Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
by
Rainer Maria Rilke

Part 3 out of 4




Dieses Wesen ist der Nachbar.

Nun, ich habe, seit ich so vereinzelt herumkomme, unzählige Nachbaren
gehabt; obere und untere, rechte und linke, manchmal alle vier Arten
zugleich. Ich könnte einfach die Geschichte meiner Nachbaren
schreiben; das wäre ein Lebenswerk. Es wäre freilich mehr die
Geschichte der Krankheitserscheinungen, die sie in mir erzeugt haben;
aber das teilen sie mit allen derartigen Wesen, daß sie nur in den
Störungen nachzuweisen sind, die sie in gewissen Geweben hervorrufen.

Ich habe unberechenbare Nachbaren gehabt und sehr regelmäßige. Ich
habe gesessen und das Gesetz der ersten herauszufinden versucht; denn
es war klar, daß auch sie eines hatten. Und wenn die pünktlichen
einmal am Abend ausblieben, so hab ich mir ausgemalt, was ihnen könnte
zugestoßen sein, und habe mein Licht brennen lassen und mich
geängstigt wie eine junge Frau. Ich habe Nachbaren gehabt, die gerade
haßten, und Nachbaren, die in eine heftige Liebe verwickelt waren;
oder ich erlebte es, daß bei ihnen eines in das andere umsprang mitten
in der Nacht, und dann war natürlich an Schlafen nicht zu denken. Da
konnte man überhaupt beobachten, daß der Schlaf durchaus nicht so
häufig ist, wie man meint. Meine beiden Petersburger Nachbaren zum
Beispiel gaben nicht viel auf Schlaf. Der eine stand und spielte die
Geige, und ich bin sicher, daß er dabei hinübersah in die überwachen
Häuser, die nicht aufhörten hell zu sein in den unwahrscheinlichen
Augustnächten. Von dem anderen zur Rechten weiß ich allerdings, daß
er lag; er stand zu meiner Zeit überhaupt nicht mehr auf. Er hatte
sogar die Augen geschlossen; aber man konnte nicht sagen, daß er
schlief. Er lag und sagte lange Gedichte her, Gedichte von Puschkin
und Nekrassow, in dem Tonfall, in dem Kinder Gedichte hersagen, wenn
man es von ihnen verlangt. Und trotz der Musik meines linken Nachbars,
war es dieser mit seinen Gedichten, der sich in meinem Kopfe
einpuppte, und Gott weiß, was da ausgekrochen wäre, wenn nicht der
Student, der ihn zuweilen besuchte, sich eines Tages in der Tür geirrt
hätte. Er erzählte mir die Geschichte seines Bekannten, und es ergab
sich, daß sie gewissermaßen beruhigend war. Jedenfalls war es eine
wörtliche, eindeutige Geschichte, an der die vielen Würmer meiner
Vermutungen zugrunde gingen.

Dieser kleine Beamte da nebenan war eines Sonntags auf die Idee
gekommen, eine merkwürdige Aufgabe zu lösen. Er nahm an, daß er recht
lange leben würde, sagen wir noch fünfzig Jahre. Die Großmütigkeit,
die er sich damit erwies, versetzte ihn in eine glänzende Stimmung.
Aber nun wollte er sich selber übertreffen. Er überlegte, daß man
diese Jahre in Tage, in Stunden, in Minuten, ja, wenn man es aushielt,
in Sekunden umwechseln könne, und er rechnete und rechnete, und es kam
eine Summe heraus, wie er noch nie eine gesehen hatte. Ihn
schwindelte. Er mußte sich ein wenig erholen. Zeit war kostbar,
hatte er immer sagen hören, und es wunderte ihn, daß man einen
Menschen, der eine solche Menge Zeit besaß, nicht geradezu bewachte.
Wie leicht konnte er bestohlen werden. Dann aber kam seine gute,
beinah ausgelassene Laune wieder, er zog seinen Pelz an, um etwas
breiter und stattlicher auszusehen, und machte sich das ganze
fabelhafte Kapital zum Geschenk, indem er sich ein bißchen
herablassend anredete:

"Nikolaj Kusmitsch", sagte er wohlwollend und stellte sich vor, daß er
außerdem noch, ohne Pelz, dünn und dürftig auf dem Roßhaarsofa säße,
"ich hoffe, Nikolaj Kusmitsch", sagte er, "Sie werden sich nichts auf
Ihren Reichtum einbilden. Bedenken Sie immer, daß das nicht die
Hauptsache ist, es giebt arme Leute, die durchaus respektabel sind; es
giebt sogar verarmte Edelleute und Generalstöchter, die auf der Straße
herumgehen und etwas verkaufen." Und der Wohltäter führte noch
allerlei in der ganzen Stadt bekannte Beispiele an.

Der andere Nikolaj Kusmitsch, der auf dem Roßhaarsofa, der Beschenkte,
sah durchaus noch nicht übermütig aus, man durfte annehmen, daß er
vernünftig sein würde. Er änderte in der Tat nichts an seiner
bescheidenen, regelmäßigen Lebensführung, und die Sonntage brachte er
nun damit zu, seine Rechnung in Ordnung zu bringen. Aber schon nach
ein paar Wochen fiel es ihm auf, daß er unglaublich viel ausgäbe. Ich
werde mich einschränken, dachte er. Er stand früher auf, er wusch
sich weniger ausführlich, er trank stehend seinen Tee, er lief ins
Bureau und kam viel zu früh. Er ersparte überall ein bißchen Zeit.
Aber am Sonntag war nichts Erspartes da. Da begriff er, daß er
betrogen sei. Ich hätte nicht wechseln dürfen, sagte er sich. Wie
lange hat man an so einem Jahr. Aber da, dieses infame Kleingeld, das
geht hin, man weiß nicht wie. Und es wurde ein häßlicher Nachmittag,
als er in der Sofaecke saß und auf den Herrn im Pelz wartete, von dem
er seine Zeit zurückverlangen wollte. Er wollte die Tür verriegeln
und ihn nicht fortlassen, bevor er nicht damit herausgerückt war. "In
Scheinen", wollte er sagen, "meinetwegen zu zehn Jahren." Vier
Scheine zu zehn und einer zu fünf, und den Rest sollte er behalten, in
des Teufels Namen. Ja, er war bereit, ihm den Rest zu schenken, nur
damit keine Schwierigkeiten entstünden. Gereizt saß er im Roßhaarsofa
und wartete, aber der Herr kam nicht. Und er, Nikolaj Kusmitsch, der
sich vor ein paar Wochen mit Leichtigkeit so hatte dasitzen sehen, er
konnte sich jetzt, da er wirklich saß, den andern Nikolaj Kusmitsch,
den im Pelz, den Großmütigen, nicht vorstellen. Weiß der Himmel, was
aus ihm geworden war, wahrscheinlich war man seinen Betrügereien auf
die Spur gekommen, und er saß nun schon irgendwo fest. Sicher hatte
er nicht ihn allein ins Unglück gebracht. Solche Hochstapler arbeiten
immer im großen.

Es fiel ihm ein, daß es eine staatliche Behörde geben müsse, eine Art
Zeitbank, wo er wenigstens einen Teil seiner lumpigen Sekunden
umwechseln könne. Echt waren sie doch schließlich. Er hatte nie von
einer solchen Anstalt gehört, aber im Adreßbuch würde gewiß etwas
Derartiges zu finden sein, unter Z, oder vielleicht auch hieß es 'Bank
für Zeit'; man konnte leicht unter B nachsehen. Eventuell war auch
der Buchstabe K zu berücksichtigen, denn es war anzunehmen, daß es ein
kaiserliches Institut war; das entsprach seiner Wichtigkeit.

Später versicherte Nikolaj Kusmitsch immer, daß er an jenem Sonntag
Abend, obwohl er sich begreiflicherweise in recht gedrückter Stimmung
befand, nichts getrunken habe. Er war also völlig nüchtern, als das
Folgende passierte, soweit man überhaupt sagen kann, was da geschah.
Vielleicht, daß er ein bißchen in seiner Ecke eingeschlummert war, das
ließe sich immerhin denken. Dieser kleine Schlaf verschaffte ihm
zunächst lauter Erleichterung. Ich habe mich mit den Zahlen
eingelassen, redete er sich zu. Nun, ich verstehe nichts von Zahlen.
Aber es ist klar, daß man ihnen keine zu große Bedeutung einräumen
darf; sie sind doch sozusagen nur eine Einrichtung von Staats wegen,
um der Ordnung willen. Niemand hatte doch je anderswo als auf dem
Papier eine gesehen. Es war ausgeschlossen, daß einem zum Beispiel in
einer Gesellschaft eine Sieben oder eine Fünfundzwanzig begegnete. Da
gab es die einfach nicht. Und dann war da diese kleine Verwechslung
vorgefallen, aus purer Zerstreutheit: Zeit und Geld, als ob sich das
nicht auseinanderhalten ließe. Nikolaj Kusmitsch lachte beinah. Es
war doch gut, wenn man sich so auf die Schliche kam, und rechtzeitig,
das war das Wichtige, rechtzeitig. Nun sollte es anders werden. Die
Zeit, ja, das war eine peinliche Sache. Aber betraf es etwa ihn
allein, ging sie nicht auch den andern so, wie er es herausgefunden
hatte, in Sekunden, auch wenn sie es nicht wußten?

Nikolaj Kusmitsch war nicht ganz frei von Schadenfreude: Mag sie
immerhin--, wollte er eben denken, aber da geschah etwas
Eigentümliches. Es wehte plötzlich an seinem Gesicht, es zog ihm an
den Ohren vorbei, er fühlte es an den Händen. Er riß die Augen auf.
Das Fenster war fest verschlossen. Und wie er da so mit weiten Augen
im dunkeln Zimmer saß, da begann er zu verstehen, daß das, was er nun
verspürte, die wirkliche Zeit sei, die vorüberzog. Er erkannte sie
förmlich, alle diese Sekündchen, gleich lau, eine wie die andere, aber
schnell, aber schnell. Weiß der Himmel, was sie noch vorhatten. Daß
gerade ihm das widerfahren mußte, der jede Art von Wind als
Beleidigung empfand. Nun würde man dasitzen, und es würde immer so
weiterziehen, das ganze Leben lang. Er sah alle die Neuralgien voraus,
die man sich dabei holen würde, er war außer sich vor Wut. Er sprang
auf, aber die Uberraschungen waren noch nicht zu Ende. Auch unter
seinen Füßen war etwas wie eine Bewegung, nicht nur eine, mehrere,
merkwürdig durcheinanderschwankende Bewegungen. Er erstarrte vor
Entsetzen: konnte das die Erde sein? Gewiß, das war die Erde. Sie
bewegte sich ja doch. In der Schule war davon gesprochen worden, man
war etwas eilig darüber weggegangen, und später wurde es gern
vertuscht; es galt nicht für passend, davon zu sprechen. Aber nun, da
er einmal empfindlich geworden war, bekam er auch das zu fühlen. Ob
die anderen es fühlten? Vielleicht, aber sie zeigten es nicht.
Wahrscheinlich machte es ihnen nichts aus, diesen Seeleuten. Nikolaj
Kusmitsch aber war ausgerechnet in diesem Punkt etwas delikat, er
vermied sogar die Straßenbahnen. Er taumelte im Zimmer umher wie auf
Deck und mußte sich rechts und links halten. Zum Unglück fiel ihm
noch etwas von der schiefen Stellung der Erdachse ein. Nein, er
konnte alle diese Bewegungen nicht vertragen. Er fühlte sich elend.
Liegen und ruhig halten, hatte er einmal irgendwo gelesen. Und
seither lag Nikolaj Kusmitsch.

Er lag und hatte die Augen geschlossen. Und es gab Zeiten, weniger
bewegte Tage sozusagen, wo es ganz erträglich war. Und dann hatte er
sich das ausgedacht mit den Gedichten. Man sollte nicht glauben, wie
das half. Wenn man so ein Gedicht langsam hersagte, mit gleichmäßiger
Betonung der Endreime, dann war gewissermaßen etwas Stabiles da,
worauf man sehen konnte, innerlich versteht sich. Ein Glück, daß er
alle diese Gedichte wußte. Aber er hatte sich immer ganz besonders
für Literatur interessiert. Er beklagte sich nicht über seinen
Zustand, versicherte mir der Student, der ihn lange kannte. Nur hatte
sich mit der Zeit eine übertriebene Bewunderung für die in ihm
herausgebildet, die, wie der Student, herumgingen und die Bewegung der
Erde vertrugen.

Ich erinnere mich dieser Geschichte so genau, weil sie mich ungemein
beruhigte. Ich kann wohl sagen, ich habe nie wieder einen so
angenehmen Nachbar gehabt, wie diesen Nikolaj Kusmitsch, der sicher
auch mich bewundert hätte.

Ich nahm mir nach dieser Erfahrung vor, in ähnlichen Fällen immer
gleich auf die Tatsachen loszugehen. Ich merkte, wie einfach und
erleichternd sie waren, den Vermutungen gegenüber. Als ob ich nicht
gewußt hätte, daß alle unsere Einsichten nachträglich sind, Abschlüsse,
nichts weiter. Gleich dahinter fängt eine neue Seite an mit etwas
ganz anderem, ohne Übertrag. Was halfen mir jetzt im gegenwärtigen
Falle die paar Tatsachen, die sich spielend feststellen ließen. Ich
will sie gleich aufzählen, wenn ich gesagt haben werde, was mich
augenblicklich beschäftigt: daß sie eher dazu beigetragen haben, meine
Lage, die (wie ich jetzt eingestehe) recht schwierig war, noch
lästiger zu gestalten.

Es sei zu meiner Ehre gesagt, daß ich viel geschrieben habe in diesen
Tagen; ich habe krampfhaft geschrieben. Allerdings, wenn ich
ausgegangen war, so dachte ich nicht gerne an das Nachhausekommen.
Ich machte sogar kleine Umwege und verlor auf diese Art eine halbe
Stunde, während welcher ich hätte schreiben können. Ich gebe zu, daß
dies eine Schwäche war. War ich aber einmal in meinem Zimmer, so
hatte ich mir nichts vorzuwerfen. Ich schrieb, ich hatte mein Leben,
und das da nebenan war ein ganz anderes Leben, mit dem ich nichts
teilte: das Leben eines Studenten der Medizin, der für sein Examen
studierte. Ich hatte nichts Ähnliches vor mir, schon das war ein
entscheidender Unterschied. Und auch sonst waren unsere Umstände so
verschieden wie möglich. Das alles leuchtete mir ein. Bis zu dem
Moment, da ich wußte, daß es kommen würde; da vergaß ich, daß es
zwischen uns keine Gemeinsamkeit gab. Ich horchte so, daß mein Herz
ganz laut wurde. Ich ließ alles und horchte. Und dann kam es: ich
habe mich nie geirrt.

Beinah jeder kennt den Lärm, den irgendein blechernes, rundes Ding,
nehmen wir an, der Deckel einer Blechbüchse, verursacht, wenn er einem
entglitten ist. Gewöhnlich kommt er gar nicht einmal sehr laut unten
an, er fällt kurz auf, rollt auf dem Rande weiter und wird eigentlich
erst unangenehm, wenn der Schwung zu Ende geht und er nach allen
Seiten taumelnd aufschlägt, eh er ins Liegen kommt. Nun also: das ist
das Ganze; so ein blecherner Gegenstand fiel nebenan, rollte, blieb
liegen, und dazwischen, in gewissen Abständen, stampfte es. Wie alle
Geräusche, die sich wiederholt durchsetzen, hatte auch dieses sich
innerlich organisiert; es wandelte sich ab, es war niemals genau
dasselbe. Aber gerade das sprach für seine Gesetzmäßigkeit. Es
konnte heftig sein oder milde oder melancholisch; es konnte gleichsam
überstürzt vorübergehen oder unendlich lange hingleiten, eh es zur
Ruhe kam. Und das letzte Schwanken war immer überraschend. Dagegen
hatte das Aufstampfen, das hinzukam, etwas fast Mechanisches. Aber es
teilte den Lärm immer anders ab, das schien seine Aufgabe zu sein.
Ich kann diese Einzelheiten jetzt viel besser übersehen; das Zimmer
neben mir ist leer. Er ist nach Hause gereist, in die Provinz. Er
sollte sich erholen. Ich wohne im obersten Stockwerk. Rechts ist ein
anderes Haus, unter mir ist noch niemand eingezogen: ich bin ohne
Nachbar.

In dieser Verfassung wundert es mich beinah, daß ich die Sache nicht
leichter nahm. Obwohl ich doch jedesmal im voraus gewarnt war durch
mein Gefühl. Das wäre auszunutzen gewesen. Erschrick nicht, hätte
ich mir sagen müssen, jetzt kommt es; ich wußte ja, daß ich mich
niemals täuschte. Aber das lag vielleicht gerade an den Tatsachen,
die ich mir hatte sagen lassen; seit ich sie wußte, war ich noch
schreckhafter geworden. Es berührte mich fast gespenstisch, daß das,
was diesen Lärm auslöste, jene kleine, langsame, lautlose Bewegung war,
mit der sein Augenlid sich eigenmächtig über sein rechtes Auge senkte
und schloß, während er las. Dies war das Wesentliche an seiner
Geschichte, eine Kleinigkeit. Er hatte schon ein paar Mal die Examen
vorbeigehen lassen müssen, sein Ehrgeiz war empfindlich geworden, und
die Leute daheim drängten wahrscheinlich, sooft sie schrieben. Was
blieb also übrig, als sich zusammenzunehmen. Aber da hatte sich, ein
paar Monate vor der Entscheidung, diese Schwäche eingestellt; diese
kleine, unmögliche Ermüdung, die so lächerlich war, wie wenn ein
Fenstervorhang nicht oben bleiben will. Ich bin sicher, daß er
wochenlang der Meinung war, man müßte das beherrschen können. Sonst
wäre ich nicht auf die Idee verfallen, ihm meinen Willen anzubieten.
Eines Tages begriff ich nämlich, daß der seine zu Ende sei. Und
seither, wenn ich es kommen fühlte, stand ich da auf meiner Seite der
Wand und bat ihn, sich zu bedienen. Und mit der Zeit wurde mir klar,
daß er darauf einging. Vielleicht hätte er das nicht tun dürfen,
besonders wenn man bedenkt, daß es eigentlich nichts half. Angenommen
sogar, daß wir die Sache ein wenig hinhielten, so bleibt es doch
fraglich, ob er wirklich imstande war, die Augenblicke, die wir so
gewannen, auszunutzen. Und was meine Ausgaben betrifft, so begann ich
sie zu fühlen. Ich weiß, ich fragte mich, ob das so weitergehen dürfe,
gerade an dem Nachmittag, als jemand in unserer Etage ankam. Dies
ergab bei dem engen Aufgang immer viel Unruhe in dem kleinen Hotel.
Eine Weile später schien es mir, als trete man bei meinem Nachbar ein.
Unsere Türen waren die letzten im Gang, die seine quer und dicht
neben der meinen. Ich wußte indessen, daß er zuweilen Freunde bei
sich sah, und, wie gesagt, ich interessierte mich durchaus nicht für
seine Verhältnisse. Es ist möglich, daß seine Tür noch mehrmals
geöffnet wurde, daß man draußen kam und ging. Dafür war ich wirklich
nicht verantwortlich.

Nun an diesem selben Abend war es ärger denn je. Es war noch nicht
sehr spät, aber ich war aus Müdigkeit schon zu Bett gegangen; ich
hielt es für wahrscheinlich, daß ich schlafen würde. Da fuhr ich auf,
als hätte man mich berührt. Gleich darauf brach es los. Es sprang
und rollte und rannte irgendwo an und schwankte und klappte. Das
Stampfen war fürchterlich. Dazwischen klopfte man unten, einen Stock
tiefer, deutlich und böse gegen die Decke. Auch der neue Mieter war
natürlich gestört. Jetzt: das mußte seine Türe sein. Ich war so wach,
daß ich seine Türe zu hören meinte, obwohl er erstaunlich vorsichtig
damit umging. Es kam mir vor, als nähere er sich. Sicher wollte er
wissen, in welchem Zimmer es sei. Was mich befremdete, war seine
wirklich übertriebene Rücksicht. Er hatte doch eben bemerken können,
daß es auf Ruhe nicht ankam in diesem Hause. Warum in aller Welt
unterdrückte er seinen Schritt? Eine Weile glaubte ich ihn an meiner
Tür; und dann vernahm ich, darüber war kein Zweifel, daß er nebenan
eintrat. Er trat ohne weiteres nebenan ein.

Und nun (ja, wie soll ich das beschreiben?), nun wurde es still.
Still, wie wenn ein Schmerz aufhört. Eine eigentümlich fühlbare,
prickelnde Stille, als ob eine Wunde heilte. Ich hätte sofort
schlafen können; ich hätte Atem holen können und einschlafen. Nur
mein Erstaunen hielt mich wach. Jemand sprach nebenan, aber auch das
gehörte mit in die Stille. Das muß man erlebt haben, wie diese Stille
war, wiedergeben läßt es sich nicht. Auch draußen war alles wie
ausgeglichen. Ich saß auf, ich horchte, es war wie auf dem Lande.
Lieber Gott, dachte ich, seine Mutter ist da. Sie saß neben dem Licht,
sie redete ihm zu, vielleicht hatte er den Kopf ein wenig gegen ihre
Schulter gelegt. Gleich würde sie ihn zu Bett bringen. Nun begriff
ich das leise Gehen draußen auf dem Gang. Ach, daß es das gab. So
ein Wesen, vor dem die Türen ganz anders nachgeben als vor uns. Ja,
nun konnten wir schlafen.

Ich habe meinen Nachbar fast schon vergessen. Ich sehe wohl, daß es
keine richtige Teilnahme war, was ich für ihn hatte. Unten frage ich
zwar zuweilen im Vorübergehen, ob Nachrichten von ihm da sind und
welche. Und ich freue mich, wenn sie gut sind. Aber ich übertreibe.
Ich habe eigentlich nicht nötig, das zu wissen. Das hängt gar nicht
mehr mit ihm zusammen, daß ich manchmal einen plötzlichen Reiz
verspüre, nebenan einzutreten. Es ist nur ein Schritt von meiner Tür
zu der anderen, und das Zimmer ist nicht verschlossen. Es würde mich
interessieren, wie dieses Zimmer eigentlich beschaffen ist. Man kann
sich mit Leichtigkeit ein beliebiges Zimmer vorstellen, und oft stimmt
es dann ungefähr. Nur das Zimmer, das man neben sich hat, ist immer
ganz anders, als man es sich denkt.

Ich sage mir, daß es dieser Umstand ist, der mich reizt. Aber ich
weiß ganz gut, daß es ein gewisser blecherner Gegenstand ist, der auf
mich wartet. Ich habe angenommen, daß es sich wirklich um einen
Büchsendeckel handelt, obwohl ich mich natürlich irren kann. Das
beunruhigt mich nicht. Es entspricht nun einmal meiner Anlage, die
Sache auf einen Büchsendeckel zu schieben. Man kann denken, daß er
ihn nicht mitgenommen hat. Wahrscheinlich hat man aufgeräumt, man hat
den Deckel auf seine Büchse gesetzt, wie es sich gehört. Und nun
bilden die beiden zusammen den Begriff Büchse, runde Büchse, genau
ausgedrückt, einen einfachen, sehr bekannten Begriff. Mir ist, als
entsänne ich mich, daß sie auf dem Kamin stehn, die beiden, die die
Büchse ausmachen. Ja, sie stehn sogar vor dem Spiegel, so daß
dahinter noch eine Büchse entsteht, eine täuschend ähnliche, imaginäre.
Eine Büchse, auf die wir gar keinen Wert legen, nach der aber zum
Beispiel ein Affe greifen würde. Richtig, es würden sogar zwei Affen
danach greifen, denn auch der Affe wäre doppelt, sobald er auf dem
Kaminrand ankäme. Nun also, es ist der Deckel dieser Büchse, der es
auf mich abgesehen hat.

Einigen wir uns darüber: der Deckel einer Büchse, einer gesunden
Büchse, deren Rand nicht anders gebogen ist, als sein eigener, so ein
Deckel müßte kein anderes Verlangen kennen, als sich auf seiner Büchse
zu befinden; dies müßte das äußerste sein, was er sich vorzustellen
vermag; eine nicht zu übertreffende Befriedigung, die Erfüllung aller
seiner Wünsche. Es ist ja auch etwas geradezu Ideales, geduldig und
sanft eingedreht auf der kleinen Gegenwulst gleichmäßig aufzuruhen und
die eingreifende Kante in sich zu fühlen, elastisch und gerade so
scharf, wie man selber am Rande ist, wenn man einzeln daliegt. Ach,
aber wie wenige Deckel giebt es, die das noch zu schätzen wissen.
Hier zeigt es sich so recht, wie verwirrend der Umgang mit den
Menschen auf die Dinge gewirkt hat. Die Menschen nämlich, wenn es
angeht, sie ganz vorübergehend mit solchen Deckeln zu vergleichen,
sitzen höchst ungern und schlecht auf ihren Beschäftigungen. Teils
weil sie nicht auf die richtigen gekommen sind in der Eile, teils weil
man sie schief und zornig aufgesetzt hat, teils weil die Ränder, die
aufeinander gehören, verbogen sind, jeder auf eine andere Art. Sagen
wir es nur ganz aufrichtig: sie denken im Grunde nur daran, sobald es
sich irgend tun läßt, hinunterzuspringen, zu rollen und zu blechern.
Wo kämen sonst alle diese sogenannten Zerstreuungen her und der Lärm,
den sie verursachen?

Die Dinge sehen das nun schon seit Jahrhunderten an. Es ist kein
Wunder, wenn sie verdorben sind, wenn sie den Geschmack verlieren an
ihrem natürlichen, stillen Zweck und das Dasein so ausnutzen möchten,
wie sie es rings um sich ausgenutzt sehen. Sie machen Versuche, sich
ihren Anwendungen zu entziehen, sie werden unlustig und nachlässig,
und die Leute sind gar nicht erstaunt, wenn sie sie auf einer
Ausschweifung ertappen. Sie kennen das so gut von sich selbst. Sie
ärgern sich, weil sie die Stärkeren sind, weil sie mehr Recht auf
Abwechslung zu haben meinen, weil sie sich nachgeäfft fühlen; aber sie
lassen die Sache gehen, wie sie sich selber gehen lassen. Wo aber
einer ist, der sich zusammennimmt, ein Einsamer etwa, der so recht
rund auf sich beruhen wollte Tag und Nacht, da fordert er geradezu den
Widerspruch, den Hohn, den Haß der entarteten Geräte heraus, die, in
ihrem argen Gewissen, nicht mehr vertragen können, daß etwas sich
zusammenhält und nach seinem Sinne strebt. Da verbinden sie sich, um
ihn zu stören, zu schrecken, zu beirren, und wissen, daß sie es können.
Da fangen sie, einander zuzwinkernd, die Verführung an, die dann ins
Unermessene weiter wächst und alle Wesen und Gott selber hinreißt
gegen den Einen, der vielleicht übersteht: den Heiligen.

Wie begreif ich jetzt die wunderlichen Bilder, darinnen Dinge von
beschränkten und regelmäßigen Gebrauchen sich ausspannen und sich
lüstern und neugierig aneinander versuchen, zuckend in der ungefähren
Unzucht der Zerstreuung. Diese Kessel, die kochend herumgehen, diese
Kolben, die auf Gedanken kommen, und die müßigen Trichter, die sich in
ein Loch drängen zu ihrem Vergnügen. Und da sind auch schon, vom
eifersüchtigen Nichts heraufgeworfen, Gliedmaßen und Glieder unter
ihnen und Gesichter, die warm in sie hineinvomieren, und blasende
Gesäße, die ihnen den Gefallen tun.

Und der Heilige krümmt sich und zieht sich zusammen; aber in seinen
Augen war noch ein Blick, der dies für möglich hielt: er hat
hingesehen. Und schon schlagen sich seine Sinne nieder aus der hellen
Lösung seiner Seele. Schon entblättert sein Gebet und steht ihm aus
dem Mund wie ein eingegangener Strauch. Sein Herz ist umgefallen und
ausgeflossen ins Trübe hinein. Seine Geißel trifft ihn schwach wie
ein Schwanz, der Fliegen verjagt. Sein Geschlecht ist wieder nur an
einer Stelle, und wenn eine Frau aufrecht durch das Gehudel kommt, den
offenen Busen voll Brüste, so zeigt es auf sie wie ein Finger.

Es gab Zeiten, da ich diese Bilder für veraltet hielt. Nicht, als ob
ich an ihnen zweifelte. Ich konnte mir denken, daß dies den Heiligen
geschah, damals, den eifernden Voreiligen, die gleich mit Gott
anfangen wollten um jeden Preis. Wir muten uns dies nicht mehr zu.
Wir ahnen, daß er zu schwer ist für uns, daß wir ihn hinausschieben
müssen, um langsam die lange Arbeit zu tun, die uns von ihm trennt.
Nun aber weiß ich, daß diese Arbeit genau so bestritten ist wie das
Heiligsein; daß dies da um jeden entsteht, der um ihretwillen einsam
ist, wie es sich bildete um die Einsamen Gottes in ihren Höhlen und
leeren Herbergen, einst.

Wenn man von den Einsamen spricht, setzt man immer zuviel voraus. Man
meint, die Leute wüßten, um was es sich handelt. Nein, sie wissen es
nicht. Sie haben nie einen Einsamen gesehen, sie haben ihn nur gehaßt,
ohne ihn zu kennen. Sie sind seine Nachbaren gewesen, die ihn
aufbrauchten, und die Stimmen im Nebenzimmer, die ihn versuchten. Sie
haben die Dinge aufgereizt gegen ihn, daß sie lärmten und ihn
übertönten. Die Kinder verbanden sich wider ihn, da er zart und ein
Kind war, und mit jedem Wachsen wuchs er gegen die Erwachsenen an.
Sie spürten ihn auf in seinem Versteck wie ein jagdbares Tier, und
seine lange Jugend war ohne Schonzeit. Und wenn er sich nicht
erschöpfen ließ und davonkam, so schrieen sie über das, was von ihm
ausging, und nannten es häßlich und verdächtigten es. Und hörte er
nicht darauf, so wurden sie deutlicher und aßen ihm sein Essen weg und
atmeten ihm seine Luft aus und spieen in seine Armut, daß sie ihm
widerwärtig würde. Sie brachten Verruf über ihn wie über einen
Ansteckenden und warfen ihm Steine nach, damit er sich rascher
entfernte. Und sie hatten recht in ihrem alten Instinkt: denn er war
wirklich ihr Feind.

Aber dann, wenn er nicht aufsah, besannen sie sich. Sie ahnten, daß
sie ihm mit alledem seinen Willen taten; daß sie ihn in seinem
Alleinsein bestärkten und ihm halfen, sich abzuscheiden von ihnen für
immer. Und nun schlugen sie um und wandten das Letzte an, das
Äußerste, den anderen Widerstand: den Ruhm. Und bei diesem Lärmen
blickte fast jeder auf und wurde zerstreut.

Diese Nacht ist mir das kleine grüne Buch wieder eingefallen, das ich
als Knabe einmal besessen haben muß; und ich weiß nicht, warum ich mir
einbilde, daß es von Mathilde Brahe stammte. Es interessierte mich
nicht, da ich es bekam, und ich las es erst mehrere Jahre später, ich
glaube in der Ferienzeit auf Ulsgaard. Aber wichtig war es mir vom
ersten Augenblick an. Es war durch und durch voller Bezug, auch
äußerlich betrachtet. Das Grün des Einbandes bedeutete etwas, und man
sah sofort ein, daß es innen so sein mußte, wie es war. Als ob das
verabredet worden wäre, kam zuerst dieses glatte, weiß in weiß
gewässerte Vorsatzblatt und dann die Titelseite, die man für
geheimnisvoll hielt. Es hätten wohl Bilder drin sein können, so sah
es aus; aber es waren keine, und man mußte, fast wider Willen, zugeben,
daß auch das in der Ordnung sei. Es entschädigte einen irgendwie, an
einer bestimmten Stelle das schmale Leseband zu finden, das, mürbe und
ein wenig schräg, rührend in seinem Vertrauen, noch rosa zu sein, seit
Gott weiß wann immer zwischen den gleichen Seiten lag. Vielleicht war
es nie benutzt worden, und der Buchbinder hatte es rasch und fleißig
da hineingebogen, ohne recht hinzusehen. Möglicherweise aber war es
kein Zufall. Es konnte sein, daß jemand dort zu lesen aufgehört hatte,
der nie wieder las; daß das Schicksal in diesem Moment an seiner Türe
klopfte, um ihn zu beschäftigen, daß er weit von allen Büchern
weggeriet, die doch schließlich nicht das Leben sind. Das war nicht
zu erkennen, ob das Buch weitergelesen worden war. Man konnte sich
auch denken, daß es sich einfach darum handelte, diese Stelle
aufzuschlagen wieder und wieder, und daß es dazu gekommen war, wenn
auch manchmal erst spät in der Nacht. Jedenfalls hatte ich eine Scheu
vor den beiden Seiten, wie vor einem Spiegel, vor dem jemand steht.
Ich habe sie nie gelesen. Ich weiß überhaupt nicht, ob ich das ganze
Buch gelesen habe. Es war nicht sehr stark, aber es standen eine
Menge Geschichten drin, besonders am Nachmittag; dann war immer eine
da, die man noch nicht kannte.

Ich erinnere nur noch zwei. Ich will sagen, welche: Das Ende des
Grischa Otrepjow und Karls des Kühnen Untergang.

Gott weiß, ob es mir damals Eindruck machte. Aber jetzt, nach so viel
Jahren, entsinne ich mich der Beschreibung, wie der Leichnam des
falschen Zaren unter die Menge geworfen worden war und dalag drei Tage,
zerfetzt und zerstochen und eine Maske vor dem Gesicht. Es ist
natürlich gar keine Aussicht, daß mir das kleine Buch je wieder in die
Hände kommt. Aber diese Stelle muß merkwürdig gewesen sein. Ich
hätte auch Lust, nachzulesen, wie die Begegnung mit der Mutter verlief.
Er mag sich sehr sicher gefühlt haben, da er sie nach Moskau kommen
ließ; ich bin sogar überzeugt, daß er zu jener Zeit so stark an sich
glaubte, daß er in der Tat seine Mutter zu berufen meinte. Und diese
Marie Nagoi, die in schnellen Tagreisen aus ihrem dürftigen Kloster
kam, gewann ja auch alles, wenn sie zustimmte. Ob aber seine
Unsicherheit nicht gerade damit begann, daß sie ihn anerkannte? Ich
bin nicht abgeneigt zu glauben, die Kraft seiner Verwandlung hätte
darin beruht, niemandes Sohn mehr zu sein.

(Das ist schließlich die Kraft aller jungen Leute, die fortgegangen
sind.)

Das Volk, das sich ihn erwünschte, ohne sich einen vorzustellen,
machte ihn nur noch freier und unbegrenzter in seinen Möglichkeiten.
Aber die Erklärung der Mutter hatte, selbst als bewußter Betrug, noch
die Macht, ihn zu verringern; sie hob ihn aus der Fülle seiner
Erfindung; sie beschränkte ihn auf ein müdes Nachahmen; sie setzte ihn
auf den Einzelnen herab, der er nicht war: sie machte ihn zum Betrüger.
Und nun kam, leiser auflösend, diese Marina Mniczek hinzu, die ihn
auf ihre Art leugnete, indem sie, wie sich später erwies, nicht an ihn
glaubte, sondern an jeden. Ich kann natürlich nicht dafür einstehen,
wie weit das alles in jener Geschichte berücksichtigt war. Dies,
scheint mir, wäre zu erzählen gewesen.

Aber auch abgesehen davon, ist diese Begebenheit durchaus nicht
veraltet. Es wäre jetzt ein Erzähler denkbar, der viel Sorgfalt an
die letzten Augenblicke wendete; er hätte nicht unrecht. Es geht eine
Menge in ihnen vor: Wie er aus dem innersten Schlaf ans Fenster
springt und über das Fenster hinaus in den Hof zwischen die Wachen.
Er kann allein nicht auf; sie müssen ihm helfen. Wahrscheinlich ist
der Fuß gebrochen. An zwei von den Männern gelehnt, fühlt er, daß sie
an ihn glauben. Er sieht sich um: auch die andern glauben an ihn.
Sie dauern ihn fast, diese riesigen Strelitzen, es muß weit gekommen
sein: sie haben Iwan Grosnij gekannt in all seiner Wirklichkeit, und
glauben an ihn. Er hätte Lust, sie aufzuklären, aber den Mund öffnen,
hieße einfach schreien. Der Schmerz im Fuß ist rasend, und er hält so
wenig von sich in diesem Moment, daß er nichts weiß als den Schmerz.
Und dann ist keine Zeit. Sie drängen heran, er sieht den Schuiskij
und hinter ihm alle. Gleich wird es vorüber sein. Aber da schließen
sich seine Wachen. Sie geben ihn nicht auf. Und ein Wunder geschieht.
Der Glauben dieser alten Männer pflanzt sich fort, auf einmal will
niemand mehr vor. Schuiskij, dicht vor ihm, ruft verzweifelt nach
einem Fenster hinauf. Er sieht sich nicht um. Er weiß, wer dort
steht; er begreift, daß es still wird, ganz ohne Übergang still.
Jetzt wird die Stimme kommen, die er von damals her kennt; die hohe,
falsche Stimme, die sich überanstrengt. Und da hört er die
Zarinmutter, die ihn verleugnet.

Bis hierher geht die Sache von selbst, aber nun, bitte, einen Erzähler,
einen Erzähler: denn von den paar Zeilen, die noch bleiben, muß
Gewalt ausgehen über jeden Widerspruch hinaus. Ob es gesagt wird oder
nicht, man muß darauf schwören, daß zwischen Stimme und Pistolenschuß,
unendlich zusammengedrängt, noch einmal Wille und Macht in ihm war,
alles zu sein. Sonst versteht man nicht, wie glänzend konsequent es
ist, daß sie sein Nachtkleid durchbohrten und in ihm herumstachen, ob
sie auf das Harte einer Person stoßen würden. Und daß er im Tode doch
noch die Maske trug, drei Tage lang, auf die er fast schon verzichtet
hatte.

Wenn ichs nun bedenke, so scheint es mir seltsam, daß in demselben
Buche der Ausgang dessen erzählt wurde, der sein ganzes Leben lang
Einer war, der Gleiche, hart und nicht zu ändern wie ein Granit und
immer schwerer auf allen, die ihn ertrugen. Es giebt ein Bild von ihm
in Dijon. Aber man weiß es auch so, daß er kurz, quer, trotzig war
und verzweifelt. Nur an die Hände hätte man vielleicht nicht gedacht.
Es sind arg warme Hände, die sich immerfort kühlen möchten und sich
unwillkürlich auf Kaltes legen, gespreizt, mit Luft zwischen allen
Fingern. In diese Hände konnte das Blut hineinschießen, wie es einem
zu Kopf steigt, und geballt waren sie wirklich wie die Köpfe von
Tollen, tobend von Einfällen.

Es gehörte unglaubliche Vorsicht dazu, mit diesem Blute zu leben. Der
Herzog war damit eingeschlossen in sich selbst, und zuzeiten fürchtete
ers, wenn es um ihn herumging, geduckt und dunkel. Es konnte ihm
selber grauenhaft fremd sein, dieses behende, halbportugiesische Blut,
das er kaum kannte. Oft ängstigte es ihn, daß es ihn im Schlafe
anfallen könnte und zerreißen. Er tat, als bändigte ers, aber er
stand immer in seiner Furcht. Er wagte nie eine Frau zu lieben, damit
es nicht eifersüchtig würde, und so reißend war es, daß Wein nie über
seine Lippen kam; statt zu trinken, sänftigte ers mit Rosenmus. Doch,
einmal trank er, im Lager vor Lausanne, als Granson verloren war; da
war er krank und abgeschieden und trank viel puren Wein. Aber damals
schlief sein Blut. In seinen sinnlosen letzten Jahren verfiel es
manchmal in diesen schweren, tierischen Schlaf. Dann zeigte es sich,
wie sehr er in seiner Gewalt war; denn wenn es schlief, war er nichts.
Dann durfte keiner von seiner Umgebung herein; er begriff nicht, was
sie redeten. Den fremden Gesandten konnte er sich nicht zeigen, öd
wie er war. Dann saß er und wartete, daß es aufwachte. Und meistens
fuhr es mit einem Sprunge auf und brach aus dem Herzen aus und brüllte.


Für dieses Blut schleppte er alle die Dinge mit, auf die er nichts gab.
Die drei großen Diamanten und alle die Steine; die flandrischen
Spitzen und die Teppiche von Arros, haufenweis. Sein seidenes Gezelt
mit den aus Gold gedrehten Schnüren und vierhundert Zelte für sein
Gefolg. Und Bilder, auf Holz gemalt, und die zwölf Apostel aus vollem
Silber. Und den Prinzen von Tarent und den Herzog von Cleve und
Philipp von Baden und den Herrn von Château-Guyon. Denn er wollte
seinem Blut einreden, daß er Kaiser sei und nichts über ihm: damit es
ihn fürchte. Aber sein Blut glaubte ihm nicht, trotz solcher Beweise,
es war ein mißtrauisches Blut. Vielleicht erhielt er es noch eine
Weile im Zweifel. Aber die Hörner von Uri verrieten ihn. Seither
wußte sein Blut, daß es in einem Verlorenen war: und wollte heraus.

So seh ich es jetzt, damals aber machte es mir vor allem Eindruck, von
dem Dreikönigstag zu lesen, da man ihn suchte.

Der junge lothringische Fürst, der tags vorher, gleich nach der
merkwürdig hastigen Schlacht in seiner elenden Stadt Nancy eingeritten
war, hatte ganz früh seine Umgebung geweckt und nach dem Herzog
gefragt. Bote um Bote wurde ausgesandt, und er selbst erschien von
Zeit zu Zeit am Fenster, unruhig und besorgt. Er erkannte nicht immer,
wen sie da brachten auf ihren Wagen und Tragbahren, er sah nur, daß
es nicht der Herzog war. Und auch unter den Verwundeten war er nicht,
und von den Gefangenen, die man fortwährend noch einbrachte, hatte ihn
keiner gesehen. Die Flüchtlinge aber trugen nach allen Seiten
verschiedene Nachrichten und waren wirr und schreckhaft, als
fürchteten sie, auf ihn zuzulaufen. Es dunkelte schon, und man hatte
nichts von ihm gehört. Die Kunde, daß er verschwunden sei, hatte Zeit
herumzukommen an dem langen Winterabend. Und wohin sie kam, da
erzeugte sie in allen eine jähe, übertriebene Sicherheit, daß er lebte.
Nie vielleicht war der Herzog so wirklich in jeder Einbildung wie in
dieser Nacht. Es gab kein Haus, wo man nicht wachte und auf ihn
wartete und sich sein Klopfen vorstellte. Und wenn er nicht kam, so
wars, weil er schon vorüber war.

Es fror diese Nacht, und es war, als fröre auch die Idee, daß er sei;
so hart wurde sie. Und Jahre und Jahre vergingen, eh sie sich
auflöste. Alle diese Menschen, ohne es recht zu wissen, bestanden
jetzt auf ihm. Das Schicksal, das er über sie gebracht hatte, war nur
erträglich durch seine Gestalt. Sie hatten so schwer erlernt, daß er
war; nun aber, da sie ihn konnten, fanden sie, daß er gut zu merken
sei und nicht zu vergessen.

Aber am nächsten Morgen, dem siebenten Januar, einem Dienstag, fing
das Suchen doch wieder an. Und diesmal war ein Führer da. Es war ein
Page des Herzogs, und es hieß, er habe seinen Herrn von ferne stürzen
sehen; nun sollte er die Stelle zeigen. Er selbst hatte nichts
erzählt, der Graf von Campobasso hatte ihn gebracht und hatte für ihn
gesprochen. Nun ging er voran, und die anderen hielten sich dicht
hinter ihm. Wer ihn so sah, vermummt und eigentümlich unsicher, der
hatte Mühe zu glauben, daß es wirklich Gian-Battista Colonna sei, der
schön wie ein Mädchen war und schmal in den Gelenken. Er zitterte vor
Kälte; die Luft war steif vom Nachtfrost, es klang wie Zähneknirschen
unter den Schritten. Übrigens froren sie alle. Nur des Herzogs Narr,
Louis-Onze zubenannt, machte sich Bewegung. Er spielte den Hund, lief
voraus, kam wieder und trollte eine Weile auf allen Vieren neben dem
Knaben her; wo er aber von fern eine Leiche sah, da sprang er hin und
verbeugte sich und redete ihr zu, sie möchte sich zusammennehmen und
der sein, den man suchte. Er ließ ihr ein wenig Bedenkzeit, aber dann
kam er mürrisch zu den andern zurück und drohte und fluchte und
beklagte sich uber den Eigensinn und die Trägheit der Toten. Und man
ging immerzu, und es nahm kein Ende. Die Stadt war kaum mehr zu sehen;
denn das Wetter hatte sich inzwischen geschlossen, trotz der Kälte,
und war grau und undurchsichtig geworden. Das Land lag flach und
gleichgültig da, und die kleine, dichte Gruppe sah immer verirrter aus,
je weiter sie sich bewegte. Niemand sprach, nur ein altes Weib, das
mitgelaufen war, malmte etwas und schüttelte den Kopf dabei;
vielleicht betete sie.

Auf einmal blieb der Vorderste stehen und sah um sich. Dann wandte er
sich kurz zu Lupi, dem portugiesischen Arzt des Herzogs, und zeigte
nach vorn. Ein paar Schritte weiterhin war eine Eisfläche, eine Art
Tümpel oder Teich, und da lagen, halb eingebrochen, zehn oder zwölf
Leichen. Sie waren fast ganz entblößt und ausgeraubt. Lupi ging
gebückt und aufmerksam von einem zum andern. Und nun erkannte man
Olivier de la Marche und den Geistlichen, wie sie so einzeln
herumgingen. Die Alte aber kniete schon im Schnee und winselte und
bückte sich über eine große Hand, deren Finger ihr gespreizt
entgegenstarrten. Alle eilten herbei. Lupi mit einigen Dienern
versuchte den Leichnam zu wenden, denn er lag vornüber. Aber das
Gesicht war eingefroren, und da man es aus dem Eis herauszerrte,
schälte sich die eine Wange dünn und spröde ab, und es zeigte sich,
daß die andere von Hunden oder Wölfen herausgerissen war; und das
Ganze war von einer großen Wunde gespalten, die am Ohr begann, so daß
von einem Gesicht keine Rede sein konnte.

Einer nach dem anderen blickte sich um; jeder meinte den Römer hinter
sich zu finden. Aber sie sahen nur den Narren, der herbeigelaufen kam,
böse und blutig. Er hielt einen Mantel von sich ab und schüttelte
ihn, als sollte etwas herausfallen; aber der Mantel war leer. So ging
man daran, nach Kennzeichen zu suchen, und es fanden sich einige. Man
hatte ein Feuer gemacht und wusch den Körper mit warmem Wasser und
Wein. Die Narbe am Halse kam zum Vorschein und die Stellen der beiden
großen Abszesse. Der Arzt zweifelte nicht mehr. Aber man verglich
noch anderes. Louis-Onze hatte ein paar Schritte weiter den Kadaver
des großen schwarzen Pferdes Moreau gefunden, das der Herzog am Tage
von Nancy geritten hatte. Er saß darauf und ließ die kurzen Beine
hängen. Das Blut rann ihm noch immer aus der Nase in den Mund, und
man sah ihm an, daß er es schmeckte. Einer der Diener drüben
erinnerte, daß ein Nagel an des Herzogs linkem Fuß eingewachsen
gewesen wäre; nun suchten alle den Nagel. Der Narr aber zappelte, als
würde er gekitzelt, und schrie: "Ach, Monseigneur, verzeih ihnen, daß
sie deine groben Fehler aufdecken, die Dummköpfe, und dich nicht
erkennen an meinem langen Gesicht, in dem deine Tugenden stehn."

(Des Herzogs Narr war auch der erste, der eintrat, als die Leiche
gebettet war. Es war im Hause eines gewissen Georg Marquis, niemand
konnte sagen, wieso. Das Bahrtuch war noch nicht übergelegt, und so
hatte er den ganzen Eindruck. Das Weiß des Kamisols und das Karmesin
vom Mantel sonderten sich schroff und unfreundlich voneinander ab
zwischen den beiden Schwarz von Baldachin und Lager. Vorne standen
scharlachne Schaftstiefel ihm entgegen mit großen, vergoldeten Sporen.
Und daß das dort oben ein Kopf war, darüber konnte kein Streit
entstehen, sobald man die Krone sah. Es war eine große Herzogs-Krone
mit irgendwelchen Steinen. Louis-Onze ging umher und besah alles
genau. Er befühlte sogar den Atlas, obwohl er wenig davon verstand.
Es mochte guter Atlas sein, vielleicht ein bißchen billig für das Haus
Burgund. Er trat noch einmal zurück um des Überblicks willen. Die
Farben waren merkwürdig unzusammenhängend im Schneelicht. Er prägte
sich jede einzeln ein. "Gut angekleidet", sagte er schließlich
anerkennend, "vielleicht eine Spur zu deutlich." Der Tod kam ihm vor
wie ein Puppenspieler, der rasch einen Herzog braucht.)

Man tut gut, gewisse Dinge, die sich nicht mehr ändern werden, einfach
festzustellen, ohne die Tatsachen zu bedauern oder auch nur zu
beurteilen. So ist mir klar geworden, daß ich nie ein richtiger Leser
war. In der Kindheit kam mir das Lesen vor wie ein Beruf, den man auf
sich nehmen würde, später einmal, wenn alle die Berufe kamen, einer
nach dem andern. Ich hatte, aufrichtig gesagt, keine bestimmte
Vorstellung, wann das sein könnte. Ich verließ mich darauf, daß man
es merken würde, wenn das Leben gewissermaßen umschlug und nur noch
von außen kam, so wie früher von innen. Ich bildete mir ein, es würde
dann deutlich und eindeutig sein und gar nicht mißzuverstehn.
Durchaus nicht einfach, im Gegenteil recht anspruchsvoll, verwickelt
und schwer meinetwegen, aber immerhin sichtbar. Das eigentümlich
Unbegrenzte der Kindheit, das Unverhältnismäßige, das
Nie-recht-Absehbare, das würde dann überstanden sein. Es war freilich
nicht einzusehen, wieso. Im Grunde nahm es immer noch zu und schloß
sich auf allen Seiten, und je mehr man hinaussah, desto mehr Inneres
rührte man in sich auf: Gott weiß, wo es herkam. Aber wahrscheinlich
wuchs es zu einem Äußersten an und brach dann mit einem Schlage ab.
Es war leicht zu beobachten, daß die Erwachsenen sehr wenig davon
beunruhigt wurden; sie gingen herum und urteilten und handelten, und
wenn sie je in Schwierigkeiten waren, so lag das an äußeren
Verhältnissen.

An den Anfang solcher Veränderungen verlegte ich auch das Lesen. Dann
würde man mit Büchern umgehen wie mit Bekannten, es würde Zeit dafür
da sein, eine bestimmte, gleichmäßig und gefällig vergehende Zeit,
gerade so viel, als einem eben paßte. Natürlich würden einzelne einem
näher stehen, und es ist nicht gesagt, daß man davor sicher sein würde,
ab und zu eine halbe Stunde über ihnen zu versäumen: einen
Spaziergang, eine Verabredung, den Anfang im Theater oder einen
dringenden Brief. Daß sich einem aber das Haar verbog und verwirrte,
als ob man darauf gelegen hätte, daß man glühende Ohren bekam und
Hände kalt wie Metall, daß eine lange Kerze neben einem
herunterbrannte und in den Leuchter hinein, das würde dann, Gott sei
Dank, völlig ausgeschlossen sein.

Ich führe diese Erscheinungen an, weil ich sie ziemlich auffällig an
mir erfuhr, damals in jenen Ferien auf Ulsgaard, als ich so plötzlich
ins Lesen geriet. Da zeigte es sich gleich, daß ich es nicht konnte.
Ich hatte es freilich vor der Zeit begonnen, die ich mir dafür in
Aussicht gestellt hatte. Aber dieses Jahr in Sorö unter lauter andern
ungefähr Altersgleichen hatte mich mißtrauisch gemacht gegen solche
Berechnungen. Dort waren rasche, unerwartete Erfahrungen an mich
herangekommen, und es war deutlich zu sehen, daß sie mich wie einen
Erwachsenen behandelten. Es waren lebensgroße Erfahrungen, die sich
so schwer machten, wie sie waren. In demselben Maße aber, als ich
ihre Wirklichkeit begriff, gingen mir auch für die unendliche Realität
meines Kindseins die Augen auf. Ich wußte, daß es nicht aufhören
würde, so wenig wie das andere erst begann. Ich sagte mir, daß es
natürlich jedem freistand, Abschnitte zu machen, aber sie waren
erfunden. Und es erwies sich, daß ich zu ungeschickt war, mir welche
auszudenken. Sooft ich es versuchte, gab mir das Leben zu verstehen,
daß es nichts von ihnen wußte. Bestand ich aber darauf, daß meine
Kindheit vorüber sei, so war in demselben Augenblick auch alles
Kommende fort, und mir blieb nur genau so viel, wie ein Bleisoldat
unter sich hat, um stehen zu können.

Diese Entdeckung sonderte mich begreiflicherweise noch mehr ab. Sie
beschäftigte mich in mir und erfüllte mich mit einer Art endgültiger
Frohheit, die ich für Kümmernis nahm, weil sie weit über mein Alter
hinausging. Es beunruhigte mich auch, wie ich mich entsinne, daß man
nun, da nichts für eine bestimmte Frist vorgesehen war, manches
überhaupt versäumen könne. Und als ich so nach Ulsgaard zurückkehrte
und alle die Bücher sah, machte ich mich darüber her; recht in Eile,
mit fast schlechtem Gewissen. Was ich später so oft empfunden habe,
das ahnte ich damals irgendwie voraus: daß man nicht das Recht hatte,
ein Buch aufzuschlagen, wenn man sich nicht verpflichtete, alle zu
lesen. Mit jeder Zeile brach man die Welt an. Von den Büchern war
sie heil und vielleicht wieder ganz dahinter. Wie aber sollte ich,
der nicht lesen konnte, es mit allen aufnehmen? Da standen sie,
selbst in diesem bescheidenen Bücherzimmer, in so aussichtsloser
Überzahl und hielten zusammen. Ich stürzte mich trotzig und
verzweifelt von Buch zu Buch und schlug mich durch die Seiten durch
wie einer, der etwas Unverhältnismäßiges zu leisten hat. Damals las
ich Schiller und Baggesen, Öhlenschläger und Schack-Staffeldt, was von
Walter Scott da war und Calderon. Manches kam mir in die Hände, was
gleichsam schon hätte gelesen sein müssen, für anderes war es viel zu
früh; fällig war fast nichts für meine damalige Gegenwart. Und
trotzdem las ich.

In späteren Jahren geschah es mir zuweilen nachts, daß ich aufwachte,
und die Sterne standen so wirklich da und gingen so bedeutend vor, und
ich konnte nicht begreifen, wie man es über sich brachte, so viel Welt
zu versäumen. So ähnlich war mir, glaub ich, zumut, sooft ich von den
Büchern aufsah und hinaus, wo der Sommer war, wo Abelone rief. Es kam
uns sehr unerwartet, daß sie rufen mußte und daß ich nicht einmal
antwortete. Es fiel mitten in unsere seligste Zeit. Aber da es mich
nun einmal erfaßt hatte, hielt ich mich krampfhaft ans Lesen und
verbarg mich, wichtig und eigensinnig, vor unseren täglichen
Feiertagen. Ungeschickt wie ich war, die vielen, oft unscheinbaren
Gelegenheiten eines natürlichen Glücks auszunutzen, ließ ich mir nicht
ungern von dem anwachsenden Zerwürfnis künftige Versöhnungen
versprechen, die desto reizender wurden, je weiter man sie hinausschob.


Übrigens war mein Leseschlaf eines Tages so plötzlich zu Ende, wie er
begonnen hatte; und da erzürnten wir einander gründlich. Denn Abelone
ersparte mir nun keinerlei Spott und Überlegenheit, und wenn ich sie
in der Laube traf, behauptete sie zu lesen. An dem einen
Sonntagmorgen lag das Buch zwar geschlossen neben ihr, aber sie schien
mehr als genug mit den Johannisbeeren beschäftigt, die sie vorsichtig
mittels einer Gabel aus ihren kleinen Trauben streifte.

Es muß dies eine von jenen Tagesfrühen gewesen sein, wie es solche im
Juli giebt, neue, ausgeruhte Stunden, in denen überall etwas frohes
Unüberlegtes geschieht. Aus Millionen kleinen ununterdrückbaren
Bewegungen setzt sich ein Mosaik überzeugtesten Daseins zusammen; die
Dinge schwingen ineinander hinüber und hinaus in die Luft, und ihre
Kühle macht den Schatten klar und die Sonne zu einem leichten,
geistigen Schein. Da giebt es im Garten keine Hauptsache; alles ist
überall, und man müßte in allem sein, um nichts zu versäumen.

In Abelonens kleiner Handlung aber war das Ganze nochmal. Es war so
glücklich erfunden, gerade dies zu tun und genau so, wie sie es tat.
Ihre im Schattigen hellen Hände arbeiteten einander so leicht und
einig zu, und vor der Gabel sprangen mutwillig die runden Beeren her,
in die mit tauduffem Weinblatt ausgelegte Schale hinein, wo schon
andere sich häuften, rote und blonde, glanzlichternd, mit gesunden
Kernen im herben Innern. Ich wünschte unter diesen Umständen nichts
als zuzusehen, aber, da es wahrscheinlich war, daß man mirs verwies,
ergriff ich, auch um mich unbefangen zu geben, das Buch, setzte mich
an die andere Seite des Tisches und ließ mich, ohne lange zu blättern,
irgendwo damit ein.

"Wenn du doch wenigstens laut läsest, Leserich", sagte Abelone nach
einer Weile. Das klang lange nicht mehr so streitsüchtig, und da es,
meiner Meinung nach, ernstlich Zeit war, sich auszugleichen, las ich
sofort laut, immerzu bis zu einem Abschnitt und weiter, die nächste
Überschrift: An Bettine.

"Nein, nicht die Antworten", unterbrach mich Abelone und legte auf
einmal wie erschöpft die kleine Gabel nieder. Gleich darauf lachte
sie über das Gesicht, mit dem ich sie ansah.

"Mein Gott, was hast du schlecht gelesen, Malte."

Da mußte ich nun zugeben, daß ich keinen Augenblick bei der Sache
gewesen sei. "Ich las nur, damit du mich unterbrichst", gestand ich
und wurde heiß und blätterte zurück nach dem Titel des Buches. Nun
wußte ich erst, was es war. "Warum denn nicht die Antworten?" fragte
ich neugierig.

Es war, als hätte Abelone mich nicht gehört. Sie saß da in ihrem
lichten Kleid, als ob sie überall innen ganz dunkel würde, wie ihre
Augen wurden.

"Gieb her", sagte sie plötzlich wie im Zorn und nahm mir das Buch aus
der Hand und schlug es richtig dort auf, wo sie es wollte. Und dann
las sie einen von Bettinens Briefen.

Ich weiß nicht, was ich davon verstand, aber es war, als würde mir
feierlich versprochen, dieses alles einmal einzusehen. Und während
ihre Stimme zunahm und endlich fast jener glich, die ich vom Gesang
her kannte, schämte ich mich, daß ich mir unsere Versöhnung so gering
vorgestellt hatte. Denn ich begriff wohl, daß sie das war. Aber nun
geschah sie irgendwo ganz im Großen, weit über mir, wo ich nicht
hinreichte.

Das Versprechen erfüllt sich noch immer, irgendwann ist dasselbe Buch
unter meine Bücher geraten, unter die paar Bücher, von denen ich mich
nicht trenne. Nun schlägt es sich auch mir an den Stellen auf, die
ich gerade meine, und wenn ich sie lese, so bleibt es unentschieden,
ob ich an Bettine denke oder an Abelone. Nein, Bettine ist wirklicher
in mir geworden, Abelone, die ich gekannt habe, war wie eine
Vorbereitung auf sie, und nun ist sie mir in Bettine aufgegangen wie
in ihrem eigenen, unwillkürlichen Wesen. Denn diese wunderliche
Bettine hat mit allen ihren Briefen Raum gegeben, geräumigste Gestalt.
Sie hat von Anfang an sich im Ganzen so ausgebreitet, als wär sie
nach ihrem Tod. Überall hat sie sich ganz weit ins Sein hineingelegt,
zugehörig dazu, und was ihr geschah, das war ewig in der Natur; dort
erkannte sie sich und löste sich beinah schmerzhaft heraus; erriet
sich mühsam zurück wie aus Überlieferungen, beschwor sich wie einen
Geist und hielt sich aus.

Eben warst du noch, Bettine; ich seh dich ein. Ist nicht die Erde
noch warm von dir, und die Vögel lassen noch Raum für deine Stimme.
Der Tau ist ein anderer, aber die Sterne sind noch die Sterne deiner
Nächte. Oder ist nicht die Welt überhaupt von dir? Denn wie oft hast
du sie in Brand gesteckt mit deiner Liebe und hast sie lodern sehen
und aufbrennen und hast sie heimlich durch eine andere ersetzt, wenn
alle schliefen. Du fühltest dich so recht im Einklang mit Gott, wenn
du jeden Morgen eine neue Erde von ihm verlangtest, damit doch alle
drankämen, die er gemacht hatte. Es kam dir armsälig vor, sie zu
schonen und auszubessern, du verbrauchtest sie und hieltest die Hände
hin um immer noch Welt. Denn deine Liebe war allem gewachsen.

Wie ist es möglich, daß nicht noch alle erzählen von deiner Liebe?
Was ist denn seither geschehen, was merkwürdiger war? Was beschäftigt
sie denn? Du selber wußtest um deiner Liebe Wert, du sagtest sie laut
deinem größesten Dichter vor, daß er sie menschlich mache; denn sie
war noch Element. Er aber hat sie den Leuten ausgeredet, da er dir
schrieb. Alle haben diese Antworten gelesen und glauben ihnen mehr,
weil der Dichter ihnen deutlicher ist als die Natur. Aber vielleicht
wird es sich einmal zeigen, daß hier die Grenze seiner Größe war.
Diese Liebende ward ihm auferlegt, und er hat sie nicht bestanden.
Was heißt es, daß er nicht hat erwidern können? Solche Liebe bedarf
keiner Erwiderung, sie hat Lockruf und Antwort in sich; sie erhört
sich selbst. Aber demütigen hätte er sich müssen vor ihr in seinem
ganzen Staat und schreiben was sie diktiert, mit beiden Händen, wie
Johannes auf Patmos, knieend. Es gab keine Wahl dieser Stimme
gegenüber, die "das Amt der Engel verrichtete"; die gekommen war, ihn
einzuhüllen und zu entziehen ins Ewige hinein. Da war der Wagen
seiner feurigen Himmelfahrt. Da war seinem Tod der dunkle Mythos
bereitet, den er leer ließ.

Das Schicksal liebt es, Muster und Figuren zu erfinden. Seine
Schwierigkeit beruht im Komplizierten. Das Leben selbst aber ist
schwer aus Einfachheit. Es hat nur ein paar Dinge von uns nicht
angemessener Größe. Der Heilige, indem er das Schicksal ablehnt,
wählt diese, Gott gegenüber. Daß aber die Frau, ihrer Natur nach, in
Bezug auf den Mann die gleiche Wahl treffen muß, ruft das Verhängnis
aller Liebesbeziehungen herauf: entschlossen und schicksalslos, wie
eine Ewige, steht sie neben ihm, der sich verwandelt. Immer
übertrifft die Liebende den Geliebten, weil das Leben größer ist als
das Schicksal. Ihre Hingabe will unermeßlich sein: dies ist ihr Glück.
Das namenlose Leid ihrer Liebe aber ist immer dieses gewesen: daß
von ihr verlangt wird, diese Hingabe zu beschränken.

Es ist keine andere Klage je von Frauen geklagt worden: die beiden
ersten Briefe Heloïsens enthalten nur sie, und fünfhundert Jahre
später erhebt sie sich aus den Briefen der Portugiesin; man erkennt
sie wieder wie einen Vogelruf. Und plötzlich geht durch den hellen
Raum dieser Einsicht der Sappho fernste Gestalt, die die Jahrhunderte
nicht fanden, da sie sie im Schicksal suchten.

Ich habe niemals gewagt, von ihm eine Zeitung zu kaufen. Ich bin
nicht sicher, daß er wirklich immer einige Nummern bei sich hat, wenn
er sich außen am Luxembourg-Garten langsam hin und zurück schiebt den
ganzen Abend lang. Er kehrt dem Gitter den Rücken, und seine Hand
streift den Steinrand, auf dem die Stäbe aufstehen. Er macht sich so
flach, daß täglich viele vorübergehen, die ihn nie gesehen haben.
Zwar hat er noch einen Rest von Stimme in sich und mahnt; aber das ist
nicht anders als ein Geräusch in einer Lampe oder im Ofen oder wenn es
in eigentümlichen Abständen in einer Grotte tropft. Und die Welt ist
so eingerichtet, daß es Menschen giebt, die ihr ganzes Leben lang in
der Pause vorbeikommen, wenn er, lautloser als alles was sich bewegt,
weiter rückt wie ein Zeiger, wie eines Zeigers Schatten, wie die Zeit.

Wie unrecht hatte ich, ungern hinzusehen. Ich schäme mich
aufzuschreiben, daß ich oft in seiner Nähe den Schritt der andern
annahm, als wüßte ich nicht um ihn. Dann hörte ich es in ihm "La
Presse" sagen und gleich darauf noch einmal und ein drittes Mal in
raschen Zwischenräumen. Und die Leute neben mir sahen sich um und
suchten die Stimme. Nur ich tat eiliger als alle, als wäre mir nichts
aufgefallen, als wäre ich innen überaus beschäftigt.

Und ich war es in der Tat. Ich war beschäftigt, ihn mir vorzustellen,
ich unternahm die Arbeit, ihn einzubilden, und der Schweiß trat mir
aus vor Anstrengung. Denn ich mußte ihn machen wie man einen Toten
macht, für den keine Beweise mehr da sind, keine Bestandteile; der
ganz und gar innen zu leisten ist. Ich weiß jetzt, daß es mir ein
wenig half, an die vielen abgenommenen Christusse aus streifigem
Elfenbein zu denken, die bei allen Althändlern herumliegen. Der
Gedanke an irgendeine Pietà trat vor und ab--: dies alles
wahrscheinlich nur, um eine gewisse Neigung hervorzurufen, in der sein
langes Gesicht sich hielt, und den trostlosen Bartnachwuchs im
Wangenschatten und die endgültig schmerzvolle Blindheit seines
verschlossenen Ausdrucks, der schräg aufwärts gehalten war. Aber es
war außerdem so vieles, was zu ihm gehörte; denn dies begriff ich
schon damals, daß nichts an ihm nebensächlich sei: nicht die Art, wie
der Rock oder der Mantel, hinten abstehend, überall den Kragen sehen
ließ, diesen niedrigen Kragen, der in einem großen Bogen um den
gestreckten, nischigen Hals stand, ohne ihn zu berühren; nicht die
grünlich schwarze Krawatte, die weit um das Ganze herumgeschnallt war;
und ganz besonders nicht der Hut, ein alter, hochgewölbter, steifer
Filzhut, den er trug wie alle Blinden ihre Hüte tragen: ohne Bezug zu
den Zeilen des Gesichts, ohne die Möglichkeit, aus diesem
Hinzukommenden und sich selbst eine neue äußere Einheit zu bilden;
nicht anders als irgendeinen verabredeten fremden Gegenstand. In
meiner Feigheit, nicht hinzusehen, brachte ich es so weit, daß das
Bild dieses Mannes sich schließlich oft auch ohne Anlaß stark und
schmerzhaft in mir zusammenzog zu so hartem Elend, daß ich mich, davon
bedrängt, entschloß, die zunehmende Fertigkeit meiner Einbildung durch
die auswärtige Tatsache einzuschüchtern und aufzuheben. Es war gegen
Abend. Ich nahm mir vor, sofort aufmerksam an ihm vorbeizugehen.

Nun muß man wissen: es ging auf den Frühling zu. Der Tagwind hatte
sich gelegt, die Gassen waren lang und befriedigt; an ihrem Ausgang
schimmerten Häuser, neu wie frische Bruchstellen eines weißen Metalls.
Aber es war ein Metall, das einen überraschte durch seine
Leichtigkeit. In den breiten, fortlaufenden Straßen zogen viele Leute
durcheinander, fast ohne die Wagen zu fürchten, die selten waren. Es
mußte ein Sonntag sein. Die Turmaufsätze von Saint-Sulpice zeigten
sich heiter und unerwartet hoch in der Windstille, und durch die
schmalen, beinah römischen Gassen sah man unwillkürlich hinaus in die
Jahreszeit. Im Garten und davor war so viel Bewegung von Menschen,
daß ich ihn nicht gleich sah. Oder erkannte ich ihn zuerst nicht
zwischen der Menge durch?

Ich wußte sofort, daß meine Vorstellung wertlos war. Die durch keine
Vorsicht oder Verstellung eingeschränkte Hingegebenheit seines Elends
übertraf meine Mittel. Ich hatte weder den Neigungswinkel seiner
Haltung begriffen gehabt noch das Entsetzen, mit dem die Innenseite
seiner Lider ihn fortwährend zu erfüllen schien. Ich hatte nie an
seinen Mund gedacht, der eingezogen war wie die Öffnung eines Ablaufs.
Möglicherweise hatte er Erinnerungen; jetzt aber kam nie mehr etwas
zu seiner Seele hinzu als täglich das amorphe Gefühl des Steinrands
hinter ihm, an dem seine Hand sich abnutzte. Ich war stehngeblieben,
und während ich das alles fast gleichzeitig sah, fühlte ich, daß er
einen anderen Hut hatte und eine ohne Zweifel sonntägliche Halsbinde;
sie war schräg in gelben und violetten Vierecken gemustert, und was
den Hut angeht, so war es ein billiger neuer Strohhut mit einem grünen
Band. Es liegt natürlich nichts an diesen Farben, und es ist
kleinlich, daß ich sie behalten habe. Ich will nur sagen, daß sie an
ihm waren wie das Weicheste auf eines Vogels Unterseite. Er selbst
hatte keine Lust daran, und wer von allen (ich sah mich um) durfte
meinen, dieser Staat wäre um seinetwillen?

Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so bist du also. Es giebt
Beweise für deine Existenz. Ich habe sie alle vergessen und habe
keinen je verlangt, denn welche unge heuere Verpflichtung läge in
deiner Gewißheit. Und doch, nun wird mirs gezeigt. Dieses ist dein
Geschmack, hier hast du Wohlgefallen. Daß wir doch lernten, vor allem
aushalten und nicht urteilen. Welche sind die schweren Dinge? Welche
die gnädigen? Du allein weißt es.

Wenn es wieder Winter wird und ich muß einen neuen Mantel haben,--gieb
mir, daß ich ihn so trage, solang er neu ist.

Es ist nicht, daß ich mich von ihnen unterscheiden will, wenn ich in
besseren, von Anfang an meinigen Kleidern herumgehe und darauf halte,
irgendwo zu wohnen. Ich bin nicht so weit. Ich habe nicht das Herz
zu ihrem Leben. Wenn mir der Arm einginge, ich glaube, ich versteckte
ihn. Sie aber (ich weiß nicht, wer sie sonst war), sie erschien jeden
Tag vor den Terrassen der Caféhäuser, und obwohl es sehr schwer war
für sie, den Mantel abzutun und sich aus dem unklaren Zeug und
Unterzeug herauszuziehen, sie scheute der Mühe nicht und tat ab und
zog aus so lange, daß mans kaum mehr erwarten konnte. Und dann stand
sie vor uns, bescheiden, mit ihrem dürren, verkümmerten Stück, und man
sah, daß es rar war.

Nein, es ist nicht, daß ich mich von ihnen unterscheiden will; aber
ich überhübe mich, wollte ich ihnen gleich sein. Ich bin es nicht.
Ich hätte weder ihre Stärke noch ihr Maß. Ich ernähre mich, und so
bin ich von Mahlzeit zu Mahlzeit, völlig geheimnislos; sie aber
erhalten sich fast wie Ewige. Sie stehen an ihren täglichen Ecken,
auch im November, und schreien nicht vor Winter. Der Nebel kommt und
macht sie undeutlich und ungewiß: sie sind gleichwohl. Ich war
verreist, ich war krank, vieles ist mir vergangen: sie aber sind nicht
gestorben.

(Ich weiß ja nicht einmal, wie es möglich ist, daß die Schulkinder
aufstehn in den Kammern voll grauriechender Kälte; wer sie bestärkt,
die überstürzten Skelettchen, daß sie hinauslaufen in die erwachsene
Stadt, in die trübe Neige der Nacht, in den ewigen Schultag, immer
noch klein, immer voll Vorgefühl, immer verspätet. Ich habe keine
Vorstellung von der Menge Beistand, die fortwährend verbraucht wird.)

Diese Stadt ist voll von solchen, die langsam zu ihnen hinabgleiten.
Die meisten sträuben sich erst; aber dann giebt es diese verblichenen,
alternden Mädchen, die sich fortwährend ohne Widerstand hinüberlassen,
starke, im Innersten ungebrauchte, die nie geliebt worden sind.

Vielleicht meinst du, mein Gott, daß ich alles lassen soll und sie
lieben. Oder warum wird es mir so schwer, ihnen nicht nachzugehen,
wenn sie mich überholen? Warum erfind ich auf einmal die süßesten,
nächtlichsten Worte, und meine Stimme steht sanft in mir zwischen
Kehle und Herz. Warum stell ich mir vor, wie ich sie unsäglich
vorsichtig an meinen Atem halten würde, diese Puppen, mit denen das
Leben gespielt hat, ihnen Frühling um Frühling für nichts und wieder
nichts die Arme auseinanderschlagend bis sie locker wurden in den
Schultern. Sie sind nie sehr hoch von einer Hoffnung gefallen, so
sind sie nicht zerbrochen; aber abgeschlagen sind sie und schon dem
Leben zu schlecht. Nur verlorene Katzen kommen abends zu ihnen in die
Kammer und zerkratzen sie heimlich und schlafen auf ihnen. Manchmal
folge ich einer zwei Gassen weit. Sie gehen an den Häusern hin,
fortwährend kommen Menschen, die sie verdecken, sie schwinden hinter
ihnen weiter wie nichts.

Und doch, ich weiß, wenn einer nun versuchte, sie liebzuhaben, so
wären sie schwer an ihm wie Zuweitgegangene, die aufhören zu gehn.
Ich glaube, nur Jesus ertrüge sie, der noch das Auferstehen in allen
Gliedern hat; aber ihm liegt nichts an ihnen. Nur die Liebenden
verführen ihn, nicht die, die warten mit einem kleinen Talent zur
Geliebten wie mit einer kalten Lampe.

Ich weiß, wenn ich zum Äußersten bestimmt bin, so wird es mir nichts
helfen, daß ich mich verstelle in meinen besseren Kleidern. Glitt er
nicht mitten im Königtum unter die Letzten? Er, der statt
aufzusteigen hinabsank bis auf den Grund. Es ist wahr, ich habe
zuzeiten an die anderen Könige geglaubt, obwohl die Parke nichts mehr
beweisen. Aber es ist Nacht, es ist Winter, ich friere, ich glaube an
ihn. Denn die Herrlichkeit ist nur ein Augenblick, und wir haben nie
etwas Längeres gesehen als das Elend. Der König aber soll dauern.

Ist nicht dieser der Einzige, der sich erhielt unter seinem Wahnsinn
wie Wachsblumen unter einem Glassturz? Für die anderen beteten sie in
den Kirchen um langes Leben, von ihm aber verlangte der Kanzler Jean
Charlier Gerson, daß er ewig sei, und das war damals, als er schon der
Dürftigste war, schlecht und von schierer Armut trotz seiner Krone.

Das war damals, als von Zeit zu Zeit Männer fremdlings, mit
geschwärztem Gesicht, ihn in seinem Bette überfielen, um ihm das in
die Schwären hineingefaulte Hemde abzureißen, das er schon längst für
sich selber hielt. Es war verdunkelt im Zimmer, und sie zerrten unter
seinen steifen Armen die mürben Fetzen weg, wie sie sie griffen. Dann
leuchtete einer vor, und da erst entdeckten sie die jäsige Wunde auf
seiner Brust, in die das eiserne Amulett eingesunken war, weil er es
jede Nacht an sich preßte mit aller Kraft seiner Inbrunst; nun stand
es tief in ihm, fürchterlich kostbar, in einem Perlensaum von Eiter
wie ein wundertuender Rest in der Mulde eines Reliquärs. Man hatte
harte Handlanger ausgesucht, aber sie waren nicht ekelfest, wenn die
Würmer, gestört, nach ihnen herüberstanden aus dem flandrischen
Barchent und, aus den Falten abgefallen, sich irgendwo an ihren Ärmeln
aufzogen. Es war ohne Zweifel schlimmer geworden mit ihm seit den
Tagen der parva regina; denn sie hatte doch noch bei ihm liegen mögen,
jung und klar wie sie war. Dann war sie gestorben. Und nun hatte
keiner mehr gewagt, eine Beischläferin an dieses Aas anzubetten. Sie
hatte die Worte und Zärtlichkeiten nicht hinterlassen, mit denen der
König zu mildern war. So drang niemand mehr durch dieses Geistes
Verwilderung; niemand half ihm aus den Schluchten seiner Seele;
niemand begriff es, wenn er selbst plötzlich heraustrat mit dem runden
Blick eines Tiers, das auf die Weide geht. Wenn er dann das
beschäftigte Gesicht Juvenals erkannte, so fiel ihm das Reich ein, wie
es zuletzt gewesen war. Und er wollte nachholen, was er versäumt
hatte.

Aber es lag an den Ereignissen jener Zeitläufte, daß sie nicht
schonend beizubringen waren. Wo etwas geschah, da geschah es mit
seiner ganzen Schwere, und war wie aus einem Stück, wenn man es sagte.
Oder was war davon abzuziehen, daß sein Bruder ermordet war, daß
gestern Valentina Visconti, die er immer seine liebe Schwester nannte,
vor ihm gekniet hatte, lauter Witwenschwarz weghebend von des
entstellten Antlitzes Klage und Anklage? Und heute stand stundenlang
ein zäher, rediger Anwalt da und bewies das Recht des fürstlichen
Mordgebers, solange bis das Verbrechen durchscheinend wurde und als
wollte es licht in den Himmel fahren. Und gerecht sein hieß, allen
recht geben; denn Valentina von Orléans starb Kummers, obwohl man ihr
Rache versprach. Und was half es, dem burgundischen Herzog zu
verzeihen und wieder zu verzeihen; über den war die finstere Brunst
der Verzweiflung gekommen, so daß er schon seit Wochen tief im Walde
von Argilly wohnte in einem Zelt und behauptete, nachts die Hirsche
schreien hören zu müssen zu seiner Erleichterung.

Wenn man dann das alles bedacht hatte, immer wieder bis ans Ende, kurz
wie es war, so begehrte das Volk einen zu sehen, und es sah einen:
ratlos. Aber das Volk freute sich des Anblicks; es begriff, daß dies
der König sei: dieser Stille, dieser Geduldige, der nur da war, um es
zuzulassen, daß Gott über ihn weg handelte in seiner späten Ungeduld.
In diesen aufgeklärten Augenblicken auf dem Balkon seines Hôtels von
Saint-Pol ahnte der König vielleicht seinen heimlichen Fortschritt;
der Tag von Roosbecke fiel ihm ein, als sein Oheim von Berry ihn an
der Hand genommen hatte, um ihn hinzuführen vor seinen ersten fertigen
Sieg; da überschaute er in dem merkwürdig langhellen Novembertag die
Massen der Genter, so wie sie sich erwürgt hatten mit ihrer eigenen
Enge, da man gegen sie angeritten war von allen Seiten.
Ineinandergewunden wie ein unge heueres Gehirn, lagen sie da in den
Haufen, zu denen sie sich selber zusammengebunden hatten, um dicht zu
sein. Die Luft ging einem weg, wenn man da und dort ihre erstickten
Gesichter sah; man konnte es nicht lassen, sich vorzustellen, daß sie
weit über diesen vor Gedränge noch stehenden Leichen verdrängt worden
sei durch den plötzlichen Austritt so vieler verzweifelter Seelen.

Dies hatte man ihm eingeprägt als den Anfang seines Ruhms. Und er
hatte es behalten. Aber, wenn das damals der Triumph des Todes war,
so war dieses, daß er hier stand auf seinen schwachen Knieen, aufrecht
in allen diesen Augen: das Mysterium der Liebe. An den anderen hatte
er gesehen, daß man jenes Schlachtfeld begreifen konnte, so ungeheuer
es war. Dies hier wollte nicht begriffen sein; es war genau so
wunderbar wie einst der Hirsch mit dem goldenen Halsband im Wald von
Senlis. Nur daß er jetzt selber die Erscheinung war, und andere waren
versunken in Anschauen. Und er zweifelte nicht, daß sie atemlos waren
und von derselben weiten Erwartung, wie sie einmal ihn an jenem
jünglinglichen Jagdtag überfiel, als das stille Gesicht, äugend, aus
den Zweigen trat. Das Geheimnis seiner Sichtbarkeit verbreitete sich
über seine sanfte Gestalt; er rührte sich nicht, aus Scheu, zu
vergehen, das dünne Lächeln auf seinem breiten, einfachen Gesicht nahm
eine natürliche Dauer an wie bei steinernen Heiligen und bemühte ihn
nicht. So hielt er sich hin, und es war einer jener Augenblicke, die
die Ewigkeit sind, in Verkürzung gesehen. Die Menge ertrug es kaum.
Gestärkt, von unerschöpflich vermehrter Tröstung gespeist, durchbrach
sie die Stille mit dem Aufschrei der Freude. Aber oben auf dem Balkon
war nur noch Juvenal des Ursins, und er rief in die nächste Beruhigung
hinein, daß der König rue Saint-Denis kommen würde zu der
Passionsbrüderschaft, die Mysterien sehen.

Zu solchen Tagen war der König voll milden Bewußtseins. Hätte ein
Maler jener Zeit einen Anhalt gesucht für das Dasein im Paradiese, er
hätte kein vollkommeneres Vorbild finden können als des Königs
gestillte Figur, wie sie in einem der hohen Fenster des Louvre stand
unter dem Sturz ihrer Schultern. Er blätterte in dem kleinen Buch der
Christine de Pisan, das "Der Weg des langen Lernens" heißt und das ihm
gewidmet war. Er las nicht die gelehrten Streitreden jenes
allegorischen Parlaments, das sich vorgesetzt hatte, den Fürsten
ausfindig zu machen, der würdig sei, über die Welt zu herrschen. Das
Buch schlug sich ihm immer an den einfachsten Stellen auf: wo von dem
Herzen die Rede war, das dreizehn Jahre lang wie ein Kolben über dem
Schmerzfeuer nur dazu gedient hatte, das Wasser der Bitternis für die
Augen zu destillieren; er begriff, daß die wahre Konsolation erst
begann, wenn das Glück vergangen genug und für immer vorüber war.
Nichts war ihm näher, als dieser Trost. Und während sein Blick
scheinbar die Brücke drüben umfaßte, liebte er es, durch dieses von
der starken Cumäa zu großen Wegen ergriffene Herz die Welt zu sehen,
die damalige: die gewagten Meere, fremdtürmige Städte, zugehalten vom
Ausdruck der Weiten; der gesammelten Gebirge ekstatische Einsamkeit
und die in fürchtigem Zweifel erforschten Himmel, die sich erst
schlossen wie eines Saugkindes Hirnschale.

Aber wenn jemand eintrat, so erschrak er, und langsam beschlug sich
sein Geist. Er gab zu, daß man ihn vom Fenster fortführte und ihn
beschäftigte. Sie hatten ihm die Gewohnheit beigebracht, stundenlang
über Abbildungen zu verweilen, und er war es zufrieden, nur kränkte es
ihn, daß man im Blättern niemals mehrere Bilder vor sich behielt und
daß sie in den Folianten festsaßen, so daß man sie nicht untereinander
bewegen konnte. Da hatte sich jemand eines Spiels Karten erinnert,
das völlig in Vergessenheit geraten war, und der König nahm den in
Gunst, der es ihm brachte; so sehr waren diese Kartons nach seinem
Herzen, die bunt waren und einzeln beweglich und voller Figur. Und
während das Kartenspielen unter den Hofleuten in Mode kam, saß der
König in seiner Bibliothek und spielte allein. Genau wie er nun zwei
Könige nebeneinander aufschlug, so hatte Gott neulich ihn und den
Kaiser Wenzel zusammengetan; manchmal starb eine Königin, dann legte
er ein Herz-Aß auf sie, das war wie ein Grabstein. Es wunderte ihn
nicht, daß es in diesem Spiel mehrere Päpste gab; er richtete Rom ein
drüben am Rande des Tisches, und hier, unter seiner Rechten, war
Avignon. Rom war ihm gleichgültig, er stellte es sich aus irgendeinem
Grunde rund vor und bestand nicht weiter darauf. Aber Avignon kannte
er. Und kaum dachte er es, so wiederholte seine Erinnerung den hohen
hermetischen Palast und überanstrengte sich. Er schloß die Augen und
mußte tief Atem holen. Er fürchtete bös zu träumen nächste Nacht.

Im ganzen aber war es wirklich eine beruhigende Beschäftigung, und sie
hatten recht, ihn immer wieder darauf zu bringen. Solche Stunden
befestigten ihn in der Ansicht, daß er der König sei, König Karl der
Sechste. Das will nicht sagen, daß er sich übertrieb; weit von ihm
war die Meinung, mehr zu sein als so ein Blatt, aber die Gewißheit
bestärkte sich in ihm, daß auch er eine bestimmte Karte sei,
vielleicht eine schlechte, eine zornig ausgespielte, die immer verlor:
aber immer die gleiche: aber nie eine andere. Und doch, wenn eine
Woche so hingegangen war in gleichmäßiger Selbstbestätigung, so wurde
ihm enge in ihm. Die Haut spannte ihn um die Stirn und im Nacken, als
empfände er auf einmal seinen zu deutlichen Kontur. Niemand wußte,
welcher Versuchung er nachgab, wenn er dann nach den Mysterien fragte
und nicht erwarten konnte, daß sie begännen. Und war es einmal so
weit, so wohnte er mehr rue Saint-Denis als in seinem Hötel von
Saint-Pol.

Es war das Verhängnisvolle dieser dargestellten Gedichte, daß sie sich
immerfort ergänzten und erweiterten und zu Zehntausenden von Versen
anwuchsen, so daß die Zeit in ihnen schließlich die wirkliche war;
etwa so, als machte man einen Globus im Maßstab der Erde. Die hohle
Estrade, unter der die Hölle war und über der, an einen Pfeiler
angebaut, das geländerlose Gerüst eines Balkons das Niveau des
Paradieses bedeutete, trug nur noch dazu bei, die Täuschung zu
verringern. Denn dieses Jahr hundert hatte in der Tat Himmel und
Hölle irdisch gemacht: es lebte aus den Kräften beider, um sich zu
überstehen.

Es waren die Tage jener avignonesischen Christenheit, die sich vor
einem Menschenalter um Johann den Zweiundzwanzigsten zusammengezogen
hatte, mit so viel unwillkürlicher Zuflucht, daß an dem Platze seines
Pontifikats, gleich nach ihm, die Masse dieses Palastes entstanden war,
verschlossen und schwer wie ein äußerster Notleib für die wohnlose
Seele aller. Er selbst aber, der kleine, leichte, geistige Greis,
wohnte noch im Offenen. Während er, kaum angekommen, ohne Aufschub,
nach allen Seiten hin rasch und knapp zu handeln begann, standen die
Schüsseln mit Gift gewürzt auf seiner Tafel; der erste Becher mußte
immer weggeschüttet werden, denn das Stück Einhorn war mißfarbig, wenn
es der Mundkämmerer daraus zurückzog. Ratlos, nicht wissend, wo er
sie verbergen sollte, trug der Siebzigjährige die Wachsbildnisse herum,
die man von ihm gemacht hatte, um ihn darin zu verderben; und er
ritzte sich an den langen Nadeln, mit denen sie durchstochen waren.
Man konnte sie einschmelzen. Doch so hatte er sich schon an diesen
heimlichen Simulakern entsetzt, daß er, gegen seinen starken Willen,
mehrmals den Gedanken formte, er könnte sich selbst damit tödlich sein
und hinschwinden wie das Wachs am Feuer. Sein verminderter Körper
wurde nur noch trockener vom Grausen und dauerhafter. Aber nun wagte
man sich an den Körper seines Reichs; von Granada aus waren die Juden
angestiftet worden, alle Christlichen zu vertilgen, und diesmal hatten
sie sich furchtbarere Vollzieher erkauft. Niemand zweifelte, gleich
auf die ersten Gerüchte hin, an dem Anschlag der Leprosen; schon
hatten einzelne gesehen, wie sie Bündel ihrer schrecklichen Zersetzung
in die Brunnen warfen. Es war nicht Leichtgläubigkeit, daß man dies
sofort für möglich hielt; der Glaube, im Gegenteil, war so schwer
geworden, daß er den Zitternden entsank und bis auf den Grund der
Brunnen fiel. Und wieder hatte der eifrige Greis Gift abzuhalten vom
Blute. Zur Zeit seiner abergläubischen Anwandlungen hatte er sich und
seiner Umgebung das Angelus verschrieben gegen die Dämonen der
Dämmerung; und nun läutete man auf der ganzen erregten Welt jeden
Abend dieses kalmierende Gebet. Sonst aber glichen alle Bullen und
Briefe, die von ihm ausgingen, mehr einem Gewürzwein als einer Tisane.
Das Kaisertum hatte sich nicht in seine Behandlung gestellt, aber er
ermüdete nicht, es mit Beweisen seines Krankseins zu überhäufen; und
schon wandte man sich aus dem fernsten Osten an diesen herrischen Arzt.


Aber da geschah das Unglaubliche. Am Allerheiligentag hatte er
gepredigt, länger, wärmer als sonst; in einem plötzlichen Bedürfnis,
wie um ihn selbst wiederzusehen, hatte er seinen Glauben gezeigt; aus
dem fünfundachtzigjährigen Tabernakel hatte er ihn mit aller Kraft
langsam herausgehoben und auf der Kanzel ausgestellt: und da schrieen
sie ihn an. Ganz Europa schrie: dieser Glaube war schlecht.

Damals verschwand der Papst. Tagelang ging keine Aktion von ihm aus,
er lag in seinem Betzimmer auf den Knieen und erforschte das Geheimnis
der Handelnden, die Schaden nehmen an ihrer Seele. Endlich erschien
er, erschöpft von der schweren Einkehr, und widerrief. Er widerrief
einmal über das andere. Es wurde die senile Leidenschaft seines
Geistes, zu widerrufen. Es konnte geschehen, daß er nachts die
Kardinäle wecken ließ, um mit ihnen von seiner Reue zu reden. Und
vielleicht war das, was sein Leben über die Maßen hinhielt,
schließlich nur die Hoffnung, sich auch noch vor Napoleon Orsini zu
demütigen, der ihn haßte und der nicht kommen wollte.

Jakob von Cahors hatte widerrufen. Und man könnte meinen, Gott selber
hätte seine Irrung erweisen wollen, da er so bald hernach jenen Sohn
des Grafen von Ligny aufkommen ließ, der seine Mündigkeit auf Erden
nur abzuwarten schien, um des Himmels seelische Sinnlichkeiten mannbar
anzutreten. Es lebten viele, die sich dieses klaren Knaben in seinem
Kardinalat erinnerten, und wie er am Eingang seiner Jünglingschaft
Bischof geworden und mit kaum achtzehn Jahren in einer Ekstase seiner
Vollendung gestorben war. Man begegnete Totgewesenen: denn die Luft
an seinem Grabe, in der, frei geworden, pures Leben lag, wirkte lange
noch auf die Leichname. Aber war nicht etwas Verzweifeltes selbst in
dieser frühreifen Heiligkeit? War es nicht ein Unrecht an allen, daß
das reine Gewebe dieser Seele nur eben durchgezogen worden war, als
handelte es sich nur darum, es in der garen Scharlachküpe der Zeit
leuchtend zu färben? Empfand man nicht etwas wie einen Gegenstoß, da
dieser junge Prinz von der Erde absprang in seine leidenschaftliche
Himmelfahrt? Warum verweilten die Leuchtenden nicht unter den
mühsamen Lichtziehern? War es nicht diese Finsternis, die Johann den
Zweiundzwanzigsten dahin gebracht hatte, zu behaupten, daß es vor dem
jüngsten Gericht keine ganze Seligkeit gäbe, nirgends, auch unter den
Seligen nicht? Und in der Tat, wieviel rechthaberische Verbissenheit
gehörte dazu, sich vorzustellen, daß, während hier so dichte Wirrsal
geschah, irgendwo Gesichter schon im Scheine Gottes lagen, an Engel
zurückgelehnt und gestillt durch die unausschöpfliche Aussicht auf ihn.


Da sitze ich in der kalten Nacht und schreibe und weiß das alles. Ich
weiß es vielleicht, weil mir jener Mann begegnet ist, damals als ich
klein war. Er war sehr groß, ich glaube sogar, daß er auffallen mußte
durch seine Größe.

So unwahrscheinlich es ist, es war mir irgendwie gelungen, gegen Abend
allein aus dem Haus zu kommen; ich lief, ich bog um eine Ecke, und in
demselben Augenblick stieß ich gegen ihn. Ich begreife nicht, wie das,
was jetzt geschah, sich in etwa fünf Sekunden abspielen konnte. So
dicht man es auch erzählt, es dauert viel länger. Ich hatte mir weh
getan im Anlauf an ihn; ich war klein, es schien mir schon viel, daß
ich nicht weinte, auch erwartete ich unwillkürlich, getröstet zu sein.
Da er das nicht tat, hielt ich ihn für verlegen; es fiel ihm,
vermutete ich, der richtige Scherz nicht ein, in dem diese Sache
aufzulösen war. Ich war schon vergnügt genug, ihm dabei zu helfen,
aber dazu war es nötig, ihm ins Gesicht zu sehen. Ich habe gesagt,
daß er groß war. Nun hatte er sich nicht, wie es doch natürlich
gewesen wäre, über mich gebeugt, so daß er sich in einer Höhe befand,
auf die ich nicht vorbereitet war. Immer noch war vor mir nichts als
der Geruch und die eigentümliche Härte seines Anzugs, die ich gefühlt
hatte. Plötzlich kam sein Gesicht. Wie es war? Ich weiß es nicht,
ich will es nicht wissen. Es war das Gesicht eines Feindes. Und
neben diesem Gesicht, dicht nebenan, in der Höhe der schrecklichen
Augen, stand, wie ein zweiter Kopf, seine Faust. Ehe ich noch Zeit
hatte, mein Gesicht wegzusenken, lief ich schon; ich wich links an ihm
vorbei und lief geradeaus eine leere, furchtbare Gasse hinunter, die
Gasse einer fremden Stadt, einer Stadt, in der nichts vergeben wird.

Damals erlebte ich, was ich jetzt begreife: jene schwere, massive,
verzweifelte Zeit. Die Zeit, in der der Kuß zweier, die sich
versöhnten, nur das Zeichen für die Mörder war, die herumstanden. Sie
tranken aus demselben Becher, sie bestiegen vor aller Augen das
gleiche Reitpferd, und es wurde verbreitet, daß sie die Nacht in einem
Bette schlafen würden: und über allen diesen Berührungen wurde ihr
Widerwillen aneinander so dringend, daß, sooft einer die schlagenden
Adern des andern sah, ein krankhafter Ekel ihn bäumte, wie beim
Anblick einer Kröte. Die Zeit, in der ein Bruder den Bruder um dessen
größeren Erbteils willen überfiel und gefangenhielt; zwar trat der
König für den Mißhandelten ein und erreichte ihm Freiheit und Eigentum;
in anderen, fernen Schicksalen beschäftigt, gestand ihm der Ältere
Ruhe zu und bereute in Briefen sein Unrecht. Aber über alledem kam
der Befreite nicht mehr zur Fassung. Das Jahrhundert zeigt ihn im
Pilgerkleid von Kirche zu Kirche ziehen, immer wunderlichere Gelübde
erfindend. Mit Amuletten behangen, flüstert er den Mönchen von
Saint-Denis seine Befürchtungen zu, und in ihren Registern stand lange
die hundertpfündige Wachskerze verzeichnet, die er für gut hielt, dem
heiligen Ludwig zu weihen. Zu seinem eigenen Leben kam es nicht; bis
an sein Ende fühlte er seines Bruders Neid und Zorn in verzerrter
Konstellation über seinem Herzen. Und jener Graf von Foix, Gaston
Phöbus, der in aller Bewunderung war, hatte er nicht seinen Vetter
Ernault, des englischen Königs Hauptmann zu Lourdes, offen getötet?
Und was war dieser deutliche Mord gegen den grauenvollen Zufall, daß
er das kleine scharfe Nagelmesser nicht fortgelegt hatte, als er mit
seiner berühmt schönen Hand in zuckendem Vorwurf den bloßen Hals
seines liegenden Sohnes streifte? Die Stube war dunkel, man mußte
leuchten, um das Blut zu sehen, das so weit herkam und nun für immer
ein köstliches Geschlecht verließ, da es heimlich aus der winzigen
Wunde dieses erschöpften Knaben austrat.

Wer konnte stark sein und sich des Mordes enthalten? Wer in dieser
Zeit wußte nicht, daß das Äußerste unvermeidlich war? Da und dort
über einen, dessen Blick untertags dem kostenden Blick seines Mörders
begegnet war, kam ein seltsames Vorgefühl. Er zog sich zurück, er
schloß sich ein, er schrieb das Ende seines Willens und verordnete zum
Schluß die Trage aus Weidengeflecht, die Cölestinerkutte und
Aschenstreu. Fremde Minstrel erschienen vor seinem Schloß, und er
beschenkte sie fürstlich für ihre Stimme, die mit seinen vagen
Ahnungen einig war. Im Aufblick der Hunde war Zweifel, und sie wurden
weniger sicher in ihrer Aufwartung. Aus der Devise, die das ganze
Leben lang gegolten hatte, trat leise ein neuer, offener Nebensinn.
Manche lange Gewohnheit kam einem veraltet vor, aber es war, als
bildete sich kein Ersatz mehr fur sie. Stellten sich Pläne ein, so
ging man im großen mit ihnen um, ohne wirklich an sie zu glauben;
dagegen griffen gewisse Erinnerungen zu einer unerwarteten
Endgültigkeit. Abends, am Feuerplatz, meinte man sich ihnen zu
überlassen. Aber die Nacht draußen, die man nicht mehr kannte, wurde
auf einmal ganz stark im Gehör. Das an so vielen freien oder
gefährlichen Nächten erfahrene Ohr unterschied einzelne Stücke der
Stille. Und doch war es anders diesmal. Nicht die Nacht zwischen
gestern und heute: eine Nacht. Nacht. Beau Sire Dieu, und dann die
Auferstehung. Kaum daß in solche Stunden die Berühmung um eine
Geliebte hineinreichte: sie waren alle verstellt in Tagliedern und
Diengedichten; unbegreiflich geworden unter langen nachschleppenden
Prunknamen. Höchstens, im Dunkel, wie das volle, frauige Aufschaun
eines Bastardsohns.

Und dann, vor dem späten Nachtessen diese Nachdenklichkeit über die
Hände in dem silbernen Waschbecken. Die eigenen Hände. Ob ein
Zusammenhang in das Ihre zu bringen war? Eine Folge, eine Fortsetzung
im Greifen und Lassen? Nein. Alle versuchten das Teil und das
Gegenteil. Alle hoben sich auf, Handlung war keine.

Es gab keine Handlung, außer bei den Missionsbrüdern. Der König, so
wie er sie hatte sich gebärden sehn, erfand selbst den Freibrief für
sie. Er redete sie seine lieben Brüder an; nie war ihm jemand so
nahegegangen. Es wurde ihnen wörtlich bewilligt, in ihrer Bedeutung
unter den Zeitlichen herumzugehen; denn der König wünschte nichts mehr,
als daß sie viele anstecken sollten und hineinreißen in ihre starke
Aktion, in der Ordnung war. Was ihn selbst betrifft, so sehnte er
sich, von ihnen zu lernen. Trug er nicht, ganz wie sie, die Zeichen
und Kleider eines Sinnes an sich? Wenn er ihnen zusah, so konnte er
glauben, dies müßte sich erlernen lassen: zu kommen und zu gehen,
auszusagen und sich abzubiegen, so daß kein Zweifel war. Ungeheuere
Hoffnungen überzogen sein Herz. In diesem unruhig beleuchteten,
merkwürdig unbestimmten Saal des Dreifaltigkeitshospitals saß er
täglich an seinem besten Platz und stand auf vor Erregung und nahm
sich zusammen wie ein Schüler. Andere weinten; er aber war innen voll
glänzender Tränen und preßte nur die kalten Hände ineinander, um es zu
ertragen. Manchmal im Äußersten, wenn ein abgesprochener Spieler
plötzlich wegtrat aus seinem großen Blick, hob er das Gesicht und
erschrak: seit wie lange schon war Er da: Monseigneur Sankt Michaël,
oben, vorgetreten an den Rand des Gerüsts in seiner spiegelnden
silbernen Rüstung.

In solchen Momenten richtete er sich auf. Er sah um sich wie vor
einer Entscheidung. Er war ganz nahe daran, das Gegenstück zu dieser
Handlung hier einzusehen: die große, bange, profane Passion, in der er
spielte. Aber auf einmal war es vorbei. Alle bewegten sich ohne Sinn.
Offene Fackeln kamen auf ihn zu, und in die Wölbung hinauf warfen
sich formlose Schatten. Menschen, die er nicht kannte, zerrten an ihm.
Er wollte spielen: aber aus seinem Mund kam nichts, seine Bewegungen
ergaben keine Gebärde. Sie drängten sich so eigentümlich um ihn, es
kam ihm die Idee, daß er das Kreuz tragen sollte. Und er wollte
warten, daß sie es brächten. Aber sie waren stärker, und sie schoben
ihn langsam hinaus.

Aussen ist vieles anders geworden. Ich weiß nicht wie. Aber innen
und vor Dir, mein Gott, innen vor Dir, Zuschauer: sind wir nicht ohne
Handlung? Wir entdecken wohl, daß wir die Rolle nicht wissen, wir
suchen einen Spiegel, wir möchten abschminken und das Falsche abnehmen
und wirklich sein. Aber irgendwo haftet uns noch ein Stück
Verkleidung an, das wir vergessen. Eine Spur Übertreibung bleibt in
unseren Augenbrauen, wir merken nicht, daß unsere Mundwinkel verbogen
sind. Und so gehen wir herum, ein Gespött und eine Hälfte: weder
Seiende, noch Schauspieler.

Das war im Theater zu Orange. Ohne recht aufzusehen, nur im
Bewußtsein des rustiken Bruchs, der jetzt seine Fassade ausmacht, war
ich durch die kleine Glastür des Wächters eingetreten. Ich befand
mich zwischen liegenden Säulenkörpern und kleinen Althaeabäumen, aber
sie verdeckten mir nur einen Augenblick die offene Muschel des
Zuschauerhangs, die dalag, geteilt von den Schatten des Nachmittags,
wie eine riesige konkave Sonnenuhr. Ich ging rasch auf sie zu. Ich
fühlte, zwischen den Sitzreihen aufsteigend, wie ich abnahm in dieser
Umgebung. Oben, etwas höher, standen, schlecht verteilt, ein paar
Fremde herum in müßiger Neugier; ihre Anzüge waren unangenehm deutlich,
aber ihr Maßstab war nicht der Rede wert. Eine Weile faßten sie mich
ins Auge und wunderten sich über meine Kleinheit. Das machte, daß ich
mich umdrehte.

Oh, ich war völlig unvorbereitet. Es wurde gespielt. Ein immenses,
ein übermenschliches Drama war im Gange, das Drama dieser gewaltigen
Szenenwand, deren senkrechte Gliederung dreifach auftrat, dröhnend vor
Größe, fast vernichtend und plötzlich maßvoll im Übermaß.

Ich ließ mich hin vor glücklicher Bestürzung. Dieses Ragende da mit
der antlitzhaften Ordnung seiner Schatten, mit dem gesammelten Dunkel
im Mund seiner Mitte, begrenzt, oben, von des Kranzgesimses
gleichlockiger Haartracht: dies war die starke, alles verstellende
antikische Maske, hinter der die Welt zum Gesicht zusammenschoß. Hier,
in diesem großen, eingebogenen Sitzkreis herrschte ein wartendes,
leeres, saugendes Dasein: alles Geschehen war drüben: Götter und
Schicksal. Und von drüben kam (wenn man hoch aufsah) leicht, über den
Wandgrat: der ewige Einzug der Himmel.

Diese Stunde, das begreife ich jetzt, schloß mich für immer aus von
unseren Theatern. Was soll ich dort? Was soll ich vor einer Szene,
in der diese Wand (die Ikonwand der russischen Kirchen) abgetragen
wurde, weil man nicht mehr die Kraft hat, durch ihre Härte die
Handlung durchzupressen, die gasförmige, die in vollen schweren
Öltropfen austritt. Nun fallen die Stücke in Brocken durch das
lochige Grobsieb der Bühnen und häufen sich an und werden weggeräumt,
wenn es genug ist. Es ist dieselbe ungare Wirklichkeit, die auf den
Straßen liegt und in den Häusern, nur daß mehr davon dort
zusammenkommt, als sonst in einen Abend geht.

(Laßt uns doch aufrichtig sein, wir haben kein Theater, so wenig wir
einen Gott haben: dazu gehört Gemeinsamkeit. Jeder hat seine
besonderen Einfälle und Befürchtungen, und er läßt den andern so viel
davon sehen, als ihm nützt und paßt. Wir verdünnen fortwährend unser
Verstehen, damit es reichen soll, statt zu schreien nach der Wand
einer gemeinsamen Not, hinter der das Unbegreifliche Zeit hat, sich zu
sammeln und anzuspannen.)

Hätten wir ein Theater, stündest du dann, du Tragische immer wieder so
schmal, so bar, so ohne Gestaltvorwand vor denen, die an deinem
ausgestellten Schmerz ihre eilige Neugier vergnügen? Du sahst,
unsäglich Rührende, das Wirklichsein deines Leidens voraus, in Verona
damals, als du, fast noch ein Kind, theaterspielend, lauter Rosen vor
dich hieltst wie eine maskige Vorderansicht, die dich gesteigert
verbergen sollte.

Es ist wahr, du warst ein Schauspielerkind, und wenn die Deinen
spielten, so wollten sie gesehen sein; aber du schlugst aus der Art.
Dir sollte dieser Beruf werden, was für Marianna Alcoforado, ohne daß
sie es ahnte, die Nonnenschaft war, eine Verkleidung, dicht und
dauernd genug, um hinter ihr rückhaltlos elend zu sein, mit der
Inständigkeit, mit der unsichtbare Selige selig sind. In allen
Städten, wohin du kamst, beschrieben sie deine Gebärde; aber sie
begriffen nicht, wie du, aussichtsloser von Tag zu Tag, immer wieder
eine Dichtung vor dich hobst, ob sie dich berge. Du hieltest dein
Haar, deine Hände, irgendein dichtes Ding vor die durchscheinenden
Stellen. Du hauchtest die an, die durchsichtig waren; du machtest
dich klein; du verstecktest dich, wie Kinder sich verstecken, und dann
hattest du jenen kurzen, glücklichen Auflaut, und höchstens ein Engel
hätte dich suchen dürfen. Aber, schautest du dann vorsichtig auf, so
war kein Zweifel, daß sie dich die ganze Zeit gesehen hatten, alle in
dem häßlichen, hohlen, äugigen Raum: dich, dich, dich und nichts
anderes.

Und es kam dich an, ihnen den Arm verkürzt entgegenzustrecken mit dem
Fingerzeichen gegen den bösen Blick. Es kam dich an, ihnen dein
Gesicht zu entreißen, an dem sie zehrten. Es kam dich an, du selber
zu sein. Deinen Mitspielern fiel der Mut; als hätte man sie mit einem
Pantherweibchen zusammengesperrt, krochen sie an den Kulissen entlang
und sprachen was fällig war, nur um dich nicht zu reizen. Da aber
zogst sie hervor und stelltest sie hin und gingst mit ihnen um wie mit
Wirklichen. Die schlappen Türen, die hingetäuschten Vorhänge, die
Gegenstände ohne Hinterseite drängten dich zum Widerspruch. Du
fühltest, wie dein Herz sich unaufhaltsam steigerte zu einer immensen
Wirklichkeit und, erschrocken, versuchtest du noch einmal die Blicke
von dir abzunehmen wie lange Fäden Altweibersommers--: Aber da brachen
sie schon in Beifall aus in ihrer Angst vor dem Äußersten: wie um im
letzten Moment etwas von sich abzuwenden, was sie zwingen würde, ihr
Leben zu ändern.

Schlecht leben die Geliebten und in Gefahr. Ach, daß sie sich
überstünden und Liebende würden. Um die Liebenden ist lauter
Sicherheit. Niemand verdächtigt sie mehr, und sie selbst sind nicht
imstande, sich zu verraten. In ihnen ist das Geheimnis heil geworden,
sie schreien es im Ganzen aus wie Nachtigallen, es hat keine Teile.
Sie klagen um einen; aber die ganze Natur stimmt in sie ein: es ist
die Klage um einen Ewigen. Sie stürzen sich dem Verlorenen nach, aber
schon mit den ersten Schritten überholen sie ihn, und vor ihnen ist
nur noch Gott. Ihre Legende ist die der Byblis, die den Kaunos
verfolgt bis nach Lykien hin. Ihres Herzens Andrang jagte sie durch
die Länder auf seiner Spur, und schließlich war sie am Ende der Kraft;
aber so stark war ihres Wesens Bewegtheit, daß sie, hinsinkend,
jenseits vom Tod als Quelle wiedererschien, eilend, als eilende Quelle.


Was ist anderes der Portugiesin geschehen: als daß sie innen zur
Quelle ward? Was dir, Heloïse? Was euch, Liebenden, deren Klagen auf
uns gekommen sind: Gaspara Stampa; Gräfin von Die und Clara d'Anduze;
Louise Labbé, Marceline Desbordes, Elisa Mercœur? Aber du, arme
flüchtige Aïssé, du zögertest schon und gabst nach. Müde Julie
Lespinasse. Trostlose Sage des glücklichen Parks: Marie-Anne de
Clermont.

Ich weiß noch genau, einmal, vorzeiten, zuhaus, fand ich ein
Schmucketui; es war zwei Hände groß, fächerförmig mit einem
eingepreßten Blumenrand im dunkelgrünen Saffian. Ich schlug es auf:
es war leer. Das kann ich nun sagen nach so langer Zeit. Aber damals,
da ich es geöffnet hatte, sah ich nur, woraus diese Leere bestand:
aus Samt, aus einem kleinen Hügel lichten, nicht mehr frischen Samtes;
aus der Schmuckrille, die, um eine Spur Wehmut heller, leer, darin
verlief. Einen Augenblick war das auszuhalten. Aber vor denen, die
als Geliebte zurückbleiben, ist es vielleicht immer so.

Blättert zurück in euren Tagebüchern. War da nicht immer um die
Frühlinge eine Zeit, da das ausbrechende Jahr euch wie ein Vorwurf
betraf? Es war Lust zum Frohsein in euch, und doch, wenn ihr
hinaustratet in das geräumige Freie, so entstand draußen eine
Befremdung in der Luft, und ihr wurdet unsicher im Weitergehen wie auf
einem Schiffe. Der Garten fing an; ihr aber (das war es), ihr
schlepptet Winter herein und voriges Jahr; für euch war es bestenfalls
eine Fortsetzung. Während ihr wartetet, daß eure Seele teilnähme,
empfandet ihr plötzlich eurer Glieder Gewicht, und etwas wie die
Möglichkeit, krank zu werden, drang in euer offenes Vorgefühl. Ihr
schobt es auf euer zu leichtes Kleid, ihr spanntet den Schal um die
Schultern, ihr lieft die Allee bis zum Schluß: und dann standet ihr,
herzklopfend, in dem weiten Rondell, entschlossen mit alledem einig zu
sein. Aber ein Vogel klang und war allein und verleugnete euch. Ach,
hättet ihr müssen gestorben sein?

Vielleicht. Vielleicht ist das neu, daß wir das überstehen: das Jahr
und die Liebe. Blüten und Früchte sind reif, wenn sie fallen; die
Tiere fühlen sich und finden sich zueinander und sind es zufrieden.
Wir aber, die wir uns Gott vorgenommen haben, wir können nicht fertig
werden. Wir rücken unsere Natur hinaus, wir brauchen noch Zeit. Was
ist uns ein Jahr? Was sind alle? Noch eh wir Gott angefangen haben,
beten wir schon zu ihm: laß uns die Nacht überstehen. Und dann das
Kranksein. Und dann die Liebe.

Daß Clémence de Bourges hat sterben müssen in ihrem Aufgang. Sie, die
ohne gleichen war; unter den Instrumenten, die sie wie keine zu
spielen verstand, das schönste, selber im mindesten Klang ihrer Stimme
unvergeßlich gespielt. Ihr Mädchentum war von so hoher
Entschlossenheit, daß eine flutende Liebende diesem aufkommenden
Herzen das Buch Sonette zueignen konnte, darin jeder Vers ungestillt
war. Louise Labbé fürchtete nicht, dieses Kind zu erschrecken mit der
Leidenslänge der Liebe. Sie zeigte ihr das nächtliche Steigen der
Sehnsucht; sie versprach ihr den Schmerz wie einen größeren Weltraum;
und sie ahnte, daß sie mit ihrem erfahrenen Weh hinter dem dunkel
erwarteten zurückblieb, von dem diese Jünglingin schön war.

Mädchen in meiner Heimat. Daß die schönste von euch im Sommer an
einem Nachmittag in der verdunkelten Bibliothek sich das kleine Buch
fände, das Jan des Tournes 1556 gedruckt hat. Daß sie den kühlenden,
glatten Band mitnähme hinaus in den summenden Obstgarten oder hinüber
zum Phlox, in dessen übersüßtem Duft ein Bodensatz schierer Süßigkeit
steht. Daß sie es früh fände. In den Tagen, da ihre Augen anfangen,
auf sich zu halten, während der jüngere Mund noch imstande ist, viel
zu große Stücke von einem Apfel abzubeißen und voll zu sein.

Und wenn dann die Zeit der bewegteren Freundschaften kommt, Mädchen,
daß es euer Geheimnis wäre, einander Dika zu rufen und Anaktoria,
Gyrinno und Atthis. Daß einer, ein Nachbar vielleicht, ein älterer
Mann, der in seiner Jugend gereist ist und längst als Sonderling gilt,
euch diese Namen verriete. Daß er euch manchmal zu sich einlüde, um
seiner berühmten Pfirsiche willen oder wegen der Ridingerstiche zur
Equitation oben im weißen Gang, von denen so viel gesprochen wird, daß
man sie müßte gesehen haben.

Vielleicht überredet ihr ihn zu erzählen. Vielleicht ist die unter
euch, die ihn erbitten kann, die alten Reisetagebücher hervorzuholen,
wer kann es wissen? Dieselbe, die es ihm eines Tags zu entlocken
versteht, daß einzelne Gedichtstellen der Sappho auf uns gekommen sind,
und die nicht ruht bis sie weiß, was fast ein Geheimnis ist: daß
dieser zurückgezogene Mann es liebte, zuzeiten seine Muße an die
Übertragung dieser Versstücke zu wenden. Er muß zugeben, daß er lange
nicht mehr daran gedacht hat, und was da ist, versichert er, sei nicht
der Rede wert. Aber nun freut es ihn doch, vor diesen arglosen
Freundinnen, wenn sie sehr drängen, eine Strophe zu sagen. Er
entdeckt sogar den griechischen Wortlaut in seinem Gedächtnis, er
spricht ihn vor, weil die Übersetzung nichts giebt, seiner Meinung
nach, und um dieser Jugend den schönen, echten Bruch der massiven
Schmucksprache zu zeigen, die in so starken Flammen gebogen ward.

Über dem allen erwärmt er sich wieder für seine Arbeit. Es kommen
schöne, fast jugendliche Abende für ihn, Herbstabende zum Beispiel,
die sehr viel stille Nacht vor sich haben. In seinem Kabinett ist
dann lange Licht. Er bleibt nicht immer über die Blätter gebeugt, er
lehnt sich oft zurück, er schließt die Augen über einer
wiedergelesenen Zeile, und ihr Sinn verteilt sich in seinem Blut. Nie
war er der Antike so gewiß. Fast möchte er der Generationen lächeln,
die sie beweint haben wie ein verlorenes Schauspiel, in dem sie gerne
aufgetreten wären. Nun begreift er momentan die dynamische Bedeutung
jener frühen Welteinheit, die etwas wie ein neues, gleichzeitiges
Aufnehmen aller menschlichen Arbeit war. Es beirrt ihn nicht, daß
jene konsequente Kultur mit ihren gewissermaßen vollzähligen
Versichtbarungen für viele spätere Blicke ein Ganzes zu bilden schien
und ein im Ganzen Vergangenes. Zwar ward dort wirklich des Lebens
himmlische Hälfte an die halbrunde Schale des Daseins gepaßt, wie zwei
volle Hemisphären zu einer heilen, goldenen Kugel zusammengehen. Doch
dies war kaum geschehen, so empfanden die in ihr eingeschlossenen
Geister diese restlose Verwirklichung nur noch als Gleichnis; das
massive Gestirn verlor an Gewicht und stieg auf in den Raum, und in
seiner goldenen Rundung spiegelte sich zurückhaltend die Traurigkeit
dessen, was noch nicht zu bewältigen war.

Wie er dies denkt, der Einsame in seiner Nacht, denkt und einsieht,
bemerkt er einen Teller mit Früchten auf der Fensterbank.
Unwillkürlich greift er einen Apfel heraus und legt ihn vor sich auf
den Tisch. Wie steht mein Leben herum um diese Frucht, denkt er. Um
alles Fertige steigt das Ungetane und steigert sich.

Und da, über dem Ungetanen, ersteht ihm, fast zu schnell, die kleine,
ins Unendliche hinaus gespannte Gestalt, die (nach Galiens Zeugnis)
alle meinten, wenn sie sagten: die Dichterin. Denn wie hinter den
Werken des Herakles Abbruch und Umbau der Welt verlangend aufstand, so
drängten sich, gelebt zu werden, aus den Vorräten des Seins an die
Taten ihres Herzens die Seligkeiten und Verzweiflungen heran, mit
denen die Zeiten auskommen müssen.

Er kennt auf einmal dieses entschlossene Herz, das bereit war, die
ganze Liebe zu leisten bis ans Ende. Es wundert ihn nicht, daß man es
verkannte; daß man in dieser überaus künftigen Liebenden nur das
Übermaß sah, nicht die neue Maßeinheit von Liebe und Herzleid. Daß
man die Inschrift ihres Daseins auslegte wie sie damals gerade
glaubhaft war, daß man ihr endlich den Tod derjenigen zuschrieb, die
der Gott einzeln anreizt, aus sich hinauszulieben ohne Erwiderung.
Vielleicht waren selbst unter den von ihr gebildeten Freundinnen
solche, die es nicht begriffen: daß sie auf der Höhe ihres Handelns
nicht um einen klagte, der ihre Umarmung offen ließ, sondern um den
nicht mehr Möglichen, der ihrer Liebe gewachsen war.

Hier steht der Sinnende auf und tritt an sein Fenster, sein hohes
Zimmer ist ihm zu nah, er möchte Sterne sehen, wenn es möglich ist.
Er täuscht sich nicht über sich selbst. Er weiß, daß diese Bewegung
ihn erfüllt, weil unter den jungen Mädchen aus der Nachbarschaft die
eine ist, die ihn angeht. Er hat Wünsche (nicht für sich, nein, aber
für sie); für sie versteht er in einer nächtlichen Stunde, die
vorübergeht, den Anspruch der Liebe. Er verspricht sich, ihr nichts
davon zu sagen. Es scheint ihm das Äußerste, allein zu sein und wach
und um ihretwillen zu denken, wie sehr im Recht jene Liebende war:
wenn sie wußte, daß mit der Vereinigung nichts gemeint sein kann, als
ein Zuwachs an Einsamkeit; wenn sie den zeitlichen Zweck des
Geschlechtes durchbrach mit seiner unendlichen Absicht. Wenn sie im
Dunkel der Umarmungen nicht nach Stillung grub, sondern nach Sehnsucht.
Wenn sie es verachtete, daß von Zweien einer der Liebende sei und
einer Geliebter, und die schwachen Geliebten, die sie sich zum Lager
trug, an sich zu Liebenden glühte, die sie verließen. An solchen
hohen Abschieden wurde ihr Herz zur Natur. Über dem Schicksal sang
sie den firnen Lieblinginnen ihr Brautlied; erhöhte ihnen die Hochzeit;
übertrieb ihnen den nahen Gemahl, damit sie sich zusammennähmen für
ihn wie für einen Gott und auch noch seine Herrlichkeit überstünden.

Einmal noch, Abelone, in den letzten Jahren fühlte ich und sah dich
ein, unerwartet, nachdem ich lange nicht an dich gedacht hatte.

Das war in Venedig, im Herbst, in einem jener Salons, in denen Fremde
sich vorübergehend um die Dame des Hauses versammeln, die fremd ist
wie sie. Diese Leute stehen herum mit ihrer Tasse Tee und sind
entzückt, sooft ein kundiger Nachbar sie kurz und verkappt nach der
Tür dreht, um ihnen einen Namen zuzuflüstern, der venezianisch klingt.
Sie sind auf die äußersten Namen gefaßt, nichts kann sie überraschen;
denn so sparsam sie sonst auch im Erleben sein mögen, in dieser Stadt
geben sie sich nonchalant den übertriebensten Möglichkeiten hin. In
ihrem gewöhnlichen Dasein verwechseln sie beständig das
Außerordentliche mit dem Verbotenen, so daß die Erwartung des
Wunderbaren, die sie sich nun gestatten, als ein grober,
ausschweifender Ausdruck in ihre Gesichter tritt. Was ihnen zu Hause
nur momentan in Konzerten passiert oder wenn sie mit einem Roman
allein sind, das tragen sie unter diesen schmeichelnden Verhältnissen
als berechtigten Zustand zur Schau. Wie sie, ganz unvorbereitet,
keine Gefahr begreifend, von den fast tödlichen Geständnissen der
Musik sich anreizen lassen wie von körperlichen Indiskretionen, so
überliefern sie sich, ohne die Existenz Venedigs im geringsten zu
bewältigen, der lohnenden Ohnmacht der Gondeln. Nicht mehr neue
Eheleute, die während der ganzen Reise nur gehässige Repliken für
einander hatten, versinken in schweigsame Verträglichkeit; über den
Mann kommt die angenehme Müdigkeit seiner Ideale, während sie sich
jung fühlt und den trägen Einheimischen aufmunternd zunickt mit einem
Lächeln, als hätte sie Zähne aus Zucker, die sich beständig auflösen.
Und hört man hin, so ergiebt es sich, daß sie morgen reisen oder
übermorgen oder Ende der Woche.

Da stand ich nun zwischen ihnen und freute mich, daß ich nicht reiste.
In kurzem würde es kalt sein. Das weiche, opiatische Venedig ihrer
Vorurteile und Bedürfnisse verschwindet mit diesen somnolenten
Ausländern, und eines Morgens ist das andere da, das wirkliche, wache,
bis zum Zerspringen spröde, durchaus nicht erträumte: das mitten im
Nichts auf versenkten Wäldern gewollte, erzwungene und endlich so
durch und durch vorhandene Venedig. Der abgehärtete, auf das Nötigste
beschränkte Körper, durch den das nachtwache Arsenal das Blut seiner
Arbeit trieb, und dieses Körpers penetranter, sich fortwährend
erweiternder Geist, der stärker war als der Duft aromatischer Länder.
Der suggestive Staat, der das Salz und Glas seiner Armut austauschte
gegen die Schätze der Völker. Das schöne Gegengewicht der Welt, das
bis in seine Zierate hinein voll latenter Energien steht, die sich
immer feiner vernervten--: dieses Venedig.

Das Bewußtsein, daß ich es kannte, überkam mich unter allen diesen
sich täuschenden Leuten mit so viel Widerspruch, daß ich aufsah, um
mich irgendwie mitzuteilen. War es denkbar, daß in diesen Sälen nicht
einer war, der unwillkürlich darauf wartete, über das Wesen dieser
Umgebung aufgeklärt zu sein? Ein junger Mensch, der es sofort begriff,
daß hier nicht ein Genuß aufgeschlagen war, sondern ein Beispiel des
Willens, wie es nirgends anfordernder und strenger sich finden ließ?
Ich ging umher, meine Wahrheit beunruhigte mich. Da sie mich hier
unter 50 vielen ergriffen hatte, brachte sie den Wunsch mit,
ausgesprochen, verteidigt, bewiesen zu sein. Die groteske Vorstellung
entstand in mir, wie ich im nächsten Augenblick in die Hände klatschen
würde aus Haß gegen das von allen zerredete Mißverständnis.

In dieser lächerlichen Stimmung bemerkte ich sie. Sie stand allein
vor einem strahlenden Fenster und betrachtete mich; nicht eigentlich
mit den Augen, die ernst und nachdenklich waren, sondern geradezu mit
dem Mund, der den offenbar bösen Ausdruck meines Gesichtes ironisch
nachahmte. Ich fühlte sofort die ungeduldige Spannung in meinen Zügen
und nahm ein gelassenes Gesicht an, worauf ihr Mund natürlich wurde
und hochmütig. Dann, nach kurzem Bedenken, lächelten wir einander
gleichzeitig zu.

Sie erinnerte, wenn man will, an ein gewisses Jugendbildnis der
schönen Benedicte von Qualen, die in Baggesens Leben eine Rolle spielt.
Man konnte die dunkle Stille ihrer Augen nicht sehen ohne die klare
Dunkelheit ihrer Stimme zu vermuten. Übrigens war die Flechtung ihres
Haars und der Halsausschnitt ihres hellen Kleides so kopenhagisch, daß
ich entschlossen war, sie dänisch anzureden.

Ich war aber noch nicht nahe genug, da schob sich von der andern Seite
eine Strömung zu ihr hin; unsere gästeglückliche Gräfin selbst, in
ihrer warmen, begeisterten Zerstreutheit, stürzte sich mit einer Menge
Beistand über sie, um sie auf der Stelle zum Singen abzuführen. Ich
war sicher, daß das junge Mädchen sich damit entschuldigen würde, daß
niemand in der Gesellschaft Interesse haben könne, dänisch singen zu
hören. Dies tat sie auch, sowie sie zu Worte kam. Das Gedränge um
die lichte Gestalt herum wurde eifriger; jemand wußte, daß sie auch
deutsch singe. "Und italienisch", ergänzte eine lachende Stimme mit
boshafter Überzeugung. Ich wußte keine Ausrede, die ich ihr hätte
wünschen können, aber ich zweifelte nicht, daß sie widerstehen würde.
Schon breitete sich eine trockene Gekränktheit über die vom langen
Lächeln abgespannten Gesichter der Überredenden aus, schon trat die
gute Gräfin, um sich nichts zu vergeben, mitleidig und würdig einen
Schritt ab, da, als es durchaus nicht mehr nötig war, gab sie nach.
Ich fühlte, wie ich blaß wurde vor Enttäuschung; mein Blick füllte
sich mit Vorwurf, aber ich wandte mich weg, es lohnte nicht, sie das
sehn zu lassen. Sie aber machte sich von den andern los und war auf
einmal neben mir. Ihr Kleid schien mich an, der blumige Geruch ihrer
Wärme stand um mich.

"Ich will wirklich singen", sagte sie auf dänisch meine Wange entlang,
"nicht weil sie's verlangen, nicht zum Schein: weil ich jetzt singen
muß." Aus ihren Worten brach dieselbe böse Unduldsamkeit, von welcher
sie mich eben befreit hatte.

Ich folgte langsam der Gruppe, mit der sie sich entfernte. Aber an
einer hohen Tür blieb ich zurück und ließ die Menschen sich
verschieben und ordnen. Ich lehnte mich an das schwarzspiegelnde
Türinnere und wartete. Jemand fragte mich, was sich vorbereite, ob
man singen werde. Ich gab vor, es nicht zu wissen. Während ich log,
sang sie schon.

Ich konnte sie nicht sehen. Es wurde allmählich Raum um eines jener
italienischen Lieder, die die Fremden für sehr echt halten, weil sie
von so deutlicher Übereinkunft sind. Sie, die es sang, glaubte nicht
daran. Sie hob es mit Mühe hinauf, sie nahm es viel zu schwer. An
dem Beifall vorne konnte man merken, wann es zu Ende war. Ich war
traurig und beschämt. Es entstand einige Bewegung, und ich nahm mir
vor, sowie jemand gehen würde, mich anzuschließen.

Aber da wurde es mit einemmal still. Eine Stille ergab sich, die eben
noch niemand für möglich gehalten hätte; sie dauerte an, sie spannte
sich, und jetzt erhob sich in ihr die Stimme. (Abelone, dachte ich.
Abelone.) Diesmal war sie stark, voll und doch nicht schwer; aus einem
Stück, ohne Bruch, ohne Naht. Es war ein unbekanntes deutsches Lied.
Sie sang es merkwürdig einfach, wie etwas Notwendiges. Sie sang:

"Du, der ichs nicht sage, daß ich bei Nacht
weinend liege,
deren Wesen mich müde macht
wie eine Wiege.
Du, die mir nicht sagt, wenn sie wacht
meinetwillen:
wie, wenn wir diese Pracht
ohne zu stillen
in uns ertrügen?
(kurze Pause und zögernd):
Sieh dir die Liebenden an,
wenn erst das Bekennen begann,
wie bald sie lügen."



Wieder die Stille. Gott weiß, wer sie machte. Dann rührten sich die
Leute, stießen aneinander, entschuldigten sich, hüstelten. Schon
wollten sie in ein allgemeines verwischendes Geräusch übergehen, da
brach plötzlich die Stimme aus, entschlossen, breit und gedrängt:

"Du machst mich allein. Dich einzig kann ich vertauschen. Eine Weile
bist dus, dann wieder ist es das Rauschen, oder es ist ein Duft ohne
Rest.

Ach, in den Armen hab ich sie alle verloren,
du nur, du wirst immer wieder geboren:
weil ich niemals dich anhielt, halt ich dich fest."


Niemand hatte es erwartet. Alle standen gleichsam geduckt unter
dieser Stimme. Und zum Schluß war eine solche Sicherheit in ihr, als
ob sie seit Jahren gewußt hätte, daß sie in diesem Augenblick würde
einzusetzen haben.

Manchmal früher fragte ich mich, warum Abelone die Kalorien ihres
großartigen Gefühls nicht an Gott wandte. Ich weiß, sie sehnte sich,
ihrer Liebe alles Transitive zu nehmen, aber konnte ihr wahrhaftiges
Herz sich darüber täuschen, daß Gott nur eine Richtung der Liebe ist,
kein Liebesgegenstand? Wußte sie nicht, daß keine Gegenliebe von ihm
zu fürchten war? Kannte sie nicht die Zurückhaltung dieses
überlegenen Geliebten, der die Lust ruhig hinausschiebt, um uns,
Langsame, unser ganzes Herz leisten zu lassen? Oder--wollte sie
Christus vermeiden? Fürchtete sie, halben Wegs von ihm aufgehalten,
an ihm zur Geliebten zu werden? Dachte sie deshalb ungern an Julie
Reventlow?

Fast glaube ich es, wenn ich bedenke, wie an dieser Erleichterung
Gottes eine so einfältige Liebende wie Mechthild, eine so hinreißende
wie Therese von Avila, eine so wunde wie die Selige Rose von Lima,
hinsinken konnte, nachgiebig, doch geliebt. Ach, der für die
Schwachen ein Helfer war) ist diesen Starken ein Unrecht; wo sie schon
nichts mehr erwarteten, als den unendlichen Weg, da tritt sie noch
einmal im spannenden Vorhimmel ein Gestalteter an und verwöhnt sie mit
Unterkunft und verwirrt sie mit Mannheit. Seines stark brechenden
Herzens Linse nimmt noch einmal ihre schon parallelen Herzstrahlen
zusamm, und sie, die die Engel schon ganz für Gott zu erhalten hofften,
flammen auf in der Dürre ihrer Sehnsucht.

(Geliebtsein heißt aufbrennen. Lieben ist: Leuchten mit
unerschöpflichem Öle. Geliebtwerden ist vergehen, Lieben ist dauern.)

Es ist gleichwohl möglich, daß Abelone in späteren Jahren versucht hat,
mit dem Herzen zu denken, um unauffällig und unmittelbar mit Gott in
Beziehung zu kommen. Ich könnte mir vorstellen, daß es Briefe von ihr
giebt, die an die aufmerksame innere Beschauung der Fürstin Amalie
Galitzin erinnern; aber wenn diese Briefe an jemanden gerichtet waren,
dem sie seit Jahren nahestand, wie mag der gelitten haben unter ihrer
Veränderung. Und sie selbst: ich vermute, sie fürchtete nichts als
jenes gespenstische Anderswerden, das man nicht merkt, weil man
beständig alle Beweise dafür, wie das Fremdeste, aus den Händen läßt.

Man wird mich schwer davon überzeugen, daß die Geschichte des
verlorenen Sohnes nicht die Legende dessen ist, der nicht geliebt
werden wollte. Da er ein Kind war, liebten ihn alle im Hause. Er
wuchs heran, er wußte es nicht anders und gewöhnte sich in ihre
Herzweiche, da er ein Kind war.

Aber als Knabe wollte er seine Gewohnheiten ablegen. Er hätte es
nicht sagen können, aber wenn er draußen herumstrich den ganzen Tag
und nicht einmal mehr die Hunde mithaben wollte, so wars, weil auch
sie ihn liebten: weil in ihren Blicken Beobachtung war und Teilnahme,
Erwartung und Besorgtheit; weil man auch vor ihnen nichts tun konnte,
ohne zu freuen oder zu kränken. Was er aber damals meinte, das war
die innige Indifferenz seines Herzens, die ihn manchmal früh in den
Feldern mit solcher Reinheit ergriff, daß er zu laufen begann, um
nicht Zeit und Atem zu haben, mehr zu sein als ein leichter Moment, in
dem der Morgen zum Bewußtsein kommt.

Das Geheimnis seines noch nie gewesenen Lebens breitete sich vor ihm
aus. Unwillkürlich verließ er den Fußpfad und lief weiter feldein,
die Arme ausgestreckt, als könnte er in dieser Breite mehrere
Richtungen auf einmal bewältigen. Und dann warf er sich irgendwo
hinter eine Flecke, und niemand legte Wert auf ihn. Er schälte sich
eine Flöte, er schleuderte einen Stein nach einem kleinen Raubtier, er
neigte sich vor und zwang einen Käfer umzukehren: dies alles wurde
kein Schicksal, und die Himmel gingen wie über Natur. Schließlich kam
der Nachmittag mit lauter Einfällen; man war ein Bucanier auf der
Insel Tortuga, und es lag keine Verpflichtung darin, es zu sein; man
belagerte Campêche, man eroberte Vera-Cruz; es war möglich, das ganze
Heer zu sein oder ein Anführer zu Pferd oder ein Schiff auf dem Meer:
je nachdem man sich fühlte. Fiel es einem aber ein, hinzuknien, so
war man rasch Deodat von Gozon und hatte den Drachen erlegt und
vernahm, ganz heiß, daß dieses Heldentum hoffährtig war, ohne Gehorsam.
Denn man ersparte sich nichts, was zur Sache gehörte. Soviel
Einbildungen sich aber auch einstellten, zwischendurch war immer noch
Zeit, nichts als ein Vogel zu sein, ungewiß welcher. Nur daß der
Heimweg dann kam.

Mein Gott, was war da alles abzulegen und zu vergessen; denn richtig
vergessen, das war nötig; sonst verriet man sich, wenn sie drängten.
Wie sehr man auch zögerte und sich umsah, schließlich kam doch der
Giebel herauf. Das erste Fenster oben faßte einen ins Auge, es mochte
wohl jemand dort stehen. Die Hunde, in denen die Erwartung den ganzen
Tag angewachsen war, preschten durch die Büsche und trieben einen
zusammen zu dem, den sie meinten. Und den Rest tat das Haus. Man
mußte nur eintreten in seinen vollen Geruch, schon war das Meiste
entschieden. Kleinigkeiten konnten sich noch ändern; im ganzen war
man schon der, für den sie einen hier hielten; der, dem sie aus seiner
kleinen Vergangenheit und ihren eigenen Wünschen längst ein Leben
gemacht hatten; das gemeinsame Wesen, das Tag und Nacht unter der
Suggestion ihrer Liebe stand, zwischen ihrer Hoffnung und ihrem
Argwohn, vor ihrem Tadel oder Beifall.

So einem nützt es nichts, mit unsäglicher Vorsicht die Treppen zu
steigen. Alle werden im Wohnzimmer sein, und die Türe muß nur gehn,
so sehen sie hin. Er bleibt im Dunkel, er will ihre Fragen abwarten.
Aber dann kommt das Ärgste. Sie nehmen ihn bei den Händen, sie ziehen
ihn an den Tisch, und alle, soviel ihrer da sind, strecken sich
neugierig vor die Lampe. Sie haben es gut, sie halten sich dunkel,
und auf ihn allein fällt, mit dem Licht, alle Schande, ein Gesicht zu
haben.

Wird er bleiben und das ungefähre Leben nachlügen, das sie ihm
zuschreiben, und ihnen allen mit dem ganzen Gesicht ähnlich werden?
Wird er sich teilen zwischen der zarten Wahrhaftigkeit seines Willens
und dem plumpen Betrug, der sie ihm selber verdirbt? Wird er es
aufgeben, das zu werden, was denen aus seiner Familie, die nur noch
ein schwaches Herz haben, schaden könnte?

Nein, er wird fortgehen. Zum Beispiel während sie alle beschäftigt
sind, ihm den Geburtstagstisch zu bestellen mit den schlecht erratenen
Gegenständen, die wieder einmal alles ausgleichen sollen. Fortgehen
für immer. Viel später erst wird ihm klar werden, wie sehr er sich
damals vornahm, niemals zu lieben, um keinen in die entsetzliche Lage
zu bringen, geliebt zu sein. Jahre hernach fällt es ihm ein und, wie
andere Vorsätze, so ist auch dieser unmöglich gewesen. Denn er hat
geliebt und wieder geliebt in seiner Einsamkeit; jedesmal mit
Verschwendung seiner ganzen Natur und unter unsäglicher Angst um die
Freiheit des andern. Langsam hat er gelernt, den geliebten Gegenstand
mit den Strahlen seines Gefühls zu durchscheinen, statt ihn darin zu
verzehren. Und er war verwöhnt von dem Entzücken, durch die immer
transparentere Gestalt der Geliebten die Weiten zu erkennen, die sie
seinem unendlichen Besitzenwollen auftat.

Wie konnte er dann nächtelang weinen vor Sehnsucht, selbst so
durchleuchtet zu sein. Aber eine Geliebte, die nachgiebt, ist noch
lang keine Liebende. O, trostlose Nächte, da er seine flutenden Gaben
in Stücken wiederempfing, schwer von Vergänglichkeit. Wie gedachte er
dann der Troubadours, die nichts mehr fürchteten als erhört zu sein.
Alles erworbene und vermehrte Geld gab er dafür hin, dies nicht noch
zu erfahren. Er kränkte sie mit seiner groben Bezahlung, von Tag zu
Tag bang, sie könnten versuchen, auf seine Liebe einzugehen. Denn er
hatte die Hoffnung nicht mehr, die Liebende zu erleben, die ihn
durchbrach.

Selbst in der Zeit, da die Armut ihn täglich mit neuen Härten
erschreckte, da sein Kopf das Lieblingsding des Elends war und ganz
abgegriffen, da sich überall an seinem Leibe Geschwüre aufschlugen wie


 


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