Die Wahlverwandtschaften
by
Johann Wolfgang von Goethe

Part 2 out of 7



Sie schien aufmerksam auf das Gespräch, ohne daß sie daran
teilgenommen hätte.

Den andern Morgen sagte Eduard zu Charlotten: "es ist ein angenehmes,
unterhaltendes Mädchen".

"Unterhaltend?" versetzte Charlotte mit Lächeln;" sie hat ja den Mund
noch nicht aufgetan".

"So?" erwiderte Eduard, indem er sich zu besinnen schien, "das wäre
doch wunderbar!" Charlotte gab dem neuen Ankömmling nur wenig Winke,
wie es mit dem Hausgeschäfte zu halten sei.

Ottilie hatte schnell die ganze Ordnung eingesehen, ja, was noch mehr
ist, empfunden.

Was sie für alle, für einen jeden insbesondre zu besorgen hatte,
begriff sie leicht.

Alles geschah pünktlich.

Sie wußte anzuordnen, ohne daß sie zu befehlen schien, und wo jemand
säumte, verrichtete sie das Geschäft gleich selbst.

Sobald sie gewahr wurde, wieviel Zeit ihr übrigblieb, bat sie
Charlotten, ihre Stunden einteilen zu dürfen, die nun genau beobachtet
wurden.

Sie arbeitete das Vorgesetzte auf eine Art, von der Charlotte durch
den Gehülfen unterrichtet war.

Man ließ sie gewähren.

Nur zuweilen suchte Charlotte sie anzuregen.

So schob sie ihr manchmal abgeschriebene Federn unter, um sie auf
einen freieren Zug der Handschrift zu leiten; aber auch diese waren
bald wieder scharf geschnitten.

Die Frauenzimmer hatten untereinander festgesetzt, französisch zu
reden, wenn sie allein wären, und Charlotte beharrte um so mehr dabei,
als Ottilie gesprächiger in der fremden Sprache war, indem man ihr die
übung derselben zur Pflicht gemacht hatte.

Hier sagte sie oft mehr, als sie zu wollen schien.

Besonders ergetzte sich Charlotte an einer zufälligen, zwar genauen,
aber doch liebevollen Schilderung der ganzen Pensionsanstalt.

Ottilie ward ihr eine liebe Gesellschafterin, und sie hoffte, dereinst
an ihr eine zuverlässige Freundin zu finden.

Charlotte nahm indes die älteren Papiere wieder vor, die sich auf
Ottilien bezogen, um sich in Erinnerung zu bringen, was die
Vorsteherin, was der Gehülfe über das gute Kind geurteilt, um es mit
ihrer Persönlichkeit selbst zu vergleichen.

Denn Charlotte war der Meinung, man könne nicht geschwind genug mit
dem Charakter der Menschen bekannt werden, mit denen man zu leben hat,
um zu wissen, was sich von ihnen erwarten, was sich an ihnen bilden
läßt, oder was man ihnen ein für allemal zugestehen und verzeihen muß.

Sie fand zwar bei dieser Untersuchung nichts Neues, aber manches
Bekannte ward ihr bedeutender und auffallender.

So konnte ihr zum Beispiel Ottiliens Mäßigkeit im Essen und Trinken
wirklich Sorge machen.

Das Nächste, was die Frauen beschäftigte, war der Anzug.

Charlotte verlangte von Ottilien, sie solle in Kleidern reicher und
mehr ausgesucht erscheinen.

Sogleich schnitt das gute, tätige Kind die ihr früher geschenkten
Stoffe selbst zu und wußte sie sich mit geringer Beihülfe anderer
schnell und höchst zierlich anzupassen.

Die neuen, modischen Gewänder erhöhten ihre Gestalt; denn indem das
Angenehme einer Person sich auch über ihre Hülle verbreitet, so glaubt
man sie immer wieder von neuem und anmutiger zu sehen, wenn sie ihre
Eigenschaften einer neuen Umgebung mitteilt.

Dadurch ward sie den Männern, wie von Anfang so immer mehr, daß wir es
nur mit dem rechten Namen nennen, ein wahrer Augentrost.

Denn wenn der Smaragd durch seine herrliche Farbe dem Gesicht wohltut,
ja sogar einige Heilkraft an diesem edlen Sinn ausübt, so wirkt die
menschliche Schönheit noch mit weit größerer Gewalt auf den äußern und
innern Sinn.

Wer sie erblickt, den kann nichts übles anwehen; er fühlt sich mit
sich selbst und mit der Welt in übereinstimmung.

Auf manche Weise hatte daher die Gesellschaft durch Ottiliens Ankunft
gewonnen.

Die beiden Freunde hielten regelmäßiger die Stunden, ja die Minuten
der Zusammenkünfte.

Sie ließen weder zum Essen, noch zum Tee, noch zum Spaziergang länger
als billig auf sich warten.

Sie eilten, besonders abends, nicht so bald von Tische weg. Charlotte
bemerkte das wohl und ließ beide nicht unbeobachtet. Sie suchte zu
erforschen, ob einer vor dem andern hiezu den Anlaß gäbe; aber sie
konnte keinen Unterschied bemerken.

Beide zeigten sich überhaupt geselliger.

Bei ihren Unterhaltungen schienen sie zu bedenken, was Ottiliens
Teilnahme zu erregen geeignet sein möchte, was ihren Einsichten, ihren
übrigen Kenntnissen gemäß wäre.

Beim Lesen und Erzählen hielten sie inne, bis sie wiederkam. Sie
wurden milder und im ganzen mitteilender.

In Erwiderung dagegen wuchs die Dienstbeflissenheit Ottiliens mit
jedem Tage.

Je mehr sie das Haus, die Menschen, die Verhältnisse kennenlernte,
desto lebhafter griff sie ein, desto schneller verstand sie jeden
Blicke, jede Bewegung, ein halbes Wort, einen Laut.




Ihre ruhige Aufmerksamkeit blieb sich immer gleich, so wie ihre
gelassene Regsamkeit.

Und so war ihr Sitzen, Aufstehen, Gehen, Kommen, Holen, Bringen,
Wiederniedersitzen ohne einen Schein von Unruhe, ein ewiger Wechsel,
eine ewige angenehme Bewegung.

Dazu kam, daß man sie nicht gehen hörte; so leise trat sie auf.

Diese anständige Dienstfertigkeit Ottiliens machte Charlotten viele
Freude.

Ein einziges, was ihr nicht ganz angemessen vorkam, verbarg sie
Ottilien nicht.

"Es gehört", sagte sie eines Tages zu ihr, "unter die lobenswürdigen
Aufmerksamkeiten, daß wir uns schnell bücken, wenn jemand etwas aus
der Hand fallen läßt, und es eilig aufzuheben suchen.

Wir bekennen uns dadurch ihm gleichsam dienstpflichtig; nur ist in der
größern Welt dabei zu bedenken, wenn man eine solche Ergebenheit
bezeigt.

Gegen Frauen will ich dir darüber keine Gesetze vorschreiben. Du bist
jung.

Gegen Höhere und ältere ist es Schuldigkeit, gegen deinesgleichen
Artigkeit, gegen Jüngere und Niedere zeigt man sich dadurch menschlich
und gut; nur will es einem Frauenzimmer nicht wohl geziemen, sich
Männern auf diese Weise ergeben und dienstbar zu bezeigen".

"Ich will es mir abzugewöhnen suchen", versetzte Ottilie.

"Indessen werden Sie mir diese Unschicklichkeit vergeben, wenn ich
Ihnen sage, wie ich dazu gekommen bin.

Man hat uns die Geschichte gelehrt; ich habe nicht soviel daraus
behalten, als ich wohl gesollt hätte; denn ich wußte nicht, wozu ichs
brauchen würde.

Nur einzelne Begebenheiten sind mir sehr eindrücklich gewesen, so
folgende: als Karl der Erste von England von seinen sogenannten
Richtern stand, fiel der goldne Knopf des Stöckchens, das er trug,
herunter.

Gewohnt, daß bei solchen Gelegenheiten sich alles für ihn bemühte,
schien er sich umzusehen und zu erwarten, daß ihm jemand auch diesmal
den kleinen Dienst erzeigen sollte.

Es regte sich niemand; er bückte sich selbst, um den Kopf aufzuheben.

Mir kam das so schmerzlich vor, ich weiß nicht, ob mit Recht, daß ich
von jenem Augenblick an niemanden kann etwas aus den Händen fallen
sehn, ohne mich darnach zu bücken.

Da es aber freilich nicht immer schicklich sein mag und ich", fuhr sie
lächelnd fort, "nicht jederzeit meine Geschichte erzählen kann, so
will ich mich künftig mehr zurückhalten".

Indessen hatten die guten Anstalten, zu denen sich die beiden Freunde
berufen fühlten, ununterbrochenen Fortgang.

Ja täglich fanden sie neuen Anlaß, etwas zu bedenken und zu
unternehmen.

Als sie eines Tages zusammen durch das Dorf gingen, bemerkten sie
mißfällig, wie weit es an Ordnung und Reinlichkeit hinter jenen
Dörfern zurückstehe, wo die Bewohner durch die Kostbarkeit des Raums
auf beides hingewiesen werden.

"Du erinnerst dich", sagte der Hauptmann, "wie wir auf unserer Reise
durch die Schweiz den Wunsch äußerten, eine ländliche sogenannte
Parkanlage recht eigentlich zu verschönern, indem wir ein so gelegnes
Dorf nicht zur Schweizer Bauart, sondern zur Schweizer Ordnung und
Sauberkeit, welche die Benutzung so sehr befördern, einrichteten".

"Hier zum Beispiel", versetzte Eduard, "ginge das wohl an.

Der Schloßberg verläuft sich in einen vorspringenden Winkel herunter;
das Dorf ist ziemlich regelmäßig im Halbzirkel gegenüber gebaut;
dazwischen fließt der Bach, gegen dessen Anschwellen sich der eine mit
Steinen, der andere mit Pfählen, wieder einer mit Balken und der
Nachbar sodann mit Planken verwahren will, keiner aber den andern
fördert, vielmehr sich und den übrigen Schaden und Nachteil bringt.

So geht der Weg auch in ungeschickter Bewegung bald herauf, bald herab,
bald durchs Wasser, bald über Steine.

Wollten die Leute mit Hand anlegen, so würde kein großer Zuschuß nötig
sein, um hier eine Mauer im Halbkreis aufzuführen, den Weg dahinter
bis an die Häuser zu erhöhen, den schönsten Raum herzustellen, der
Reinlichkeit Platz zu geben und durch eine ins Große gehende Anstalt
alle kleine, unzulängliche Sorge auf einmal zu verbannen".

"Laß es uns versuchen!" sagte der Hauptmann, indem er die Lage mit den
Augen überlief und schnell beurteilte.

"Ich mag mit Bürgern und Bauern nichts zu tun haben, wenn ich ihnen
nicht geradezu befehlen kann", versetzte Eduard.

"Du hast so unrecht nicht", erwiderte der Hauptmann; "denn auch mir
machten dergleichen Geschäfte im Leben schon viel Verdruß.

Wie schwer ist es, daß der Mensch recht abwäge, was man aufopfern muß
gegen das, was zu gewinnen ist, wie schwer, den Zweck zu wollen und
die Mittel nicht zu verschmähen!

Viele verwechseln gar die Mittel und den Zweck, erfreuen sich an jenen,
ohne diesen im Auge zu behalten.

Jedes übel soll an der Stelle geheilt werden, wo es zum Vorschein
kommt, und man bekümmert sich nicht um jenen Punkt, wo es eigentlich
seinen Ursprung nimmt, woher es wirkt.

Deswegen ist es so schwer, Rat zu pflegen, besonders mit der Menge,
die im Täglichen ganz verständig ist, aber selten weiter sieht als auf
morgen.

Kommt nun gar dazu, daß der eine bei einer gemeinsamen Anstalt
gewinnen, der andre verlieren soll, da ist mit Vergleich nun gar
nichts auszurichten.

Alles eigentlich gemeinsame Gute muß durch das unumschränkte
Mejestätsrecht gefördert werden".

Indem sie standen und sprachen, bettelte sie ein Mensch an, der mehr
frech als bedürftig aussah.

Eduard, ungern unterbrochen und beunruhigt, schalt ihn, nachdem er ihn
einigemal vergebens gelassener abgewiesen hatte.

Als aber der Kerl sich murrend, ja gegenscheltend mit kleinen
Schritten entfernte, auf die Rechte des Bettlers trotzte, dem man wohl
ein Almosen versagen, ihn aber nicht beleidigen dürfe, weil er so gut
wie jeder andere unter dem Schutze Gottes und der Obrigkeit stehe, kam
Eduard ganz aus der Fassung.

Der Hauptmann, ihn zu begütigen, sagte darauf: "laß uns diesen Vorfall
als eine Aufforderung annehmen, unsere ländliche Polizei auch hierüber
zu erstrecken!

Almosen muß man einmal geben; man tut aber besser, wenn man sie nicht
selbst gibt, besonders zu Hause.

Da sollte man mäßig und gleichförmig in allem sein, auch im Wohltun.

Eine allzu reichliche Gabe lockt Bettler herbei, anstatt sie
abzufertigen, dagegen man wohl auf der Reise, im Vorbeifliegen, einem
Armen an der Straße in der Gestalt des zufälligen Glücks erscheinen
und ihm eine überraschende Gabe zuwerfen mag.




Uns macht die Lage des Dorfes, des Schlosses eine solche Anstalt sehr
leicht; ich habe schon früher darüber nachgedacht.

An dem einen Ende des Dorfes liegt das Wirtshaus, an dem andern wohnen
ein Paar alte, gute Leute; an beiden Orten mußt du eine kleine
Geldsumme niederlegen.

Nicht der ins Dorf Hereingehende, sondern der Hinausgehende erhält
etwas; und da die beiden Häuser zugleich an den Wegen stehen, die auf
das Schloß führen, so wird auch alles, was sich hinaufwenden wollte,
an die beiden Stellen gewiesen".

"Komm", sagte Eduard, "wir wollen das gleich abmachen; das Genauere
können wir immer noch nachholen".

Sie gingen zum Wirt und zu dem alten Paare, und die Sache war abgetan.

"Ich weiß recht gut", sagte Eduard, indem sie zusammen den Schloßberg
wieder hinaufstiegen, "daß alles in der Welt ankommt auf einen
gescheiten Einfall und auf einen festen Entschluß.

So hast du die Parkanlagen meiner Frau sehr richtig beurteilt und mir
auch schon einen Wink zum Bessern gegeben, den ich ihr, wie ich gar
nicht leugnen will, sogleich mitgeteilt habe".

"Ich konnte es vermuten", versetzte der Hauptmann, "aber nicht
billigen.

Du hast sie irregemacht; sie läßt alles liegen und trutzt in dieser
einzigen Sache mit uns; denn sie vermeidet davon zu reden und hat uns
nicht wieder zur Mooshütte eingeladen, ob sie gleich mit Ottilien in
den Zwischenstunden hinaufgeht".

"Dadurch müssen wir uns", versetzte Eduard, "nicht abschrecken lassen.

Wenn ich von etwas Gutem überzeugt bin, was geschehen könnte und
sollte, so habe ich keine Ruhe, bis ich es getan sehe.

Sind wir doch sonst klug, etwas einzuleiten!

Laß uns die englischen Parkbeschreibungen mit Kupfern zur
Abendunterhaltung vornehmen, nachher deine Gutskarte!

Man muß es erst problematisch und nur wie zum Scherz behandeln; der
Ernst wird sich schon finden".

Nach dieser Verabredung wurden die Bücher aufgeschlagen, worin man
jedesmal den Grundriß der Gegend und ihre landschaftliche Ansicht in
ihrem ersten, rohen Naturzustande gezeichnet sah, sodann auf andern
Blättern die Veränderung vorgestellt fand, welche die Kunst daran
vorgenommen, um alles das bestehende Gute zu nutzen und zu steigern.

Hievon war der übergang zur eigenen Besitzung, zur eignen Umgebung und
zu dem, was man daran ausbilden könnte, sehr leicht.

Die von dem Hauptmann entworfene Karte zum Grunde zu legen, war
nunmehr eine angenehme Beschäftigung; nur konnte man sich von jener
ersten Vorstellung, nach der Charlotte die Sache einmal angefangen
hatte, nicht ganz losreißen.

Doch erfand man einen leichtern Aufgang auf die Höhe; man wollte
oberwärts am Abhange vor einem angenehmen Hölzchen ein Lustgebäude
aufführen; dieses sollte einen Bezug aufs Schloß haben; aus den
Schloßfenstern sollte man es übersehen, von dorther Schloß und Gärten
wieder bestreichen können.

Der Hauptmann hatte alles wohl überlegt und gemessen und brachte jenen
Dorfweg, jene Mauer am Bache her, jene Ausfüllung wieder zur Sprache.

"Ich gewinne", sagte er, "indem ich einen bequemen Weg zur Anhöhe
hinaufführe, gerade soviel Steine, als ich zu jener Mauer bedarf.
Sobald eins ins andre greift, wird beides wohlfeiler und geschwinder
bewerkstelligt".

"Nun aber", sagte Charlotte, "kommt meine Sorge.

Notwendig muß etwas Bestimmtes ausgesetzt werden; und wenn man weiß,
wieviel zu einer solchen Anlage erforderlich ist, dann teilt man es
ein, wo nicht auf Wochen, doch wenigstens auf Monate.

Die Kasse ist unter meinem Beschluß; ich zahle die Zettel, und die
Rechnung führe ich selbst".

"Du scheinst uns nicht sonderlich viel zu vertrauen", sagte Eduard.

"Nicht viel in willkürlichen Dingen", versetzte Charlotte. "Die
Willkür wissen wir besser zu beherrschen als ihr".

Die Einrichtung war gemacht, die Arbeit rasch angefangen, der
Hauptmann immer gegenwärtig und Charlotte nunmehr fast täglich Zeuge
seines ernsten und bestimmten Sinnes.

Auch er lernte sie näher kennen, und beiden wurde es leicht,
zusammenzuwirken und etwas zustande zu bringen.

Es ist mit den Geschäften wie mit dem Tanze: Personen, die gleichen
Schritt halten, müssen sich unentbehrlich werden, ein wechselseitiges
Wohlwollen muß notwendig daraus entspringen, und daß Charlotte dem
Hauptmann, seitdem sie ihn näher kennengelernt, wirklich wohlwollte,
davon war ein sicherer Beweis, daß sie ihn einen schönen Ruheplatz,
den sie bei ihren ersten Anlagen besonders ausgesucht und verziert
hatte, der aber seinem Plane entgegenstand, ganz gelassen zerstören
ließ, ohne auch nur die mindeste unangenehme Empfindung dabei zu haben.


Indem nun Charlotte mit dem Hauptmann eine gemeinsame Beschäftigung
fand, so war die Folge, daß sich Eduard mehr zu Ottilien gesellte.

Für sie sprach ohnehin seit einiger Zeit eine stille, freundliche
Neigung in seinem Herzen.

Gegen jedermann war sie dienstfertig und zuvorkommend; daß sie es
gegen ihn am meisten sei, das wollte seiner Selbstliebe scheinen.

Nun war keine Frage: was für Speisen und wie er sie liebte, hatte sie
schon genau bemerkt; wieviel er Zucker zum Tee zu nehmen pflegte und
was dergleichen mehr ist, entging ihr nicht.

Besonders war sie sorgfältig, alle Zugluft abzuwehren, gegen die er
eine übertriebene Empfindlichkeit zeigte und deshalb mit seiner Frau,
der es nicht luftig genug sein konnte, manchmal in Widerspruch geriet.

Ebenso wußte sie im Baum--und Blumengarten Bescheid.

Was er wünschte, suchte sie zu befördern, was ihn ungeduldig machen
konnte, zu verhüten, dergestalt daß sie in kurzem wie ein freundlicher
Schutzgeist ihm unentbehrlich ward und er anfing, ihre Abwesenheit
schon peinlich zu empfinden.

Hiezu kam noch, daß sie gesprächtiger und offener schien, sobald sie
sich allein trafen.

Eduard hatte bei zunehmenden Jahren immer etwas Kindliches behalten,
das der Jugend Ottiliens besonders zusagte.

Sie erinnerten sich gern früherer Zeiten, wo sie einander gesehen; es
stiegen diese Erinnerungen bis in die ersten Epochen der Neigung
Eduards zu Charlotten.

Ottilie wollte sich der beiden noch als des schönsten Hofpaares
erinnern; und wenn Eduard ihr ein solches Gedächtnis aus ganz früher
Jugend absprach, so behauptete sie doch, besonders einen Fall noch
vollkommen gegenwärtig zu haben, wie sie sich einmal bei seinem
Hereintreten in Charlottens Schoß versteckt, nicht aus Furcht, sondern
aus kindischer überraschung.

Sie hätte dazusetzen können: weil er so lebhaften Eindruck auf sie
gemacht, weil er ihr gar so wohl gefallen.




Bei solchen Verhältnissen waren manche Geschäfte, welche die beiden
Freunde zusammen früher vorgenommen, gewissermaßen in Stocken geraten,
sodaß sie für nötig fanden, sich wieder eine übersicht zu verschaffen,
einige Aufsätze zu entwerfen, Briefe zu schreiben.

Sie bestellten sich deshalb auf ihre Kanzlei, wo sie den alten
Kopisten müßig fanden.

Sie gingen an die Arbeit und gaben ihm bald zu tun, ohne zu bemerken,
daß sie ihm manches aufbürdeten, was sie sonst selbst zu verrichten
gewohnt waren.

Gleich der erste Aufsatz wollte dem Hauptmann, gleich der erste Brief
Eduarden nicht gelingen.

Sie quälten sich eine Zeitlang mit Konzipieren und Umschreiben, bis
endlich Eduard, dem es am wenigsten vonstatten ging, nach der Zeit
fragte.

Da zeigte sich denn, daß der Hauptmann vergessen hatte, seine
chronometrische Sekundenuhr aufzuziehen, das erstemal seit vielen
Jahren; und sie schienen, wo nicht zu empfinden, doch zu ahnen, daß
die Zeit anfange, ihnen gleichgültig zu werden.

Indem so die Männer einigermaßen in ihrer Geschäftigkeit nachließen,
wuchs vielmehr die Tätigkeit der Frauen.

überhaupt nimmt die gewöhnliche Lebensweise einer Familie, die aus den
gegebenen Personen und aus notwendigen Umständen entspringt, auch wohl
eine außerordentliche Neigung, eine werdende Leidenschaft in sich wie
ein Gefäß auf, und es kann eine ziemliche Zeit vergehen, ehe dieses
neue Ingrediens eine merkliche Gärung verursacht und schäumend über
den Rand schwillt.

Bei unsern Freunden waren die entstehenden wechselseitigen Neigungen
von der angenehmsten Wirkung.

Die Gemüter öffneten sich, und ein allgemeines Wohlwollen entsprang
aus dem besonderen.

Jeder Teil fühlte sich glücklich und gönnte dem andern sein Glück.

Ein solcher Zustand erhebt den Geist, indem er das Herz erweitert, und
alles, was man tut und vornimmt, hat eine Richtung gegen das
Unermeßliche.

So waren auch die Freunde nicht mehr in ihrer Wohnung befangen.

Ihre Spaziergänge dehnten sich weiter aus, und wenn dabei Eduard mit
Ottilien, die Pfade zu wählen, die Wege zu bahnen, vorauseilte, so
folgte der Hauptmann mit Charlotten in bedeutender Unterhaltung,
Teilnehmend an manchem neuentdeckten Plätzchen, an mancher
unerwarteten Aussicht, geruhig der Spur jener rascheren Vorgänger.

Eines Tages leitete sie ihr Spaziergang durch die Schloßpforte des
rechten Flügels hinunter nach dem Gasthofe, über die Brücke gegen die
Teiche zu, an denen sie hingingen, soweit man gewöhnlich das Wasser
verfolgte, dessen Ufer sodann, von einem buschigen Hügel und witerhin
von Felsen eingeschlossen, aufhörte, gangbar zu sein. Aber Eduard,
dem von seinen Jagdwanderungen her die Gegend bekannt war, drang mit
Ottilien auf einem bewachsenen Pfade weiter vor, wohl wissend, daß die
alte, zwischen Felsen versteckte Mühle nicht weit abliegen konnte.

Allein der wenig betretene Pfad verlor sich bald, und sie fanden sich
im dichten Gebüsch zwischen moosigen Gestein verirrt, doch nicht lange;
denn das Rauschen der Räder verkündigte ihnen sogleich die Nähe des
gesuchten Ortes.

Auf eine Klippe vorwärts tretend, sahen sie das alte, schwarze,
wunderliche Holzgebäude im Grunde vor sich, von steilen Felsen sowie
von hohen Bäumen umschattet.

Sie entschlossen sich kurz und gut, über Moos und Felstrümmer
hinabzusteigen, Eduard voran; und wenn er nun in die Höhe sah und
Ottilie leicht schreitend, ohne Furcht und ängstlichkeit, im schönsten
Gleichgewicht von Stein zu Stein ihm folgte, glaubte er ein
himmlisches Wesen zu sehen, das über ihm schwebte.

Und wenn sie nun manchmal an unsicherer Stelle seine ausgestreckte
Hand ergriff, ja sich auf seine Schulter stützte, dann konnte er sich
nicht verleugnen, daß es das zarteste weibliche Wesen sei, das ihn
berührte.

Fast hätte er gewünscht, sie möchte straucheln, gleiten, daß er sie in
seine Arme auffangen, sie an sein Herz drücken könnte.

Doch dies hätte er unter keiner Bedingung getan, aus mehr als einer
Ursache: er fürchtete sie zu beleidigen, sie zu beschädigen.

Wie dies gemeint sei, erfahren wir sogleich.

Denn als er nun herabgelangt, ihr unter den hohen Bäumen am ländlichen
Tische gegenübersaß, die freundliche Müllerin nach Milch, der
bewillkommende Müller Charlotten und dem Hauptmann entgegen gesandt
war, fing Eduard mit einigem Zaudern zu sprechen an: "ich habe eine
Bitte, liebe Ottilie; verzeihen Sie mir die, wenn Sie mir sie auch
versagen!

Sie machen kein Geheimnis daraus, und es braucht es auch nicht, daß
Sie unter Ihrem Gewand, auf Ihrer Brust ein Miniaturbild tragen.

Es ist das Bild Ihres Vaters, des braven Mannes, den Sie kaum gekannt
und der in jedem Sinne eine Stelle an Ihrem Herzen verdient.

Aber vergeben Sie mir: das Bild ist ungeschickt groß, und dieses
Metall, dieses Glas macht mir tausend ängste, wenn Sie ein Kind in die
Höhe heben, etwas vor sich hintragen, wenn die Kutsche schwankt, wenn
wir durchs Gebüsch dringen, eben jetzt, wie wir vom Felsen
herabstiegen.

Mir ist die Möglichkeit schrecklich, daß irgendein unvorgesehener Stoß,
ein Fall, eine Berührung Ihnen schädlich und verderblich sein könnte.

Tun Sie es mir zuliebe, entfernen Sie das Bild, nicht aus Ihrem
Andenken, nicht aus Ihrem Zimmer; ja geben Sie ihm den schönsten, den
heiligsten Ort Ihrer Wohnung; nur von Ihrer Brust entfernen Sie etwas,
dessen Nähe mir, vielleicht aus übertriebener ängstlichkeit, so
gefährlich scheint!" Ottilie schwieg und hatte, während er sprach,
vor sich hingesehen; dann, ohne übereilung und ohne Zaudern, mit einem
Blick mehr gen Himmel als auf Eduard gewendet, löste sie die Kette,
zog das Bild hervor, drückte es gegen ihre Stirn und reichte es dem
Freunde hin mit den Worten: "heben Sie mir es auf, bis wir nach Hause
kommen! Ich vermag Ihnen nicht besser zu bezeugen, wie sehr ich Ihre
freundliche Sorgfalt zu schätzen weiß".

Der Freund wagte nicht, das Bild an seine Lippen zu drücken, aber er
faßte ihre Hand und drückte sie an seine Augen.

Es waren vielleicht die zwei schönsten Hände, die sich jemals
zusammenschlossen.

Ihm war, als wenn ihm ein Stein vom Herzen gefallen wäre, als wenn
sich eine Scheidewand zwischen ihm und Ottilien niedergelegt hätte.

Vom Müller geführt, langten Charlotte und der Hauptmann auf einem
bequemeren Pfade herunter.

Man begrüßte sich, man erfreute und erquickte sich.

Zurück wollte man denselben Weg nicht kehren, und Eduard schlug einen
Felspfad auf der andern Seite des Baches vor, auf welchem die Teiche
wieder zu Gesicht kamen, indem man ihn mit einiger Anstrengung
zurücklegte.

Nun durchstrich man abwechselndes Gehölz und erblickte nach dem Lande
zu mancherlei Dörfer, Flecken, Meiereien mit ihren grünen und
fruchtbaren Umgebungen; zunächst ein Vorwerk, das an der Höhe mitten
im Holze gar vertraulich lag.




Am schönsten zeigte sich der größte Reichtum der Gegend, vor--und
rückwärts, auf der sanfterstiegenen Höhe, von da man zu einem lustigen
Wäldchen gelangte und beim Heraustreten aus demselben sich auf dem
Felsen dem Schlosse gegenüber befand.

Wie froh waren sie, als sie daselbst gewissermaßen unvermutet ankamen!

Sie hatten eine kleine Welt umgangen; sie standen auf dem Platze, wo
das neue Gebäude hinkommen sollte, und sahen wieder in die Fenster
ihrer Wohnung.

Man stieg zur Mooshütte hinunter und saß zum erstenmal darin zu vieren.


Nichts war natürlicher, als daß einstimmig der Wunsch ausgesprochen
wurde, dieser heutige Weg, den sie langsam und nicht ohne
Beschwerlichkeit gemacht, möchte dergestalt geführt und eingerichtet
werden, daß man ihn gesellig, schlendernd und mit Behaglichkeit
zurücklegen könnte.

Jedes tat Vorschläge, und man berechnete, daß der Weg, zu welchem sie
mehrere Stunden gebraucht hatten, wohlgebahnt in einer Stunde zum
Schloß zurückführen müßte.

Schon legte man in Gedanken unterhalb der Mühle, wo der Bach in die
Teiche fließt, eine wegverkürzende und die Landschaft zierende Brücke
an, als Charlotte der erfindenden Einbildungskraft einigen Stillstand
gebot, indem sie an die Kosten erinnerte, welche zu einem solchen
Unternehmen erforderlich sein würden.

"Hier ist auch zu helfen", versetzte Eduard.

"Jenes Vorwerk im Walde, das so schön zu liegen scheint und so wenig
einträgt, dürfen wir nur veräußern und das daraus Gelöste zu diesen
Anlagen verwenden, so genießen wir vergnüglich auf einem unschätzbaren
Spaziergange die Interessen eines wohlangelegten Kapitals, da wir
jetzt mit Mißmut, bei letzter Berechnung am Schlusse des Jahrs, eine
kümmerliche Einnahme davon ziehen".

Charlotte selbst konnte als gute Haushälterin nicht viel dagegen
erinnern.

Die Sache war schon früher zur Sprache gekommen.

Nun wollte der Hauptmann einen Plan zu Zerschlagung der Grundstücke
unter die Waldbauern machen; Eduard aber wollte kürzer und bequemer
verfahren wissen.

Der gegenwärtige Pachter, der schon Vorschläge getan hatte, sollte es
erhalten, terminweise zahlen, und so terminweise wollte man die
planmäßigen Anlagen von Strecke zu Strecke vornehmen.

So eine vernünftige, gemäßigte Einrichtung mußte durchaus Beifall
finden, und schon sah die ganze Gesellschaft im Geiste die neuen Wege
sich schlängeln, auf denen und in deren Nähe man noch die angenehmsten
Ruhe--und Aussichtsplätze zu entdecken hoffte.

Um sich alles mehr im einzelnen zu vergegenwärtigen, nahm man abends
zu Hause sogleich die neue Karte vor.

Man übersah den zurückgelegten Weg und wie er vielleicht an einigen
Stellen noch vorteilhafter zu führen wäre.

Alle früheren Vorsätze wurden nochmals durchgesprochen und mit den
neuesten Gedanken verbunden, der Platz des neuen Hauses gegen dem
Schloß über nochmals gebilligt und der Kreislauf der Wege bis dahin
abgeschlossen.

Ottilie hatte zu dem allen geschwiegen, als Eduard zuletzt den Plan,
der bisher vor Charlotten gelegen, vor sie hinwandte und sie zugleich
einlud, ihre Meinung zu sagen, und, als sie einen Augenblick anhielt,
sie liebevoll ermunterte, doch ja nicht zu schweigen; alles sei ja
noch gleichgültig, alles noch im Werden.

"Ich würde", sagte Ottilie, indem sie den Finger auf die höchste
Fläche der Anhöhe setzte, "das Haus hieher bauen.

Man sähe zwar das Schloß nicht, denn es wird von dem Wäldchen bedeckt;
aber man befände sich auch dafür wie in einer andern und neuen Welt,
indem zugleich das Dorf und alle Wohnungen verborgen wären.

Die Aussicht auf die Teiche, nach der Mühle, auf die Höhen, in die
Gebirge, nach dem Lande zu ist außerordentlich schön; ich habe es im
Vorbeigehen bemerkt".

"Sie hat recht!" rief Eduard.

"Wie konnte uns das nicht einfallen!

Nicht wahr, so ist es gemeint, Ottilie?"--er nahm einen Bleistift und
strich ein längliches Viereck recht stark und derb auf die Anhöhe.

Dem Hauptmann fuhr das durch die Seele, denn er sah einen sorgfältigen,
reinlich gezeichneten Plan ungern auf diese Weise verunstaltet; doch
faßte er sich nach einer leisen Mißbilligung und ging auf den Gedanken
ein.

"Ottilie hat recht", sagte er; "macht man nicht gern eine entfernte
Spazierfahrt, um einen Kaffee zu trinken, einen Fisch zu genießen, der
uns zu Hause nicht so gut geschmeckt hätte?

Wir verlangen Abwechselung und fremde Gegenstände.

Das Schloß haben die Alten mit Vernunft hieher gebaut, denn es liegt
geschützt vor den Winden und nah an allen täglichen Bedürfnissen; ein
Gebäude hingegen, mehr zum geselligen Aufenthalt als zur Wohnung, wird
sich dorthin recht wohl schicken und in der guten Jahrszeit die
angenehmsten Stunden gewähren".

Je mehr man die Sache durchsprach, desto günstiger erschien sie, und
Eduard konnte seinen Triumph nicht bergen, daß Ottilie den Gedanken
gehabt.

Er war so stolz darauf, als ob die Erfindung sein gewesen wäre.

Der Hauptmann untersuchte gleich am frühsten Morgen den Platz, entwarf
erst einen flüchtigen und, als die Gesellschaft an Ort und Stelle sich
nochmals entschieden hatte, einen genauen Riß nebst Anschlag und allem
Erforderlichen.

Es fehlte nicht an der nötigen Vorbereitung.

Jenes Geschäft wegen Verkauf des Vorwerks ward auch sogleich wieder
angegriffen.

Die Männer fanden zusammen neuen Anlaß zur Tätigkeit.

Der Hauptmann machte Eduarden bemerklich, daß es eine Artigkeit, ja
wohl gar eine Schuldigkeit sei, Charlottens Geburtstag durch Legung
des Grundsteins zu feiern.

Es bedurfte nicht viel, die alte Abneigung Eduards gegen solche Feste
zu überwinden; denn es kam ihm schnell in den Sinn, Ottiliens
Geburtstag, der später fiel, gleichfalls recht feierlich zu begehen.

Charlotte, der die neuen Anlagen, und was deshalb geschehen sollte,
bedeutend, ernstlich, ja fast bedenklich vorkamen, beschäftigte sich
damit, die Anschläge, Zeit--und Geldeinteilungen nochmals für sich
durchzugehen.

Man sah sich des Tages weniger, und mit desto mehr Verlangen suchte
man sich des Abends auf.

Ottilie war indessen schon völlig Herrin des Haushaltes, und wie
konnte es anders sein bei ihrem stillen und sichern Betragen.




Auch war ihre ganze Sinnesweise dem Hause und dem Häuslichen mehr als
der Welt, mehr als dem Leben im Freien zugewendet.

Eduard bemerkte bald, daß sie eigentlich nur aus Gefälligkeit in die
Gegend mitging, daß sie nur aus geselliger Pflicht abends länger
draußen verweilte, auch wohl manchmal einen Vorwand häuslicher
Tätigkeit suchte, um wieder hineinzugehen.

Sehr bald wußte er daher die gemeinschaftlichen Wanderungen so
einzurichten, daß man vor Sonnenuntergang wieder zu Hause war, und
fing an, was er lange unterlassen hatte, Gedichte vorzulesen, solche
besonders, in deren Vortrag der Ausdruck einer reinen, doch
leidenschaftlichen Liebe zu legen war.

Gewöhnlich saßen sie abends um einen kleinen Tisch auf hergebrachten
Plätzen: Charlotte auf dem Sofa, Ottilie auf einem Sessel gegen ihr
über, und die Männer nahmen die beiden andern Seiten ein.

Ottilie saß zu Eduarden zur Rechten, wohin er auch das Licht schob,
wenn er las.

Alsdann auch sie traute ihren eigenen Augen mehr als fremden Lippen;
und Eduard gleichfalls rückte zu, um es ihr auf alle Weise bequem zu
machen, ja er hielt oft längere Pausen als nötig, damit er nur nicht
eher umwendete, bis auch sie zu Ende der Seite gekommen.

Charlotte und der Hauptmann bemerkten es wohl und sahen manchmal
einander lächelnd an; doch wurden beide von einem andern Zeichen
überrascht, in welchem sich Ottiliens stille Neigung gelegentlich
offenbarte.

An einem Abende, welcher der kleinen Gesellschaft durch einen lästigen
Besuch zum Teil verloren gegangen, tat Eduard den Vorschlag, noch
beisammen zu bleiben.

Er fühlte sich aufgelegt, seine Flöte vorzunehmen, welche lange nicht
an die Tagesordnung gekommen war.

Charlotte suchte nach den Sonaten, die sie zusammen gewöhnlich
auszuführen pflegten, und da sie nicht zu finden waren, gestand
Ottilie nach einigem Zaudern, daß sie solche mit auf ihr Zimmer
genommen.

"Und Sie können, Sie wollen mich auf dem Flügel begleiten?" rief
Eduard, dem die Augen vor Freude glänzten.

"Ich glaube wohl", versetzte Ottilie, "daß es gehen wird".

Sie brachte die Noten herbei und setzte sich ans Klavier.

Die Zuhörenden waren aufmerksam und überrascht, wie vollkommen Ottilie
das Musikstück für sich selbst eingelernt hatte, aber noch mehr
überrascht, wie sie es der Spielart Eduards anzupassen wußte.

'Anzupassen wußte' ist nicht der rechte Ausdruck; denn wenn es von
Charlottens Geschicklichkeit und freiem Willen abhing, ihrem bald
zögernden, bald voreilenden Gatten zuliebe hier anzuhalten, dort
mitzugehen, so schien Ottilie, welche die Sonate von jenen enigemal
spielen sie gehört, nur in dem Sinne eingelernt zu haben, wie jener
sie begleitete.

Sie hatte seine Mängel so zu den ihrigen gemacht, daß daraus wieder
eine Art von lebendigem Ganzen entsprang, das sich zwar nicht
taktgemäß bewegte, aber doch höchst angenehm und gefällig lautete.

Der Komponist selbst hätte seine Freude daran gehabt, sein Werk auf
eine so liebevolle Weise entstellt zu sehen.

Auch diesem wundersamen, unerwarteten Begegnis sahen der Hauptmann und
Charlotte stillschweigend mit einer Empfindung zu, wie man oft
kindische Handlungen betrachtet, die man wegen ihrer besorglichen
Folgen gerade nicht billigt und doch nicht schelten kann, ja
vielleicht beneiden muß.

Denn eigentlich war die Neigung dieser beiden ebensogut im Wachsen als
jene, und vielleicht nur noch gefährlicher dadurch, daß beide ernster,
sicherer von sich selbst, sich zu halten fähiger waren.

Schon fing der Hauptmann an zu fühlen, daß eine unwiderstehliche
Gewohnheit ihn an Charlotten zu fesseln drohte.

Er gewann es über sich, den Stunden auszuweichen, in denen Charlotte
nach der Anlagen zu kommen pflegte, indem er schon am frühsten Morgen
aufstand, alles anordnete und sich dann zur Arbeit auf seinen Flügel
ins Schloß zurückzog.

Die ersten Tage hielt es Charlotte für zufällig; sie suchte ihn an
allen wahrscheinlichen Stellen; dann glaubte sie ihn zu verstehen und
achtete ihn nur um desto mehr.

Vermied nun der Hauptmann, mit Charlotten allein zu sein, so war er
desto emsiger, zur glänzenden Feier des herannahenden Geburtsfestes
die Anlagen zu betreiben und zu beschleunigen; denn indem er von unten
hinauf, hinter dem Dorfe her, den bequemen Weg führte, so ließ er,
vorgeblich um Steine zu brechen, auch von oben herunter arbeiten und
hatte alles so eingerichtet und berechnet, daß erst in der letzten
Nacht die beiden Teile des Weges sich begegnen sollten.

Zum neuen Hause oben war auch schon der Keller mehr gebrochen als
gegraben und ein schöner Grundstein mit Fächern und Deckplatten
zugehauen.

Die äußere Tätigkeit, diese kleinen, freundlichen, geheimnisvollen
Absichten bei innern, mehr oder weniger zurückgedrängten Empfindungen
ließen die Unterhaltung der Gesellschaft, wenn sie beisammen war,
nicht lebhaft werden, dergestalt daß Eduard, der etwas Lückenhaftes
empfand, den Hauptmann eines Abends aufrief, seine Violine
hervorzunehmen und Charlotten bei dem Klavier zu begleiten.

Der Hauptmann konnte dem allgemeinen Verlangen nicht widerstehen, und
so führten beide mit Empfindung, Behagen und Freiheit eins der
schwersten Musikstücke zusammen auf, daß es ihnen und dem zuhörenden
Paar zum größten Vergnügen gereichte.

Man versprach sich öftere Wiederholung und mehrere Zusammenübung.

"Sie machen es besser als wir, Ottilie!" sagte Eduard.

"Wir wollen sie bewundern, aber uns doch zusammen freuen".

Der Geburtstag war herbeigekommen und alles fertig geworden: die ganze
Mauer, die den Dorfweg gegen das Wasser zu einfaßte und erhöhte,
ebenso der Weg an der Kirche vorbei, wo er eine Zeitlang in dem von
Charlotten angelegten Pfade fortlief, sich dann die Felsen hinaufwärts
schlang, die Mooshütte links über sich, dann nach einer völligen
Wendung links unter sich ließ und so allmählich auf die Höhe gelangte.

Es hatte sich diesen Tag viel Gesellschaft eingefunden.

Man ging zur Kirche, wo man die Gemeinde im festlichen Schmuck
versammelt antraf.

Nach dem Gottesdienste zogen die Knaben, Jünglinge und Männer, wie es
angeordnet war, voraus; dann kam die Herrschaft mit ihrem Besuch und
Gefolge; Mädchen, Jungfrauen und Frauen machten den Beschluß.

Bei der Wendung des Weges war ein erhöhter Felsenplatz eingerichtet;
dort ließ der Hauptmann Charlotten und die Gäste ausruhen.

Hier übersahen sie den ganzen Weg, die hinaufgeschrittene Männrschar,
die nachwandelnden Frauen, welche nun vorbeizogen.

Es war bei dem herrlichen Wetter ein wunderschöner Anblick.

Charlotte fühlte sich überrascht, gerührt und drückte dem Hauptmann
herzlich die Hand.

Man folgte der sachte fortschreitenden Menge, die nun schon einen
Kreis um den künftigen Hausraum gebildet hatte.




Der Bauherr, die Seinigen und die vornehmsten Gäste wurden eingeladen,
in die Tiefe hinabzusteigen, wo der Grundstein, an einer Seite
unterstützt, eben zum Niederlassen bereit lag.

Ein wohlgeputzter Maurer, die Kelle in der einen, den Hammer in der
andern Hand, hielt in Reimen eine anmutige Rede, die wir in Prosa nur
unvollkommen wiedergeben können.

"Drei Dinge", fing er an, "sind bei einem Gebäude zu beachten: daß es
am rechten Fleck stehe, daß es wohl gegründet, daß es vollkommen
ausgeführt sei.

Das erste ist eigentlich die Sache des Bauherrn; denn wie in der Stadt
nur der Fürst und die Gemeine bestimmen können, wohin gebaut werden
soll, so ist es auf dem Lande das Vorrecht des Grundherrn, daß er sage:
hier soll meine Wohnung stehen und nirgends anders".

Eduard und Ottilie wagten nicht, bei diesen Worten einander anzusehen,
ob sie gleich nahe gegen einander über standen.

"Das dritte, die Vollendung, ist die Sorge gar vieler Gewerke; ja
wenige sind, die nicht dabei beschäftigt wären.

Aber das zweite, die Gründung, ist des Maurers Angelengenheit und, daß
wir es nur heraussagen, die Hauptangelegenheit des ganzen Unternehmens.


Es ist ein ernstes Geschäft, und unsre Einladung ist ernsthaft; denn
diese Feierlichkeit wird in der Tiefe begangen.

Hier innerhalb dieses engen, ausgegrabenen Raums erweisen Sie uns die
Ehre, als Zeugen unseres geheimnisvollen Geschäftes zu erscheinen.

Gleich werden wir diesen wohlzugehauenen Stein niederlegen, und bald
werden diese mit schönen und würdigen Personen gezierten Erdwände
nicht mehr zugänglich, sie werden ausgefüllt sein.

Diesen Grundstein, der mit seiner Ecke die rechte Ecke des Gebäudes,
mit seiner Rechtwinkligkeit die Regelmäßigkeit desselben, mit seiner
wasser--und senkrechten Lage Lot und Waage aller Mauern und Wände
bezeichnet, könnten wir ohne weiteres niederlegen; denn er ruhte wohl
auf seiner eignen Schwere.

Aber auch hier soll es am Kalk, am Bindungsmittel nicht fehlen; denn
so wie Menschen, die einander von Natur geneigt sind, noch besser
zusammenhalten, wenn das Gesetz sie verkittet, so werden auch Steine,
deren Form schon zusammenpaßt, noch besser durch diese bindenden
Kräfte vereinigt; und da es sich nicht ziemen will, unter den Tätigen
müßig zu sein, so werden Sie nicht verschmähen, auch hier Mitarbeiter
zu werden".

Er überreichte hierauf seine Kelle Charlotten, welche damit Kalk unter
den Stein warf.

Mehreren wurde ein Gleiches zu tun angesonnen und der Stein alsobald
niedergesenkt, worauf denn Charlotten und den übrigen sogleich der
Hammer gereicht wurde, um durch ein dreimaliges Pochen die Verbindung
des Steins mit dem Grunde ausdrücklich zu segnen.

"Des Maurers Arbeit", fuhr der Redner fort, "zwar jetzt unter freiem
Himmel, geschieht, wo nicht immer im Verborgnen, doch zum Verborgnen.

Der regelmäßig aufgeführte Grund wird verschüttet, und sogar bei den
Mauern, die wir am Tage aufführen, ist man unser am Ende kaum
eingedenk.

Die Arbeiten des Steinmetzen und Bildhauers fallen mehr in die Augen,
und wir müssen es sogar noch gutheißen, wenn der Tüncher die Spur
unserer Hände völlig auslöscht und sich unser Werk zueignet, indem er
es überzieht, glättet und färbt.

Wem muß also mehr daran gelegen sein, das, was er tut, sich selbst
recht zu machen, indem er es recht macht, als dem Maurer?

Wer hat mehr als er das Selbstbewußtsein zu nähren Ursach?

Wenn das Haus aufgeführt, der Boden geplattet und gepflastert, die
Außenseite mit Zieraten überdeckt ist, so sieht er durch alle Hüllen
immer noch hinein und erkennt noch jene regelmäßigen, sorgfältigen
Fugen, denen das Ganze sein Dasein und seinen Halt zu danken hat.

Aber wie jeder, der eine übeltat begangen, fürchten muß, daß,
ungeachtet alles Abwehrens, sie dennoch ans Licht kommen werde, so muß
derjenige erwarten, der insgeheim das Gute getan, daß auch dieses
wider seinen Willen an den Tag komme.

Deswegen machen wir diesen Grundstein zugleich zum Denkstein. Hier in
diese unterschiedlichen gehauenen Vertiefungen soll verschiedenes
eingesenkt werden zum Zeugnis für eine entfernte Nachwelt.

Diese metallnen zugelöteten Köcher enthalten schriftliche Nachrichten;
auf diese Metallplatten ist allerlei Merkwürdiges eingegraben; in
diesen schönen gläsernen Flaschen versenken wir den besten Wein, mit
Bezeichnung seines Geburtsjahrs; es fehlt nicht an Münzen
verschiedener Art, in diesem Jahre geprägt: alles dieses erhielten wir
durch die Freigebigkeit unseres Bauherrn.

Auch ist hier noch mancher Platz, wenn irgendein Gast und Zuschauer
etwas der Nachwelt zu übergeben Belieben trüge".

Nach einer kleinen Pause sah der Geselle sich um; aber wie es in
solchen Fällen zu gehen pflegt: niemand war vorbereitet, jedermann
überrascht, bis endlich ein junger, munterer Offizier anfing und sagte:
"wenn ich etwas beitragen soll, das in dieser Schatzkammer noch nicht
niedergelegt ist, so muß ich ein paar Knöpfe von der Uniform schneiden,
die doch wohl auch verdienen, auf die Nachwelt zu kommen".

Gesagt, getan!

Und nun hatte mancher einen ähnlichen Einfall.

Die Frauenzimmer säumten nicht, von ihren kleinen Haarkämmen
hineinzulegen; Riechenfläschchen und andre Zierden wurden nicht
geschont; nur Ottilie zauderte, bis Eduard sie durch ein freundliches
Wort aus der Betrachtung aller der beigesteuerten und eingelegten
Dinge herausriß.

Sie löste darauf die goldne Kette vom Halse, an der das Bild ihres
Vaters gehangen hatte, und legte sie mit leiser Hand über die anderen
Kleinode hin, worauf Eduard mit einiger Hast veranstaltete, daß der
wohlgefugte Deckel sogleich aufgestürzt und eingekittet wurde.

Der junge Gesell, der sich dabei am tätigsten erwiesen, nahm seine
Rednermiene wieder an und fuhr fort: "wir gründen diesen Stein für
ewig, zur Sicherung des längsten Genusses der gegenwärtigen und
künftigen Besitzer dieses Hauses.

Allein indem wir hier gleichsam einen Schatz vergraben, so denken wir
zugleich, bei dem gründlichsten aller Geschäfte, an die
Vergänglichkeit der menschlichen Dinge; wir denken uns eine
Möglichkeit, daß dieser festversiegelte Deckel wieder aufgehoben
werden könne, welches nicht anders geschehen dürfte, als wenn das
alles wieder zerstört wäre, was wir noch nicht einmal aufgeführt haben.


Aber eben, damit dieses aufgeführt werde: zurück mit den Gedanken aus
der Zukunft, zurück ins Gegenwärtige!

Laßt und nach begangenem heutigem Feste unsre Arbeit sogleich fördern,
damit keiner von den Gewerken, die auf unserm Grunde fortarbeiten, zu
feiern brauche, daß der Bau eilig in die Höhe steige und vollendet
werde und aus den Fenstern, die noch nicht sind, der Hausherr mit den
Seinigen und seinen Gästen sich fröhlich in der Gegend umschaue, deren
aller sowie sämtlicher Anwesenden Gesundheit hiermit getrunken sei!"

Und so leerte er ein wohlgeschliffenes Kelchglas auf einen Zug aus und
warf es in die Luft; denn es bezeichnet das übermaß einer Freude, das
Gefäß zu zerstören, dessen man sich in der Fröhlichkeit bedient.




Aber diesmal ereignete es sich anders: das Glas kam nicht wieder auf
den Boden, und zwar ohne Wunder.

Man hatte nämlich, um mit dem Bau vorwärtszukommen, bereits an der
entgegengesetzten Ecke den Grund völlig herausgeschlagen, ja schon
angefangen, die Mauern aufzuführen, und zu dem Endzweck das Gerüst
erbaut, so hoch, als es überhaupt nötig war.

Daß man es besonders zu dieser Feierlichkeit mit Brettern belegt und
eine Menge Zuschauer hinaufgelassen hatte, war zum Vorteil der
Arbeitsleute geschehen.

Dort hinauf flog das Glas und wurde von einem aufgefangen, der diesen
Zufall als ein glückliches Zeichen für sich ansah.

Er wies es zuletzt herum, ohne es aus der Hand zu lassen, und man sah
darauf die Buchstaben E und O in sehr zierlicher Verschlingung
eingeschnitten: es war eins der Gläser, die für Eduarden in seiner
Jugend verfertigt worden.

Die Gerüste standen wieder leer, und die leichtesten unter den Gästen
stiegen hinauf, sich umzusehen, und konnten die schöne Aussicht nach
allen Seiten nicht genugsam rühmen; denn was entdeckt der nicht alles,
der auf einem hohen Punkte nur um ein Geschoß höher steht! Nach dem
Innern des Landes zu kamen mehrere neue Dörfer zum Vorschein, den
silbernen Streifen des Flusses erblickte man deutlich, ja selbst die
Türme der Hauptstadt wollte einer gewahr werden.

An der Rückseite, hinter den waldigen Hügeln, erhoben sich die blauen
Gipfel eines fernen Gebirges, und die nächste Gegend übersah man im
ganzen.

"Nun sollten nur noch", rief einer, "die drei Teiche zu einem See
vereinigt werden; dann hätte der Anblick alles, was groß und
wünschenswert ist".

"Das ließe sich wohl machen", sagte der Hauptmann; "denn sie bildeten
schon vorzeiten einen Bergsee".

"Nur bitte ich, meine Platanen--und Pappelgruppe zu schonen", sagte
Eduard, "die so schön am mittelsten Teiche steht".

"Sehen Sie",--wandte er sich zu Ottilien, die er einige Schritte
vorführte, indem er hinabwies--"diese Bäume habe ich selbst gepflanzt".


"Wie lange stehen sie wohl schon?" fragte Ottilie.

"Etwa so lange", versetzte Eduard, "als Sie auf der Welt sind.

Ja, liebes Kind, ich pflanzte schon, da Sie noch in der Wiege lagen".

Die Gesellschaft begab sich wieder in das Schloß zurück.

Nach aufgehobener Tafel wurde sie zu einem Spaziergang durch das Dorf
eingeladen, um auch hier die neuen Anstalten in Augenschein zu nehmen.

Dort hatten sich auf des Hauptmanns Veranlassung die Bewohner vor
ihren Häusern versammelt; sie standen nicht in Reihen, sondern
familienweise natürlich gruppiert, teils, wie es der Abend forderte,
beschäftigt, teils auf neuen Bänken ausruhend.

Es ward ihnen angenehmen Pflicht gemacht, wenigstens jeden Sonntag und
Festtag diese Reinlichkeit, diese Ordnung zu erneuern.

Eine innere Geselligkeit mit Neigung, wie sie sich unter unseren
Freunden erzeugt hatte, wird durch eine größere Gesellschaft immer nur
unangenehm unterbrochen.

Alle vier waren zufrieden, sich wieder im großen Saale allein zu
finden; doch ward dieses häusliche Gefühl einigermaßen gestört, indem
ein Brief, der Eduarden überreicht wurde, neue Gäste auf morgen
ankündigte.

"Wie wir vermuteten", rief Eduard Charlotten zu; "der Graf wird nicht
ausbleiben, er kommt morgen".

"Da ist also auch die Baronesse nicht weit", versetzte Charlotte.

"Gewiß nicht!" antwortete Eduard;" sie wird auch morgen von ihrer
Seite anlangen.

Sie bitten um ein Nachtquartier und wollen übermorgen zusammen wieder
fortreisen".

"Da müssen wir unsere Anstalten beizeiten machen, Ottilie! " sagte
Charlotte.

"Wie befehlen Sie die Einrichtung?" fragte Ottilie.

Charlotte gab es im allgemeinen an, und Ottilie entfernte sich.

Der Hauptmann erkundigte sich nach dem Verhältnis dieser beiden
Personen, das er nur im allgemeinsten kannte.

Sie hatten früher, beide schon anderwärts verheiratet, sich
leidenschaftlich liebgewonnen.

Eine doppelte Ehe war nicht ohne Aufsehn gestört; man dachte an
Scheidung.

Bei der Baronesse war sie möglich geworden, bei dem Grafen nicht.

Sie mußten sich zum Scheine trennen, allein ihr Verhältnis blieb; und
wenn sie Winters in der Residenz nicht zusammen sein konnten, so
entschädigten sie sich Sommers auf Lustreisen und in Bädern.

Sie waren beide um etwas älter als Eduard und Charlotte und sämtlich
genaue Freunde aus früher Hofzeit her.

Man hatte immer ein gutes Verhältnis erhalten, ob man gleich nicht
alles an seinen Freunden billigte.

Nur diesmal war Charlotten ihre Ankunft gewissermaßen ganz ungelegen,
und wenn sie die Ursache genau untersucht hätte: es war eigentlich um
Ottiliens willen.

Das gute, reine Kind sollte ein solches Beispiel so früh nicht gewahr
werden.

"Sie hätten wohl noch ein paar Tage wegbleiben können", sagte Eduard,
als eben Ottilie wieder hereintrat, "bis wir den Vorwerksverkauf in
Ordnung gebracht.

Der Aufsatz ist fertig, die eine Abschrift habe ich hier; nun fehlt es
aber an der zweiten, und unser alter Kanzellist ist recht krank".

Der Hauptmann bot sich an, auch Charlotte; dagegen waren einige
Einwendungen zu machen.

"Geben Sie mirs nur!" rief Ottilie mit einiger Hast.

"Du wirst nicht damit fertig", sagte Charlotte.

"Freilich müßte ich es übermorgen früh haben, und es ist viel", sagte
Eduard.

"Es soll fertig sein", rief Ottilie und hatte das Blatt schon in den
Händen.

Des andern Morgens, als sie sich aus dem obern Stock nach den Gästen
umsahen, denen sie entgegenzugehen nicht verfehlen wollten, sagte
Eduard: "wer reitet denn so langsam dort die Straße her?" Der
Hauptmann beschrieb die Figur des Reiters genauer.




"So ist ers doch", sagte Eduard; "denn das Einzelne, das du besser
siehst als ich, paßt sehr gut zu dem Ganzen, das ich recht wohl sehe.

Es ist Mittler.

Wie kommt er aber dazu, langsam und so langsam zu reiten?" Die Figur
kam näher, und Mittler war es wirklich.

Man empfing ihn freundlich, als er langsam die Treppe heraufstieg.

"Warum sind Sie nicht gestern gekommen?" rief ihm Eduard entgegen.

"Laute Feste lieb ich nicht", versetzte jener.

"Heute komm ich aber, den Geburtstag meiner Freundin mit euch im
stillen nachzufeiern".

"Wie können Sie denn soviel Zeit gewinnen?" fragte Eduard scherzend.

"Meinen Besuch, wenn er euch etwas wert ist, seid ihr einer
Betrachtung schuldig, die ich gestern gemacht habe.

Ich freute mich recht herzlich den halben Tag in einem Hause, wo ich
Frieden gestiftet hatte, und dann hörte ich, daß hier Geburtstag
gefeiert werde.

'Das kann man doch am Ende selbstisch nennen,' dachte ich bei mir,
'daß du dich nur mit denen freuen willst, die du zum Frieden bewogen
hast.

Warum freust du dich nicht auch einmal mit Freunden, die Frieden
halten und hegen?'

Gesagt, getan!

Hier bin ich, wie ich mir vorgenommen hatte".

"Gestern hätten Sie große Gesellschaft gefunden, heute finden Sie nur
kleine", sagte Charlotte.

"Sie finden den Grafen und die Baronesse, die Ihnen auch schon zu
schaffen gemacht haben".

Aus der Mitte der vier Hausgenossen, die den seltsamen, willkommenen
Mann umgeben hatten, fuhr er mit verdrießlicher Lebhaftigkeit heraus,
indem er sogleich nach Hut und Reitgerte suchte: "schwebt doch immer
ein Unstern über mir, sobald ich einmal ruhen und mir wohltun will!

Aber warum gehe ich aus meinem Charakter heraus!

Ich hätte nicht kommen sollen, und nun werd ich vertrieben.

Denn mit jenen will ich nicht unter einem Dache bleiben; und nehmt
euch in acht: sie bringen nichts als Unheil!

Ihr Wesen ist wie ein Sauerteig, der seine Ansteckung fortpflanzt".

Man suchte ihn zu begütigen, aber vergebens.

"Wer mir den Ehstand angreift", rief er aus, "wer mir durch Wort, ja
durch Tat diesen Grund aller sittlichen Gesellschaft untergräbt, der
hat es mit mir zu tun; oder wenn ich sein nicht Herr werden kann, habe
ich nichts mit ihm zu tun.

Die Ehe ist der Anfang und der Gipfel aller Kultur.

Sie macht den Rohen mild, und der Gebildetste hat keine bessere
Gelegenheit, seine Milde zu beweisen.

Unauflöslich muß sie sein; denn sie bringt so vieles Glück, daß alles
einzelne Unglück dagegen gar nicht zu rechnen ist.

Und was will man von Unglück reden?

Ungeduld ist es, die den Menschen von Zeit zu Zeit anfällt, und dann
beliebt er sich unglücklich zu finden.

Lasse man den Augenblick vorübergehen, und man wird sich glücklich
preisen, daß ein so lange Bestandenes noch besteht.

Sich zu trennen gibts gar keinen hinlänglichen Grund.

Der menschliche Zustand ist so hoch in Leiden und Freuden gesetzt, daß
gar nicht berechnet werden kann, was ein Paar Gatten einander schuldig
werden.

Es ist eine unendliche Schuld, die nur durch die Ewigkeit abgetragen
werden kann.

Unbequem mag es manchmal sein, das glaub ich wohl, und das ist eben
recht.

Sind wir nicht auch mit dem Gewissen verheiratet, das wir oft gerne
los sein möchten, weil es unbequemer ist, als uns je ein Mann oder
eine Frau werden könnte?" so sprach er lebhaft und hätte wohl noch
lange fortgesprochen, wenn nicht blasende Postillons die Ankunft der
Herrschaften verkündig hätten, welche wie abgemessen von beiden Seiten
zu gleicher Zeit in den Schloßhof hereinfuhren.

Als ihnen die Hausgenossen entgegeneilten, versteckte sich Mittler,
ließ sich das Pferd an den Gasthof bringen und ritt verdrießlich davon.


Die Gäste waren bewillkommt und eingeführt; sie freuten sich, das Haus,
die Zimmer wieder zu betreten, wo sie früher so manchen guten Tag
erlebt und die sie eine lange Zeit nicht gesehn hatten.

Höchst angenehm war auch den Freunden ihre Gegenwart.

Den Grafen sowie die Baronesse konnte man unter jene hohen, schönen
Gestalten zählen, die man in einem mittlern Alter fast lieber als in
der Jugend sieht; denn wenn ihnen auch etwas von der ersten Blüte
abgehn möchte, so erregen sie doch nun mit der Neigung ein
entschiedenes Zutrauen.

Auch dieses Paar zeigte sich höchst bequem in der Gegenwart.

Ihre freie Weise, die Zustände des Lebens zu nehmen und zu behandeln,
ihre Heiterkeit und scheinbare Unbefangenheit teilte sich sogleich mit,
und ein hoher Anstand begrenzte das Ganze, ohne daß man irgendeinen
Zwang bemerkt hätte.

Diese Wirkung ließ sich augenblicks in der Gesellschaft empfinden.

Die Neueintretenden, welche unmittelbar aus der Welt kamen, wie man
sogar an ihren Kleidern, Gerätschaften und allen Umgebungen sehen
konnte, machten gewissermaßen mit unsern Freunden, ihrem ländlichen
und heimlich leidenschaftlichen Zustande eine Art von Gegensatz, der
sich jedoch sehr bald verlor, indem alte Erinnerungen und gegenwärtige
Teilnahme sich vermischten und ein schnelles, lebhaftes Gespräch alle
geschwind zusammenverband.

Es währte indessen nicht lange, als schon eine Sonderung vorging.

Die Frauen zogen sich auf ihren Flügel zurück und fanden daselbst,
indem sie sich mancherlei vertrauten und zugleich die neuesten Formen
und Zuschnitte von Frühkleidern, Hüten und derglichen zu mustern
anfingen, genugsame Unterhaltung, während die Männer sich um die neuen
Reisewagen, mit vorgeführten Pferden, beschäftigten und gleich zu
handeln und zu tauschen anfingen.

Erst zu Tische kam man wieder zusammen.

Die Umkleidung war geschehen, und auch hier zeigte sich das
angekommene Paar zu seinem Vorteile.




Alles, was sie an sich trugen, war neu und gleichsam ungesehen und
doch schon durch den Gebrauch zur Gewohnheit und Bequemlichkeit
eingeweiht.

Das Gespräch war lebhaft und abwechselnd, wie denn in Gegenwart
solcher Personen alles und nichts zu interessieren scheint.

Man bediente sich der französischen Sprache, um die Aufwartenden von
dem Mitverständnis auszuschließen, und schweifte mit mutwilligem
Behagen über hohe und mittlere Weltverhältnisse hin.

Auf einem einzigen Punkt blieb die Unterhaltung länger als billig
haften, indem Charlotte nach einer Jugendfreundin sich erkundigte und
mit einiger Befremdung vernahm, daß sie ehstens geschieden werden
sollte.

"Es ist unerfreulich", sagte Charlotte, "wenn man seine abwesenden
Freunde irgend einmal geborgen, eine Freundin, die man liebt, versorgt
glaubt; eh man sichs versieht, muß man wieder hören, daß ihr Schicksal
im Schwanken ist, und daß sie erst wieder neue und vielleicht abermals
unsichre Pfade des Lebens betreten soll".

"Eigentlich, meine Beste", versetzte der Graf, "sind wir selbst schuld,
wenn wir auf solche Weise überrascht werden.

Wir mögen uns die irdischen Dinge und besonders auch die ehlichen
Verbindungen gern so recht dauerhaft vorstellen, und was den letzten
Punkt betrifft, so verführen uns die Lustspiele, die wir immer
wiederholen sehen, zu solchen Einbildungen, die mit dem Gange der Welt
nicht zusammentreffen.

In der Komödie sehen wir eine Heirat als das letzte Ziel eines durch
die Hindernisse mehrerer Akte verschobenen Wunsches, und im Augenblick,
da er erreicht ist, fällt der Vorhang, und die momentane Befriedigung
klingt bei uns nach.

In der Welt ist es anders; da wird hinten immer fortgespielt, und wenn
der Vorhang wieder aufgeht, mag man gern nichts weiter davon sehen
noch hören".

"Es muß doch so schlimm nicht sein", sagte Charlotte lächelnd, "da man
sieht, daß auch Personen, die von diesem Theater abgetreten sind, wohl
gern darauf wieder eine Rolle spielen mögen".

"Dagegen ist nichts einzuwenden", sagte der Graf.

"Eine neue Rolle mag man gern wieder übernehmen, und wenn man die Welt
kennt, so sieht man wohl: auch bei dem Ehestande ist es nur diese
entschiedene, ewige Dauer zwischen soviel Beweglichem in der Welt, die
etwas Ungeschicktes an sich trägt.

Einer von meinen Freunden, dessen gute Laune sich meist in Vorschlägen
zu neuen Gesetzen hervortat, behauptet: eine jede Ehe solle nur auf
fünf Jahre geschlossen werden.

Es sei, sagte er, dies eine schöne, ungrade, heilige Zahl und ein
solcher Zeitraum eben hinreichend, um sich kennenzulernen, einige
Kinder heranzubringen, sich zu entzweien und, was das Schönste sei,
sich wieder zu versöhnen.

Gewöhnlich rief er aus: ' wie glücklich würde die erste Zeit
verstreichen!

Zwei, drei Jahre wenigstens gingen vergnüglich hin.

Dann würde doch wohl dem einen Teil daran gelegen sein, das Verhältnis
länger dauern zu sehen, die Gefälligkeit würde wachsen, je mehr man
sich dem Termin der Aufkündigung näherte.

Der gleichgültige, ja selbst der unzufriedene Teil würde durch ein
solches Betragen begütigt und eingenommen.

Man vergäße, wie man in guter Gesellschaft die Stunden vergißt, daß
die Zeit verfließe, und fände sich aufs angenehmste überrascht, wenn
man nach verlaufenem Termin erst bemerkte, daß er schon
stillschweigend verlängert sei".

So artig und lustig dies klang und so gut man, wie Charlotte wohl
empfand, diesem Scherz eine tiefe moralische Deutung geben konnte, so
waren ihr dergleichen äußerungen, besonders um Ottiliens willen, nicht
angenehm.

Sie wußte recht gut, daß nichts gefährlicher sei als ein allzufreies
Gespräch, das einen strafbaren oder halbstrafbaren Zustand als einen
gewöhnlichen, gemeinen, ja löblichen bahandelt; und dahin gehört doch
gewiß alles, was die eheliche Verbindung antastet.

Sie suchte daher nach ihrer gewandten Weise das Gespräch abzulenken;
da sie es nicht vermochte, tat es ihr leid, daß Ottilie alles so gut
eingerichtet hatte, um nicht aufstehen zu dürfen.

Das ruhig aufmerksame Kind verstand sich mit dem Haushofmeister durch
Blick und Wink, daß alles auf das trefflichste geriet, obgleich ein
paar neue, ungeschickte Bedienten in der livree staken.

Und so fuhr der Graf, Charlottens Ablenken nicht empfindend, über
diesen Gegenstand sich zu äußern fort.

Ihm, der sonst nicht gewohnt war, im Gespräch irgend lästig zu sein,
lastete diese Sache zu sehr auf dem Herzen, und die Schwierigkeiten,
sich von seiner Gemahlin getrennt zu sehen, machten ihn bitter gegen
alles, was eheliche Verbindung betraf, die er doch selbst mit der
Baronesse so eifrig wünschte.

"Jener Freund", so fuhr er fort, "tat noch einen andern
Gesetzvorschlag: eine Ehe sollte nur alsdann für unauflöslich gehalten
werden, wenn entweder beide Teile oder wenigstens der eine Teil zum
drittenmal verheiratet wäre.

Denn was eine solche Person betreffe, so bekenne sie unwidersprechlich,
daß sie die Ehe für etwas Unentbehrliches halte.

Nun sei auch schon bekannt geworden, wie sie sich in ihren frühern
Verbindungen betragen, ob sie Eigenheiten habe, die oft mehr zur
Trennung Anlaß geben als üble Eigenschaften.

Man habe sich also wechselseitig zu erkundigen; man habe ebensogut auf
Verheiratete wie auf Unverheiratete achtzugeben, weil man nicht wisse,
wie die Fälle kommen können".

"Das würde freilich das Interesse der Gesellschaft sehr vermehren",
sagte Eduard; "denn in der Tat jetzt, wenn wir verheiratet sind, fragt
niemand weiter mehr nach unsern Tugenden noch unsern Mängeln".

"Bei einer solchen Einrichtung", fiel die Baronesse lächelnd ein,
"hätten unsere lieben Wirte schon zwei Stufen glücklich überstiegen
und könnten sich zu der dritten vorbereiten".

"Ihnen ists wohl geraten", sagte der Graf; "hier hat der Tod willig
getan, was die Konsistorien sonst nur ungern zu tun pflegen". "Lassen
wir die Toten ruhen", versetzte Charlotte mit einem halb ernsten
Blicke.

"Warum?" versetzte der Graf, "da man ihrer in Ehren gedenken kann.

Sie waren bescheiden genug, sich mit einigen Jahren zu begnügen für
mannigfaltiges Gute, das sie zurückließen".

"Wenn nur nicht gerade", sagte die Baronesse mit einem verhaltenen
Seufzer, "in solchen Fällen das Opfer der besten Jahre gebracht werden
müßte!" "Jawohl", versetzte der Graf, "man müßte darüber verzweifeln,
wenn nicht überhaupt in der Welt so weniges eine gehoffte Folge zeigte.


Kinder halten nicht, was sie versprechen, junge Leute sehr selten, und
wenn sie Wort halten, hält es ihnen die Welt nicht".




Charlotte, welche froh war, daß das Gespräch sich wendete, versetzte
heiter:" nun!

Wir müssen uns ja ohnehin bald genug gewöhnen, das Gute stück--und
teilweise zu genießen".

"Gewiß", versetzte der Graf, "Sie haben beide sehr schöner Zeiten
genossen.

Wenn ich mir die Jahre zurückerinnere, da Sie und Eduard das schönste
Paar bei Hof waren; weder von so glänzenden Zeiten noch von so
hervorleuchtenden Gestalten ist jetzt die Rede mehr.

Wenn Sie beide zusammen tanzten, aller Augen waren auf Sie gerichtet,
und wie umworben beide, indem Sie sich nur ineinander bespiegelten!"
"Da sich so manches verändert hat", sagte Charlotte, "können wir wohl
soviel Schönes mit Bescheidenheit anhören".

"Eduarden habe ich doch oft im stillen getadelt", sagte der Graf, "daß
er nicht beharrlicher war; denn am Ende hätten seine wunderlichen
Eltern wohl nachgegeben; und zehn frühe Jahre gewinnen ist keine
Kleinigkeit".

"Ich muß mich seiner anehmen", fiel die Baronesse ein.

"Charlotte war nicht ganz ohne Schuld, nicht ganz rein von allem
Umhersehen, und ob sie gleich Eduarden von Herzen liebte und sich ihn
auch heimlich zum Gatten bestimmte, so war ich doch Zeuge, wie sehr
sie ihn manchmal quälte, sodaß man ihn leicht zu dem unglücklichen
Entschluß drängen konnte, zu reisen, sich zu entfernen, sich von ihr
zu entwöhnen".

Eduard nickte der Baronesse zu und schien dankbar für ihre Fürsprache.

"Und dann muß ich eins", fuhr sie fort, "zu Charlottens Entschuldigung
beifügen: der Mann, der zu jener Zeit um sie warb, hatte sich schon
lange durch Neigung zu ihr ausgezeichnet und war, wenn man ihn näher
kannte, gewiß liebenswürdiger, als ihr andern gern zugestehen mögt".

"Liebe Freundin", versetzte der Graf etwas lebhaft, "bekennen wir nur,
daß er Ihnen nicht ganz gleichgültig war, und daß Charlotte von Ihnen
mehr zu befürchten hatte als von einer andern.

Ich finde das einen sehr hübschen Zug an den Frauen, daß sie ihre
Anhänglichkeit an irgendeinen Mann solange noch fortsetzen, ja durch
keine Art von Trennung stören oder aufheben lassen".

"Diese gute Eigenschaft besitzen vielleicht die Männer noch mehr",
versetzte die Baronesse; "wenigstens an Ihnen lieber Graf, habe ich
bemerkt, daß niemand mehr Gewalt über Sie hat als ein Frauenzimmer,
dem Sie früher geneigt waren.

So habe ich gesehen, daß Sie auf die Fürsprache einer solchen sich
mehr Mühe gaben, um etwas auszuwirken, als vielleicht die Freundin des
Augenblicks von Ihnen erlangt hätte".

"Einen solchen Vorwurf darf man sich wohl gefallen lassen", versetzte
der Graf; "doch was Charlottens ersten Gemahl betrifft, so konnte ich
ihn deshalb nicht leiden, weil er mir das schöne Paar
auseinandersprengte, ein wahrhaft prädestiniertes Paar, das, einmal
zusammengegeben, weder fünf Jahre zu scheuen, noch auf eine zweite
oder gar dritte Verbindung hinzusehen brauchte".

"Wir wollen versuchen", sagte Charlotte, "wieder einzubringen, was wir
versäumt haben".

"Da müssen Sie sich dazuhalten", sagte der Graf.

"Ihre ersten Heiraten", fuhr er mit einiger Heftigkeit fort, "waren
doch so eigentlich rechte Heiraten von der verhaßten Art, und leider
haben überhaupt die Heiraten--verzeihen Sie mir einen lebhafteren
Ausdruck--etwas Tölpelhaftes; sie verderben die zartesten Verhältnisse,
und es liegt doch eigentlich nur an der plumpen Sicherheit, auf die
sich wenigstens ein Teil etwas zugute tut.

Alles versteht sich von selbst, und man scheint sich nur verbunden zu
haben, damit eins wie das andere nunmehr seiner Wege gehe". In diesem
Augenblick machte Charlotte, die ein für allemal dies Gespräch
abbrechen wollte, von einer kühnen Wendung Gebrauch; es gelang ihr.

Die Unterhaltung ward allgemeiner, die beiden Gatten und der Hauptmann
konnten daran teilnehmen; selbst Ottilie ward veranlaßt sich zu äußern,
und der Nachtisch ward mit der besten Stimmung genossen, woran der in
zierlichen Fruchtkörben aufgestellte Obstreichtum, die bunteste, in
Prachtgefäßen schön verteilte Blumenfülle den vorzüglichsten Anteil
hatte.

Auch die neuen Parkanlagen kamen zur Sprache, die man sogleich nach
Tische besuchte.

Ottilie zog sich unter dem Vorwande häuslicher Beschäftigung zurück;
eigentlich aber setzte sie sich nieder zur Abschrift.

Der Graf wurde von dem Hauptmann unterhalten; später gesellte sich
Charlotte zu ihm.

Als sie oben auf die Höhe gelangt waren und der Hauptmann gefällig
hinuntereilte, um den Plan zu holen, sagte der Graf zu Charlotten:
"dieser Mann gefällt mir außerordentlich.

Er ist sehr wohl und im Zusammenhang unterrichtet.

Ebenso scheint seine Tätigkeit sehr ernst und folgerecht.

Was er hier leistet, würde in einem höhern Kreise von viel Bedeutung
sein".

Charlotte vernahm des Hauptmanns Lob mit innigem Behagen.

Sie faßte sich jedoch und bekräftigte das Gesagte mit Ruhe und
Klarheit.

Wie überrascht war sie aber, als der Graf fortfuhr: "diese
Bekanntschaft kommt mir sehr zu gelegener Zeit.

Ich weiß eine Stelle, an die der Mann vollkommen paßt, und ich kann
mir durch eine solche Empfehlung, indem ich ihn glücklich mache, einen
hohen Freund auf das allerbeste verbinden".

Es war wie ein Donnerschlag, der auf Charlotten herabfiel.

Der Graf bemerkte nichts; denn die Frauen, gewohnt, sich jederzeit zu
bändigen, behalten in den außerordentlichsten Fällen immer noch eine
Art von scheinbarer Fassung.

Doch hörte sie schon nicht mehr, was der Graf sagte, indem er fortfuhr:
"wenn ich von etwas überzeugt bin, geht es bei mir geschwind her.

Ich habe schon meinen Brief im Kopfe zusammengestellt, und mich
drängts, ihn zu schreiben.

Sie verschaffen mir einen reitenden Boten, den ich noch heute abend
wegschicken kann".

Charlotte war innerlich zerrissen.

Von diesen Vorschlägen sowie von sich selbst überrascht, konnte sie
kein Wort hervorbringen.

Der Graf fuhr glücklicherweise fort, von seinen Planen für den
Hauptmann zu sprechen, deren Günstiges Charlotten nur allzusehr in die
Augen fiel.

Es war Zeit, daß der Hauptmann herauftrat und seine Rolle vor dem
Grafen entfaltete.

Aber mit wie andern Augen sah sie den Freund an, den sie verlieren
sollte!




Mit einer notdürftigen Verbeugung wandte sie sich weg und eilte
hinunter nach der Mooshütte.

Schon auf halbem Wege stürzten ihr die Tränen aus den Augen, und nun
warf sie sich in den engen Raum der kleinen Einsiedelei und überließ
sich ganz einem Schmerz, einer Leidenschaft, einer Verzweiflung, von
deren Möglichkeit sie wenig Augenblicke vorher auch nicht die leiseste
Ahnung gehabt hatte.

Auf der andern Seite war Eduard mit der Baronesse an den Teichen
hergegangen.

Die kluge Frau, die gern von allem unterrichtet sein mochte, bemerkte
bald in einem tastenden Gespräch, daß Eduard sich zu Ottiliens Lobe
weitläufig herausließ, und wußte ihn auf eine so natürliche Weise nach
und nach in den Gang zu bringen, daß ihr zuletzt kein Zweifel
übrigblieb, hier sei eine Leidenschaft nicht auf dem Wege, sondern
wirklich angelangt.

Verheiratete Frauen, wenn sie sich auch untereinander nicht lieben,
stehen doch stillschweigend miteinander, besonders gegen junge Mädchen,
im Bündnis.

Die Folgen einer solchen Zuneigung stellten sich ihrem weltgewandten
Geiste nur allzugeschwind dar.

Dazu kam noch, daß sie schon heute früh mit Charlotten über Ottilien
gesprochen und den Aufenthalt dieses Kindes auf dem Lande, besonders
bei seiner stillen Gemütsart, nicht gebilligt und den Vorschlag getan
hatte, Ottilien in die Stadt zu einer Freundin zu bringen, die sehr
viel an die Erziehung ihrer einzigen Tochter wende und sich nur nach
einer gutartigen Gespielin umsehe, die an die zweite Kindesstatt
eintreten und alle Vorteile mitgenießen solle.

Charlotte hatte sichs zur überlegung genommen.

Nun aber brachte der Blick in Eduards Gemüt diesen Vorschlag bei der
Baronesse ganz zur vorsätzlichen Festigkeit, und um so schneller
dieses in ihr vorging, um desto mehr schmeichelte sie äußerlich
Eduards Wünschen.

Denn niemand besaß sich mehr als diese Frau, und diese
Selbstbeherrschung in außerordentlichen Fällen gewöhnt uns, sogar
einen gemeinen Fall mit Verstellung zu behandeln, macht uns geneigt,
indem wir soviel Gewalt über uns selbst üben, unsre Herrschaft auch
über die andern zu verbreiten, um uns durch das, was wir äußerlich
gewinnen, für dasjenige, was wir innerlich entbehren, gewissermaßen
schadlos zu halten. An diese Gesinnung schließt sich meist eine Art
heimlicher Schadenfreude über die Dunkelheit der andern, über das
Bewußtlose, womit sie in eine Falle gehen.

Wir freuen uns nicht allein über das gegenwärtige Gelingen, sondern
zugleich auch auf die künftig überraschende Beschämung.

Und so war die Baronesse boshaft genug, Eduarden zur Weinlese auf ihre
Güter mit Charlotten einzuladen und die Frage Eduards, ob sie Ottilien
mitbringen dürften, auf eine Weise, die er beliebig zu seinen Gunsten
auslegen konnte, zu beantworten.

Eduard sprach schon mit Entzücken von der herrlichen Gegend, dem
großen Flusse, den Hügeln, Felsen und Weinbergen, von alen Schlössern,
von Wasserfahrten, von dem Jubel der Weinlese, des Kelterns und so
weiter, wobei er in der Unschuld seines Herzens sich schon zum voraus
laut über den Eindruck freute, den dergleichen Szenen auf das frische
Gemüt Ottiliens machen würden.

In diesem Augenblick sah man Ottilien herankommen, und die Baronesse
sagte schnell zu Eduard, er möchte von dieser vorhabenden Herbstreise
ja nichts reden; denn gewöhnlich geschähe das nicht, worauf man sich
so lange voraus freue.

Eduard versprach, nötigte sie aber, Ottilien entgegen geschwinder zu
gehen, und eilte ihr endlich, dem lieben Kinde zu, mehrere Schritte
voran.

Eine herzliche Freude drückte sich in seinem ganzen Wesen aus. Er
küßte ihr die Hand, in die er einen Strauß Feldblumen drückte, die er
unterwegs zusammengepflückt hatte.

Die Baronesse fühlte sich bei diesem Anblick in ihrem Innern fast
erbittert.

Denn wenn sie auch das, was an dieser Neigung strafbar sein mochte,
nicht billigen durfte, so konnte sie das, was daran liebenswürdig und
angenehm war, jenem unbedeutenden Neuling von Mädchen keineswegs
gönnen.

Als man sich zum Abendessen zusammengesetzt hatte, war eine völlig
andre Stimmung in der Gesellschaft verbreitet.

Der Graf, der schon vor Tische geschrieben und den Boten fortgeschickt
hatte, unterhielt sich mit dem Hauptmann, den er auf eine verständige
und bescheidene Weise immer mehr ausforschte, indem er ihn diesen
Abend an seine Seite gebracht hatte.

Die zur Rechten des Grafen sitzende Baronesse fand von daher wenig
Unterhaltung, ebensowenig an Eduard, der, erst durstig, dann aufgeregt,
des Weines nicht schonte und sich sehr lebhaft mit Ottilien
unterhielt, die er an sich gezogen hatte, wie von der andern Seite
neben dem Hauptmann Charlotte saß, der es schwer, ja beinahe unmöglich
ward, die Bewegungen ihres Innern zu verbergen.

Die Baronesse hatte Zeit genug, Beobachtungen anzustellen.

Sie bemerkte Charlottens Unbehagen, und weil sie nur Eduards
Verhältnis zu Ottilien im Sinn hatte, so überzeugte sie sich leicht,
auch Charlotte sei bedenklich und verdrießlich über ihres Gemahls
Benehmen, und überlegte, wie sie nunmehr am besten zu ihren Zwecken
gelangen könne.

Auch nach Tische fand sich ein Zwiespalt in der Gesellschaft. Der
Graf, der den Hauptmann recht ergründen wollte, brauchte bei einem so
ruhigen, keineswegs eitlen und überhaupt lakonischen Manne
verschiedene Wendungen, um zu erfahren, was er wünschte.

Sie gingen miteinander an der einen Seite des Saals auf und ab, indes
Eduard, aufgeregt von Wein und Hoffnung, mit Ottilien an einem Fenster
scherzte, Charlotte und die Baronesse aber stillschweigend an der
andern Seite des Saals nebeneinander hin und wider gingen.

Ihr Schweigen und müßiges Umherstehen brachte denn auch zuletzt eine
Stockung in die übrige Gesellschaft.

Die Frauen zogen sich zurück auf ihren Flügel, die Männer auf den
andern, und so schien dieser Tag abgeschlossen.

Eduard begleitete den Grafen auf sein Zimmer und ließ sich recht gern
durchs Gespräch verführen, noch eine Zeitlang bei ihm zu bleiben.

Der Graf verlor sich in vorige Zeiten, gedachte mit Lebhaftigkeit an
die Schönheit Charlottens, die er als ein Kenner mit vielem Feuer
entwickelte:" ein schöner Fuß ist eine große Gabe der Natur. Diese
Anmut ist unverwünstlich.

Ich habe sie heute im Gehen Beobachtet; noch immer möchte man ihren
Schuh küssen und die zwar etwas barbarische, aber doch tief gefühlte
Ehrenbezeugung der Aarmaten wiederholen, die sich nichts Besseres
kennen, als aus dem Schuh einer geliebten und verehrten Person ihre
Gesundheit zu trinken".

Die Spitze des Fußes blieb nicht allein der Gegenstand des Lobes unter
zwei vertrauten Männern.

Sie gingen von der Person auf alte Geschichten und Abenteuer zurück
und kamen auf die Hindernisse, die man ehemals den Zusammenkünften
dieser beiden Liebenden entgegengesetzt, welche Mühe sie sich gegeben,
welche Kunstgriffe sie erfunden, nur um sich sagen zu können, daß sie
sich liebten.




"Erinnerst du dich", fuhr der Graf fort, "welch Abenteuer ich dir
recht freundschaftlich und uneigennützig bestehen helfen, als unsre
höchsten Herrschaften ihren Oheim besuchten und auf dem weitläufigen
Schlosse zusammenkamen?

Der Tag war in Feierlichkeiten und Feierkleidern hingegangen; ein Teil
der Nacht sollte wenigstens unter freiem, liebevollem Gespräch
verstreichen".

"Den Hinweg zu dem Quartier der Hofdamen hatten Sie sich wohl gemerkt",
sagte Eduard.

"Wir gelangten glücklich zu meiner Geliebten".

"Die", versetzte der Graf, "mehr an den Anstand als an meine
Zufriedenheit gedacht und eine sehr häßliche Ehrenwächterin bei sich
behalten hatte; da mir denn, indessen ihr euch mit Blicken und Worten
sehr gut unterhieltet, ein höchst unerfreuliches Los zuteil ward".

"Ich habe mich noch gestern", versetzte Eduard, "als Sie sich anmelden
ließen, mit meiner Frau an die Geschichte erinnert, besonders an
unsern Rückzug.

Wir verfehlten den Weg und kamen an den Vorsaal der Garden.

Weil wir uns nun von da recht gut zu finden wußten, so glaubten wir
auch hier ganz ohne Bedenken hindurch und an dem Posten, wie an den
übrigen, vorbei gehen zu können.

Aber wie groß war beim Eröffnen der Türe unsere Verwunderung!

Der Weg war mit Matratzen verlegt, auf denen die Riesen in mehreren
Reihen ausgestreckt lagen und schliefen.

Der einzige Wachende auf dem Posten sah uns verwundert an; wir aber,
im jugendlichen Mut und Mutwillen, stiegen ganz gelassen über die
ausgestreckten Stiefel weg, ohne daß auch nur einer von diesen
schnarchenden Enakskindern erwacht wäre".

"Ich hatte große Lust zu stolpern", sagte der Graf, "damit es Lärm
gegeben hätte; denn welch eine seltsame Auferstehung würden wir
gesehen haben!" In diesem Augenblick schlug die Schloßglocke zwölf.

"Es ist hoch Mitternacht", sagte der Graf lächelnd, "und eben gerechte
Zeit.

Ich muß Sie, lieber Baron, um eine Gefälligkeit bitten: führen Sie
mich heute, wie ich Sie damals führte; ich habe der Baronesse das
Versprechen gegeben, sie noch zu besuchen.

Wir haben uns den ganzen Tag nicht allein gesprochen, wir haben uns
solange nicht gesehen, und nichts ist natürlicher, als daß man sich
nach einer vertraulichen Stunde sehnt.

Zeigen Sie mir den Hinweg, den Rückweg will ich schon finden, und auf
alle Fälle werde ich über keine Stiefel wegzustolpern haben".

"Ich will Ihnen recht gern diese gastliche Gefälligkeit erzeigen",
versetzte Eduard; "nur sind die drei Frauenzimmer drüben zusammen auf
dem Flügel.

Wer weiß, ob wir sie nicht noch beieinander finden, oder was wir sonst
für Händel anrichten, die irgendein wunderliches Ansehn gewinnen".

"Nur ohne Sorge!" sagte der Graf; "die Baronesse erwartet mich.

Sie ist um diese Zeit gewiß auf ihrem Zimmer und allein".

"Die Sache ist übringens leicht", versetzte Eduard und nahm ein Licht,
dem Grafen vorleuchtend eine geheime Treppe hinunter, die zu einem
langen Gang führte.

Am Ende desselben öffnete Eduard eine kleine Türe.

Sie erstiegen eine Wendeltreppe; oben auf einem engen Ruheplatz
deutete Eduard dem Grafen, dem er das Licht in die Hand gab, nach
einer Tapetentüre rechts, die beim ersten Versuch sogleich sich
öffnete, den Grafen aufnahm und Eduarden in dem dunklen Raum
zurückließ.

Eine andre Türe links ging in Charlottens Schlafzimmer.

Er hörte reden und horchte.

Charlotte sprach zu ihrem Kammermädchen: "ist Ottilie schon zu
Bette?"--"Nein", versetzte jene, "sie sitzt noch unten und schreibt".

-"So zünde Sie das Nachtlicht an", sagte Charlotte, "und gehe Sie nur
hin: es ist spät.

Die Kerze will ich selbst auslöschen und für mich zu Bette gehen".

Eduard hörte mit Entzücken, daß Ottilie noch schreibe.

'Sie beschäftigt sich für mich!' dachte er triumphierend.

Durch die Finsternis ganz in sich selbst geengt, sah er sie sitzen,
schreiben; er glaubte zu ihr zu treten, sie zu sehen, wie sie sich
nach ihm umkehrte; er fühlte ein unüberwindliches Verlangen, ihr noch
einmal nahe zu sein.

Von hier aber war kein Weg in das Halbgeschoß, wo sie wohnte. Nun
fand er sich unmittelbar an seiner Frauen Türe, eine sonderbare
Verwechselung ging in seiner Seele vor; er suchte die Türe aufzudrehen,
er fand sie verschlossen, er pochte leise an, Charlotte hörte nicht.

Sie ging in dem größeren Nebenzimmer lebhaft auf und ab.

Sie wiederholte sich aber--und abermals, was sie seit jenem
unerwarteten Vorschlag des Grafen oft genug bei sich um und um
gewendet hatte.

Der Hauptmann schien vor ihr zu stehen.

Er füllte noch das Haus, er belebte noch die Spaziergänge, und er
sollte fort, das alles sollte leer werden!

Sie sagte sich alles, was man sich sagen kann, ja sie antizipierte,
wie man gewöhnlich pflegt, den leidigen Trost, daß auch solche
Schmerzen durch die Zeit gelindert werden.

Sie verwünschte die Zeit, die es braucht, um sie zu lindern; sie
verwünschte die totenhafte Zeit, wo sie würden gelindert sein.

Da war denn zuletzt die Zuflucht zu den Tränen um so willkommner, als
sie bei ihr selten stattfand.

Sie warf sich auf den Sofa und überließ sich ganz ihrem Schmerz.

Eduard seinerseits konnte von der Türe nicht weg; er pochte nochmals,
und zum drittenmal etwas stärker, sodaß Charlotte durch die
Nachtstille es ganz deutlich vernahm und erschreckt auffuhr.

Der erste Gedanke war, es könne, es müsse der Hauptmann sein; der
zweite, das sei unmöglich.

Sie hielt es für Täuschung, aber sie hatte es gehört, sie wünschte,
sie fürchtete es gehört zu haben.

Sie ging ins Schlafzimmer, trat leise zu der verriegelten Tapetentür.

Sie schalt sich über ihre Furcht.

‘Wie leicht kann die Gräfin etwas bedürfen!’ sagte sie zu sich selbst
und rief gefaßt und gesetzt: "ist jemand da?" Eine leise Stimme
antwortete: "ich bins".




-"Wer?" entgegnete Charlotte, die den Ton nicht unterscheiden konnte.

Ihr stand des Hauptmanns Gestalt vor der Tür.

Etwas lauter klang es ihr entgegen:" Eduard!" Sie öffnete, und ihr
Gemahl stand vor ihr.

Er begrüßte sie mit einem Scherz.

Es ward ihr möglich, in diesem Tone fortzufahren.

Er verwickelte den rätselhaften Besuch in rätselhafte Erklärungen.

"Warum ich denn aber eigentlich komme", sagte er zuletzt, "muß ich dir
nur gestehen.

Ich habe ein Gelübde getan, heute abend noch deinen Schuh zu küssen".

"Das ist dir lange nicht eingefallen", sagte Charlotte.

"Desto schlimmer", versetzte Eduard," und desto besser!" Sie hatte
sich in einen Sessel gesetzt, um ihre leichte Nachtkleidung seinen
Blicken zu entziehen.

Er warf sich vor ihr nieder, und sie konnte sich nicht erwehren, daß
er nicht ihren Schuh küßte, und daß, als dieser ihm in der Hand blieb,
er den Fuß ergriff und ihn zärtlich an seine Brust drückte.

Charlotte war eine von den Frauen, die, von Natur mäßig, im Ehestande
ohne Vorsatz und Anstrengung die Art und Weise der Liebhaberinnen
fortführen.

Niemals reizte sie den Mann, ja seinem Verlangen kam sie kaum entgegen;
aber ohne Kälte und abstoßende Strenge glich sie immer einer
liebevollen Braut, die selbst vor dem Erlaubten noch innige Scheu
trägt.

Und so fand sie Eduard diesen Abend in doppeltem Sinne.

Wie sehnlich wünschte sie den Gatten weg; denn die Luftgestalt des
Freundes schien ihr Vorwürfe zu machen.

Aber das, was Eduarden hätte entfernen sollen, zog ihn nur mehr an.

Eine gewisse Bewegung war an ihr sichtbar.

Sie hatte geweint, und wenn weiche Personen dadurch meist an Anmut
verlieren, so gewinnen diejenigen dadurch unendlich, die wir
gewöhnlich als stark und gefaßt kennen.

Eduard war so liebenswürdig, so freundlich, so dringend; er bat sie,
bei ihr bleiben zu dürfen, er forderte nicht, bald ernst bald
scherzhaft suchte er sie zu bereden, er dachte nicht daran, daß er
Rechte habe, und löschte zuletzt mutwillig die Kerze aus.

In der Lampendämmerung sogleich behauptete die innre Neigung,
behauptete die Einbildungskraft ihre Rechte über das Wirkliche: Eduard
hielt nur Ottilien in seinen Armen, Charlotten schwebte der Hauptmann
näher oder ferner vor der Seele, und so verwebten, wundersam genug,
sich Abwesendes und Gegenwärtiges reizend und wonnevoll durcheinander.



 


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