Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
by
Rainer Maria Rilke

Part 2 out of 4



es sei denn etwas Biskuit oder Brot, das sie, wenn sie allein war,
zerbröckelte und Krümel für Krümel aß, wie Kinder Krümel essen. Ihre
Angst vor Nadeln beherrschte sie damals schon völlig. Zu den anderen
sagte sie nur, um sich zu entschuldigen: "Ich vertrage rein nichts
mehr, aber es muß euch nicht stören, ich befinde mich ausgezeichnet
dabei." Zu mir aber konnte sie sich plötzlich hinwenden (denn ich war
schon ein bißchen erwachsen) und mit einem Lächeln, das sie sehr
anstrengte, sagen: "Was es doch für viele Nadeln giebt, Malte, und wo
sie überall herumliegen, und wenn man bedenkt, wie leicht sie
herausfallen..." Sie hielt darauf, es recht scherzend zu sagen; aber
das Entsetzen schüttelte sie bei dem Gedanken an alle die schlecht
befestigten Nadeln, die jeden Augenblick irgendwo hineinfallen konnten.


Wenn sie aber von Ingeborg erzählte, dann konnte ihr nichts geschehen;
dann schonte sie sich nicht; dann sprach sie lauter, dann lachte sie
in der Erinnerung an Ingeborgs Lachen, dann sollte man sehen, wie
schön Ingeborg gewesen war. "Sie machte uns alle froh", sagte sie,
"deinen Vater auch, Malte, buchstäblich froh. Aber dann, als es hieß,
daß sie sterben würde, obwohl sie doch nur ein wenig krank schien, und
wir gingen alle herum und verbargen es, da setzte sie sich einmal im
Bette auf und sagte so vor sich hin, wie einer, der hören will, wie
etwas klingt: 'Ihr müßt euch nicht so zusammennehmen; wir wissen es
alle, und ich kann euch beruhigen, es ist gut so wie es kommt, ich mag
nicht mehr.' Stell dir vor, sie sagte: 'Ich mag nicht mehr'; sie, die
uns alle froh machte. Ob du das einmal verstehen wirst, wenn du groß
bist, Malte? Denk daran später, vielleicht fällt es dir ein. Es wäre
ganz gut, wenn es jemanden gäbe, der solche Sachen versteht."

'Solche Sachen' beschäftigten Maman, wenn sie allein war, und sie war
immer allein diese letzten Jahre.

"Ich werde ja nie darauf kommen, Malte", sagte sie manchmal mit ihrem
eigentümlich kühnen Lächeln, das von niemandem gesehen sein wollte und
seinen Zweck ganz erfüllte, indem es gelächelt ward. "Aber daß es
keinen reizt, das herauszufinden; wenn ich ein Mann wäre, ja gerade
wenn ich ein Mann wäre, würde ich darüber nachdenken, richtig der
Reihe und Ordnung nach und von Anfang an. Denn einen Anfang muß es
doch geben, und wenn man ihn zu fassen bekäme, das wäre immer schon
etwas. Ach Malte, wir gehen so hin, und mir kommt vor, daß alle
zerstreut sind und beschäftigt und nicht recht achtgeben, wenn wir
hingehen. Als ob eine Sternschnuppe fiele und es sieht sie keiner und
keiner hat sich etwas gewünscht. Vergiß nie, dir etwas zu wünschen,
Malte. Wünschen, das soll man nicht aufgeben. Ich glaube, es giebt
keine Erfüllung, aber es giebt Wünsche, die lange vorhalten, das ganze
Leben lang, so daß man die Erfüllung doch gar nicht abwarten könnte."

Maman hatte Ingeborgs kleinen Sekretär hinauf in ihr Zimmer stellen
lassen, davor fand ich sie oft, denn ich durfte ohne weiteres bei ihr
eintreten. Mein Schritt verging völlig in dem Teppich, aber sie
fühlte mich und hielt mir eine ihrer Hände über die andere Schulter
hin. Diese Hand war ganz ohne Gewicht, und sie küßte sich fast wie
das elfenbeinerne Kruzifix, das man mir abends vor dem Einschlafen
reichte. An diesem niederen Schreibschrank, der mit einer Platte sich
vor ihr aufschlug, saß sie wie an einem Instrument. "Es ist so viel
Sonne drin", sagte sie, und wirklich, das Innere war merkwürdig hell,
von altem, gelbem Lack, auf dem Blumen gemalt waren, immer eine rote
und eine blaue. Und wo drei nebeneinanderstanden, gab es eine
violette zwischen ihnen, die die beiden anderen trennte. Diese Farben
und das Grün des schmalen, waagerechten Rankenwerks waren ebenso
verdunkelt in sich, wie der Grund strahlend war, ohne eigentlich klar
zu sein. Das ergab ein seltsam gedämpftes Verhältnis von Tönen, die
in innerlichen gegenseitigen Beziehungen standen, ohne sich über sie
auszusprechen.

Maman zog die kleinen Laden heraus, die alle leer waren.

"Ach, Rosen", sagte sie und hielt sich ein wenig vor in den trüben
Geruch hinein, der nicht alle wurde. Sie hatte dabei immer die
Vorstellung, es könnte sich plötzlich noch etwas finden in einem
geheimen Fach, an das niemand gedacht hatte und das nur dem Druck
irgendeiner versteckten Feder nachgab. "Auf einmal springt es vor, du
sollst sehen", sagte sie ernst und ängstlich und zog eilig an allen
Laden. Was aber wirklich an Papieren in den Fächern zurückgeblieben
war, das hatte sie sorgfältig zusammengelegt und eingeschlossen, ohne
es zu lesen. "Ich verstünde es doch nicht, Malte, es wäre sicher zu
schwer für mich." Sie hatte die Überzeugung, daß alles zu kompliziert
für sie sei. "Es giebt keine Klassen im Leben für Anfänger, es ist
immer gleich das Schwierigste, was von einem verlangt wird." Man
versicherte mir, daß sie erst seit dem schrecklichen Tode ihrer
Schwester so geworden sei, der Gräfin Öllegaard Skeel, die verbrannte,
da sie sich vor einem Balle am Leuchterspiegel die Blumen im Haar
anders anstecken wollte. Aber in letzter Zeit schien ihr doch
Ingeborg das, was am schwersten zu begreifen war.

Und nun will ich die Geschichte aufschreiben, so wie Maman sie erzählte,
wenn ich darum bat.

Es war mitten im Sommer, am Donnerstag nach Ingeborgs Beisetzung. Von
dem Platze auf der Terrasse, wo der Tee genommen wurde, konnte man den
Giebel des Erbbegräbnisses sehen zwischen den riesigen Ulmen hin. Es
war so gedeckt worden, als ob nie eine Person mehr an diesem Tisch
gesessen hätte, und wir saßen auch alle recht ausgebreitet herum. Und
jeder hatte etwas mitgebracht, ein Buch oder einen Arbeitskorb, so daß
wir sogar ein wenig beengt waren. Abelone (Mamans jüngste Schwester)
verteilte den Tee, und alle waren beschäftigt, etwas herumzureichen,
nur dein Großvater sah von seinem Sessel aus nach dem Hause hin. Es
war die Stunde, da man die Post erwartete, und es fügte sich meistens
so, daß Ingeborg sie brachte, die mit den Anordnungen für das Essen
länger drin zurückgehalten war. In den Wochen ihrer Krankheit hatten
wir nun reichlich Zeit gehabt, uns ihres Kommens zu entwöhnen; denn
wir wußten ja, daß sie nicht kommen könne. Aber an diesem Nachmittag,
Malte, da sie wirklich nicht mehr kommen konnte--: da kam sie.
Vielleicht war es unsere Schuld; vielleicht haben wir sie gerufen.
Denn ich erinnere mich, daß ich auf einmal dasaß und angestrengt war,
mich zu besinnen, was denn eigentlich nun anders sei. Es war mir
plötzlich nicht möglich zu sagen, was; ich hatte es völlig vergessen.
Ich blickte auf und sah alle andern dem Hause zugewendet, nicht etwa
auf eine besondere, auffällige Weise, sondern so recht ruhig und
alltäglich in ihrer Erwartung. Und da war ich daran--(mir wird ganz
kalt, Malte, wenn ich es denke) aber, Gott behüt mich, ich war daran
zu sagen: "Wo bleibt nur--" Da schoß schon Cavalier, wie er immer tat,
unter dem Tisch hervor und lief ihr entgegen. Ich hab es gesehen,
Malte, ich hab es gesehen. Er lief ihr entgegen, obwohl sie nicht kam;
für ihn kam sie. Wir begriffen, daß er ihr entgegenlief. Zweimal
sah er sich nach uns um, als ob er fragte. Dann raste er auf sie zu,
wie immer, Malte, genau wie immer, und erreichte sie; denn er begann
rund herum zu springen, Malte, um etwas, was nicht da war, und dann
hinauf an ihr, um sie zu lecken, gerade hinauf. Wir hörten ihn
winseln vor Freude, und wie er so in die Höhe schnellte, mehrmals
rasch hintereinander, hätte man wirklich meinen können, er verdecke
sie uns mit seinen Sprüngen. Aber da heulte es auf einmal, und er
drehte sich von seinem eigenen Schwunge in der Luft um und stürzte
zurück, merkwürdig ungeschickt, und lag ganz eigentümlich flach da und
rührte sich nicht. Von der andern Seite trat der Diener aus dem Hause
mit den Briefen. Er zögerte eine Weile; offenbar war es nicht ganz
leicht, auf unsere Gesichter zuzugehen. Und dein Vater winkte ihm
auch schon, zu bleiben. Dein Vater, Malte, liebte keine Tiere; aber
nun ging er doch hin, langsam wie mir schien, und bückte sich über den
Hund. Er sagte etwas zu dem Diener, irgend etwas Kurzes, Einsilbiges.
Ich sah, wie der Diener hinzusprang, um Cavalier aufzuheben. Aber da
nahm dein Vater selbst das Tier und ging damit, als wüßte er genau
wohin, ins Haus hinein.

Einmal, als es über dieser Erzählung fast dunkel geworden war, war ich
nahe daran, Maman von der 'Hand' zu erzählen: in diesem Augenblick
hätte ich es gekonnt. Ich atmete schon auf, um anzufangen, aber da
fiel mir ein, wie gut ich den Diener begriffen hatte, daß er nicht
hatte kommen können auf ihre Gesichter zu. Und ich fürchtete mich
trotz der Dunkelheit vor Mamans Gesicht, wenn es sehen würde, was ich
gesehen habe. Ich holte rasch noch einmal Atem, damit es den Anschein
habe, als hätte ich nichts anderes gewollt. Ein paar Jahre hernach,
nach der merkwürdigen Nacht in der Galerie auf Urnekloster, ging ich
tagelang damit um, mich dem kleinen Erik anzuvertrauen. Aber er hatte
sich nach unserem nächtlichen Gespräch wieder ganz vor mir
zugeschlossen, er vermied mich; ich glaube, daß er mich verachtete.
Und gerade deshalb wollte ich ihm von der 'Hand' erzählen. Ich
bildete mir ein, ich würde in seiner Meinung gewinnen (und das
wünschte ich dringend aus irgendeinem Grunde), wenn ich ihm
begreiflich machen könnte, daß ich das wirklich erlebt hatte. Erik
aber war so geschickt im Ausweichen, daß es nicht dazu kam. Und dann
reisten wir ja auch gleich. So ist es, wunderlich genug, das erstemal,
daß ich (und schließlich auch nur mir selber) eine Begebenheit
erzähle, die nun weit zurückliegt in meiner Kindheit.

Wie klein ich damals noch gewesen sein muß, sehe ich daran, daß ich
auf dem Sessel kniete, um bequem auf den Tisch hinaufzureichen, auf
dem ich zeichnete. Es war am Abend, im Winter, wenn ich nicht irre,
in der Stadtwohnung. Der Tisch stand in meinem Zimmer, zwischen den
Fenstern, und es war keine Lampe im Zimmer, als die, die auf meine
Blätter schien und auf Mademoiselles Buch; denn Mademoiselle saß neben
mir, etwas zurückgerückt, und las. Sie war weit weg, wenn sie las,
ich weiß nicht, ob sie im Buche war; sie konnte lesen, stundenlang,
sie blätterte selten um, und ich hatte den Eindruck, als würden die
Seiten immer voller unter ihr, als schaute sie Worte hinzu, bestimmte
Worte, die sie nötig hatte und die nicht da waren. Das kam mir so vor,
während ich zeichnete. Ich zeichnete langsam, ohne sehr entschiedene
Absicht, und sah alles, wenn ich nicht weiter wußte, mit ein wenig
nach rechts geneigtem Kopfe an; so fiel mir immer am raschesten ein,
was noch fehlte. Es waren Offiziere zu Pferd, die in die Schlacht
ritten, oder sie waren mitten drin, und das war viel einfacher, weil
dann fast nur der Rauch zu machen war, der alles einhüllte. Maman
freilich behauptet nun immer, daß es Inseln gewesen waren, was ich
malte; Inseln mit großen Bäumen und einem Schloß und einer Treppe und
Blumen am Rand, die sich spiegeln sollten im Wasser. Aber ich glaube,
das erfindet sie, oder es muß später gewesen sein.

Es ist ausgemacht, daß ich an jenem Abend einen Ritter zeichnete,
einen einzelnen, sehr deutlichen Ritter auf einem merkwürdig
bekleideten Pferd. Er wurde so bunt, daß ich oft die Stifte wechseln
mußte, aber vor allem kam doch der rote in Betracht, nach dem ich
immer wieder griff. Nun hatte ich ihn noch einmal nötig; da rollte er
(ich sehe ihn noch) quer über das beschienene Blatt an den Rand und
fiel, ehe ichs verhindern konnte, an mir vorbei hinunter und war fort.
Ich brauchte ihn wirklich dringend, und es war recht ärgerlich, ihm
nun nachzuklettern. Ungeschickt, wie ich war, kostete es mich
allerhand Veranstaltungen, hinunterzukommen; meine Beine schienen mir
viel zu lang, ich konnte sie nicht unter mir hervorziehen; die zu
lange ein gehaltene knieende Stellung hatte meine Glieder dumpf
gemacht; ich wußte nicht, was zu mir und was zum Sessel gehörte.
Endlich kam ich doch, etwas konfus, unten an und befand mich auf einem
Fell, das sich unter dem Tisch bis gegen die Wand hinzog. Aber da
ergab sich eine neue Schwierigkeit. Eingestellt auf die Helligkeit da
oben und noch ganz begeistert für die Farben auf dem weißen Papier,
vermochten meine Augen nicht das geringste unter dem Tisch zu erkennen,
wo mir das Schwarze so zugeschlossen schien, daß ich bange war, daran
zu stoßen. Ich verließ mich also auf mein Gefühl und kämmte, knieend
und auf die linke gestützt, mit der andern Hand in dem kühlen,
langhaarigen Teppich herum, der sich recht vertraulich anfühlte; nur
daß kein Bleistift zu spüren war. Ich bildete mir ein, eine Menge
Zeit zu verlieren, und wollte eben schon Mademoiselle anrufen und sie
bitten, mir die Lampe zu halten, als ich merkte, daß für meine
unwillkürlich angestrengten Augen das Dunkel nach und nach
durchsichtiger wurde. Ich konnte schon hinten die Wand unterscheiden,
die mit einer hellen Leiste abschloß; ich orientierte mich über die
Beine des Tisches; ich erkannte vor allem meine eigene, ausgespreizte
Hand, die sich ganz allein, ein bißchen wie ein Wassertier, da unten
bewegte und den Grund untersuchte. Ich sah ihr, weiß ich noch, fast
neugierig zu; es kam mir vor, als könnte sie Dinge, die ich sie nicht
gelehrt hatte, wie sie da unten so eigenmächtig herumtastete mit
Bewegungen, die ich nie an ihr beobachtet hatte. Ich verfolgte sie,
wie sie vordrang, es interessierte mich, ich war auf allerhand
vorbereitet. Aber wie hätte ich darauf gefaßt sein sollen, daß ihr
mit einem Male aus der Wand eine andere Hand entgegenkam, eine größere,
ungewöhnlich magere Hand, wie ich noch nie eine gesehen hatte. Sie
suchte in ähnlicher Weise von der anderen Seite her, und die beiden
gespreizten Hände bewegten sich blind aufeinander zu. Meine Neugierde
war noch nicht aufgebraucht, aber plötzlich war sie zu Ende, und es
war nur Grauen da. Ich fühlte, daß die eine von den Händen mir
gehörte und daß sie sich da in etwas einließ, was nicht wieder
gutzumachen war. Mit allem Recht, das ich auf sie hatte, hielt ich
sie an und zog sie flach und langsam zurück, indem ich die andere
nicht aus den Augen ließ, die weitersuchte. Ich begriff, daß sie es
nicht aufgeben würde, ich kann nicht sagen, wie ich wieder hinaufkam.
Ich saß ganz tief im Sessel, die Zähne schlugen mir aufeinander, und
ich hatte so wenig Blut im Gesicht, daß mir schien, es wäre kein Blau
mehr in meinen Augen. Mademoiselle--, wollte ich sagen und konnte es
nicht, aber da erschrak sie von selbst, sie warf ihr Buch hin und
kniete sich neben den Sessel und rief meinen Namen; ich glaube, daß
sie mich rüttelte. Aber ich war ganz bei Bewußtsein. Ich schluckte
ein paarmal; denn nun wollte ich es erzählen.

Aber wie? Ich nahm mich unbeschreiblich zusammen, aber es war nicht
auszudrücken, so daß es einer begriff. Gab es Worte für dieses
Ereignis, so war ich zu klein, welche zu finden. Und plötzlich
ergriff mich die Angst, sie könnten doch, über mein Alter hinaus, auf
einmal da sein, diese Worte, und es schien mir fürchterlicher als
alles, sie dann sagen zu müssen. Das Wirkliche da unten noch einmal
durchzumachen, anders, abgewandelt, von Anfang an; zu hören, wie ich
es zugebe, dazu hatte ich keine Kraft mehr.

Es ist natürlich Einbildung, wenn ich nun behaupte, ich hätte in jener
Zeit schon gefühlt, daß da etwas in mein Leben gekommen sei, geradeaus
in meines, womit ich allein würde herumgehen müssen, immer und immer.
Ich sehe mich in meinem kleinen Gitterbett liegen und nicht schlafen
und irgendwie ungenau voraussehen, daß so das Leben sein würde: voll
lauter besonderer Dinge, die nur für Einen gemeint sind und die sich
nicht sagen lassen. Sicher ist, daß sich nach und nach ein trauriger
und schwerer Stolz in mir erhob. Ich stellte mir vor, wie man
herumgehen würde, voll von Innerem und schweigsam. Ich empfand eine
ungestüme Sympathie für die Erwachsenen; ich bewunderte sie, und ich
nahm mir vor, ihnen zu sagen, daß ich sie bewunderte. Ich nahm mir
vor, es Mademoiselle zu sagen bei der nächsten Gelegenheit.

Und dann kam eine von diesen Krankheiten, die darauf ausgingen, mir zu
beweisen, daß dies nicht das erste eigene Erlebnis war. Das Fieber
wühlte in mir und holte von ganz unten Erfahrungen, Bilder, Tatsachen
heraus, von denen ich nicht gewußt hatte; ich lag da, überhäuft mit
mir, und wartete auf den Augenblick, da mir befohlen würde, dies alles
wieder in mich hineinzuschichten, ordentlich, der Reihe nach. Ich
begann, aber es wuchs mir unter den Händen, es sträubte sich, es war
viel zu viel. Dann packte mich die Wut, und ich warf alles in Haufen
in mich hinein und preßte es zusammen; aber ich ging nicht wieder
darüber zu. Und da schrie ich, halb offen wie ich war, schrie ich und
schrie. Und wenn ich anfing hinauszusehen aus mir, so standen sie
seit lange um mein Bett und hielten mir die Hände, und eine Kerze war
da, und ihre großen Schatten rührten sich hinter ihnen. Und mein
Vater befahl mir, zu sagen, was es gäbe. Es war ein freundlicher,
gedämpfter Befehl, aber ein Befehl war es immerhin. Und er wurde
ungeduldig, wenn ich nicht antwortete.

Maman kam nie in der Nacht--, oder doch, einmal kam sie. Ich hatte
geschrieen und geschrieen, und Mademoiselle war gekommen und Sieversen,
die Haushälterin, und Georg, der Kutscher; aber das hatte nichts
genutzt. Und da hatten sie endlich den Wagen nach den Eltern
geschickt, die auf einem großen Balle waren, ich glaube beim
Kronprinzen. Und auf einmal hörte ich ihn hereinfahren in den Hof,
und ich wurde still, saß und sah nach der Tür. Und da rauschte es ein
wenig in den anderen Zimmern, und Maman kam herein in der großen
Hofrobe, die sie gar nicht in acht nahm, und lief beinah und ließ
ihren weißen Pelz hinter sich fallen und nahm mich in die bloßen Arme.
Und ich befühlte, erstaunt und entzückt wie nie, ihr Haar und ihr
kleines, gepflegtes Gesicht und die kalten Steine an ihren Ohren und
die Seide am Rand ihrer Schultern, die nach Blumen dufteten. Und wir
blieben so und weinten zärtlich und küßten uns, bis wir fühlten, daß
der Vater da war und daß wir uns trennen mußten. "Er hat hohes
Fieber", hörte ich Maman schüchtern sagen, und der Vater griff nach
meiner Hand und zählte den Puls. Er war in der Jägermeisteruniform
mit dem schönen, breiten, gewässerten blauen Band des Elefanten. "Was
für ein Unsinn, uns zu rufen", sagte er ins Zimmer hinein, ohne mich
anzusehen. Sie hatten versprochen, zurückzukehren, wenn es nichts
Ernstliches wäre. Und Ernstliches war es ja nichts. Auf meiner Decke
aber fand ich Mamans Tanzkarte und weiße Kamelien, die ich noch nie
gesehen hatte und die ich mir auf die Augen legte, als ich merkte, wie
kühl sie waren.

Aber was lang war, das waren die Nachmittage in solchen Krankheiten.
Am Morgen nach der schlechten Nacht kam man immer in Schlaf, und wenn
man erwachte und meinte, nun wäre es wieder früh, so war es Nachmittag
und blieb Nachmittag und hörte nicht auf Nachtmittag zu sein. Da lag
man so in dem aufgeräumten Bett und wuchs vielleicht ein wenig in den
Gelenken und war viel zu müde, um sich irgend etwas vorzustellen. Der
Geschmack vom Apfelmus hielt lange vor, und das war schon alles
mögliche, wenn man ihn irgendwie auslegte, unwillkürlich, und die
reinliche Säure an Stelle von Gedanken in sich herumgehen ließ.
Später, wenn die Kräfte wiederkamen, wurden die Kissen hinter einem
aufgebaut, und man konnte aufsitzen und mit Soldaten spielen; aber sie
fielen so leicht um auf dem schiefen Bett-Tisch und dann immer gleich
die ganze Reihe; und man war doch noch nicht so ganz im Leben drin, um
immer wieder von vorn anzufangen. Plötzlich war es zuviel, und man
bat, alles recht rasch fortzunehmen, und es tat wohl, wieder nur die
zwei Hände zu sehen, ein bißchen weiter hin auf der leeren Decke.

Wenn Maman mal eine halbe Stunde kam und Märchen vorlas (zum richtigen,
langen Vorlesen war Sieversen da), so war das nicht um der Märchen
willen. Denn wir waren einig darüber, daß wir Märchen nicht liebten.
Wir hatten einen anderen Begriff vom Wunderbaren. Wir fanden, wenn
alles mit natürlichen Dingen zuginge, so wäre das immer am
wunderbarsten. Wir gaben nicht viel darauf, durch die Luft zu fliegen,
die Feen enttäuschten uns, und von den Verwandlungen in etwas anderes
erwarteten wir uns nur eine sehr oberflächliche Abwechslung. Aber wir
lasen doch ein bißchen, um beschäftigt auszusehen; es war uns nicht
angenehm, wenn irgend jemand eintrat, erst erklären zu müssen, was wir
gerade taten; besonders Vater gegenüber waren wir von einer
übertriebenen Deutlichkeit.

Nur wenn wir ganz sicher waren, nicht gestört zu sein, und es dämmerte
draußen, konnte es geschehen, daß wir uns Erinnerungen hingaben,
gemeinsamen Erinnerungen, die uns beiden alt schienen und über die wir
lächelten; denn wir waren beide groß geworden seither. Es fiel uns
ein, daß es eine Zeit gab, wo Maman wünschte, daß ich ein kleines
Mädchen wäre und nicht dieser Junge, der ich nun einmal war. Ich
hatte das irgendwie erraten, und ich war auf den Gedanken gekommen,
manchmal nachmittags an Mamans Türe zu klopfen. Wenn sie dann fragte,
wer da wäre, so war ich glücklich, draußen "Sophie" zu rufen, wobei
ich meine kleine Stimme so zierlich machte, daß sie mich in der Kehle
kitzelte. Und wenn ich dann eintrat (in dem kleinen, mädchenhaften
Hauskleid, das ich ohnehin trug, mit ganz hinaufgerollten Armeln), so
war ich einfach Sophie, Mamans kleine Sophie, die sich häuslich
beschäftigte und der Maman einen Zopf flechten mußte, damit keine
Verwechslung stattfinde mit dem bösen Malte, wenn er je wiederkäme.
Erwünscht war dies durchaus nicht; es war sowohl Maman wie Sophie
angenehm, daß er fort war, und ihre Unterhaltungen (die Sophie immerzu
mit der gleichen, hohen Stimme fortsetzte) bestanden meistens darin,
daß sie Maltes Unarten aufzählten und sich über ihn beklagten. "Ach
ja, dieser Malte", seufzte Maman. Und Sophie wußte eine Menge über
die Schlechtigkeiten der Jungen im allgemeinen, als kennte sie einen
ganzen Haufen.

"Ich möchte wohl wissen, was aus Sophie geworden ist", sagte Maman
dann plötzlich bei solchen Erinnerungen. Darüber konnte nun Malte
freilich keine Auskunft geben. Aber wenn Maman vorschlug, daß sie
gewiß gestorben sei, dann widersprach er eigensinnig und beschwor sie,
dies nicht zu glauben, so wenig sich sonst auch beweisen ließe.

Mich das jetzt überdenke, kann ich mich wundern, daß ich aus der Welt
dieser Fieber doch immer wieder ganz zurückkam und mich hineinfand in
das überaus gemeinsame Leben, wo jeder im Gefühl unterstützt sein
wollte, bei Bekanntem zu sein, und wo man sich so vorsichtig im
Verständlichen vertrug. Da wurde etwas erwartet, und es kam oder es
kam nicht, ein Drittes war ausgeschlossen. Da gab es Dinge, die
traurig waren, ein--für allemal, es gab angenehme Dinge und eine ganze
Menge nebensächlicher. Wurde aber einem eine Freude bereitet, so war
es eine Freude, und er hatte sich danach zu benehmen. Im Grunde war
das alles sehr einfach, und wenn man es erst heraus hatte, so machte
es sich wie von selbst. In diese verabredeten Grenzen ging denn auch
alles hinein; die langen, gleichmäßigen Schulstunden, wenn draußen der
Sommer war; die Spaziergänge, von denen man französisch erzählen mußte;
die Besuche, für die man hereingerufen wurde und die einen drollig
fanden, wenn man gerade traurig war, und sich an einem belustigten wie
an dem betrübten Gesicht gewisser Vögel, die kein anderes haben. Und
die Geburtstage natürlich, zu denen man Kinder eingeladen bekam, die
man kaum kannte, verlegene Kinder, die einen verlegen machten, oder
dreiste, die einem das Gesicht zerkratzten, und zerbrachen, was man
gerade bekommen hatte, und die dann plötzlich fortfuhren, wenn alles
aus Kästen und Laden herausgerissen war und zu Haufen lag. Wenn man
aber allein spielte, wie immer,so konnte es doch geschehen, daß man
diese vereinbarte, im ganzen harmlose Welt unversehens überschritt und
unter Verhältnisse geriet, die völlig verschieden waren und gar nicht
abzusehen.

Mademoiselle hatte zuzeiten ihre Migräne, die ungemein heftig auftrat,
und das waren die Tage, an denen ich schwer zu finden war. Ich weiß,
der Kutscher wurde dann in den Park geschickt, wenn es Vater einfiel,
nach mir zu fragen, und ich war nicht da. Ich konnte oben von einem
der Gastzimmer aus sehen, wie er hinauslief und am Anfang der langen
Allee nach mir rief. Diese Gastzimmer befanden sich, eines neben dem
anderen, im Giebel von Ulsgaard und standen, da wir in dieser Zeit
sehr selten Hausbesuch hatten, fast immer leer. Anschließend an sie
aber war jener große Eckraum, der eine so starke Verlockung für mich
hatte. Es war nichts darin zu finden als eine alte Büste, die, ich
glaube, den Admiral Juel darstellte, aber die Wände waren ringsum mit
tiefen grauen Wandschränken verschalt, derart, daß sogar das Fenster
erst über den Schränken angebracht war in der leeren, geweißten Wand.
Den Schlüssel hatte ich an einer der Schranktüren entdeckt, und er
schloß alle anderen. So hatte ich in kurzem alles untersucht: die
Kammerherrenfräcke aus dem achtzehnten Jahrhundert, die ganz kalt
waren von den eingewebten Silberfäden, und die schön gestickten Westen
dazu; die Trachten des Dannebrog--und des Elefantenordens, die man
erst für Frauenkleider hielt, so reich und umständlich waren sie und
so sanft im Futter anzufühlen. Dann wirkliche Roben, die, von ihren
Unterlagen auseinander gehalten, steif dahingen wie die Marionetten
eines zu großen Stückes, das so endgültig aus der Mode war, daß man
ihre Köpfe anders verwendet hatte. Daneben aber waren Schränke, in
denen es dunkel war, wenn man sie aufmachte, dunkel von
hochgeschlossenen Uniformen, die viel gebrauchter aussahen als alles
das andere und die eigentlich wünschten, nicht erhalten zu sein.

Niemand wird es verwunderlich finden, daß ich das alles herauszog und
ins Licht neigte; daß ich das und jenes an mich hielt oder umnahm; daß
ich ein Kostüm, welches etwa passen konnte, hastig anzog und darin,
neugierig und aufgeregt, in das nächste Fremdenzimmer lief, vor den
schmalen Pfeilerspiegel, der aus einzelnen ungleich grünen Glasstücken
zusammengesetzt war. Ach, wie man zitterte, drin zu sein, und wie
hinreißend war es, wenn man es war. Wenn da etwas aus dem Trüben
heraus sich näherte, langsamer als man selbst, denn der Spiegel
glaubte es gleichsam nicht und wollte, schläfrig wie er war, nicht
gleich nachsprechen, was man ihm vorsagte. Aber schließlich mußte er
natürlich. Und nun war es etwas sehr Überraschendes, Fremdes, ganz
anders, als man es sich gedacht hatte, etwas Plötzliches,
Selbständiges, das man rasch überblickte, um sich im nächsten
Augenblick doch zu erkennen, nicht ohne eine gewisse Ironie, die um
ein Haar das ganze Vergnügen zerstören konnte. Wenn man aber sofort
zu reden begann, sich zu verbeugen, wenn man sich zuwinkte, sich,
fortwährend zurückblickend, entfernte und dann entschlossen und
angeregt wiederkam, so hatte man die Einbildung auf seiner Seite,
solang es einem gefiel.

Ich lernte damals den Einfluß kennen, der unmittelbar von einer
bestimmten Tracht ausgehen kann. Kaum hatte ich einen dieser Anzüge
angelegt, mußte ich mir eingestehen, daß er mich in seine Macht bekam;
daß er mir meine Bewegungen, meinen Gesichtsausdruck, ja sogar meine
Einfälle vorschrieb; meine Hand, über die die Spitzenmanschette fiel
und wieder fiel, war durchaus nicht meine gewöhnliche Hand; sie
bewegte sich wie ein Akteur, ja, ich möchte sagen, sie sah sich selber
zu, so übertrieben das auch klingt. Diese Verstellungen gingen
indessen nie so weit, daß ich mich mir selber entfremdet fühlte; im
Gegenteil, je vielfältiger ich mich abwandelte, desto überzeugter
wurde ich von mir selbst. Ich wurde kühner und kühner; ich warf mich
immer höher; denn meine Geschicklichkeit im Auffangen war über allen
Zweifel. Ich merkte nicht die Versuchung in dieser rasch wachsenden
Sicherheit. Zu meinem Verhängnis fehlte nur noch, daß der letzte
Schrank, den ich bisher meinte nicht öffnen zu können, eines Tages
nachgab, um mir, statt bestimmter Trachten, allerhand vages Maskenzeug
auszuliefern, dessen phantastisches Ungefähr mir das Blut in die
Wangen trieb. Es läßt sich nicht aufzählen, was da alles war. Außer
einer Bautta, deren ich mich entsinne, gab es Dominos in verschiedenen
Farben, es gab Frauenröcke, die hell läuteten von den Münzen, mit
denen sie benäht waren; es gab Pierrots, die mir albern vorkamen, und
faltige, türkische Hosen und persische Mützen, aus denen kleine
Kampfersäckchen herausglitten, und Kronreifen mit dummen,
ausdruckslosen Steinen. Dies alles verachtete ich ein wenig; es war
von so dürftiger Unwirklichkeit und hing so abgebalgt und armsälig da
und schlappte willenlos zusammen, wenn man es herauszerrte ans Licht.
Was mich aber in eine Art von Rausch versetzte, das waren die
geräumigen Mäntel, die Tücher, die Schals, die Schleier, alle diese
nachgiebigen, großen, unverwendeten Stoffe, die weich und schmeichelnd
waren oder so gleitend, daß man sie kaum zu fassen bekam, oder so
leicht, daß sie wie ein Wind an einem vorbeiflogen, oder einfach
schwer mit ihrer ganzen Last. In ihnen erst sah ich wirklich freie
und unendlich bewegliche Möglichkeiten: eine Sklavin zu sein, die
verkauft wird, oder Jeanne d'Arc zu sein oder ein alter König oder ein
Zauberer; das alles hatte man jetzt in der Hand, besonders da auch
Masken da waren, große drohende oder erstaunte Gesichter mit echten
Bärten und vollen oder hochgezogenen Augenbrauen. Ich hatte nie
Masken gesehen vorher, aber ich sah sofort ein, daß es Masken geben
müsse. Ich mußte lachen, als mir einfiel, daß wir einen Hund hatten,
der sich ausnahm, als trüge er eine. Ich stellte mir seine herzlichen
Augen vor, die immer wie von hinten hineinsahen in das behaarte
Gesicht. Ich lachte noch, während ich mich verkleidete, und ich
vergaß darüber völlig, was ich eigentlich vorstellen wollte. Nun, es
war neu und spannend, das erst nachträglich vor dem Spiegel zu
entscheiden. Das Gesicht, das ich vorband, roch eigentümlich hohl, es
legte sich fest über meines, aber ich konnte bequem durchsehen, und
ich wählte erst, als die Maske schon saß, allerhand Tücher, die ich in
der Art eines Turbans um den Kopf wand, so daß der Rand der Maske, der
unten in einen riesigen gelben Mantel hineinreichte, auch oben und
seitlich fast ganz verdeckt war. Schließlich, als ich nicht mehr
konnte, hielt ich mich für hinreichend vermummt. Ich ergriff noch
einen großen Stab, den ich, soweit der Arm reichte, neben mir hergehen
ließ, und schleppte so, nicht ohne Mühe, aber, wie mir vorkam, voller
Würde, in das Fremdenzimmer hinein auf den Spiegel zu.

Das war nun wirklich großartig, über alle Erwartung. Der Spiegel gab
es auch augenblicklich wieder, es war zu überzeugend. Es wäre gar
nicht nötig gewesen, sich viel zu bewegen; diese Erscheinung war
vollkommen, auch wenn sie nichts tat. Aber es galt zu erfahren, was
ich eigentlich sei, und so drehte ich mich ein wenig und erhob
schließlich die beiden Arme: große, gleichsam beschwörende Bewegungen,
das war, wie ich schon merkte, das einzig Richtige. Doch gerade in
diesem feierlichen Moment vernahm ich, gedämpft durch meine Vermummung,
ganz in meiner Nähe einen vielfach zusammengesetzten Lärm; sehr
erschreckt, verlor ich das Wesen da drüben aus den Augen und war arg
verstimmt, zu gewahren, daß ich einen kleinen, runden Tisch umgeworfen
hatte mit weiß der Himmel was für, wahrscheinlich sehr zerbrechlichen
Gegenständen. Ich bückte mich so gut ich konnte und fand meine
schlimmste Erwartung bestätigt: es sah aus, als sei alles entzwei.
Die beiden überflüssigen, grün-violetten Porzellanpapageien waren
natürlich, jeder auf eine andere boshafte Art, zerschlagen. Eine Dose,
aus der Bonbons rollten, die aussahen wie seidig eingepuppte Insekten,
hatte ihren Deckel weit von sich geworfen, man sah nur seine eine
Hälfte, die andere war überhaupt fort. Das Ärgerlichste aber war ein
in tausend winzige Scherben zerschellter Flacon, aus dem der Rest
irgendeiner alten Essenz herausgespritzt war, der nun einen Fleck von
sehr widerlicher Physiognomie auf dem klaren Parkett bildete. Ich
trocknete ihn schnell mit irgendwas auf, das an mir herunterhing, aber
er wurde nur schwärzer und unangenehmer. Ich war recht verzweifelt.
Ich erhob mich und suchte nach irgendeinem Gegenstand, mit dem ich das
alles gutmachen konnte. Aber es fand sich keiner. Auch war ich so
behindert im Sehen und in jeder Bewegung, daß die Wut in mir aufstieg
gegen meinen unsinnigen Zustand, den ich nicht mehr begriff. Ich
zerrte an allem, aber es schloß sich nur noch enger an. Die Schnüre
des Mantels würgten mich, und das Zeug auf meinem Kopfe drückte, als
käme immer noch mehr hinzu. Dabei war die Luft trübe geworden und wie
beschlagen mit dem ältlichen Dunst der verschütteten Flüssigkeit.

Heiß und zornig stürzte ich vor den Spiegel und sah mühsam durch die
Maske durch, wie meine Hände arbeiteten. Aber darauf hatte er nur
gewartet. Der Augenblick der Vergeltung war für ihn gekommen.
Während ich in maßlos zunehmender Beklemmung mich anstrengte, mich
irgendwie aus meiner Vermummung hinauszuzwängen, nötigte er mich, ich
weiß nicht womit, aufzusehen und diktierte mir ein Bild, nein, eine
Wirklichkeit, eine fremde, unbegreifliche monströse Wirklichkeit, mit
der ich durchtränkt wurde gegen meinen Willen: denn jetzt war er der
Stärkere, und ich war der Spiegel. Ich starrte diesen großen,
schrecklichen Unbekannten vor mir an, und es schien mir ungeheuerlich,
mit ihm allein zu sein. Aber in demselben Moment, da ich dies dachte,
geschah das Äußerste: ich verlor allen Sinn, ich fiel einfach aus.
Eine Sekunde lang hatte ich eine unbeschreibliche, wehe und
vergebliche Sehnsucht nach mir, dann war nur noch er: es war nichts
außer ihm.

Ich rannte davon, aber nun war er es, der rannte. Er stieß überall an,
er kannte das Haus nicht, er wußte nicht wohin; er geriet eine Treppe
hinunter, er fiel auf dem Gange über eine Person her, die sich
schreiend freimachte. Eine Tür ging auf, es traten mehrere Menschen
heraus: Ach, ach, was war das gut, sie zu kennen. Das war Sieversen,
die gute Sieversen, und das Hausmädchen und der Silberdiener: nun
mußte es sich entscheiden. Aber sie sprangen nicht herzu und retteten;
ihre Grausamkeit war ohne Grenzen. Sie standen da und lachten, mein
Gott, sie konnten dastehn und lachen. Ich weinte, aber die Maske ließ
die Tränen nicht hinaus, sie rannen innen über mein Gesicht und
trockneten gleich und rannen wieder und trockneten. Und endlich
kniete ich hin vor ihnen, wie nie ein Mensch gekniet hat; ich kniete
und hob meine Hände zu ihnen auf und flehte: "Herausnehmen, wenn es
noch geht, und behalten", aber sie hörten es nicht; ich hatte keine
Stimme mehr.

Sieversen erzählte bis an ihr Ende, wie ich umgesunken wäre und wie
sie immer noch weitergelacht hätten in der Meinung, das gehöre dazu.
Sie waren es so gewöhnt bei mir. Aber dann wäre ich doch immerzu
liegengeblieben und hätte nicht geantwortet. Und der Schrecken, als
sie endlich entdeckten, daß ich ohne Besinnung sei und dalag wie ein
Stück in allen den Tüchern, rein wie ein Stück.

Die Zeit ging unberechenbar schnell, und auf einmal war es schon
wieder so weit, daß der Prediger Dr. Jespersen geladen werden mußte.
Das war dann für alle Teile ein mühsames und langwieriges Frühstück.
Gewohnt an die sehr fromme Nachbarschaft, die sich jedesmal ganz
auflöste um seinetwillen, war er bei uns durchaus nicht an seinem
Platz; er lag sozusagen auf dem Land und schnappte. Die Kiemenatmung,
die er an sich ausgebildet hatte, ging beschwerlich vor sich, es
bildeten sich Blasen, und das Ganze war nicht ohne Gefahr.
Gesprächsstoff war, wenn man genau sein will, überhaupt keiner da; es
wurden Reste veräußert zu unglaublichen Preisen, es war eine
Liquidation aller Bestände. Dr. Jespersen mußte sich bei uns darauf
beschränken, eine Art von Privatmann zu sein; das gerade aber war er
nie gewesen. Er war, soweit er denken konnte, im Seelenfach
angestellt. Die Seele war eine öffentliche Institution für ihn, die
er vertrat, und er brachte es zuwege, niemals außer Dienst zu sein,
selbst nicht im Umgang mit seiner Frau, "seiner bescheidenen, treuen,
durch Kindergebären seligwerdenden Rebekka", wie Lavater sich in einem
anderen Fall ausdrückte.

(Was übrigens meinen Vater betraf, so war seine Haltung Gott gegenüber
vollkommen korrekt und von tadelloser Höflichkeit. In der Kirche
schien es mir manchmal, als wäre er geradezu Jägermeister bei Gott,
wenn er dastand und abwartete und sich verneigte. Maman dagegen
erschien es fast verletzend, daß jemand zu Gott in einem höflichen
Verhältnis stehen konnte. Wäre sie in eine Religion mit deutlichen
und ausführlichen Gebräuchen geraten, es wäre eine Seligkeit für sie
gewesen, stundenlang zu knien und sich hinzuwerfen und sich recht mit
dem großen Kreuz zu gebärden vor der Brust und um die Schultern herum.
Sie lehrte mich nicht eigentlich beten, aber es war ihr eine
Beruhigung, daß ich gerne kniete und die Hände bald gekrümmt und bald
aufrecht faltete, wie es mir gerade ausdrucksvoller schien. Ziemlich
in Ruhe gelassen, machte ich frühzeitig eine Reihe von Entwicklungen
durch, die ich erst viel später in einer Zeit der Verzweiflung auf
Gott bezog, und zwar mit solcher Heftigkeit, daß er sich bildete und
zersprang, fast in demselben Augenblick. Es ist klar, daß ich ganz
von vorn anfangen mußte hernach. Und bei diesem Anfang meinte ich
manchmal, Maman nötig zu haben, obwohl es ja natürlich richtiger war,
ihn allein durchzumachen. Und da war sie ja auch schon lange tot.)

Dr. Jespersen gegenüber konnte Maman beinah ausgelassen sein. Sie
ließ sich in Gespräche mit ihm ein, die er ernst nahm, und wenn er
dann sich reden hörte, meinte sie, das genüge, und vergaß ihn
plötzlich, als wäre er schon fort. "Wie kann er nur", sagte sie
manchmal von ihm, "herumfahren und hineingehen zu den Leuten, wenn sie
gerade sterben."

Er kam auch zu ihr bei dieser Gelegenheit, aber sie hat ihn sicher
nicht mehr gesehen. Ihre Sinne gingen ein, einer nach dem andern,
zuerst das Gesicht. Es war im Herbst, man sollte schon in die Stadt
ziehen, aber da erkrankte sie gerade, oder vielmehr, sie fing gleich
an zu sterben, langsam und trostlos abzusterben an der ganzen
Oberfläche. Die Ärzte kamen, und an einem bestimmten Tag waren sie
alle zusammen da und beherrschten das ganze Haus. Es war ein paar
Stunden lang, als gehörte es nun dem Geheimrat und seinen Assistenten
und als hätten wir nichts mehr zu sagen. Aber gleich danach verloren
sie alles Interesse, kamen nur noch einzeln, wie aus purer Höflichkeit,
um eine Zigarre anzunehmen und ein Glas Portwein. Und Maman starb
indessen.

Man wartete nur noch auf Mamans einzigen Bruder, den Grafen Christian
Brahe, der, wie man sich noch erinnern wird, eine Zeitlang in
türkischen Diensten gestanden hatte, wo er, wie es immer hieß, sehr
ausgezeichnet worden war. Er kam eines Morgens an in Begleitung eines
fremdartigen Dieners, und es überraschte mich, zu sehen, daß er größer
war als Vater und scheinbar auch älter. Die beiden Herren wechselten
sofort einige Worte, die sich, wie ich vermutete, auf Maman bezogen.
Es entstand eine Pause. Dann sagte mein Vater: "Sie ist sehr
entstellt." Ich begriff diesen Ausdruck nicht, aber es fröstelte mich,
da ich ihn hörte. Ich hatte den Eindruck, als ob auch mein Vater
sich hätte überwinden müssen, ehe er ihn aussprach. Aber es war wohl
vor allem sein Stolz, der litt, indem er dies zugab.

Mehrere Jahre später erst hörte ich wieder von dem Grafen Christian
reden. Es war auf Urnekloster, und Mathilde Brahe war es, die mit
Vorliebe von ihm sprach. Ich bin indessen sicher, daß sie die
einzelnen Episoden ziemlich eigenmächtig ausgestaltete, denn das Leben
meines Onkels, von dem immer nur Gerüchte in die Öffentlichkeit und
selbst in die Familie drangen, Gerüchte, die er nie widerlegte, war
geradezu grenzenlos auslegbar. Urnekloster ist jetzt in seinem Besitz.
Aber niemand weiß, ob er es bewohnt. Vielleicht reist er immer noch,
wie es seine Gewohnheit war; vielleicht ist die Nachricht seines
Todes aus irgendeinem äußersten Erdteil unterwegs, von der Hand des
fremden Dieners geschrieben in schlechtem Englisch oder in irgendeiner
unbekannten Sprache. Vielleicht auch giebt dieser Mensch kein Zeichen
von sich, wenn er eines Tages allein zurückbleibt. Vielleicht sind
sie beide längst verschwunden und stehen nur noch auf der Schiffsliste
eines verschollenen Schiffes unter Namen, die nicht die ihren waren.

Freilich, wenn damals auf Urnekloster ein Wagen einfuhr, so erwartete
ich immer, ihn eintreten zu sehen, und mein Herz klopfte auf eine
besondere Art. Mathilde Brahe behauptete: so käme er, das wäre so
seine Eigenheit, plötzlich da zu sein, wenn man es am wenigsten für
möglich hielte. Er kam nie, aber meine Einbildungskraft beschäftigte
sich wochenlang mit ihm, ich hatte das Gefühl, als wären wir einander
eine Beziehung schuldig, und ich hätte gern etwas Wirkliches von ihm
gewußt.

Als indessen bald darauf mein Interesse umschlug und infolge gewisser
Begebenheiten ganz auf Christine Brahe überging, bemühte ich mich
eigentümlicherweise nicht, etwas von ihren Lebensumständen zu erfahren.
Dagegen beunruhigte mich der Gedanke, ob ihr Bildnis wohl in der
Galerie vorhanden sei. Und der Wunsch, das festzustellen, nahm so
einseitig und quälend zu, daß ich mehrere Nächte nicht schlief, bis,
ganz unvermutet, diejenige da war, in der ich, weiß Gott, aufstand und
hinaufging mit meinem Licht, das sich zu fürchten schien.

Was mich angeht, so dachte ich nicht an Furcht. Ich dachte überhaupt
nicht; ich ging. Die hohen Türen gaben so spielend nach vor mir und
über mir, die Zimmer, durch die ich kam, hielten sich ruhig. Und
endlich merkte ich an der Tiefe, die mich anwehte, daß ich in die
Galerie getreten sei. Ich fühlte auf der rechten Seite die Fenster
mit der Nacht, und links mußten die Bilder sein. Ich hob mein Licht
so hoch ich konnte. Ja: da waren die Bilder.

Erst nahm ich mir vor, nur nach den Frauen zu sehen, aber dann
erkannte ich eines und ein anderes, das ähnlich in Ulsgaard hing, und
wenn ich sie so von unten beschien, so rührten sie sich und wollten
ans Licht, und es schien mir herzlos, das nicht wenigstens abzuwarten.
Da war immer wieder Christian der Vierte mit der schön geflochtenen
Cadenette neben der breiten, langsam gewölbten Wange. Da waren
vermutlich seine Frauen, von denen ich nur Kirstine Munk kannte; und
plötzlich sah mich Frau Ellen Marsvin an, argwöhnisch in ihrer
Witwentracht und mit derselben Perlenschnur auf der Krempe des hohen
Huts. Da waren König Christians Kinder: immer wieder frische aus
neuen Frauen, die 'unvergleichliche' Eleonore auf einem weißen
Paßgänger in ihrer glänzendsten Zeit, vor der Heimsuchung. Die
Gyldenlöves: Hans Ulrik, von dem die Frauen in Spanien meinten, daß er
sich das Antlitz male, so voller Blut war er, und Ulrik Christian, den
man nicht wieder vergaß. Und beinahe alle Ulfelds. Und dieser da,
mit dem einen schwarzübermalten Auge, konnte wohl Henrik Holck sein,
der mit dreiunddreißig Jahren Reichsgraf war und Feldmarschall, und
das kam so: ihm träumte auf dem Wege zu Jungfrau Hilleborg Krafse, es
würde ihm statt der Braut ein bloßes Schwert gegeben: und er nahm
sichs zu Herzen und kehrte um und begann sein kurzes, verwegenes Leben,
das mit der Pest endete. Die kannte ich alle. Auch die Gesandten
vom Kongreß zu Nimwegen hatten wir auf Ulsgaard, die einander ein
wenig glichen, weil sie alle auf einmal gemalt worden waren, jeder mit
der schmalen, gestutzten Bartbraue über dem sinnlichen, fast
schauenden Munde. Daß ich Herzog Ulrich erkannte, ist
selbstverständlich, und Otte Brahe und Claus Daa und Sten Rosensparre,
den Letzten seines Geschlechts; denn von ihnen allen hatte ich Bilder
im Saal zu Ulsgaard gesehen, oder ich hatte in alten Mappen
Kupferstiche gefunden, die sie darstellten.

Aber dann waren viele da, die ich nie gesehen hatte; wenige Frauen,
aber es waren Kinder da. Mein Arm war längst müde geworden und
zitterte, aber ich hob doch immer wieder das Licht, um die Kinder zu
sehen. Ich begriff sie, diese kleinen Mädchen, die einen Vogel auf
der Hand trugen und ihn vergaßen. Manchmal saß ein kleiner Hund bei
ihnen unten, ein Ball lag da, und auf dem Tisch nebenan gab es Früchte
und Blumen; und dahinter an der Säule hing, klein und vorläufig, das
Wappen der Grubbe oder der Bille oder der Rosenkrantz. So viel hatte
man um sie zusammengetragen, als ob eine Menge gutzumachen wäre. Sie
aber standen einfach in ihren Kleidern und warteten; man sah, daß sie
warteten. Und da mußte ich wieder an die Frauen denken und an
Christine Brahe, und ob ich sie erkennen würde.

Ich wollte rasch bis ganz ans Ende laufen und von dort zurückgehen und
suchen, aber da stieß ich an etwas. Ich drehte mich so jäh herum, daß
der kleine Erik zurücksprang und flüsterte: "Gieb acht mit deinem
Licht."

"Du bist da?" sagte ich atemlos, und ich war nicht im klaren, ob das
gut sei oder ganz und gar schlimm. Er lachte nur, und ich wußte nicht,
was weiter. Mein Licht flackerte, und ich konnte den Ausdruck seines
Gesichts nicht recht erkennen. Es war doch wohl schlimm, daß er da
war. Aber da sagte er, indem er näher kam: "Ihr Bild ist nicht da,
wir suchen es immer noch oben." Mit seiner halben Stimme und dem
einen beweglichen Auge wies er irgendwie hinauf. Und ich begriff, daß
er den Boden meinte. Aber auf einmal kam mir ein merkwürdiger Gedanke.


"Wir?" fragte ich, "ist sie denn oben?"

"Ja", nickte er und stand dicht neben mir.

"Sie sucht selber mit?" "Ja, wir suchen."

"Man hat es also fortgestellt, das Bild?"

"Ja, denk nur", sagte er empört. Aber ich begriff nicht recht, was
sie damit wollte.

"Sie will sich sehen", flüsterte er ganz nah.

"Ja so", machte ich, als ob ich verstünde. Da blies er mir das Licht
aus. Ich sah, wie er sich vorstreckte, ins Helle hinein, mit ganz
hochgezogenen Augenbrauen. Dann wars dunkel. Ich trat unwillkürlich
zurück.

"Was machst du denn?" rief ich unterdrückt und war ganz trocken im
Halse. Er sprang mir nach und hängte sich an meinen Arm und kicherte.

"Was denn?" fuhr ich ihn an und wollte ihn abschütteln, aber er hing
fest. Ich konnte es nicht hindern, daß er den Arm um meinen Hals
legte.

"Soll ich es sagen?" zischte er, und ein wenig Speichel spritzte mir
ins Ohr.

"Ja, ja, schnell."

Ich wußte nicht, was ich redete. Er umarmte mich nun völlig und
streckte sich dabei.

"Ich hab ihr einen Spiegel gebracht", sagte er und kicherte wieder.

"Einen Spiegel?"

"Ja, weil doch das Bild nicht da ist."

"Nein, nein", machte ich.

Er zog mich auf einmal etwas weiter nach dem Fenster hin und kniff
mich so scharf in den Oberarm, daß ich schrie.

"Sie ist nicht drin", blies er mir ins Ohr.

Ich stieß ihn unwillkürlich von mir weg, etwas knackte an ihm, mir war,
als hätte ich ihn zerbrochen.

"Geh, geh", und jetzt mußte ich selber lachen, "nicht drin, wieso denn
nicht drin?"

"Du bist dumm", gab er böse zurück und flüsterte nicht mehr. Seine
Stimme war umgeschlagen, als begänne er nun ein neues, noch
ungebrauchtes Stück. "Man ist entweder drin", diktierte er altklug
und streng, "dann ist man nicht hier; oder wenn man hier ist, kann man
nicht drin sein."

"Natürlich", antwortete ich schnell, ohne nachzudenken. Ich hatte
Angst, er könnte sonst fortgehen und mich allein lassen. Ich griff
sogar nach ihm.

"Wollen wir Freunde sein?" schlug ich vor. Er ließ sich bitten. "Mir
ists gleich", sagte er keck.

Ich versuchte unsere Freundschaft zu beginnen, aber ich wagte nicht,
ihn zu umarmen. "Lieber Erik", brachte ich nur heraus und rührte ihn
irgendwo ein bißchen an. Ich war auf einmal sehr müde. Ich sah mich
um; ich verstand nicht mehr, wie ich hierher gekommen war und daß ich
mich nicht gefürchtet hatte. Ich wußte nicht recht, wo die Fenster
waren und wo die Bilder. Und als wir gingen, mußte er mich führen.

"Sie tun dir nichts", versicherte er großmütig und kicherte wieder.

Lieber, lieber Erik; vielleicht bist du doch mein einziger Freund
gewesen. Denn ich habe nie einen gehabt. Es ist schade, daß du auf
Freundschaft nichts gabst. Ich hätte dir manches erzählen mögen.
Vielleicht hätten wir uns vertragen. Man kann nicht wissen. Ich
erinnere mich, daß damals dein Bild gemalt wurde. Der Großvater hatte
jemanden kommen lassen, der dich malte. Jeden Morgen eine Stunde.
Ich kann mich nicht besinnen, wie der Maler aussah, sein Name ist mir
entfallen, obwohl Mathilde Brahe ihn jeden Augenblick wiederholte.

Ob er dich gesehen hat, wie ich dich seh? Du trugst einen Anzug von
heliotropfarbenem Samt. Mathilde Brahe schwärmte für diesen Anzug.
Aber das ist nun gleichgültig. Nur ob er dich gesehen hat, möchte ich
wissen. Nehmen wir an, daß es ein wirklicher Maler war.Nehmen wir an,
daß er nicht daran dachte, daß du sterben könntest, ehe er fertig
würde; daß er die Sache gar nicht sentimental ansah; daß er einfach
arbeitete. Daß die Ungleichheit deiner beiden braunen Augen ihn
entzückte; daß er keinen Moment sich schämte für das unbewegliche; daß
er den Takt hatte, nichts hinzuzulegen auf den Tisch zu deiner Hand,
die sich vielleicht ein wenig stützte--. Nehmen wir sonst noch alles
Nötige an und lassen es gelten: so ist ein Bild da, dein Bild, in der
Galerie auf Urnekloster das letzte.

(Und wenn man geht, und man hat sie alle gesehen, so ist da noch ein
Knabe. Einen Augenblick: wer ist das? Ein Brahe. Siehst du den
silbernen Pfahl im schwarzen Feld und die Pfauenfedern? Da steht auch
der Name: Erik Brahe. War das nicht ein Erik Brahe, der hingerichtet
worden ist? Natürlich, das ist bekannt genug. Aber um den kann es
sich nicht handeln. Dieser Knabe ist als Knabe gestorben, gleichviel
wann. Kannst du das nicht sehen?)

Wenn Besuch da war und Erik wurde gerufen, so versicherte das Fräulein
Mathilde Brahe jedesmal, es sei geradezu unglaublich, wie sehr er der
alten Gräfin Brahe gliche, meiner Großmutter. Sie soll eine sehr
große Dame gewesen sein. Ich habe sie nicht gekannt. Dagegen
erinnere ich mich sehr gut an die Mutter meines Vaters, die
eigentliche Herrin auf Ulsgaard. Das war sie wohl immer geblieben,
wie sehr sie es auch Maman übelnahm, daß sie als des Jägermeisters
Frau ins Haus gekommen war. Seither tat sie beständig, als zöge sie
sich zurück, und schickte die Dienstleute mit jeder Kleinigkeit weiter
zu Maman hinein, während sie in wichtigen Angelegenheiten ruhig
entschied und verfügte, ohne irgend jemandem Rechenschaft abzulegen.
Maman, glaube ich, wünschte es gar nicht anders. Sie war so wenig
gemacht, ein großes Haus zu übersehen, ihr fehlte völlig die
Einteilung der Dinge in nebensächliche und wichtige. Alles, wovon man
ihr sprach, schien ihr immer das Ganze zu sein, und sie vergaß darüber
das andere, das doch auch noch da war. Sie beklagte sich nie über
ihre Schwiegermutter. Und bei wem hätte sie sich auch beklagen
sollen? Vater war ein äußerst respektvoller Sohn, und Großvater hatte
wenig zu sagen.

Frau Margarete Brigge war immer schon, soweit ich denken kann, eine
hochgewachsene, unzugängliche Greisin. Ich kann mir nicht anders
vorstellen, als daß sie viel älter gewesen sei, als der Kammerherr.
Sie lebte mitten unter uns ihr Leben, ohne auf jemanden Rücksicht zu
nehmen. Sie war auf keinen von uns angewiesen und hatte immer eine
Art Gesellschafterin, eine alternde Komtesse Oxe, um sich, die sie
sich durch ihrgendeine Wohltat unbegrenzt verpflichtet hatte. Dies
mußte eine einzelne Ausnahme gewesen sein, denn wohltun war sonst
nicht ihre Art. Sie liebte keine Kinder, und Tiere durften nicht in
ihre Nähe. Ich weiß nicht, ob sie sonst etwas liebte. Es wurde
erzählt, daß sie als ganz junges Mädchen dem schönen Felix Lichnowski
verlobt gewesen sei, der dann in Frankfurt so grausam ums Leben kam.
Und in der Tat war nach ihrem Tode ein Bildnis des Fürsten da, das,
wenn ich nicht irre, an die Familie zurückgegeben worden ist.
Vielleicht, denke ich mir jetzt, versäumte sie über diesem
eingezogenen ländlichen Leben, das das Leben auf Ulsgaard von Jahr zu
Jahr mehr geworden war, ein anderes, glänzendes: ihr natürliches. Es
ist schwer zu sagen, ob sie es betrauerte. Vielleicht verachtete sie
es dafür, daß es nicht gekommen war, daß es die Gelegenheit verfehlt
hatte, mit Geschick und Talent gelebt worden zu sein. Sie hatte alles
dies so weit in sich hineingenommen und hatte darüber Schalen
angesetzt, viele, spröde, ein wenig metallisch glänzende Schalen,
deren jeweilig oberste sich neu und kühl ausnahm. Bisweilen freilich
verriet sie sich doch durch eine naive Ungeduld, nicht genügend
beachtet zu sein; zu meiner Zeit konnte sie sich dann bei Tische
plötzlich verschlucken auf irgendeine deutliche und komplizierte Art,
die ihr die Teilnahme aller sicherte und sie, für einen Augenblick
wenigstens, so sensationell und spannend erscheinen ließ, wie sie es
im Großen hätte sein mögen. Indessen vermute ich, daß mein Vater der
einzige war, der diese viel zu häufigen Zufälle ernst nahm. Er sah
ihr, höflich vorübergeneigt, zu, man konnte merken, wie er ihr in
Gedanken seine eigene, ordentliche Luftröhre gleichsam anbot und ganz
zur Verfügung stellte. Der Kammerherr hatte natürlich gleichfalls zu
essen aufgehört; er nahm einen kleinen Schluck Wein und enthielt sich
jeder Meinung.

Er hatte bei Tische ein einziges Mal die seinige seiner Gemahlin
gegenüber aufrechterhalten. Das war lange her; aber die Geschichte
wurde doch noch boshaft und heimlich weitergegeben; es gab fast
überall jemanden, der sie noch nicht gehört hatte. Es hieß, daß die
Kammerherrin zu einer gewissen Zeit sich sehr über Weinfieckeereifern
konnte, die durch Ungeschicklichkeit ins Tischzeug gerieten; daß ein
solcher Fleck, bei welchem Anlaß er auch passieren mochte, von ihr
bemerkt und unter dem heftigsten Tadel sozusagen bloßgestellt wurde.
Dazu wäre es auch einmal gekommen, als man mehrere und namhafte Gäste
hatte. Ein paar unschuldige Flecke, die sie übertrieb, wurden der
Gegenstand ihrer höhnischen Anschuldigungen, und wie sehr der
Großvater sich auch bemühte, sie durch kleine Zeichen und scherzhafte
Zurufe zu ermahnen, so wäre sie doch eigensinnig bei ihren Vorwürfen
geblieben, die sie dann allerdings mitten im Satze stehen lassen mußte.
Es geschah nämlich etwas nie Dagewesenes und völlig Unbegreifliches.
Der Kammerherr hatte sich den Rotwein geben lassen, der gerade
herumgereicht worden war, und war nun in aller Aufmerksamkeit dabei,
sein Glas selber zu füllen. Nur daß er, wunderbarerweise, einzugießen
nicht aufhörte, als es längst voll war, sondern unter zunehmender
Stille langsam und vorsichtig weitergoß, bis Maman, die nie an sich
halten konnte, auflachte und damit die ganze Angelegenheit nach dem
Lachen hin in Ordnung brachte. Denn nun stimmten alle erleichtert ein,
und der Kammerherr sah auf und reichte dem Diener die Flasche.

Später gewann eine andere Eigenheit die Oberhand bei meiner Großmutter.
Sie konnte es nicht ertragen, daß jemand im Hause erkrankte. Einmal,
als die Köchin sich verletzt hatte und sie sah sie zufällig mit der
eingebundenen Hand, behauptete sie, das Jodoform im ganzen Hause zu
riechen, und war schwer zu überzeugen, daß man die Person daraufhin
nicht entlassen könne. Sie wollte nicht an das Kranksein erinnert
werden. Hatte jemand die Unvorsichtigkeit, vor ihr irgendein kleines
Unbehagen zu äußern, so war das nichts anderes als eine persönliche
Kränkung für sie, und sie trug sie ihm lange nach.

In jenem Herbst, als Maman starb, schloß sich die Kammerherrin mit
Sophie Oxe ganz in ihren Zimmern ein und brach allen Verkehr mit uns
ab. Nicht einmal ihr Sohn wurde angenommen. Es ist ja wahr, dieses
Sterben fiel recht unpassend. Die Zimmer waren kalt, die Öfen
rauchten, und die Mäuse waren ins Haus gedrungen; man war nirgends
sicher vor ihnen. Aber das allein war es nicht, Frau Margarete Brigge
war empört, daß Maman starb; daß da eine Sache auf der Tagesordnung
stand, von der zu sprechen sie ablehnte; daß die junge Frau sich den
Vortritt anmaßte vor ihr, die einmal zu sterben gedachte zu einem
durchaus noch nicht festgesetzten Termin. Denn daran, daß sie würde
sterben müssen, dachte sie oft. Aber sie wollte nicht gedrängt sein.
Sie würde sterben, gewiß, wann es ihr gefiel, und dann konnten sie ja
alle ruhig sterben, hinterher, wenn sie es so eilig hatten.

Mamans Tod verzieh sie uns niemals ganz. Sie alterte übrigens rasch
während des folgenden Winters. Im Gehen war sie immer noch hoch, aber
im Sessel sank sie zusammen, und ihr Gehör wurde schwieriger. Man
konnte sitzen und sie groß ansehen, stundenlang, sie fühlte es nicht.
Sie war irgendwo drinnen; sie kam nur noch selten und nur für
Augenblicke in ihre Sinne, die leer waren, die sie nicht mehr bewohnte.
Dann sagte sie etwas zu der Komtesse, die ihr die Mantille richtete,
und nahm mit den großen, frisch gewaschenen Händen ihr Kleid an sich,
als wäre Wasser vergossen oder als wären wir nicht ganz reinlich.

Sie starb gegen den Frühling zu, in der Stadt, eines Nachts. Sophie
Oxe, deren Tür offenstand, hatte nichts gehört. Da man sie am Morgen
fand, war sie kalt wie Glas.

Gleich darauf begann des Kammerherrn große und schreckliche Krankheit.
Es war, als hätte er ihr Ende abgewartet, um so rücksichtslos sterben
zu können, wie er mußte.

Es war in dem Jahr nach Mamans Tode, daß ich Abelone zuerst bemerkte.
Abelone war immer da. Das tat ihr großen Eintrag. Und dann war
Abelone unsympathisch, das hatte ich ganz früher einmal bei
irgendeinem Anlaß festgestellt, und es war nie zu einer ernstlichen
Durchsicht dieser Meinung gekommen. Zu fragen, was es mit Abelone für
eine Bewandtnis habe, das wäre mir bis dahin beinah lächerlich
erschienen. Abelone war da, und man nutzte sie ab, wie man eben
konnte. Aber auf einmal fragte ich mich: Warum ist Abelone da? Jeder
bei uns hatte einen bestimmten Sinn da zu sein, wenn er auch
keineswegs immer so augenscheinlich war, wie zum Beispiel die
Anwendung des Fräuleins Oxe. Aber weshalb war Abelone da? Eine
Zeitlang war davon die Rede gewesen, daß sie sich zerstreuen solle.
Aber das geriet in Vergessenheit. Niemand trug etwas zu Abelones
Zerstreuung bei. Es machte durchaus nicht den Eindruck, daß sie sich
zerstreue.

Übrigens hatte Abelone ein Gutes: sie sang. Das heißt, es gab Zeiten,
wo sie sang. Es war eine starke, unbeirrbare Musik in ihr. Wenn es
wahr ist, daß die Engel männlich sind, so kann man wohl sagen, daß
etwas Männliches in ihrer Stimme war: eine strahlende, himmlische
Männlichkeit. Ich, der ich schon als Kind der Musik gegenüber so
mißtrauisch war (nicht, weil sie mich stärker als alles forthob aus
mir, sondern, weil ich gemerkt hatte, daß sie mich nicht wieder dort
ablegte, wo sie mich gefunden hatte, sondern tiefer, irgendwo ganz ins
Unfertige hinein), ich ertrug diese Musik, auf der man aufrecht
aufwärtssteigen konnte, höher und höher, bis man meinte, dies müßte
ungefähr schon der Himmel sein seit einer Weile. Ich ahnte nicht, daß
Abelone mir noch andere Himmel öffnen sollte.

Zunächst bestand unsere Beziehung darin, daß sie mir von Mamans
Mädchenzeit erzählte. Sie hielt viel darauf, mich zu überzeugen, wie
mutig und jung Maman gewesen wäre. Es gab damals niemanden nach ihrer
Versicherung, der sich im Tanzen oder im Reiten mir ihr messen konnte.
"Sie war die Kühnste und unermüdlich, und dann heiratete sie auf
einmal", sagte Abelone, immer noch erstaunt nach so vielen Jahren.
"Es kam so unerwartet, niemand konnte es recht begreifen."

Ich interessierte mich dafür, weshalb Abelone nicht geheiratet hatte.
Sie kam mir alt vor verhältnismäßig, und daß sie es noch könnte, daran
dachte ich nicht.

"Es war niemand da", antwortete sie einfach und wurde richtig schön
dabei. Ist Abelone schön? fragte ich mich überrascht. Dann kam ich
fort von Hause, auf die Adels-Akademie, und es begann eine widerliche
und arge Zeit. Aber wenn ich dort zu Sorö, abseits von den andern, im
Fenster stand, und sie ließen mich ein wenig in Ruh, so sah ich hinaus
in die Bäume, und in solchen Augenblicken und nachts wuchs in mir die
Sicherheit, daß Abelone schön sei. Und ich fing an, ihr alle jene
Briefe zu schreiben, lange und kurze, viele heimliche Briefe, darin
ich von Ulsgaard zu handeln meinte und davon, daß ich unglücklich sei.
Aber es werden doch wohl, so wie ich es jetzt sehe, Liebesbriefe
gewesen sein. Denn schließlich kamen die Ferien, die erst gar nicht
kommen wollten, und da war es wie auf Verabredung, daß wir uns nicht
vor den anderen wiedersahen.

Es war durchaus nichts vereinbart zwischen uns, aber da der Wagen
einbog in den Park, konnte ich es nicht lassen, auszusteigen,
vielleicht nur, weil ich nicht anfahren wollte, wie irgendein Fremder.
Es war schon voller Sommer. Ich lief in einen der Wege hinein und
auf einen Goldregen zu. Und da war Abelone. Schöne, schöne Abelone.

Ich wills nie vergessen, wie das war, wenn du mich anschautest. Wie
du dein Schauen trugst, gleichsam wie etwas nicht Befestigtes es
aufhaltend auf zurückgeneigtem Gesicht.

Ach, ob das Klima sich gar nicht verändert hat? Ob es nicht milder
geworden ist um Ulsgaard herum von all unserer Wärme? Ob einzelne
Rosen nicht länger blühen jetzt im Park, bis in den Dezember hinein?

Ich will nichts erzählen von dir, Abelone. Nicht deshalb, weil wir
einander täuschten: weil du Einen liebtest, auch damals, den du nie
vergessen hast, Liebende, und ich: alle Frauen; sondern weil mit dem
Sagen nur unrecht geschieht.

Es giebt Teppiche hier, Abelone, Wandteppiche. Ich bilde mir ein, du
bist da, sechs Teppiche sinds, komm, laß uns langsam vorübergehen.
Aber erst tritt zurück und sieh alle zugleich. Wie ruhig sie sind,
nicht? Es ist wenig Abwechslung darin. Da ist immer diese ovale
blaue Insel, schwebend im zurückhaltend roten Grund, der blumig ist
und von kleinen, mit sich beschäftigten Tieren bewohnt. Nur dort, im
letzten Teppich, steigt die Insel ein wenig auf, als ob sie leichter
geworden sei. Sie trägt immer eine Gestalt, eine Frau in
verschiedener Tracht, aber immer dieselbe. Zuweilen ist eine kleinere
Figur neben ihr, eine Dienerin, und immer sind die wappentragenden
Tiere da, groß, mit auf der Insel, mit in der Handlung. Links ein
Löwe, und rechts, hell, das Einhorn; sie halten die gleichen Banner,
die hoch über ihnen zeigen: drei silberne Monde, steigend, in blauer
Binde auf rotem Feld.--Hast du gesehen, willst du beim ersten
beginnen?

Sie füttert den Falken. Wie herrlich ihr Anzug ist. Der Vogel ist
auf der gekleideten Hand und rührt sich. Sie sieht ihm zu und langt
dabei in die Schale, die ihr die Dienerin bringt, um ihm etwas zu
reichen. Rechts unten auf der Schleppe hält sich ein kleiner,
seidenhaariger Hund, der aufsieht und hofft, man werde sich seiner
erinnern. Und, hast du bemerkt, ein niederes Rosengitter schließt
hinten die Insel ab. Die Wappentiere steigen heraldisch hochmütig.
Das Wappen ist ihnen noch einmal als Mantel umgegeben. Eine schöne
Agraffe hält es zusammen. Es weht.

Geht man nicht unwillkürlich leiser zu dem nächsten Teppich hin,
sobald man gewahrt, wie versunken sie ist: sie bindet einen Kranz,
eine kleine, runde Krone aus Blumen. Nachdenklich wählt sie die Farbe
der nächsten Nelke in dem flachen Becken, das ihr die Dienerin hält,
während sie die vorige anreiht. Hinten auf einer Bank steht unbenutzt
ein Korb voller Rosen, den ein Affe entdeckt hat. Diesmal sollten es
Nelken sein. Der Löwe nimmt nicht mehr teil; aber rechts das Einhorn
begreift.

Mußte nicht Musik kommen in diese Stille, war sie nicht schon
verhalten da? Schwer und still geschmückt, ist sie (wie langsam,
nicht?) an die tragbare Orgel getreten und spielt, stehend, durch das
Pfeifenwerk abgetrennt von der Dienerin, die jenseits die Bälge bewegt.
So schön war sie noch nie. Wunderlich ist das Haar in zwei Flechten
nach vorn genommen und über dem Kopfputz oben zusammengefaßt, so daß
es mit seinen Enden aus dem Bund aufsteigt wie ein kurzer Helmbusch.
Verstimmt erträgt der Löwe die Töne, ungern, Geheul verbeißend. Das
Einhorn aber ist schön, wie in Wellen bewegt.

Die Insel wird breit. Ein Zelt ist errichtet. Aus blauem Damast und
goldgeflammt. Die Tiere raffen es auf, und schlicht beinah in ihrem
fürstlichen Kleid tritt sie vor. Denn was sind ihre Perlen gegen sie
selbst. Die Dienerin hat eine kleine Truhe geöffnet, und sie hebt nun
eine Kette heraus, ein schweres, herrliches Kleinod, das immer
verschlossen war. Der kleine Hund sitzt bei ihr, erhöht, auf
bereitetem Platz und sieht es an. Und hast du den Spruch entdeckt auf
dem Zeltrand oben? Da steht: 'A mon seul désir.'

Was ist geschehen, warum springt das kleine Kaninchen da unten, warum
sieht man gleich, daß es springt? Alles ist so befangen. Der Löwe
hat nichts zu tun. Sie selbst hält das Banner. Oder hält sie sich
dran? Sie hat mit der anderen Hand nach dem Horn des Einhorns gefaßt.
Ist das Trauer, kann Trauer so aufrecht sein, und ein Trauerkleid so
verschwiegen wie dieser grünschwarze Samt mit den welken Stellen?

Aber es kommt noch ein Fest, niemand ist geladen dazu. Erwartung
spielt dabei keine Rolle. Es ist alles da. Alles für immer. Der
Löwe sieht sich fast drohend um: es darf niemand kommen. Wir haben
sie noch nie müde gesehen; ist sie müde? Oder hat sie sich nur
niedergelassen, weil sie etwas Schweres hält? Man könnte meinen, eine
Monstranz. Aber sie neigt den andern Arm gegen das Einhorn hin, und
das Tier bäumt sich geschmeichelt auf und steigt und stützt sich auf
ihren Schooß. Es ist ein Spiegel, was sie hält. Siehst du: sie zeigt
dem Einhorn sein Bild--.

Abelone, ich bilde mir ein, du bist da. Begreifst du, Abelone? Ich
denke, du mußt begreifen.

Nun sind auch die Teppiche der Dame à la Licorne nicht mehr in
dem alten Schloß von Boussac. Die Zeit ist da, wo alles aus den
Häusern fortkommt, sie können nichts mehr behalten. Die Gefahr ist
sicherer geworden als die Sicherheit. Niemand aus dem Geschlecht der
Delle Viste geht neben einem her und hat das im Blut. Sie sind alle
vorbei. Niemand spricht deinen Namen aus, Pierre d'Aubusson, großer
Großmeister aus uraltem Hause, auf dessen Willen hin vielleicht diese
Bilder gewebt wurden, die alles preisen und nichts preisgeben. (Ach,
daß die Dichter je anders von Frauen geschrieben haben, wörtlicher,
wie sie meinten. Es ist sicher, wir durften nichts wissen als das.)
Nun kommt man zufällig davor unter Zufälligen und erschrickt fast,
nicht geladen zu sein. Aber da sind andere und gehen vorüber, wenn es
auch nie viele sind. Die jungen Leute halten sich kaum auf, es sei
denn, daß das irgendwie in ihr Fach gehört, diese Dinge einmal gesehen
zu haben, auf die oder jene bestimmte Eigenschaft hin.

Junge Mädchen allerdings findet man zuweilen davor. Denn es giebt
eine Menge junger Mädchen in den Museen, die fortgegangen sind
irgendwo aus den Häusern, die nichts mehr behalten. Sie finden sich
vor diesen Teppichen und vergessen sich ein wenig. Sie haben immer
gefühlt, daß es dies gegeben hat, solch ein leises Leben langsamer,
nie ganz aufgeklärter Gebärden, und sie erinnern sich dunkel, daß sie
sogar eine Zeitlang meinten, es würde ihr Leben sein. Aber dann
ziehen sie rasch ein Heft hervor und beginnen zu zeichnen, gleichviel
was, eine von den Blumen oder ein kleines, vergnügtes Tier. Darauf
käme es nicht an, hat man ihnen vorgesagt, was es gerade wäre. Und
darauf kommt es wirklich nicht an. Nur daß gezeichnet wird, das ist
die Hauptsache; denn dazu sind sie fortgegangen eines Tages, ziemlich
gewaltsam. Sie sind aus guter Familie. Aber wenn sie jetzt beim
Zeichnen die Arme heben, so ergiebt sich, daß ihr Kleid hinten nicht
zugeknöpft ist oder doch nicht ganz. Es sind da ein paar Knöpfe, die
man nicht erreichen kann. Denn als dieses Kleid gemacht wurde, war
noch nicht davon die Rede gewesen, daß sie plötzlich allein weggehen
würden. In der Familie ist immer jemand für solche Knöpfe. Aber hier,
lieber Gott, wer sollte sich damit abgeben in einer so großen Stadt.
Man müßte schon eine Freundin haben; Freundinnen sind aber in
derselben Lage, und da kommt es doch darauf hinaus, daß man sich
gegenseitig die Kleider schließt. Das ist lächerlich und erinnert an
die Familie, an die man nicht erinnert sein will.

Es läßt sich ja nicht vermeiden, daß man während des Zeichnens
zuweilen überlegt, ob es nicht doch möglich gewesen wäre zu bleiben.
Wenn man hätte fromm sein können, herzhaft fromm im gleichen Tempo mit
den andern. Aber das nahm sich so unsinnig aus, das gemeinsam zu
versuchen. Der Weg ist irgendwie enger geworden: Familien können
nicht mehr zu Gott. Es blieben also nur verschiedene andere Dinge,
die man zur Not teilen konnte. Da kam dann aber, wenn man ehrlich
teilte, so wenig auf den einzelnen, daß es eine Schande war. Und
betrog man beim Teilen, so entstanden Auseinandersetzungen. Nein, es
ist wirklich besser zu zeichnen, gleichviel was. Mit der Zeit stellt
sich die Ähnlichkeit schon ein. Und die Kunst, wenn man sie so
allmählich hat, ist doch etwas recht Beneidenswertes.

Und über der angestrengten Beschäftigung mit dem, was sie sich
vorgenommen haben, diese jungen Mädchen, kommen sie nicht mehr dazu,
aufzusehen. Sie merken nicht, wie sie bei allem Zeichnen doch nichts
tun, als das unabänderliche Leben in sich unterdrücken, das in diesen
gewebten Bildern strahlend vor ihnen aufgeschlagen ist in seiner
unendlichen Unsäglichkeit. Sie wollen es nicht glauben. Jetzt, da so
vieles anders wird, wollen sie sich verändern. Sie sind ganz nahe
daran, sich aufzugeben und so von sich zu denken, wie Männer etwa von
ihnen reden könnten, wenn sie nicht da sind. Das scheint ihnen ihr
Fortschritt. Sie sind fast schon überzeugt, daß man einen Genuß sucht
und wieder einen und einen noch stärkeren Genuß: daß darin das Leben
besteht, wenn man es nicht auf eine alberne Art verlieren will. Sie
haben schon angefangen, sich umzusehen, zu suchen; sie, deren Stärke
immer darin bestanden hat, gefunden zu werden.

Das kommt, glaube ich, weil sie müde sind. Sie haben Jahrhunderte
lang die ganze Liebe geleistet, sie haben immer den vollen Dialog
gespielt, beide Teile. Denn der Mann hat nur nachgesprochen und
schlecht. Und hat ihnen das Erlernen schwer gemacht mit seiner
Zerstreutheit, mit seiner Nachlässigkeit, mit seiner Eifersucht, die
auch eine Art Nachlässigkeit war. Und sie haben trotzdem ausgeharrt
Tag und Nacht und haben zugenommen an Liebe und Elend. Und aus ihnen
sind, unter dem Druck endloser Nöte, die gewaltigen Liebenden
hervorgegangen, die, während sie ihn riefen, den Mann überstanden; die
über ihn hinauswuchsen, wenn er nicht wiederkam, wie Gaspara Stampa
oder wie die Portugiesin, die nicht abließen, bis ihre Qual umschlug
in eine herbe, eisige Herrlichkeit, die nicht mehr zu halten war. Wir
wissen von der und der, weil Briefe da sind, die wie durch ein Wunder
sich erhielten, oder Bücher mit anklagenden oder klagenden Gedichten,
oder Bilder, die uns anschauen in einer Galerie durch ein Weinen durch,
das dem Maler gelang, weil er nicht wußte, was es war. Aber es sind
ihrer zahllos mehr gewesen; solche, die ihre Briefe verbrannt haben,
und andere, die keine Kraft mehr hatten, sie zu schreiben. Greisinnen,
die verhärtet waren, mit einem Kern von Köstlichkeit in sich, den sie
verbargen. Formlose, stark gewordene Frauen, die, stark geworden aus
Erschöpfung, sich ihren Männern ähnlich werden ließen und die doch
innen ganz anders waren, dort, wo ihre Liebe gearbeitet hatte, im
Dunkel. Gebärende, die nie gebären wollten, und wenn sie endlich
starben an der achten Geburt, so hatten sie die Gesten und das Leichte
von Mädchen, die sich auf die Liebe freuen. Und die, die blieben
neben Tobenden und Trinkern, weil sie das Mittel gefunden hatten, in
sich so weit von ihnen zu sein wie nirgend sonst; und kamen sie unter
die Leute, so konnten sies nicht verhalten und schimmerten, als gingen
sie immer mit Seligen um. Wer kann sagen, wie viele es waren und
welche. Es ist, als hätten sie im voraus die Worte vernichtet, mit
denen man sie fassen könnte.

Aber nun, da so vieles anders wird, ist es nicht an uns, uns zu
verändern? Könnten wir nicht versuchen, uns ein wenig zu entwickeln,
und unseren Anteil Arbeit in der Liebe langsam auf uns nehmen nach und
nach? Man hat uns alle ihre Mühsal erspart, und so ist sie uns unter
die Zerstreuungen geglitten, wie in eines Kindes Spiellade manchmal
ein Stück echter Spitze fällt und freut und nicht mehr freut und
endlich daliegt unter Zerbrochenem und Auseinandergenommenem,
schlechter als alles. Wir sind verdorben vom leichten Genuß wie alle
Dilettanten und stehen im Geruch der Meisterschaft. Wie aber, wenn
wir unsere Erfolge verachteten, wie, wenn wir ganz von vorne begännen
die Arbeit der Liebe zu lernen, die immer für uns getan worden ist?
Wie, wenn wir hingingen und Anfänger würden, nun, da sich vieles
verändert.

O weiß ich auch, wie es war, wenn Maman die kleinen Spitzenstücke
aufrollte. Sie hatte nämlich ein einziges von den Schubfächern in
Ingeborgs Sekretär für sich in Gebrauch genommen.

"Wollen wir sie sehen, Malte", sagte sie und freute sich, als sollte
sie eben alles geschenkt bekommen, was in der kleinen gelblackierten
Lade war. Und dann konnte sie vor lauter Erwartung das Seidenpapier
gar nicht auseinanderschlagen. Ich mußte es tun jedesmal. Aber ich
wurde auch ganz aufgeregt, wenn die Spitzen zum Vorschein kamen. Sie
waren aufgewunden um eine Holzwelle, die gar nicht zu sehen war vor
lauter Spitzen. Und nun wickelten wir sie langsam ab und sahen den
Mustern zu, wie sie sich abspielten, und erschraken jedesmal ein wenig,
wenn eines zu Ende war. Sie hörten so plötzlich auf.

Da kamen erst Kanten italienischer Arbeit, zähe Stücke mit
ausgezogenen Fäden, in denen sich alles immerzu wiederholte, deutlich
wie in einem Bauerngarten. Dann war auf einmal eine ganze Reihe
unserer Blicke vergittert mit venezianischer Nadelspitze, als ob wir
Klöster wären oder Gefängnisse. Aber es wurde wieder frei, und man
sah weit in Gärten hinein, die immer künstlicher wurden, bis es dicht
und lau an den Augen war wie in einem Treibhaus: prunkvolle Pflanzen,
die wir nicht kannten, schlugen riesige Blätter auf, Ranken griffen
nacheinander, als ob ihnen schwindelte, und die großen offenen Blüten
der Points d'Alençon trübten alles mit ihren Pollen. Plötzlich, ganz
müde und wirr, trat man hinaus in die lange Bahn der Valenciennes, und
es war Winter und früh am Tag und Reif. Und man drängte sich durch
das verschneite Gebüsch der Binche und kam an Plätze, wo noch keiner
gegangen war; die Zweige hingen so merkwürdig abwärts, es konnte wohl
ein Grab darunter sein, aber das verbargen wir voreinander. Die Kälte
drang immer dichter an uns heran, und schließlich sagte Maman, wenn
die kleinen, ganz feinen Klöppelspitzen kamen: "Öh, jetzt bekommen wir
Eisblumen an den Augen", und so war es auch, denn es war innen sehr
warm in uns.

Über dem Wiederaufrollen seufzten wir beide, das war eine lange Arbeit,
aber wir mochten es niemandem überlassen.

"Denk nun erst, wenn wir sie machen müßten", sagte Maman und sah
förmlich erschrocken aus. Das konnte ich mir gar nicht vorstellen.
Ich ertappte mich darauf, daß ich an kleine Tiere gedacht hatte, die
das immerzu spinnen und die man dafür in Ruhe läßt. Nein, es waren ja
natürlich Frauen.

"Die sind gewiß in den Himmel gekommen, die das gemacht haben", meinte
ich bewundernd. Ich erinnere, es fiel mir auf, daß ich lange nicht
nach dem Himmel gefragt hatte. Maman atmete auf, die Spitzen waren
wieder beisammen.

Nach einer Weile, als ich es schon wieder vergessen hatte, sagte sie
ganz langsam: "In den Himmel? Ich glaube, sie sind ganz und gar da
drin. Wenn man das so sieht: das kann gut eine ewige Seligkeit sein.
Man weiß ja so wenig darüber."

Oft, wenn Besuch dawar, hieß es, daß Schulins sich einschränkten. Das
große, alte Schloß war abgebrannt vor ein paar Jahren, und nun wohnten
sie in den beiden engen Seitenflügeln und schränkten sich ein. Aber
das Gästehaben lag ihnen nun einmal im Blut. Das konnten sie nicht
aufgeben. Kam jemand unerwartet zu uns, so kam er wahrscheinlich von
Schulins; und sah jemand plötzlich nach der Uhr und mußte ganz
erschrocken fort, so wurde er sicher auf Lystager erwartet.

Maman ging eigentlich schon nirgends mehr hin, aber so etwas konnten
Schulins nicht begreifen; es blieb nichts übrig, man mußte einmal
hinüberfahren. Es war im Dezember nach ein paar frühen Schneefällen;
der Schlitten war auf drei Uhr befohlen, ich sollte mit. Man fuhr
indessen nie pünktlich bei uns. Maman, die es nicht liebte, daß der
Wagen gemeldet wurde, kam meistens viel zu früh herunter, und wenn sie
niemanden fand, so fiel ihr immer etwas ein, was schon längst hätte
getan sein sollen, und sie begann irgendwo oben zu suchen oder zu
ordnen, so daß sie kaum wieder zu erreichen war. Schließlich standen
alle und warteten. Und saß sie endlich und war eingepackt, so zeigte
es sich, daß etwas vergessen sei, und Sieversen mußte geholt werden;
denn nur Sieversen wußte, wo es war. Aber dann fuhr man plötzlich los,
eh Sieversen wiederkam.

An diesem Tag war es überhaupt nicht recht hell geworden. Die Bäume
standen da, als wüßten sie nicht weiter im Nebel, und es hatte etwas
Rechthaberisches, dahinein zu fahren. Zwischendurch fing es an, still
weiterzuschneien, und nun wars, als würde auch noch das Letzte
ausradiert und als führe man in ein weißes Blatt. Es gab nichts als
das Geläut, und man konnte nicht sagen, wo es eigentlich war. Es kam
ein Moment, da es einhielt, als wäre nun die letzte Schelle ausgegeben;
aber dann sammelte es sich wieder und war beisammen und streute sich
wieder aus dem Vollen aus. Den Kirchturm links konnte man sich
eingebildet haben. Aber der Parkkontur war plötzlich da, hoch,
beinahe über einem, und man befand sich in der langen Allee. Das
Geläut fiel nicht mehr ganz ab; es war, als hängte es sich in Trauben
rechts und links an die Bäume. Dann schwenkte man und fuhr rund um
etwas herum und rechts an etwas vorbei und hielt in der Mitte.

Georg hatte ganz vergessen, daß das Haus nicht da war, und für uns
alle war es in diesem Augenblick da. Wir stiegen die Freitreppe
hinauf, die auf die alte Terrasse führte, und wunderten uns nur, daß
es ganz dunkel sei. Auf einmal ging eine Tür, links unten hinter uns,
und jemand rief: "Hierher!" und hob und schwenkte ein dunstiges Licht.
Mein Vater lachte: "Wir steigen hier herum wie die Gespenster", und
er half uns wieder die Stufen zurück.

"Aber es war doch eben ein Haus da", sagte Maman und konnte sich gar
nicht so rasch an Wjera Schulin gewöhnen, die warm und lachend
herausgelaufen war. Nun mußte man natürlich schnell hinein, und an
das Haus war nicht mehr zu denken. In einem engen Vorzimmer wurde man
ausgezogen, und dann war man gleich mitten drin unter den Lampen und
der Wärme gegenüber.

Diese Schulins waren ein mächtiges Geschlecht selbständiger Frauen.
Ich weiß nicht, ob es Söhne gab. Ich erinnere mich nur dreier
Schwestern; der ältesten, die an einen Marchese in Neapel verheiratet
gewesen war, von dem sie sich nun langsam unter vielen Prozessen
schied. Dann kam Zoë, von der es hieß, daß es nichts gab, was sie
nicht wußte. Und vor allem war Wjera da, diese warme Wjera; Gott weiß,
was aus ihr geworden ist. Die Gräfin, eine Narischkin, war
eigentlich die vierte Schwester und in gewisser Beziehung die jüngste.
Sie wußte von nichts und mußte in einem fort von ihren Kindern
unterrichtet werden. Und der gute Graf Schulin fühlte sich, als ob er
mit allen diesen Frauen verheiratet sei, und ging herum und küßte sie,
wie es eben kam.

Vor der Hand lachte er laut und begrüßte uns eingehend. Ich wurde
unter den Frauen weitergegeben und befühlt und befragt. Aber ich
hatte mir fest vorgenommen, wenn das vorüber sei, irgendwie
hinauszugleiten und mich nach dem Haus umzusehen. Ich war überzeugt,
daß es heute da sei. Das Hinauskommen war nicht so schwierig;
zwischen allen den Kleidern kam man unten durch wie ein Hund, und die
Tür nach dem Vorraum zu war noch angelehnt. Aber draußen die äußere
wollte nicht nachgeben. Da waren mehrere Vorrichtungen, Ketten und
Riegel, die ich nicht richtig behandelte in der Eile. Plötzlich ging
sie doch auf, aber mit lautem Geräusch, und eh ich draußen war, wurde
ich festgehalten und zurückgezogen.

"Halt, hier wird nicht ausgekniffen", sagte Wjera Schulin belustigt.
Sie beugte sich zu mir, und ich war entschlossen, dieser warmen Person
nichts zu verraten. Sie aber, als ich nichts sagte, nahm ohne weiters
an, eine Nötigung meiner Natur hätte mich an die Tür getrieben; sie
ergriff meine Hand und fing schon an zu gehen und wollte mich, halb
vertraulich, halb hochmütig, irgendwohin mitziehen. Dieses intime
Mißverständnis kränkte mich über die Maßen. Ich riß mich los und sah
sie böse an. "Das Haus will ich sehen", sagte ich stolz. Sie begriff
nicht.

"Das große Haus draußen an der Treppe."

"Schaf", machte sie und haschte nach mir, "da ist doch gar kein Haus
mehr." Ich bestand darauf.

"Wir gehen einmal bei Tage hin", schlug sie einlenkend vor, "jetzt
kann man da nicht herumkriechen. Es sind Löcher da, und gleich
dahinter sind Papas Fischteiche, die nicht zufrieren dürfen. Da
fällst du hinein und wirst ein Fisch."

Damit schob sie mich vor sich her wieder in die hellen Stuben. Da
saßen sie alle und sprachen, und ich sah sie mir der Reihe nach an:
die gehen natürlich nur hin, wenn es nicht da ist, dachte ich
verächtlich; wenn Maman und ich hier wohnten, so wäre es immer da.
Maman sah zerstreut aus, während alle zugleich redeten. Sie dachte
gewiß an das Haus.

Zoë setzte sich zu mir und stellte mir Fragen. Sie hatte ein
gutgeordnetes Gesicht, in dem sich das Einsehen von Zeit zu Zeit
erneute, als sähe sie beständig etwas ein. Mein Vater saß etwas nach
rechts geneigt und hörte der Marchesin zu, die lachte. Graf Schulin
stand zwischen Maman und seiner Frau und erzählte etwas. Aber die
Gräfin unterbrach ihn, sah ich, mitten im Satze.

"Nein, Kind, das bildest du dir ein", sagte der Graf gutmütig, aber er
hatte auf einmal dasselbe beunruhigte Gesicht, das er vorstreckte über
den beiden Damen. Die Gräfin war von ihrer sogenannten Einbildung
nicht abzubringen. Sie sah ganz angestrengt aus, wie jemand, der
nicht gestört sein will. Sie machte kleine, abwinkende Bewegungen mit
ihren weichen Ringhänden, jemand sagte "sst", und es wurde plötzlich
ganz still.

Hinter den Menschen drängten sich die großen Gegenstände aus dem alten
Hause, viel zu nah. Das schwere Familiensilber glänzte und wölbte
sich, als sähe man es durch Vergrößerungsgläser. Mein Vater sah sich
befremdet um.

"Mama riecht", sagte Wjera Schulin hinter ihm, "da müssen wir immer
alle still sein, sie riecht mit den Ohren", dabei aber stand sie
selbst mit hochgezogenen Augenbrauen da, aufmerksam und ganz Nase.

Die Schulins waren in dieser Beziehung ein bißchen eigen seit dem
Brande. In den engen, überheizten Stuben kam jeden Augenblick ein
Geruch auf, und dann untersuchte man ihn, und jeder gab seine Meinung
ab. Zoë machte sich am Ofen zu tun, sachlich und gewissenhaft, der
Graf ging umher und stand ein wenig in jeder Ecke und wartete; "hier
ist es nicht", sagte er dann. Die Gräfin war aufgestanden und wußte
nicht, wo sie suchen sollte. Mein Vater drehte sich langsam um sich
selbst, als hätte er den Geruch hinter sich. Die Marchesin, die
sofort angenommen hatte, daß es ein garstiger Geruch sei, hielt ihr
Taschentuch vor und sah von einem zum andern, ob es vorüber wäre.
"Hier, hier", rief Wjera von Zeit zu Zeit, als hätte sie ihn. Und um
jedes Wort herum war es merkwürdig still. Was mich angeht, so hatte
ich fleißig mitgerochen. Aber auf einmal (war es die Hitze in den
Zimmern oder das viele nahe Licht) überfiel mich zum erstenmal in
meinem Leben etwas wie Gespensterfurcht. Es wurde mir klar, daß alle
die deutlichen großen Menschen, die eben noch gesprochen und gelacht
hatten, gebückt herumgingen und sich mit etwas Unsichtbarem
beschäftigten; daß sie zugaben, daß da etwas war, was sie nicht sahen.
Und es war schrecklich, daß es stärker war als sie alle.

Meine Angst steigerte sich. Mir war, als könnte das, was sie suchten,
plötzlich aus mir ausbrechen wie ein Ausschlag; und dann würden sie es
sehen und nach mir zeigen. Ganz verzweifelt sah ich nach Maman
hinüber. Sie saß eigentümlich gerade da, mir kam vor, daß sie auf
mich wartete. Kaum war ich bei ihr und fühlte, daß sie innen zitterte,
so wußte ich, daß das Haus jetzt erst wieder verging.

"Malte, Feigling", lachte es irgendwo. Es war Wjeras Stimme. Aber
wir ließen einander nicht los und ertrugen es zusammen; und wir
blieben so, Maman und ich, bis das Haus wieder ganz vergangen war.

Am reichsten an beinah unfaßbaren Erfahrungen waren aber doch die
Geburtstage. Man wußte ja schon, daß das Leben sich darin gefiel,
keine Unterschiede zu machen; aber zu diesem Tage stand man mit einem
Recht auf Freude auf, an dem nicht zu zweifeln war. Wahrscheinlich
war das Gefühl dieses Rechts ganz früh in einem ausgebildet worden, zu
der Zeit, da man nach allem greift und rein alles bekommt und da man
die Dinge, die man gerade festhält, mit unbeirrbarer Einbildungskraft
zu der grundfarbigen Intensität des gerade herrschenden Verlangens
steigert.

Dann aber kommen auf einmal jene merkwürdigen Geburtstage, da man, im
Bewußtsein dieses Rechtes völlig befestigt, die anderen unsicher
werden sieht. Man möchte wohl noch wie früher angekleidet werden und
dann alles Weitere entgegennehmen. Aber kaum ist man wach, so ruft
jemand draußen, die Torte sei noch nicht da; oder man hört, daß etwas
zerbricht, während nebenan der Geschenktisch geordnet wird; oder es
kommt jemand herein und läßt die Türe offen, und man sieht alles, ehe
man es hätte sehen dürfen. Das ist der Augenblick, wo etwas wie eine
Operation an einem geschieht. Ein kurzer, wahnsinnig schmerzhafter
Eingriff. Aber die Hand, die ihn tut, ist geübt und fest. Es ist
gleich vorbei. Und kaum ist es überstanden, so denkt man nicht mehr
an sich; es gilt, den Geburtstag zu retten, die anderen zu beobachten,
ihren Fehlern zuvorzukommen, sie in ihrer Einbildung zu bestärken, daß
sie alles trefflich bewältigen. Sie machen es einem nicht leicht. Es
erweist sich, daß sie von einer beispiellosen Ungeschicklichkeit sind,
beinahe stupide. Sie bringen es zuwege, mit irgendwelchen Paketen
hereinzukommen, die für andere Leute bestimmt sind; man läuft ihnen
entgegen und muß hernach tun, als liefe man überhaupt in der Stube
herum, um sich Bewegung zu schaffen, auf nichts Bestimmtes zu. Sie
wollen einen überraschen und heben mit oberflächlich nachgeahmter
Erwartung die unterste Lage in den Spielzeugschachteln auf, wo weiter
nichts ist als Holzwolle; da muß man ihnen ihre Verlegenheit
erleichtern. Oder wenn es etwas Mechanisches war, so überdrehen sie
das, was sie einem geschenkt haben, beim ersten Aufziehen. Es ist
deshalb gut, wenn man sich beizeiten übt, eine überdrehte Maus oder
dergleichen unauffällig mit dem Fuß weiterzustoßen: auf diese Weise
kann man sie oft täuschen und ihnen über die Beschämung forthelfen.

Das alles leistete man schließlich, wie es verlangt wurde, auch ohne
besondere Begabung. Talent war eigentlich nur nötig, wenn sich einer
Mühe gegeben hatte, und brachte, wichtig und gutmütig, eine Freude,
und man sah schon von weitem, daß es eine Freude für einen ganz
anderen war, eine vollkommen fremde Freude; man wußte nicht einmal
jemanden, dem sie gepaßt hätte: so fremd war sie.

Daß man erzählte, wirklich erzählte, das muß vor meiner Zeit gewesen
sein. Ich habe nie jemanden erzählen hören. Damals, als Abelone mir
von Mamans Jugend sprach, zeigte es sich, daß sie nicht erzählen könne.
Der alte Graf Brahe soll es noch gekonnt haben. Ich will
aufschreiben, was sie davon wußte.

Abelone muß als ganz junges Mädchen eine Zeit gehabt haben, da sie von
einer eigenen, weiten Bewegtheit war. Brahes wohnten damals in der
Stadt, in der Bredgade, unter ziemlicher Geselligkeit. Wenn sie
abends spät hinauf in ihr Zimmer kam, so meinte sie müde zu sein wie
die anderen. Aber dann fühlte sie auf einmal das Fenster und, wenn
ich recht verstanden habe, so konnte sie vor der Nacht stehn,
stundenlang, und denken: das geht mich an. "Wie ein Gefangener stand
ich da", sagte sie, "und die Sterne waren die Freiheit." Sie konnte
damals einschlafen, ohne sich schwer zu machen. Der Ausdruck
In-den-Schlaf-fallen paßt nicht für dieses Mädchenjahr. Schlaf war
etwas, was mit einem stieg, und von Zeit zu Zeit hatte man die Augen
offen und lag auf einer neuen Oberfläche, die noch lang nicht die
oberste war. Und dann war man auf vor Tag; selbst im Winter, wenn die
anderen schläfrig und spät zum späten Frühstück kamen. Abends, wenn
es dunkel wurde, gab es ja immer nur Lichter für alle, gemeinsame
Lichter. Aber diese beiden Kerzen ganz früh in der neuen Dunkelheit,
mit der alles wieder anfing, die hatte man für sich. Sie standen in
ihrem niederen Doppelleuchter und schienen ruhig durch die kleinen,
ovalen, mit Rosen bemalten Tüllschirme, die von Zeit zu Zeit
nachgerückt werden mußten. Das hatte nichts Störendes; denn einmal
war man durchaus nicht eilig, und dann kam es doch so, daß man
manchmal aufsehen mußte und nachdenken, wenn man an einem Brief
schrieb oder in das Tagebuch, das früher einmal mit ganz anderer
Schrift, ängstlich und schön, begonnen war.

Der Graf Brahe lebte ganz abseits von seinen Töchtern. Er hielt es
für Einbildung, wenn jemand behauptete, das Leben mit andern zu teilen.
("Ja, teilen--", sagte er.) Aber es war ihm nicht unlieb, wenn die
Leute ihm von seinen Töchtern erzählten; er hörte aufmerksam zu, als
wohnten sie in einer anderen Stadt.

Es war deshalb etwas ganz Außerordentliches, daß er einmal nach dem
Frühstück Abelone zu sich winkte: "Wir haben die gleichen Gewohnheiten,
wie es scheint, ich schreibe auch ganz früh. Du kannst mir helfen."
Abelone wußte es noch wie gestern.

Schon am anderen Morgen wurde sie in ihres Vaters Kabinett geführt,
das im Rufe der Unzugänglichkeit stand. Sie hatte nicht Zeit, es in
Augenschein zu nehmen, denn man setzte sie sofort gegen dem Grafen
über an den Schreibtisch, der ihr wie eine Ebene schien mit Büchern
und Schriftstößen als Ortschaften.

Der Graf diktierte. Diejenigen, die behaupteten, daß Graf Brahe seine
Memoiren schriebe, hatten nicht völlig unrecht. Nur daß es sich nicht
um politische oder militärische Erinnerungen handelte, wie man mit
Spannung erwartete. "Die vergesse ich", sagte der alte Herr kurz wenn
ihn jemand auf solche Tatsachen hin anredete. Was er aber nicht
vergessen wollte, das war seine Kindheit. Auf die hielt er. Und es
war ganz in der Ordnung, seiner Meinung nach, daß jene sehr entfernte
Zeit nun in ihm die Oberhand gewann, daß sie, wenn er seinen Blick
nach innen kehrte, dalag wie in einer hellen nordischen Sommernacht,
gesteigert und schlaflos.

Manchmal sprang er auf und redete in die Kerzen hinein, daß sie
flackerten. Oder ganze Sätze mußten wieder durchgestrichen werden,
und dann ging er heftig hin und her und wehte mit seinem nilgrünen,
seidenen Schlafrock. Während alledem war noch eine Person zugegen,
Sten, des Grafen alter, jütländischer Kammerdiener, dessen Aufgabe es
war, wenn der Großvater aufsprang, die Hände schnell über die
einzelnen losen Blätter zu legen, die, mit Notizen bedeckt, auf dem
Tische herumlagen. Seine Gnaden hatten die Vorstellung, daß das
heutige Papier nichts tauge, daß es viel zu leicht sei und davonfliege
bei der geringsten Gelegenheit. Und Sten, von dem man nur die lange
obere Hälfte sah, teilte diesen Verdacht und saß gleichsam auf seinen
Händen, lichtblind und ernst wie ein Nachtvogel.

Dieser Sten verbrachte die Sonntag-Nachmittage damit, Swedenborg zu
lesen, und niemand von der Dienerschaft hätte je sein Zimmer betreten
mögen, weil es hieß, daß er zitiere. Die Familie Stens hatte seit je
Umgang mit Geistern gehabt, und Sten war für diesen Verkehr ganz
besonders vorausbestimmt. Seiner Mutter war etwas erschienen in der
Nacht, da sie ihn gebar. Er hatte große, runde Augen, und das andere
Ende seines Blicks kam hinter jeden zu liegen, den er damit ansah.
Abelonens Vater fragte ihn oft nach den Geistern, wie man sonst
jemanden nach seinen Angehörigen fragt: "Kommen sie, Sten?" sagte er
wohlwollend. "Es ist gut, wenn sie kommen."

Ein paar Tage ging das Diktieren seinen Gang. Aber dann konnte
Abelone 'Eckernförde' nicht schreiben. Es war ein Eigenname, und sie
hatte ihn nie gehört. Der Graf, der im Grunde schon lange einen
Vorwand suchte, das Schreiben aufzugeben, das zu langsam war für seine
Erinnerungen stellte sich unwillig.

"Sie kann es nicht schreiben", sagte er scharf, "und andere werden es
nicht lesen können. Und werden sie es überhaupt sehen, was ich da
sage?" fuhr er böse fort und ließ Abelone nicht aus den Augen.

"Werden sie ihn sehen, diesen Saint-Germain?" schrie er sie an.
"Haben wir Saint-Germain gesagt? streich es durch. Schreib: der
Marquis von Belmare."

Abelone strich durch und schrieb. Aber der Graf sprach so schnell
weiter, daß man nicht mitkonnte.

"Er mochte Kinder nicht leiden, dieser vortreffliche Belmare, aber
mich nahm er auf sein Knie, so klein ich war, und mir kam die Idee, in
seine Diamantknöpfe zu beißen. Das freute ihn. Er lachte und hob mir
den Kopf, bis wir einander in die Augen sahen: 'Du hast ausgezeichnete
Zähne', sagte er, 'Zähne, die etwas unternehmen...'--Ich aber merkte
mir seine Augen. Ich bin später da und dort herumgekommen. Ich habe
allerhand Augen gesehen, kannst du mir glauben: solche nicht wieder.
Für diese Augen hätte nichts da sein müssen, die hattens in sich. Du
hast von Venedig gehört? Gut. Ich sage dir, die hätten Venedig hier
hereingesehen in dieses Zimmer, daß es da gewesen wäre, wie der Tisch.
Ich saß in der Ecke einmal und hörte, wie er meinem Vater von Persien
erzählte, manchmal mein ich noch, mir riechen die Hände davon. Mein
Vater schätzte ihn, und Seine Hoheit, der Landgraf, war so etwas wie
sein Schüler. Aber es gab natürlich genug, die ihm übelnahmen, daß er
an die Vergangenheit nur glaubte, wenn sie in ihm war. Das konnten
sie nicht begreifen, daß der Kram nur Sinn hat, wenn man damit geboren
wird."

"Die Bücher sind leer", schrie der Graf mit einer wütenden Gebärde
nach den Wänden hin, "das Blut, darauf kommt es an, da muß man drin
lesen können. Er hatte wunderliche Geschichten drin und merkwürdige
Abbildungen, dieser Belmare; er konnte aufschlagen, wo er wollte, da
war immer was beschrieben; keine Seite in seinem Blut war überschlagen
worden. Und wenn er sich einschloß von Zeit zu Zeit und allein drin
blätterte, dann kam er zu den Stellen über das Goldmachen und über die
Steine und über die Farben. Warum soll das nicht darin gestanden
haben? Es steht sicher irgendwo."

"Er hätte gut mit einer Wahrheit leben können, dieser Mensch, wenn er
allein gewesen wäre. Aber es war keine Kleinigkeit, allein zu sein
mit einer solchen. Und er war nicht so geschmacklos, die Leute
einzuladen, daß sie ihn bei seiner Wahrheit besuchten; die sollte
nicht ins Gerede kommen: dazu war er viel zu sehr Orientale. 'Adieu,
Madame', sagte er ihr wahrheitsgemäß, 'auf ein anderes Mal.
Vielleicht ist man in tausend Jahren etwas kräftiger und ungestörter.
Ihre Schönheit ist ja doch erst im Werden, Madame', sagte er, und das
war keine bloße Höflichkeit. Damit ging er fort und legte draußen für
die Leute seinen Tierpark an, eine Art Jardin d'Acclimatation für die
größeren Arten von Lügen, die man bei uns noch nie gesehen hatte, und
ein Palmenhaus von Übertreibungen und eine kleine, gepflegte Figuerie
falscher Geheimnisse. Da kamen sie von allen Seiten, und er ging
herum mit Diamantschnallen an den Schuhen und war ganz für seine Gäste
da."

"Eine oberflächliche Existenz: wie? Im Grunde wars doch eine
Ritterlichkeit gegen seine Dame, und er hat sich ziemlich dabei
konserviert."

Seit einer Weile schon redete der Alte nicht mehr auf Abelone ein, die
er vergessen hatte. Er ging wie rasend auf und ab und warf
herausfordernde Blicke auf Sten, als sollte Sten in einem gewissen
Augenblicke sich in den verwandeln, an den er dachte. Aber Sten
verwandelte sich noch nicht.

"Man müßte ihn sehen," fuhr Graf Brahe versessen fort. "Es gab eine
Zeit, wo er durchaus sichtbar war, obwohl in manchen Städten die
Briefe, die er empfing, an niemanden gerichtet waren: es stand nur der
Ort darauf, sonst nichts. Aber ich hab ihn gesehen."

"Er war nicht schön." Der Graf lachte eigentümlich eilig. "Auch
nicht, was die Leute bedeutend nennen oder vornehm: es waren immer
Vornehmere neben ihm. Er war reich: aber das war bei ihm nur wie ein
Einfall, daran konnte man sich nicht halten. Er war gut gewachsen,
obzwar andere hielten sich besser. Ich konnte damals natürlich nicht
beurteilen, ob er geistreich war und das und dies, worauf Wert gelegt
wird--: aber er war."

Der Graf, bebend, stand und machte eine Bewegung, als stellte er etwas
in den Raum hinein, was blieb.

In diesem Moment gewahrte er Abelone.

"Siehst du ihn?" herrschte er sie an. Und plötzlich ergriff er den
einen silbernen Armleuchter und leuchtete ihr blendend ins Gesicht.

Abelone erinnerte sich, daß sie ihn gesehen habe.

In den nächsten Tagen wurde Abelone regelmäßig gerufen, und das
Diktieren ging nach diesem Zwischenfall viel ruhiger weiter. Der Graf
stellte nach allerhand Papieren seine frühesten Erinnerungen an den
Bernstorffschen Kreis zusammen, in dem sein Vater eine gewisse Rolle
spielte. Abelone war jetzt so gut auf die Besonderheiten ihrer Arbeit
eingestellt, daß, wer die beiden sah, ihre zweckdienliche
Gemeinsamkeit leicht für ein wirkliches Vertrautsein nehmen konnte.

Einmal, als Abelone sich schon zurückziehen wollte, trat der alte Herr
auf sie zu, und es war, als hielte er die Hände mit einer Überraschung
hinter sich: "Morgen schreiben wir von Julie Reventlow", sagte er und
kostete seine Worte: "das war eine Heilige."

Wahrscheinlich sah Abelone ihn ungläubig an.

"Ja, ja, das giebt es alles noch", bestand er in befehlendem Tone, "es
giebt alles, Komtesse Abel."

Er nahm Abelonens Hände und schlug sie auf wie ein Buch.

"Sie hatte die Stigmata", sagte er, "hier und hier." Und er tippte
mit seinem kalten Finger hart und kurz in ihre beiden Handflächen.

Den Ausdruck Stigmata kannte Abelone nicht. Es wird sich zeigen,
dachte sie; sie war recht ungeduldig, von der Heiligen zu hören, die
ihr Vater noch gesehen hatte. Aber sie wurde nicht mehr geholt, nicht
am nächsten Morgen und auch später nicht.-"Von der Gräfin Reventlow
ist ja dann oft bei euch gesprochen worden", schloß Abelone kurz, als
ich sie bat, mehr zu erzählen. Sie sah müde aus; auch behauptete sie,
das Meiste vergessen zu haben. "Aber die Stellen fühl ich noch
manchmal", lächelte sie und konnte es nicht lassen und schaute beinah
neugierig in ihre leeren Hände.

Noch vor meines Vaters Tod war alles anders geworden. Ulsgaard war
nicht mehr in unserm Besitz. Mein Vater starb in der Stadt, in einer
Etagenwohnung, die mir feindsälig und befremdlich schien. Ich war
damals schon im Ausland und kam zu spät.

Er war aufgebahrt in einem Hofzimmer zwischen zwei Reihen hoher Kerzen.
Der Geruch der Blumen war unverständlich wie viele gleichzeitige
Stimmen. Sein schönes Gesicht, darin die Augen geschlossen worden
waren, hatte einen Ausdruck höflichen Erinnerns. Er war eingekleidet
in die Jägermeisters-Uniform, aber aus irgendeinem Grunde hatte man
das weiße Band aufgelegt, statt des blauen. Die Hände waren nicht
gefaltet, sie lagen schräg übereinander und sahen nachgemacht und
sinnlos aus. Man hatte mir rasch erzählt, daß er viel gelitten habe:
es war nichts davon zu sehen. Seine Züge waren aufgeräumt wie die
Möbel in einem Fremdenzimmer, aus dem jemand abgereist war. Mir war
zumute, als hätte ich ihn schon öfter tot gesehen: so gut kannte ich
das alles.

Neu war nur die Umgebung, auf eine unangenehme Art. Neu war dieses
bedrückende Zimmer, das Fenster gegenüber hatte, wahrscheinlich die
Fenster anderer Leute. Neu war es, daß Sieversen von Zeit zu Zeit
hereinkam und nichts tat. Sieversen war alt geworden. Dann sollte
ich frühstücken. Mehrmals wurde mir das Frühstück gemeldet. Mir lag
durchaus nichts daran, zu frühstücken an diesem Tage. Ich merkte
nicht, daß man mich forthaben wollte; schließlich, da ich nicht ging,
brachte Sieversen es irgendwie heraus, daß die Ärzte da wären. Ich
begriff nicht, wozu. Es wäre da noch etwas zu tun, sagte Sieversen
und sah mich mit ihren roten Augen angestrengt an. Dann traten, etwas
überstürzt, zwei Herren herein: das waren die Ärzte. Der vordere
senkte seinen Kopf mit einem Ruck, als hätte er Hörner und wollte
stoßen, um uns über seine Gläser fort anzusehen: erst Sieversen, dann
mich.

Er verbeugte sich mit studentischer Förmlichkeit. "Der Herr
Jägermeister hatte noch einen Wunsch", sagte er genau so, wie er
eingetreten war; man hatte wieder das Gefühl, daß er sich überstürzte.
Ich nötigte ihn irgendwie, seinen Blick durch seine Gläser zu richten.
Sein Kollege war ein voller, dünnschaliger, blonder Mensch; es fiel
mir ein, daß man ihn leicht zum Erröten bringen könnte. Darüber
entstand eine Pause. Es war seltsam, daß der Jägermeister jetzt noch
Wünsche hatte.

Ich blickte unwillkürlich wieder hin in das schöne, gleichmäßige
Gesicht. Und da wußte ich, daß er Sicherheit wollte. Die hatte er im
Grunde immer gewünscht. Nun sollte er sie bekommen.

"Sie sind wegen des Herzstichs da: bitte."

Ich verneigte mich und trat zurück. Die beiden Ärzte verbeugten sich
gleichzeitig und begannen sofort sich über ihre Arbeit zu verständigen.
Jemand rückte auch schon die Kerzen beiseite. Aber der Ältere
machte nochmals ein paar Schritte auf mich zu. Aus einer gewissen
Nähe streckte er sich vor, um das letzte Stück Weg zu ersparen, und
sah mich böse an.

"Es ist nicht nötig", sagte er, "das heißt, ich meine, es ist
vielleicht besser, wenn Sie... "

Er kam mir vernachlässigt und abgenutzt vor in seiner sparsamen und
eiligen Haltung. Ich verneigte mich abermals; es machte sich so, daß
ich mich schon wieder verneigte.

"Danke", sagte ich knapp. "Ich werde nicht stören."

Ich wußte, daß ich dieses ertragen würde und daß kein Grund da war,
sich dieser Sache zu entziehen. Das hatte so kommen müssen. Das war
vielleicht der Sinn von dem Ganzen. Auch hatte ich nie gesehen, wie
es ist, wenn jemand durch die Brust gestochen wird. Es schien mir in
der Ordnung, eine so merkwürdige Erfahrung nicht abzulehnen, wo sie
sich zwanglos und unbedingt einstellte. An Enttäuschungen glaubte ich
damals eigentlich schon nicht mehr; also war nichts zu befürchten.

Nein, nein, vorstellen kann man sich nichts auf der Welt, nicht das
Geringste. Es ist alles aus so viel einzigen Einzelheiten
zusammengesetzt, die sich nicht absehen lassen. Im Einbilden geht man
über sie weg und merkt nicht, daß sie fehlen, schnell wie man ist.
Die Wirklichkeiten aber sind langsam und unbeschreiblich ausführlich.

Wer hätte zum Beispiel an diesen Widerstand gedacht. Kaum war die
breite, hohe Brust bloßgelegt, so hatte der eilige kleine Mann schon
die Stelle heraus, um die es sich handelte. Aber das rasch angesetzte
Instrument drang nicht ein. Ich hatte das Gefühl, als wäre plötzlich
alle Zeit fort aus dem Zimmer. Wir befanden uns wie in einem Bilde.
Aber dann stürzte die Zeit nach mit einem kleinen, gleitenden Geräusch,
und es war mehr da, als verbraucht wurde. Auf einmal klopfte es
irgendwo. Ich hatte noch nie so klopfen hören: ein warmes,
verschlossenes, doppeltes Klopfen. Mein Gehör gab es weiter, und ich
sah zugleich, daß der Arzt auf Grund gestoßen war. Aber es dauerte
eine Weile, bevor die beiden Eindrücke in mir zusammenkamen. So, so,
dachte ich, nun ist es also durch. Das Klopfen war, was das Tempo
betrifft, beinah schadenfroh.

Ich sah mir den Mann an, den ich nun schon so lange kannte. Nein, er
war völlig beherrscht: ein rasch und sachlich arbeitender Herr, der
gleich weiter mußte. Es war keine Spur von Genuß oder Genugtuung
dabei. Nur an seiner linken Schläfe hatten sich ein paar Haare
aufgestellt aus irgendeinem alten Instinkt. Er zog das Instrument
vorsichtig zurück, und es war etwas wie ein Mund da, aus dem zweimal
hintereinander Blut austrat, als sagte er etwas Zweisilbiges. Der
junge, blonde Arzt nahm es schnell mit einer eleganten Bewegung in
seine Watte auf. Und nun blieb die Wunde ruhig, wie ein geschlossenes
Auge.

Es ist anzunehmen, daß ich mich noch einmal verneigte, ohne diesmal
recht bei der Sache zu sein. Wenigstens war ich erstaunt, mich allein
zu finden. Jemand hatte die Uniform wieder in Ordnung gebracht, und
das weiße Band lag darüber wie vorher. Aber nun war der Jägermeister
tot, und nicht er allein. Nun war das Herz durchbohrt, unser Herz,
das Herz unseres Geschlechts. Nun war es vorbei. Das war also das
Helmzerbrechen: "Heute Brigge und nimmermehr", sagte etwas in mir.

An mein Herz dachte ich nicht. Und als es mir später einfiel, wußte
ich zum erstenmal ganz gewiß, daß es hierfür nicht in Betracht kam.
Es war ein einzelnes Herz. Es war schon dabei, von Anfang anzufangen.

Ich weiß, daß ich mir einbildete, nicht sofort wieder abreisen zu
können. Erst muß alles geordnet sein, wiederholte ich mir. Was
geordnet sein wollte, war mir nicht klar. Es war so gut wie nichts zu
tun. Ich ging in der Stadt umher und konstatierte, daß sie sich
verändert hatte. Es war mir angenehm, aus dem Hotel hinauszutreten,
in dem ich abgestiegen war, und zu sehen, daß es nun eine Stadt für
Erwachsene war, die sich für einen zusammennahm, fast wie für einen
Fremden. Ein bißchen klein war alles geworden, und ich promenierte
die Langelinie hinaus bis an den Leuchtturm und wieder zurück. Wenn
ich in die Gegend der Amaliengade kam, so konnte es freilich geschehen,
daß von irgendwo etwas ausging, was man jahrelang anerkannt hatte und
was seine Macht noch einmal versuchte. Es gab da gewisse Eckfenster
oder Torbogen oder Laternen, die viel von einem wußten und damit
drohten. Ich sah ihnen ins Gesicht und ließ sie fühlen, daß ich im
Hotel 'Phönix' wohnte und jeden Augenblick wieder reisen konnte. Aber
mein Gewissen war nicht ruhig dabei. Der Verdacht stieg in mir auf,
daß noch keiner dieser Einflüsse und Zusammenhänge wirklich bewältigt
worden war. Man hatte sie eines Tages heimlich verlassen, unfertig
wie sie waren. Auch die Kindheit würde also gewissermaßen noch zu
leisten sein, wenn man sie nicht für immer verloren geben wollte. Und
während ich begriff, wie ich sie verlor, empfand ich zugleich, daß ich
nie etwas anderes haben würde, mich darauf zu berufen.

Ein paar Stunden täglich brachte ich in Dronningens Tværgade zu, in
den engen Zimmern, die beleidigt aussahen wie alle Mietswohnungen, in
denen jemand gestorben ist. Ich ging zwischen dem Schreibtisch und
dem großen weißen Kachelofen hin und her und verbrannte die Papiere
des Jägermeisters. Ich hatte begonnen, die Briefschaften, so wie sie
zusammengebunden waren, ins Feuer zu werfen, aber die kleinen Pakete
waren zu fest verschnürt und verkohlten nur an den Rändern. Es
kostete mich Überwindung, sie zu lockern. Die meisten hatten einen
starken, überzeugenden Duft, der auf mich eindrang, als wollte er auch
in mir Erinnerungen aufregen. Ich hatte keine. Dann konnte es
geschehen, daß Photographien herausglitten, die schwerer waren als das
andere; diese Photographien verbrannten unglaublich langsam. Ich weiß
nicht, wie es kam, plötzlich bildete ich mir ein, es könnte Ingeborgs
Bild darunter sein. Aber sooft ich hinsah, waren es reife, großartige,
deutlich schöne Frauen, die mich auf andere Gedanken brachten. Es
erwies sich nämlich, daß ich doch nicht ganz ohne Erinnerungen war.
Genau solche Augen waren es, in denen ich mich manchmal fand, wenn ich,
zur Zeit da ich heranwuchs, mit meinem Vater über die Straße ging.
Dann konnten sie von einem Wageninnern aus mich mit einem Blick
umgeben, aus dem kaum hinauszukommen war. Nun wußte ich, daß sie mich
damals mit ihm verglichen und daß der Vergleich nicht zu meinen
Gunsten ausfiel. Gewiß nicht, Vergleiche hatte der Jägermeister nicht
zu fürchten.

Es kann sein, daß ich nun etwas weiß, was er gefürchtet hat. Ich will
sagen, wie ich zu dieser Annahme komme. Ganz innen in seiner
Brieftasche befand sich ein Papier, seit lange gefaltet, mürbe,
gebrochen in den Bügen. Ich habe es gelesen, bevor ich es verbrannte.
Es war von seiner besten Hand, sicher und gleichmäßig geschrieben,
aber ich merkte gleich, daß es nur eine Abschrift war.

"Drei Stunden vor seinem Tod", so begann es und handelte von Christian
dem Vierten. Ich kann den Inhalt natürlich nicht wörtlich wiederholen.
Drei Stunden vor seinem Tod begehrte er aufzustehen. Der Arzt und
der Kammerdiener Wormius halfen ihm auf die Füße. Er stand ein wenig
unsicher, aber er stand, und sie zogen ihm das gesteppte Nachtkleid an.
Dann setzte er sich plötzlich vorn an das Bettende und sagte etwas.
Es war nicht zu verstehen. Der Arzt behielt immerzu seine linke Hand,
damit der König nicht auf das Bett zurücksinke. So saßen sie, und der
König sagte von Zeit zu Zeit mühsam und trübe das Unverständliche.
Schließlich begann der Arzt ihm zuzusprechen; er hoffte allmählich zu
erraten, was der König meinte. Nach einer Weile unterbrach ihn der
König und sagte auf einmal ganz klar: "O, Doktor, Doktor, wie heißt
er?" Der Arzt hatte Mühe, sich zu besinnen.

"Sperling, Allergnädigster König."

Aber darauf kam es nun wirklich nicht an. Der König, sobald er hörte,
daß man ihn verstand, riß das rechte Auge, das ihm geblieben war, weit
auf und sagte mit dem ganzen Gesicht das eine Wort, das seine Zunge
seit Stunden formte, das einzige, das es noch gab: "Döden", sagte er,
"Döden." (Der Tod, der Tod)

Mehr stand nicht auf dem Blatt. Ich las es mehrere Male, ehe ich es
verbrannte. Und es fiel mir ein, daß mein Vater viel gelitten hatte
zuletzt. So hatte man mir erzählt.

Seitdem habe ich viel über die Todesfurcht nachgedacht, nicht ohne
gewisse eigene Erfahrungen dabei zu berücksichtigen. Ich glaube, ich
kann wohl sagen, ich habe sie gefühlt. Sie überfiel mich in der
vollen Stadt, mitten unter den Leuten, oft ganz ohne Grund. Oft
allerdings häuften sich die Ursachen; wenn zum Beispiel jemand auf
einer Bank verging und alle standen herum und sahen ihm zu, und er war
schon über das Fürchten hinaus: dann hatte ich seine Furcht. Oder in
Neapel damals: da saß diese junge Person mir gegenüber in der
Elektrischen Bahn und starb. Erst sah es wie eine Ohnmacht aus, wir
fuhren sogar noch eine Weile. Aber dann war kein Zweifel, daß wir
stehenbleiben mußten. Und hinter uns standen die Wagen und stauten
sich, als ginge es in dieser Richtung nie mehr weiter. Das blasse,
dicke Mädchen hätte so, angelehnt an ihre Nachbarin, ruhig sterben
können. Aber ihre Mutter gab das nicht zu. Sie bereitete ihr alle
möglichen Schwierigkeiten. Sie brachte ihre Kleider in Unordnung und
goß ihr etwas in den Mund, der nichts mehr behielt. Sie verrieb auf
ihrer Stirn eine Flüssigkeit, die jemand gebracht hatte, und wenn die
Augen dann ein wenig verrollten, so begann sie an ihr zu rütteln,
damit der Blick wieder nach vorne käme. Sie schrie in diese Augen
hinein, die nicht hörten, sie zerrte und zog das Ganze wie eine Puppe
hin und her, und schließlich holte sie aus und schlug mit aller Kraft
in das dicke Gesicht, damit es nicht stürbe. Damals fürchtete ich
mich.

Aber ich fürchtete mich auch schon früher. Zum Beispiel, als mein
Hund starb. Derselbe, der mich ein- für allemal beschuldigte. Er war
sehr krank. Ich kniete bei ihm schon den ganzen Tag, da plötzlich
bellte er auf, ruckweise und kurz, wie er zu tun pflegte, wenn ein
Fremder ins Zimmer trat. Ein solches Bellen war für diesen Fall
zwischen uns gleichsam verabredet worden, und ich sah unwillkürlich
nach der Tür. Aber es war schon in ihm. Beunruhigt suchte ich seinen
Blick, und auch er suchte den meinen; aber nicht um Abschied zu nehmen.
Er sah mich hart und befremdet an. Er warf mir vor, daß ich es
hereingelassen hatte. Er war überzeugt, ich hätte es hindern können.
Nun zeigte es sich, daß er mich immer überschätzt hatte. Und es war
keine Zeit mehr, ihn aufzuklären. Er sah mich befremdet und einsam an,
bis es zu Ende war.

Oder ich fürchtete mich, wenn im Herbst nach den ersten Nachtfrösten
die Fliegen in die Stuben kamen und sich noch einmal in der Wärme
erholten. Sie waren merkwürdig vertrocknet und erschraken bei ihrem
eigenen Summen; man konnte sehen, daß sie nicht mehr recht wußten, was
sie taten. Sie saßen stundenlang da und ließen sich gehen, bis es
ihnen einfiel, daß sie noch lebten; dann warfen sie sich blindlings
irgendwohin und begriffen nicht, was sie dort sollten, und man hörte
sie weiterhin niederfallen und drüben und anderswo. Und endlich
krochen sie überall und bestarben langsam das ganze Zimmer.

Aber sogar wenn ich allein war, konnte ich mich fürchten. Warum soll
ich tun, als wären jene Nächte nicht gewesen, da ich aufsaß vor
Todesangst und mich daran klammerte, daß das Sitzen wenigstens noch
etwas Lebendiges sei: daß Tote nicht saßen. Das war immer in einem
von diesen zufälligen Zimmern, die mich sofort im Stich ließen, wenn
es mir schlecht ging, als fürchteten sie, verhört und in meine argen
Sachen verwickelt zu werden. Da saß ich, und wahrscheinlich sah ich
so schrecklich aus, daß nichts den Mut hatte, sich zu mir zu bekennen.
Nicht einmal das Licht, dem ich doch eben den Dienst erwiesen hatte,
es anzuzünden, wollte von mir wissen. Es brannte so vor sich hin, wie
in einem leeren Zimmer. Meine letzte Hoffnung war dann immer das
Fenster. Ich bildete mir ein, dort draußen könnte noch etwas sein,
was zu mir gehörte, auch jetzt, auch in dieser plötzlichen Armut des
Sterbens. Aber kaum hatte ich hingesehen, so wünschte ich, das
Fenster wäre verrammelt gewesen, zu, wie die Wand. Denn nun wußte ich,
daß es dort hinaus immer gleich teilnahmslos weiterging, daß auch
draußen nichts als meine Einsamkeit war. Die Einsamkeit, die ich über
mich gebracht hatte und zu deren Größe mein Herz in keinem Verhältnis
mehr stand. Menschen fielen mir ein, von denen ich einmal
fortgegangen war, und ich begriff nicht, wie man Menschen verlassen
konnte.

Mein Gott, mein Gott, wenn mir noch solche Nächte bevorstehen, laß mir
doch wenigstens einen von den Gedanken, die ich zuweilen denken konnte.
Es ist nicht so unvernünftig, was ich da verlange; denn ich weiß,
daß sie gerade aus der Furcht gekommen sind, weil meine Furcht so groß
war. Da ich ein Knabe war, schlugen sie mich ins Gesicht und sagten
mir, daß ich feige sei. Das war, weil ich mich noch schlecht
fürchtete. Aber seitdem habe ich mich fürchten gelernt mit der
wirklichen Furcht, die nur zunimmt, wenn die Kraft zunimmt, die sie
erzeugt. Wir haben keine Vorstellung von dieser Kraft, außer in
unserer Furcht. Denn so ganz unbegreiflich ist sie, so völlig gegen
uns, daß unser Gehirn sich zersetzt an der Stelle, wo wir uns
anstrengen, sie zu denken. Und dennoch, seit einer Weile glaube ich,
daß es unsere Kraft ist, alle unsere Kraft, die noch zu stark ist für
uns. Es ist wahr, wir kennen sie nicht, aber ist es nicht gerade
unser Eigenstes, wovon wir am wenigsten wissen? Manchmal denke ich
mir, wie der Himmel entstanden ist und der Tod: dadurch, daß wir unser
Kostbarstes von uns fortgerückt haben, weil noch so viel anderes zu
tun war vorher und weil es bei uns Beschäftigten nicht in Sicherheit
war. Nun sind Zeiten darüber vergangen, und wir haben uns an
Geringeres gewöhnt. Wir erkennen unser Eigentum nicht mehr und
entsetzen uns vor seiner äußersten Großheit. Kann das nicht sein?

Ich begreife übrigens jetzt gut, daß man ganz innen in der Brieftasche
die Beschreibung einer Sterbestunde bei sich trägt durch alle die
Jahre. Es müßte nicht einmal eine besonders gesuchte sein; sie haben
alle etwas fast Seltenes. Kann man sich zum Beispiel nicht jemanden
vorstellen, der sich abschreibt, wie Felix Arvers gestorben ist. Es
war im Hospital. Er starb auf eine sanfte und gelassene Weise, und
die Nonne meinte vielleicht, daß er damit schon weiter sei, als er in
Wirklichkeit war. Sie rief ganz laut irgend eine Weisung hinaus, wo
das und das zu finden wäre. Es war eine ziemlich ungebildete Nonne;
sie hatte das Wort Korridor, das im Augenblick nicht zu vermeiden war,
nie geschrieben gesehen; so konnte es geschehen, daß sie 'Kollidor'
sagte in der Meinung, es hieße so. Da schob Arvers das Sterben hinaus.
Es schien ihm nötig, dieses erst aufzuklären. Er wurde ganz klar
und setzte ihr auseinander, daß es 'Korridor' hieße. Dann starb er.
Er war ein Dichter und haßte das Ungefähre; oder vielleicht war es ihm
nur um die Wahrheit zu tun; oder es störte ihn, als letzten Eindruck
mitzunehmen, daß die Welt so nachlässig weiterginge. Das wird nicht
mehr zu entscheiden sein. Nur soll man nicht glauben, daß es
Pedanterie war. Sonst träfe derselbe Vorwurf den heiligen Jean de
Dieu, der in seinem Sterben aufsprang und gerade noch zurechtkam, im
Garten den eben Erhängten abzuschneiden, von dem auf wunderbare Art
Kunde in die verschlossene Spannung seiner Agonie gedrungen war. Auch
ihm war es nur um die Wahrheit zu tun.

Es giebt ein Wesen, das vollkommen unschädlich ist, wenn es dir in die
Augen kommt, du merkst es kaum und hast es gleich wieder vergessen.
Sobald es dir aber unsichtbar auf irgendeine Weise ins Gehör gerät, so
entwickelt es sich dort, es kriecht gleichsam aus, und man hat Fälle
gesehen, wo es bis ins Gehirn vordrang und in diesem Organ verheerend
gedieh, ähnlich den Pneumokokken des Hundes, die durch die Nase
eindringen.


 


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