Aber, ach, auf welcher
Kante hält sich diese Sicherheit. Nur eine geringste Wendung, und
schon wieder steht der Blick über Bekanntes und Freundliches hinaus,
und der eben noch so tröstliche Kontur wird deutlicher als ein Rand
von Grauen. Hüte dich vor dem Licht, das den Raum hohler macht; sieh
dich nicht um, ob nicht vielleicht ein Schatten hinter deinem
Aufsitzen aufsteht wie dein Herr. Besser vielleicht, du wärest in der
Dunkelheit geblieben und dein unabgegrenztes Herz hätte versucht, all
des Ununterscheidbaren schweres Herz zu sein. Nun hast du dich
zusammengenommen in dich, siehst dich vor dir aufhören in deinen
Händen, ziehst von Zeit zu Zeit mit einer ungenauen Bewegung dein
Gesicht nach. Und in dir ist beinah kein Raum; und fast stillt es
dich, daß in dieser Engheit in dir unmöglich sehr Großes sich
aufhalten kann; daß auch das Unerhörte binnen werden muß und sich
beschränken den Verhältnissen nach. Aber draußen, draußen ist es ohne
Absehen; und wenn es da draußen steigt, so füllt es sich auch in dir,
nicht in den Gefäßen, die teilweise in deiner Macht sind, oder im
Phlegma deiner gleichmütigen Organe: im Kapillaren nimmt es zu, röhrig
aufwärts gesaugt in die äußersten Verästelungen deines
zahlloszweigigen Daseins. Dort hebt es sich, dort übersteigt es dich,
kommt höher als dein Atem, auf den du dich hinaufflüchtest wie auf
deine letzte Stelle. Ach, und wohin dann, wohin dann? Dein Herz
treibt dich aus dir hinaus, dein Herz ist hinter dir her, und du
stehst fast schon außer dir und kannst nicht mehr zurück. Wie ein
Käfer, auf den man tritt, so quillst du aus dir hinaus, und dein
bißchen obere Härte und Anpassung ist ohne Sinn.

O Nacht ohne Gegenstände. O stumpfes Fenster hinaus, O sorgsam
verschlossene Türen; Einrichtungen von alters her, übernommen,
beglaubigt, nie ganz verstanden. O Stille im Stiegenhaus. Stille aus
den Nebenzimmern, Stille hoch oben an der Decke. O Mutter: o du
Einzige, die alle diese Stille verstellt hat, einst in der Kindheit.
Die sie auf sich nimmt, sagt: erschrick nicht, ich bin es. Die den
Mut hat, ganz in der Nacht diese Stille zu sein für das, was sich
fürchtet, was verkommt vor Furcht. Du zündest ein Licht an, und schon
das Geräusch bist du. Und du hälst es vor dich und sagst: ich bin es,
erschrick nicht. Und du stellst es hin, langsam, und es ist kein
Zweifel: du bist es, du bist das Licht um die gewohnten herzlichen
Dinge, die ohne Hintersinn da sind, gut, einfältig, eindeutig. Und
wenn es unruhigt in der Wand irgendwo, oder einen Schritt macht in den
Dielen: so lächelst du nur, lächelst, lächelst durchsichtig auf hellem
Grund in das bangsame Gesicht, das an dir forscht, als wärst du eins
und unterm Geheimnis mit jedem Halblaut, abgeredet mit ihm und
einverstanden. Gleicht eine Macht deiner Macht in der irdischen
Herrschaft? Sieh, Könige liegen und starren, und der
Geschichtenerzähler kann sie nicht ablenken. An den seligen Brüsten
ihrer Lieblingin überkriecht sie das Grauen und macht sie schlottrig
und lustlos. Du aber kommst und hältst das Ungeheuere hinter dir und
bist ganz und gar vor ihm; nicht wie ein Vorhang, den es da oder da
aufschlagen kann. Nein, als hättest du es überholt auf den Ruf hin,
der dich bedurfte. Als wärest du weit allem zuvorgekommen, was kommen
kann, und hättest im Rücken nur dein Hereilen, deinen ewigen Weg, den
Flug deiner Liebe.

Der Mouleur, an dem ich jeden Tag vorüberkomme, hat zwei Masken neben
seiner Tür ausgehängt. Das Gesicht der jungen Ertränkten, das man in
der Morgue abnahm, weil es schön war, weil es lächelte, weil es so
täuschend lächelte, als wüßte es. Und darunter sein wissendes Gesicht.
Diesen harten Knoten aus fest zusammengezogenen Sinnen. Diese
unerbittliche Selbstverdichtung fortwährend ausdampfen wollender Musik.
Das Antlitz dessen, dem ein Gott das Gehör verschlossen hat, damit
es keine Klänge gäbe, außer seinen. Damit er nicht beirrt würde durch
das Trübe und Hinfällige der Geräusche. Er, in dem ihre Klarheit und
Dauer war; damit nur die tonlosen Sinne ihm Welt eintrügen, lautlos,
eine gespannte, wartende Welt, unfertig, vor der Erschaffung des
Klanges.

Weltvollendender: wie, was als Regen fällt über die Erde und an die
Gewässer, nachlässig niederfällt, zufällig fallend,--unsichtbarer und
froh von Gesetz wieder aufstehend aus allem und steigt und schwebt und
die Himmel bildet: so erhob sich aus dir der Aufstieg unserer
Niederschläge und umwölbte die Welt mit Musik.

Deine Musik: daß sie hätte um die Welt sein dürfen; nicht um uns. Daß
man dir ein Hammerklavier erbaut hätte in der Thebaïs; und ein Engel
hätte dich hingeführt vor das einsame Instrument, durch die Reihen der
Wüstengebirge, in denen Könige ruhen und Hetären und Anachoreten. Und
er hätte sich hoch geworfen und fort, ängstlich, daß du begännest.

Und dann hättest du ausgeströmt, Strömender, ungehört; an das All
zurückgebend, was nur das All erträgt. Die Beduinen wären in der
Ferne vorbeigejagt, abergläubisch; die Kaufleute aber hätten sich
hingeworfen am Rande deiner Musik, als wärst du der Sturm. Einzelne
Löwen nur hätten dich weit bei Nacht umkreist, erschrocken vor sich
selbst, von ihrem bewegten Blute bedroht.

Denn wer holt dich jetzt aus den Ohren zurück, die lüstern sind? Wer
treibt sie aus den Musiksälen, die Käuflichen mit dem unfruchtbaren
Gehör, das hurt und niemals empfängt? Da strahlt Samen aus, und sie
halten sich unter wie Dirnen und spielen damit, oder er fällt, während
sie daliegen in ihren ungetanen Befriedigungen, wie Samen Onans
zwischen sie alle.

Wo aber, Herr, ein Jungfräulicher unbeschlafenen Ohrs läge bei deinem
Klang: er stürbe an Seligkeit oder er trüge Unendliches aus und sein
befruchtetes Hirn müßte bersten an lauter Geburt.

Ich unterschätze es nicht. Ich weiß, es gehört Mut dazu. Aber nehmen
wir für einen Augenblick an, es hätte ihn einer, diesen Courage de
luxe, ihnen nachzugehen, um dann für immer (denn wer könnte das wieder
vergessen oder verwechseln?) zu wissen, wo sie hernach hineinkriechen
und was sie den vielen übrigen Tag beginnen und ob sie schlafen bei
Nacht. Dies ganz besonders wäre festzustellen: ob sie schlafen. Aber
mit dem Mut ist es noch nicht getan. Denn sie kommen und gehen nicht
wie die übrigen Leute, denen zu folgen eine Kleinigkeit wäre. Sie
sind da und wieder fort, hingestellt und weggenommen wie Bleisoldaten.
Es sind ein wenig abgelegene Stellen, wo man sie findet, aber
durchaus nicht versteckte. Die Büsche treten zurück, der Weg wendet
sich ein wenig um den Rasenplatz herum: da stehen sie und haben eine
Menge durchsichtigen Raumes um sich, als ob sie unter einem Glassturz
stünden. Du könntest sie für nachdenkliche Spaziergänger halten,
diese unscheinbaren Männer von kleiner, in jeder Beziehung
bescheidener Gestalt. Aber du irrst. Siehst du die linke Hand, wie
sie nach etwas greift in der schiefen Tasche des alten Überziehers;
wie sie es findet und herausholt und den kleinen Gegenstand linkisch
und auffällig in die Luft hält? Es dauert keine Minute, so sind zwei,
drei Vögel da, Spatzen, die neugierig heranhüpfen. Und wenn es dem
Manne gelingt, ihrer sehr genauen Auffassung von Unbeweglichkeit zu
entsprechen, so ist kein Grund, warum sie nicht noch näher kommen
sollen. Und schließlich steigt der erste und schwirrt eine Weile
nervös in der Höhe jener Hand, die (weiß Gott) ein kleines Stück
abgenutzten süßen Brotes mit anspruchslosen, ausdrücklich
verzichtenden Fingern hinbietet. Und je mehr Menschen sich um ihn
sammeln, in entsprechendem Abstand natürlich, desto weniger hat er mit
ihnen gemein. Wie ein Leuchter steht er da, der ausbrennt, und
leuchtet mit dem Rest von Docht und ist ganz warm davon und hat sich
nie gerührt. Und wie er lockt, wie er anlockt, das können die vielen,
kleinen, dummen Vögel gar nicht beurteilen. Wenn die Zuschauer nicht
wären und man ließe ihn lange genug dastehen, ich bin sicher, daß auf
einmal ein Engel käme und überwände sich und äße den alten, süßlichen
Bissen aus der verkümmerten Hand. Dem sind nun, wie immer, die Leute
im Wege. Sie sorgen dafür, daß nur Vögel kommen; sie finden das
reichlich, und sie behaupten, er erwarte sich nichts anderes. Was
sollte sie auch erwarten, diese alte, verregnete Puppe, die ein wenig
schräg in der Erde steckt wie die Schiffsfiguren in den kleinen Gärten
zuhause; kommt auch bei ihr diese Haltung davon her, daß sie einmal
irgendwo vorne gestanden hat auf ihrem Leben, wo die Bewegung am
größten ist? Ist sie nun so verwaschen, weil sie einmal bunt war?
Willst du sie fragen?

Nur die Frauen frag nichts, wenn du eine füttern siehst. Denen könnte
man sogar folgen; sie tun es so im Vorbeigehen; es wäre ein Leichtes.
Aber laß sie. Sie wissen nicht, wie es kam. Sie haben auf einmal
eine Menge Brot in ihrem Handsack, und sie halten große Stücke hinaus
aus ihrer dünnen Mantille, Stücke, die ein bißchen gekaut sind und
feucht. Das tut ihnen wohl, daß ihr Speichel ein wenig in die Welt
kommt, daß die kleinen Vögel mit diesem Beigeschmack herumfliegen,
wenn sie ihn natürlich auch gleich wieder vergessen.

Da saß ich an deinen Büchern, Eigensinniger, und versuchte sie zu
meinen wie die andern, die dich nicht beisammen lassen und sich ihren
Anteil genommen haben, befriedigt. Denn da begriff ich noch nicht den
Ruhm, diesen öffentlichen Abbruch eines Werdenden, in dessen Bauplatz
die Menge einbricht, ihm die Steine verschiebend.

Junger Mensch irgendwo, in dem etwas aufsteigt, was ihn erschauern
macht, nütz es, daß dich keiner kennt. Und wenn sie dir widersprechen,
die dich für nichts nehmen, und wenn sie dich ganz aufgeben, die, mit
denen du umgehst, und wenn sie dich ausrotten wollen, um deiner lieben
Gedanken willen, was ist diese deutliche Gefahr, die dich zusammenhält
in dir, gegen die listige Feindschaft später des Ruhms, die dich
unschädlich macht, indem sie dich ausstreut.

Bitte keinen, daß er von dir spräche, nicht einmal verächtlich. Und
wenn die Zeit geht und du merkst, wie dein Name herumkommt unter den
Leuten, nimm ihn nicht ernster als alles, was du in ihrem Munde
findest. Denk: er ist schlecht geworden, und tu ihn ab. Nimm einen
andern an, irgendeinen, damit Gott dich rufen kann in der Nacht. Und
verbirg ihn vor allen.

Du Einsamster, Abseitiger, wie haben sie dich eingeholt auf deinem
Ruhm. Wie lang ist es her, da waren sie wider dich von Grund aus, und
jetzt gehen sie mit dir um, wie mit ihresgleichen. Und deine Worte
führen sie mit sich in den Käfigen ihres Dünkels und zeigen sie auf
den Plätzen und reizen sie ein wenig von ihrer Sicherheit aus. Alle
deine schrecklichen Raubtiere.

Da las ich dich erst, da sie mir ausbrachen und mich anfielen in
meiner Wüste, die Verzweifelten. Verzweifelt, wie du selber warst am
Schluß, du, dessen Bahn falsch eingezeichnet steht in allen Karten.
Wie ein Sprung geht sie durch die Himmel, diese hoffnungslose Hyperbel
deines Weges, die sich nur einmal heranbiegt an uns und sich entfernt
voll Entsetzen. Was lag dir daran, ob eine Frau bleibt oder fortgeht
und ob einen der Schwindel ergreift und einen der Wahnsinn und ob Tote
lebendig sind und Lebendige scheintot: was lag dir daran? Dies alles
war so natürlich für dich; da gingst du durch, wie man durch einen
Vorraum geht, und hieltst dich nicht auf. Aber dort weiltest du und
warst gebückt, wo unser Geschehen kocht und sich niederschlägt und die
Farbe verändert, innen. Innerer als dort, wo je einer war; eine Tür
war dir aufgesprungen, und nun warst du bei den Kolben im Feuerschein.
Dort, wohin du nie einen mitnahmst, Mißtrauischer, dort saßest du und
unterschiedest Übergänge. Und dort, weil das Aufzeigen dir im Blute
war und nicht das Bilden oder das Sagen, dort faßtest du den
ungeheuren Entschluß, dieses Winzige, das du selber zuerst nur durch
Gläser gewahrtest, ganz allein gleich so zu vergrößern, daß es vor
Tausenden sei, riesig, vor allen. Dein Theater entstand. Du konntest
nicht warten, daß dieses fast raumlose von den Jahrhunderten zu
Tropfen zusammengepreßte Leben von den anderen Künsten gefunden und
allmählich versichtbart werde für einzelne, die sich nach und nach
zusammenfinden zur Einsicht und die endlich verlangen, gemeinsam die
erlauchten Gerüchte bestätigt zu sehen im Gleichnis der vor ihnen
aufgeschlagenen Szene. Dies konntest du nicht abwarten, du warst da,
du mußtest das kaum Meßbare: ein Gefühl, das um einen halben Grad
stieg, den Ausschlagswinkel eines von fast nichts beschwerten Willens,
den du ablasest von ganz nah, die leichte Trübung in einem Tropfen
Sehnsucht und dieses Nichts von Farbenwechsel in einem Atom von
Zutrauen: dieses mußtest du feststellen und aufbehalten; denn in
solchen Vorgängen war jetzt das Leben, unser Leben, das in uns
hineingeglitten war, das sich nach innen zurückgezogen hatte, so tief,
daß es kaum noch Vermutungen darüber gab.

So wie du warst, auf das Zeigen angelegt, ein zeitlos tragischer
Dichter, mußtest du dieses Kapillare mit einem Schlag umsetzen in die
überzeugendsten Gebärden, in die vorhandensten Dinge. Da gingst du an
die beispiellose Gewalttat deines Werkes, das immer ungeduldiger,
immer verzweifelter unter dem Sichtbaren nach den Äquivalenten suchte
für das innen Gesehene. Da war ein Kaninchen, ein Bodenraum, ein Saal,
in dem einer auf und nieder geht: da war ein Glasklirren im
Nebenzimmer, ein Brand vor den Fenstern, da war die Sonne. Da war
eine Kirche und ein Felsental, das einer Kirche glich. Aber das
reichte nicht aus; schließlich mußten die Türme herein und die ganzen
Gebirge; und die Lawinen, die die Landschaften begraben, verschütteten
die mit Greifbarem überladene Bühne um des Unfaßlichen willen. Da
konntst du nicht mehr. Die beiden Enden, die du zusammengebogen
hattest, schnellten aus einander; deine wahnsinnige Kraft entsprang
aus dem elastischen Stab, und dein Werk war wie nicht.

Wer begriffe es sonst, daß du zum Schluß nicht vom Fenster
fortwolltest, eigensinnig wie du immer warst. Die Vorübergehenden
wolltest du sehen; denn es war dir der Gedanke gekommen, ob man nicht
eines Tages etwas machen könnte aus ihnen, wenn man sich entschlösse
anzufangen.

Damals zuerst fiel es mir auf, daß man von einer Frau nichts sagen
könne; ich merkte, wenn sie von ihr erzählten, wie sie sie aussparten,
wie sie die anderen nannten und beschrieben, die Umgebungen, die
Örtlichkeiten, die Gegenstände bis an eine bestimmte Stelle heran, wo
das alles aufhörte, sanft und gleichsam vorsichtig aufhörte mit dem
leichten, niemals nachgezogenen Kontur, der sie einschloß. Wie war
sie? fragte ich dann. "Blond, ungefähr wie du", sagten sie und
zählten allerhand auf, was sie sonst noch wußten; aber darüber wurde
sie wieder ganz ungenau, und ich konnte mir nichts mehr vorstellen.
Sehen eigentlich konnte ich sie nur, wenn Maman mir die Geschichte
erzählte, die ich immer wieder verlangte--.--Dann pflegte sie
jedesmal, wenn sie zu der Szene mit dem Hunde kam, die Augen zu
schließen und das ganz verschlossene, aber überall durchscheinende
Gesicht irgendwie inständig zwischen ihre beiden Hände zu halten, die
es kalt an den Schläfen berührten. "Ich hab es gesehen, Malte",
beschwor sie: "Ich hab es gesehen." Das war schon in ihren letzten
Jahren, da ich dies von ihr gehört habe. In der Zeit, wo sie
niemanden mehr sehen wollte und wo sie immer, auch auf Reisen, das
kleine, dichte, silberne Sieb bei sich hatte, durch das sie alle
Getränke seihte. Speisen von fester Form nahm sie nie mehr zu sich,


 


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