Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
by
Rainer Maria Rilke

Part 4 out of 4



Notaugen gegen die Schwärze der Heimsuchung, da ihm graute vor dem
Unrat, auf dem man ihn verlassen hatte, weil er seinesgleichen war:
selbst da noch, wenn er sich besann, war es sein größestes Entsetzen,
erwidert worden zu sein. Was waren alle Finsternisse seither gegen
die dichte Traurigkeit jener Umarmungen, in denen sich alles verlor.
Wachte man nicht auf mit dem Gefühl, ohne Zukunft zu sein? Ging man
nicht sinnlos umher ohne Anrecht auf alle Gefahr? Hatte man nicht
hundertmal versprechen müssen, nicht zu sterben? Vielleicht war es
der Eigensinn dieser argen Erinnerung, die sich von Wiederkunft zu
Wiederkunft eine Stelle erhalten wollte, was sein Leben unter den
Abfällen währen ließ. Schließlich fand man ihn wieder. Und erst dann,
erst in den Hirtenjahren, beruhigte sich seine viele Vergangenheit.

Wer beschreibt, was ihm damals geschah? Welcher Dichter hat die
Überredung, seiner damaligen Tage Länge zu vertragen mit der Kürze des
Lebens? Welche Kunst ist weit genug, zugleich seine schmale,
vermantelte Gestalt hervorzurufen und den ganzen Überraum seiner
riesigen Nächte.

Das war die Zeit, die damit begann, daß er sich allgemein und anonym
fühlte wie ein zögernd Genesender. Er liebte nicht, es sei denn, daß
er es liebte, zu sein. Die niedrige Liebe seiner Schafe lag ihm nicht
an; wie Licht, das durch Wolken fällt, zerstreute sie sich um ihn her
und schimmerte sanft über den Wiesen. Auf der schuldlosen Spur ihres
Hungers schritt er schweigend über die Weiden der Welt. Fremde sahen
ihn auf der Akropolis, und vielleicht war er lange einer der Hirten in
den Baux und sah die versteinerte Zeit das hohe Geschlecht überstehen,
das mit allem Erringen von Sieben und Drei die sechzehn Strahlen
seines Sterns nicht zu bezwingen vermochte. Oder soll ich ihn denken
zu Orange, an das ländliche Triumphtor geruht? Soll ich ihn sehen im
seelengewohnten Schatten der Allyscamps, wie sein Blick zwischen den
Gräbern, die offen sind wie die Gräber Auferstandener, eine Libelle
verfolgt?

Gleichviel. Ich seh mehr als ihn, ich sehe sein Dasein, das damals
die lange Liebe zu Gott begann, die stille, ziellose Arbeit. Denn
über ihn, der sich für immer hatte verhalten wollen, kam noch einmal
das anwachsende Nichtanderskönnen seines Herzens. Und diesmal hoffte
er auf Erhörung. Sein ganzes, im langen Alleinsein ahnend und
unbeirrbar gewordenes Wesen versprach ihm, daß jener, den er jetzt
meinte, zu lieben verstünde mit durchdringender, strahlender Liebe.
Aber während er sich sehnte, endlich so meisterhaft geliebt zu sein,
begriff sein an Fernen gewohntes Gefühl Gottes äußersten Abstand.
Nächte kamen, da er meinte, sich auf ihn zuzuwerfen in den Raum;
Stunden voller Entdeckung, in denen er sich stark genug fühlte, nach
der Erde zu tauchen, um sie hinaufzureißen auf der Sturmflut seines
Herzens. Er war wie einer, der eine herrliche Sprache hört und
fiebernd sich vornimmt, in ihr zu dichten. Noch stand ihm die
Bestürzung bevor, zu erfahren, wie schwer diese Sprache sei; er wollte
es nicht glauben zuerst, daß ein langes Leben darüber hingehen könne,
die ersten, kurzen Scheinsätze zu bilden, die ohne Sinn sind. Er
stürzte sich ins Erlernen wie ein Läufer in die Wette; aber die Dichte
dessen, was zu überwinden war, verlangsamte ihn. Es war nichts
auszudenken, was demütigender sein konnte als diese Anfängerschaft.
Er hatte den Stein der Weisen gefunden, und nun zwang man ihn, das
rasch gemachte Gold seines Glücks unaufhörlich zu verwandeln in das
klumpige Blei der Geduld. Er, der sich dem Raum angepaßt hatte, zog
wie ein Wurm krumme Gänge ohne Ausgang und Richtung. Nun, da er so
mühsam und kummervoll lieben lernte, wurde ihm gezeigt, wie nachlässig
und gering bisher alle Liebe gewesen war, die er zu leisten vermeinte.
Wie aus keiner etwas hatte werden können, weil er nicht begonnen
hatte, an ihr Arbeit zu tun und sie zu verwirklichen.

In diesen Jahren gingen in ihm die großen Veränderungen vor. Er
vergaß Gott beinah über der harten Arbeit, sich ihm zu nähern, und
alles, was er mit der Zeit vielleicht bei ihm zu erreichen hoffte, war
"sa patience de supporter une âme". Die Zufälle des Schicksals, auf
die die Menschen halten, waren schon längst von ihm abgefallen, aber
nun verlor, selbst was an Lust und Schmerz notwendig war, den
gewürzhaften Beigeschmack und wurde rein und nahrhaft für ihn. Aus
den Wurzeln seines Seins entwickelte sich die feste, überwinternde
Pflanze einer fruchtbaren Freudigkeit. Er ging ganz darin auf, zu
bewältigen, was sein Binnenleben ausmachte, er wollte nichts
überspringen, denn er zweifelte nicht, daß in alledem seine Liebe war
und zunahm. Ja, seine innere Fassung ging so weit, daß er beschloß,
das Wichtigste von dem, was er früher nicht hatte leisten können, was
einfach nur durchwartet worden war, nachzuholen. Er dachte vor allem
an die Kindheit, sie kam ihm, je ruhiger er sich besann, desto
ungetaner vor; alle ihre Erinnerungen hatten das Vage von Ahnungen an
sich, und daß sie als vergangen galten, machte sie nahezu zukünftig.
Dies alles noch einmal und nun wirklich auf sich zu nehmen, war der
Grund, weshalb der Entfremdete heimkehrte. Wir wissen nicht, ob er
blieb; wir wissen nur, daß er wiederkam.

Die die Geschichte erzählt haben, versuchen es an dieser Stelle, uns
an das Haus zu erinnern, wie es war; denn dort ist nur wenig Zeit
vergangen, ein wenig gezählter Zeit, alle im Haus können sagen,
wieviel. Die Hunde sind alt geworden, aber sie leben noch. Es wird
berichtet, daß einer aufheulte. Eine Unterbrechung geht durch das
ganze Tagwerk. Gesichter erscheinen an den Fenstern, gealterte und
erwachsene Gesichter von rührender Ähnlichkeit. Und in einem ganz
alten schlägt ganz plötzlich blaß das Erkennen durch. Das Erkennen?
Wirklich nur das Erkennen?--Das Verzeihen. Das Verzeihen wovon?--Die
Liebe. Mein Gott: die Liebe.

Er, der Erkannte, er hatte daran nicht mehr gedacht, beschäftigt wie
er war: daß sie noch sein könne. Es ist begreiflich, daß von allem,
was nun geschah, nur noch dies überliefert ward: seine Gebärde, die
unerhörte Gebärde, die man nie vorher gesehen hatte; die Gebärde des
Flehens, mit der er sich an ihre Füße warf, sie beschwörend, daß sie
nicht liebten. Erschrocken und schwankend hoben sie ihn zu sich
herauf. Sie legten sein Ungestüm nach ihrer Weise aus, indem sie
verziehen. Es muß für ihn unbeschreiblich befrei end gewesen sein,
daß ihn alle mißverstanden, trotz der verzweifelten Eindeutigkeit
seiner Haltung. Wahrscheinlich konnte er bleiben. Denn er erkannte
von Tag zu Tag mehr, daß die Liebe ihn nicht betraf, auf die sie so
eitel waren und zu der sie einander heimlich ermunterten. Fast mußte
er lächeln, wenn sie sich anstrengten, und es wurde klar, wie wenig
sie ihn meinen konnten.

Was wußten sie, wer er war. Er war jetzt furchtbar schwer zu lieben,
und er fühlte, daß nur Einer dazu imstande sei. Der aber wollte noch
nicht.




 


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