Die Wahlverwandtschaften
by
Johann Wolfgang von Goethe

Part 4 out of 7




Glücklicherweise hilft sich hier die Sache von selbst, da meine
Bemühungen, mein Zureden fruchtlos geblieben wären".

Charlotte verlangte nun von ihm, er solle die Nachricht Eduarden
bringen, einen Brief von ihr mitnehmen und sehen, was zu tun, was
herzustellen sei.

Er wollte das nicht eingehen.

"Alles ist schon getan", rief er aus.

"Schreiben Sie!

Ein jeder Bote ist so gut als ich.

Muß ich doch meine Schritte hinwenden, wo ich nötiger bin.

Ich komme nur wieder, um Glück zu wünschen; ich komme zur Taufe".

Charlotte war diesmal, wie schon öfters, über Mittlern unzufrieden.

Sein rasches Wesen brachte manches Gute hervor, aber seine übereilung
war schuld an manchem Mißlingen.

Niemand war abhängiger von augenblicklich vorgefaßten Meinungen als er.


Charlottens Bote kam zu Eduarden, der ihn mit halbem Schrecken empfing.


Der Brief konnte ebensogut für Nein als für Ja entscheiden.

Er wagte lange nicht, ihn aufzubrechen, und wie stand er betroffen,
als er das Blatt gelesen, versteinert bei folgender Stelle, womit es
sich endigte: "gedenke jener nächtlichen Stunden, in denen du deine
Gattin abenteuerlich als Liebender besuchtest, sie unwiderstehlich an
dich zogst, sie als eine Geliebte, als eine Braut in die Arme
schlossest.

Laß uns in dieser seltsamen Zufälligkeit eine Fügung des Himmels
verehren, die für ein neues Band unserer Verhältnisse gesorgt hat in
dem Augenblick, da das Glück unseres Lebens auseinanderzufallen und zu
verschwinden droht".

Was von dem Augenblick an in der Seele Eduards vorging, würde schwer
zu schildern sein.

In einem solchen Gedränge treten zuletzt alte Gewohnheiten, alte
Neigungen wieder hervor, um die Zeit zu töten und den Lebensraum
auszufüllen.

Jagd und Krieg sind eine solche für den Edelmann immer bereite
Aushülfe.

Eduard sehnte sich nach äußerer Gefahr, um der innerlichen das
Gleichgewicht zu halten.




Er sehnte sich nach dem Untergang, weil ihm das Dasein unerträglich
zu werden drohte; ja es war ihm ein Trost zu denken, daß er nicht mehr
sein werde und eben dadurch seine Geliebten, seine Freunde glücklich
machen könne.

Niemand stellte seinem Willen ein Hindernis entgegen, da er seinen
Entschluß verheimlichte.

Mit allen Förmlichkeiten setzte er sein Testament auf; es war ihm eine
süße Empfindung, Ottilien das Gut vermachen zu können.

Für Charlotten, für das Ungeborne, für den Hauptmann, für seine
Dienerschaft war gesorgt.

Der wieder ausgebrochene Krieg begünstigte sein Vorhaben.

Militärische Halbheiten hatten ihm in seiner Jugend viel zu schaffen
gemacht; er hatte deswegen den Dienst verlassen.

Nun war es ihm eine herrliche Empfindung, mit einem Feldherrn zu
ziehen, von dem er sich sagen konnte: unter seiner Anführung ist der
Tod wahrscheinlich und der Sieg gewiß.

Ottilie, nachdem auch ihr Charlottens Geheimnis bekannt geworden,
betroffen wie Eduard, und mehr, ging in sich zurück.

Sie hatte nichts weiter zu sagen.

Hoffen konnte sie nicht, und wünschen durfte sie nicht.

Einen Blick jedoch in ihr Inneres gewährt uns ihr Tagebuch, aus dem
wir einiges mitzuteilen gedenken.

Im gemeinen Leben begegnet uns oft, was wir in der Epopöe als
Kunstgriff des Dichters zu rühmen pflegen, daß nämlich, wenn die
Hauptfiguren sich entfernen, verbergen, sich der Untätigkeit hingeben,
gleich sodann schon ein Zweiter, Dritter, bisher kaum Bemerkter den
Platz füllt und, indem er seine ganze Tätigkeit äußert, uns
gleichfalls der Aufmerksamkeit, der Teilnahme, ja des Lobes und
Preises würdig erscheint.

So zeigte sich gleich nach der Entfernung des Hauptmanns und Eduards
jener Architekt täglich bedeutender, von welchem die Anordnung und
Ausführung so manches Unternehmens allein abhing, wobei er sich genau,
verständig und tätig erwies und zugleich den Damen auf mancherlei Art
beistand und in stillen, langwierigen Stunden sie zu unterhalten wußte.


Schon sein äußeres war von der Art, daß es Zutrauen einflößte und
Neigung erweckte.

Ein Jüngling im vollen Sinne des Wortes, wohlgebaut, schlank, eher ein
wenig zu groß, bescheiden ohne ängstlich, zutraulich ohne zudringend
zu sein.

Freudig übernahm er jede Sorge und Bemühung, und weil er mit großer
Leichtigkeit rechnete, so war ihm bald das ganze Hauswesen kein
Geheimnis, und überallhin verbreitete sich sein günstiger Einfluß.

Die Fremden ließ man ihn gewöhnlich empfangen, und er wußte einen
unerwarteten Besuch entweder abzulehnen oder die Frauen wenigstens
dergestalt darauf vorzubereiten, daß ihnen keine Unbequemlichkeit
daraus entsprang.

Unter andern gab ihm eines Tages ein junger Rechtsgelehrter viel zu
schaffen, der, von einem benachbarten Edelmann gesendet, eine Sache
zur Sprache brachte, die, zwar von keiner sonderlichen Bedeutung,
Charlotten dennoch innig berührte.

Wir müssen dieses Vorfalls gedenken, weil er verschiedenen Dingen
einen Anstoß gab, die sonst vielleicht lange geruht hätten.

Wir erinnern uns jener Veränderung, welche Charlotte mit dem Kirchhofe
vorgenommen hatte.

Die sämtlichen Monumente waren von ihrer Stelle gerückt und hatten an
der Mauer, an dem Sockel der Kirche Platz gefunden.

Der übrige Raum war geebnet.

Außer einem breiten Wege, der zur Kirche und an derselben vorbei zu
dem jenseitigen Pförtchen führte, war das übrige alles mit
verschiedenen Arten Klee besäet, der auf das schönste grünte und
blühte.

Nach einer gewissen Ordnung sollten vom Ende heran die neuen Gräber
bestellt, doch der Platz jederzeit wieder verglichen und ebenfalls
besäet werden.

Niemand konnte leugnen, daß diese Anstalt beim sonn--und festtätigen
Kirchgang eine heitere und würdige Ansicht gewährte.

Sogar der betagte und an alten Gewohnheiten haftende Geistliche, der
anfänglich mit der Einrichtung nicht sonderlich zufrieden gewesen,
hatte nunmehr seine Freude daran, wenn er unter den alten Linden,
gleich Philomon, mit seiner Baucis vor der Hintertüre ruhend, statt
der holprigen Grabstätten einen schönen, bunten Teppich vor sich sah,
der noch überdies seinem Haushalt zugute kommen sollte, indem
Charlotte die Nutzung dieses Fleckes der Pfarre zusichern lassen.

Allein desungeachtet hatten schon manche Gemeindeglieder früher
gemißbilligt, daß man die Bezeichnung der Stelle, wo ihre Vorfahren
ruhten, aufgehoben und das Andenken dadurch gleichsam ausgelöscht;
denn die wohlerhaltenden Monumente zeigen zwar an, wer begraben sei,
aber nicht, wo er begraben sei, und auf das Wo komme es eigentlich an,
wie viele behaupteten.

Von ebensolcher Gesinnung war eine benachbarte Familie, die sich und
den Ihrigen einen Raum auf dieser allgemeinen Ruhestätte vor mehreren
Jahren ausbedungen und dafür der Kirche eine kleine Stiftung
zugewendet hatte.

Nun war der junge Rechtsgelehrte abgesendet, um die Stiftung zu
widerrufen und anzuzeigen, daß man nicht weiterzahlen werde, weil die
Bedingung, unter welcher dieses bisher geschehen, einseitig aufgehoben
und auf alle Vorstellungen und Widerreden nicht geachtet worden.

Charlotte, die Urheberin dieser Veränderung, wollte den jungen Mann
selbst sprechen, der zwar lebhaft, aber nicht allzu vorlaut seine und
seines Prinzipals Gründe darlegte und der Gesellschaft manches zu
denken gab.

"Sie sehen", sprach er nach einem kurzen Eingang, in welchem er seine
Zudringlichkeit zu rechtfertigen wußte, "Sie sehen, daß dem Geringsten
wie dem Höchsten daran gelegen ist, den Ort zu bezeichnen, der die
Seinigen aufbewahrt.

Dem ärmsten Landmann, der ein Kind begräbt, ist es eine Art von Trost,
ein schwaches hölzernes Kreuz auf das Grab zu stellen, es mit einem
Kranze zu zieren, um wenigstens das Andenken so lange zu erhalten, als
der Schmerz währt, wenn auch ein solches Merkzeichen, wie die Trauer
selbst, durch die Zeit aufgehoben wird.

Wohlhabende verwandeln diese Kreuze in eiserne, befestigen und
schützen sie auf mancherlei Weise, und hier ist schon Dauer für
mehrere Jahre.

Doch weil auch diese endlich sinken und unscheinbar werden, so haben
Begüterte nichts Angelegeneres, als einen Stein aufzurichten, der für
mehrere Generationen zu dauern verspricht und von den Nachkommen
erneut und aufgefrischt werden kann.

Aber dieser Stein ist es nicht, der uns anzieht, sondern das darunter
Enthaltene, das daneben der Erde Vertraute.

Es ist nicht sowohl vom Andenken die Rede als von der Person selbst,
nicht von der Erinnerung, sondern von der Gegenwart.

Ein geliebtes Abgeschiedenes umarme ich weit eher und inniger im
Grabhügel als im Denkmal, denn dieses ist für sich eigentlich nur
wenig; aber um dasselbe her sollen sich wie um einen Markstein Gatten,
Verwandte, Freunde selbst nach ihrem Hinscheiden noch versammeln, und
der Lebende soll das Recht behalten, Fremde und Mißwollende auch von
der Seite seiner geliebten Ruhenden abzuweisen und zu entfernen.




Ich halte deswegen dafür, daß mein Prinzipal völlig recht habe, die
Stiftung zurückzunehmen; und dies ist noch billig genug, denn die
Glieder der Familie sind auf eine Weise verletzt, wofür gar kein
Ersatz zu denken ist.

Sie sollen das schmerzlich süße Gefühl entbehren, ihren Geliebten ein
Totenopfer zu bringen, die tröstliche Hoffnung, dereinst unmittelbar
neben ihnen zu ruhen".

"Die Dache ist nicht von der Bedeutung",versetzte Charlotte, "daß man
sich deshalb durch einen Rechtshandel beunruhigen sollte.

Meine Anstalt reut mich so wenig, daß ich die Kirche gern wegen dessen,
was ihr entgeht, entschädigen will.

Nur muß ich Ihnen aufrichtig gestehen: Ihre Argumente haben mich nicht
überzeugt.

Das reine Gefühl einer endlichen allgemeinen Gleichheit, wenigstens
nach dem Tode, scheint mir beruhigender als dieses eigensinnige,
starre Fortsetzen unserer Persönlichkeiten, Anhänglichkeiten und
Lebensverhältnisse.--Und was sagen Sie hierzu?" richtete sie ihre
Frage an den Architekten.

"Ich möchte", versetzte dieser, "in einer solchen Sache weder streiten
noch den Ausschlag geben.

Lassen Sie mich das, was meiner Kunst, meiner Denkweise am nächsten
liegt, bescheidentlich äußern.

Seitdem wir nicht mehr so glücklich sind, die Reste eines geliebten
Gegenstandes eingeurnt an unsere Brust zu drücken, da wir weder reich
noch heiter genug sind, sie unversehrt in großen, wohlausgezierten
Sarkophagen zu verwahren, ja da wir nicht einmal in den Kirchen mehr
Platz für uns und für die Unsrigen finden, sondern hinaus ins Freie
gewiesen sind, so haben wir alle Ursache, die Art und Weise, die Sie,
meine gnädige Frau, eingeleitet haben, zu billigen.

Wenn die Glieder einer Gemeinde reihenweise nebeneinander liegen, so
ruhen sie bei und unter den Ihrigen; und wenn die Erde uns einmal
aufnehmen soll, so finde ich nichts natürlicher und reinlicher, als
daß man die zufällig entstandenen, nach und nach zusammensinkenden
Hügel ungesäumt vergleiche und so die Decke, indem alle sie tragen,
einem jeden leichter gemacht werde".

"Und ohne irgendein Zeichen des Andenkens, ohne irgend etwas, das der
Erinnerung entgegenkäme, sollte das alles so vorübergehen?" versetzte
Ottilie.

"Keineswegs!" fuhr der Architekt fort; "nicht vom Andenken, nur vom
Platze soll man sich lossagen.

Der Baukünstler, der Bildhauer sind höchlich interessiert, daß der
Mensch von ihnen, von ihrer Kunst, von ihrer Hand eine Dauer seines
Daseins erwarte; und deswegen wünschte ich gut gedachte, gut
ausgeführte Monumente, nicht einzeln und zufällig ausgesäet, sondern
an einem Orte aufgestellt, wo sie sich Dauer versprechen können.

Da selbst die Frommen und Hohen auf das Vorrecht Verzicht tun, in den
Kirchen persönlich zu ruhen, so stelle man wenigstens dort oder in
schönen Hallen um die Begräbnisplätze Denkzeichen, Denkschriften auf.

Es gibt tausenderlei Formen, die man ihnen vorschreiben, tausenderlei
Zieraten, womit man sie ausschmücken kann".

"Wenn die Künstler so reich sind", versetzte Charlotte, "so sagen Sie
mir doch: wie kann man sich niemals aus der Form eines kleinlichen
Obelisken, einer abgestutzten Säule und eines Aschenkrugs
herausfinden?

Anstatt der tausend Erfindungen, deren Sie sich rühmen, habe ich immer
nur tausend Wiederholungen gesehen".

"Das ist wohl bei uns so", entgegnete ihr der Architekt, "aber nicht
überall.

Und überhaupt mag es mit der Erfindung und der schicklichen Anwendung
eine eigne Sache sein.

Besonders hat es in diesem Falle manche Schwierigkeit, einen ernsten
Gegenstand zu erheitern und bei einem unerfreulichen nicht ins
Unerfreuliche zu geraten.

Was Entwürfe zu Monumenten aller Art betrifft, deren habe ich viele
gesammelt und zeige sie gelegentlich; doch bleibt immer das schönste
Denkmal des Menschen eigenes Bildnis.

Dieses gibt mehr als irgend etwas anders einen Begriff von dem, was er
war; es ist der beste Text zu vielen oder wenigen Noten; nur müßte es
aber auch in seiner besten Zeit gemacht sein, welches gewöhnlich
versäumt wird.

Niemand denkt daran, lebende Formen zu erhalten, und wenn es geschieht,
so geschieht es auf unzulängliche Weise.

Da wird ein Toter geschwind noch abgegossen und eine solche Maske auf
einen Block gesetzt, und das heißt man eine Büste.

Wie selten ist der Künstler imstande, sie völlig wiederzubeleben!"
"Sie haben, ohne es vielleicht zu wissen ud zu wollen", versetzte
Charlotte, "dies Gespräch ganz zu meinen Gunsten gelenkt.

Das Bild eines Menschen ist doch wohl unabhängig; überall, wo es steht,
steht es für sich, und wir werden von ihm nicht verlangen, daß es die
eigentliche Grabstätte bezeichne.

Aber soll ich Ihnen eine wunderliche Empfindung bekennen?

Selbst gegen die Bildnisse habe ich eine Art von Abneigung; denn sie
scheinen mir immer einen stillen Vorwurf zu machen; sie deuten auf
etwas Entferntes, Abgeschiedenes und erinnern mich, wie schwer es sei,
die Gegenwart recht zu ehren.

Gedenkt man, wieviel Menschen man gesehen, gekannt, und gesteht sich,
wie wenig wir ihnen, wie wenig sie uns gewesen, wie wird uns da zumute!


Wir begegnen dem Geistreichen, ohne uns mit ihm zu unterhalten, dem
Gelehrten, ohne von ihm zu lernen, dem Gereisten, ohne uns zu
unterrichten, dem Liebevollen, ohne ihm etwas Angenehmes zu erzeigen.

Und leider ereignet sich dies nicht bloß mit den Vorübergehenden.

Gesellschaften und Familien betragen sich so gegen ihre liebsten
Glieder, Städte gegen ihre würdigsten Bürger, Völker gegen ihre
trefflichsten Fürsten, Nationen gegen ihre vorzüglichsten Menschen.

Ich hörte fragen, warum man von den Toten so unbewunden Gutes sage,
von den Lebenden immer mit einer gewissen Vorsicht.

Es wurde geantwortet: weil wir von jenen nichts zu befürchten haben
und diese uns noch irgendwo in den Weg kommen könnten.

So unrein ist die Sorge für das Andenken der andern; es ist meist nur
ein selbstischer Scherz, wenn es dagegen ein heiliger Ernst wäre,
seine Verhältnisse gegen die überbliebenen immer lebendig und tätig zu
erhalten".

Aufgeregt durch den Vorfall und die daran sich knüpfenden Gespräche,
begab man sich des andern Tages nach dem Begräbnisplatz zu dessen
Verzierung und Erheiterung der Architekt manchen glücklichen Vorschlag
tat.

Allein auch auf die Kirche sollte sich seine Sorgfalt erstrecken, auf
ein Gebäude, das gleich anfänglich seine Aufmerksamkeit an sich
gezogen hatte.




Diese Kirche stand seit mehrern Jahrhunderten, nach deutscher Art und
Kunst in guten Maßen errichtet und auf eine glückliche Weise verziert.

Man konnte wohl nachkommen, daß der Baumeister eines benachbarten
Klosters mit Einsicht und Neigung sich auch an diesem kleineren
Gebäude bewährt, und es wirkte noch immer ernst und angenehm auf den
Betrachter, obgleich die innere neue Einrichtung zum protestantischen
Gottesdienste ihm etwas von seiner Ruhe und Majestät genommen hatte.

Dem Architekten fiel es nicht schwer, sich von Charlotten eine mäßige
Summe zu erbitten, wovon er das äußere sowohl als das Innere im
altertümlichen Sinne herzustellen und mit dem davorliegenden
Auferstehungsfelde zur übereinstimmung zu bringen gedachte.

Er hatte selbst viel Handgeschick, und einige Arbeiter, die noch am
Hausbau beschäftigt waren, wollte man gern so lange beibehalten, bis
auch dieses fromme Werk vollendet wäre.

Man war nunmehr in dem Falle, das Gebäude selbst mit allen Umgebungen
und Angebäuden zu untersuchen, und da zeigte sich zum größten
Erstaunen und Vergnügen des Architekten eine wenig bemerkte kleine
Seitenkapelle von noch geistreichern und leichtern Maßen, von noch
gefälligern und fleißigern Zierarten.

Sie enthielt zugleich manchen geschnitzten und gemalten Rest jenes
älteren Gottesdienstes, der mit mancherlei Gebild und Gerätschaft die
verschiedenen Feste zu bezeichnen und jedes auf seine eigne Weise zu
feiern wußte.

Der Architekt konnte nicht unterlassen, die Kapelle sogleich in seinen
Plan mit hereinzuziehen und besonders diesen engen Raum als ein
Denkmal voriger Zeiten und ihres Geschmacks wiederherzustellen.

Er hatte sich die leeren Flächen nach seiner Neigung schon verziert
gedacht und freute sich, dabei sein malerisches Talent zu üben; allein
er machte seinen Hausgenossen fürs erste ein Geheimnis davon.

Vor allem andern zeigte er versprochenermaßen den Frauen die
verschiedenen Nachbildungen und Entwürfe von alten Grabmonumenten,
Gefäßen und andern dahin sich nähernden Dingen, und als man im
Gespräch auf die einfachern Grabhügel, der nordischen Völker zu reden
kam, brachte er seine Sammlung von mancherlei Waffen und Gerätschaften,
die darin gefunden worden, zur Ansicht.

Er hatte alles sehr reinlich und tragbar in Schubladen und Fächern auf
eingeschnittenen, mit Tuch überzogenen Brettern, sodaß diese alten,
ernsten Dinge durch seine Behandlung etwas Putzhaftes annahmen und man
mit Vergnügen darauf wie auf die Kästchen eines Modehändlers
hinblickte.

Und da er einmal im Vorzeigen war, da die Einsamkeit eine Unterhaltung
forderte, so pflegte er jeden Abend mit einem Teil seiner Schätze
hervorzutreten.

Sie waren meistenteils deutschen Ursprungs: Brakteaten, Dickmünzen,
Siegel und was sonst sich noch anschließen mag.

Alle diese Dinge richteten die Einbildungskraft gegen die ältere Zeit
hin, und da er zuletzt mit den Anfängen des Drucks, Holzschnitten und
den ältesten Kupfern seine Unterhaltung zierte und die Kirche täglich
auch, jenem Sinne gemäß, an Farbe und sonstiger Auszierung gleichsam
der Vergangenheit entgegenwuchs, so mußte man sich beinahe selbst
fragen, ob man denn wirklich in der neueren Zeit lebe, ob es nicht ein
Traum sei, daß man nunmehr in ganz andern Sitten, Gewohnheiten,
Lebensweisen und überzeugungen verweile.

Auf solche Art vorbereitet, tat ein größeres Portefeuille, das er
zuletzt herbeibrachte, die beste Wirkung.

Es enthielt zwar meist nur umrissene Figuren, die aber, weil sie auf
die Bilder selbst durchgezeichnet waren, ihren altertümlichen
Charakter vollkommen erhalten hatten, und diesen, wie einnehmend
fanden ihn die Beschauenden!

Aus allen Gestalten blickte nur das reinste Dasein hervor; alle mußte
man, wo nicht für edel, doch für gut ansprechen.

Heitere Sammlung, willige Anerkennung eines Ehrwürdigen über uns,
stille Hingebung in Liebe und Erwartung war auf allen Gesichtern, in
allen Gebärden ausgedrückt.

Der Greis mit dem kahlen Scheitel, der reichlockige Knabe, der muntere
Jüngling, der ernste Mann, der verklärte Heilige, der schwebende Engel,
alle schienen selig in einem unschuldigen Genügen, in einem frommen
Erwarten.

Das Gemeinste, was geschah, hatte einen Zug von himmlischem Leben, und
eine gottesdienstliche Handlung schien ganz jeder Natur angemessen.

Nach einer solchen Region blicken wohl die meisten wie nach einem
verschwundenen goldenen Zeitalter, nach einem verlorenen Paradiese hin.


Nur vielleicht Ottilie war in dem Fall, sich unter ihresgleichen zu
fühlen.

Wer hätte nun widerstehen können, als der Architekt sich erbot, nach
dem Anlaß dieser Urbilder die Räume zwischen den Spitzbogen der
Kapelle auszumalen und dadurch sein Andenken entschieden an einem Orte
zu stiften, wo es ihm so gut gegangen war.

Er erklärte sich hierüber mit einiger Wehmut; denn er konnte nach der
Lage der Sache wohl einsehen, daß sein Aufenthalt in so vollkommener
Gesellschaft nicht immer dauern könne, ja vielleicht bald abgebrochen
werden müsse.

übrigens waren diese Tage zwar nicht reich an Begebenheiten, doch
voller Anlässe zu ernsthafter Unterhaltung.

Wir nehmen daher Gelegenheit, von demjenigen, was Ottilie sich daraus
in ihren Heften angemerkt, einiges mitzuteilen, wozu wir keinen
schicklichern übergang finden als durch ein Gleichnis, das sich uns
beim Betrachten ihrer liebenswürdigen Blätter aufdringt.

Wir hören von einer besondern Einrichtung bei der englischen Marine.

Sämtliche Tauwerke der königlichen Flotte, vom stärksten bis zum
schwächsten, sind dergestalt geht, den man nicht herauswinden kann,
ohne alles aufzulösen, und woran auch die kleinsten Stücke kenntlich
sind, daß sie der Krone gehören.

Ebenso zieht sich durch Ottiliens Tagebuch ein Faden der Neigung und
Anhänglichkeit, der alles verbindet und das Ganze bezeichnet. Dadurch
werden diese Bemerkungen, Betrachtungen, ausgezogenen Sinnsprüche und
was sonst vorkommen mag, der Schreibenden ganz besonders eigen und für
sie von Bedeutung.

Selbst jede einzelne von uns ausgewählte und mitgeteilte Stelle gibt
davon das entschiedenste Zeugnis.

Neben denen dereinst zu ruhen, die man liebt, ist die angenehmste
Vorstellung, welche der Mensch haben kann, wenn er einmal über das
Leben hinausdenkt.

‘Zu den Seinigen versammelt werden’ ist ein so herzlicher Ausdruck.

Es gibt mancherlei Denkmale und Merkzeichen, die uns Entfernte und
Abgeschidene näher bringen.

Keins ist von der Bedeutung des Bildes.

Die Unterhaltung mit einem geliebten Bilde, selbst wenn es unähnlich
ist, hat was Reizendes, wie es manchmal etwas Reizendes hat, sich mit
einem Freunde streiten.

Man fühlt auf eine angenehme Weise, daß man zu zweien ist und doch
nicht auseinander kann.




Man unterhält sich manchmal mit einem gegenwärtigen Menschen als mit
einem Bilde.

Er braucht nicht zu sprechen, uns nicht anzusehen, sich nicht mit uns
zu beschäftigen; wir sehen ihn, wir fühlen unser Verhältnis zu ihm, ja
sogar unsere Verhältnisse zu ihm können wachsen, ohne daß er etwas
dazu tut, ohne daß er etwas davon empfindet, daß er sich eben bloß zu
uns wie ein Bild verhält.

Man ist niemals mit einem Porträt zufrieden von Personen, die man
kennt.

Deswegen habe ich die Porträtmaler immer bedauert.

Man verlangt so selten von den Leuten das Unmögliche, und gerade von
diesen fordert mans.

Sie sollen einem jeden sein Verhältnis zu den Personen, seine Neigung
und Abneigung mit in ihr Bild aufnehmen; sie sollen nicht bloß
darstellen, wie sie einen Menschen fassen, sondern wie jeder ihn
fassen würde.

Es nimmt mich nicht wunder, wenn solche Künstler nach und nach
verstockt, gleichgültig und eigensinnig werden.

Daraus möchte denn entstehen, was wollte, wenn man nur nicht gerade
darüber die Abbildungen so mancher lieben und teuren Menschen
entbehren müßte.

Es ist wohl wahr, die Sammlung des Architekten von Waffen und alten
Gerätschaften, die nebst dem Körper mit hohen Erdhügeln und
Felsenstücken zugedeckt waren, bezeugt uns, wie unnütz die Vorsorge
des Menschen sei für die Erhaltung seiner Persönlichkeit nach dem Tode.


Und so widersprechend sind wir!

Der Architekt gesteht, selbst solche Grabhügel der Vorfahren geöffnet
zu haben, und fährt dennoch fort, sich mit Denkmälern für die
Nachkommen zu beschäftigen.

Warum soll man es aber so streng nehmen?

Ist denn alles, was wir tun, für die Ewigkeit getan?

Ziehen wir uns nicht morgens an, um uns abends wieder auszuziehen?

Verreisen wir nicht, um wiederzukehren?

Und warum sollten wir nicht wünschen, neben den Unsrigen zu ruhen, und
wenn es auch nur für ein Jahrhundert wäre?

Wenn man die vielen versunkenen, die durch Kirchgänger abgetretenen
Grabsteine, die über ihren Grabmälern selbst zusammengestürzten
Kirchen erblickt, so kann einem das Leben nach dem Tode doch immer wie
ein zweites Leben vorkommen, in das man nun im Bilde, in der
überschrift eintritt und länger darin verweilt als in dem eigentlichen
lebendigen Leben.

Aber auch dieses Bild, dieses zweite Dasein verlischt früher oder
später.

Wie über die Menschen, so auch über die Denkmäler läßt sich die Zeit
ihr Recht nicht nehmen.

Es ist eine so angenehme Emfpindung, sich mit etwas zu beschäftigen,
was man nur halb kann, daß niemand den Dilettanten schelten sollte,
wenn er sich mit einer Kunst abgibt, die er nie lernen wird, noch den
Künstler tadeln dürfte, wenn er über die Grenze seiner Kunst hinaus in
einem benachbarten Felde sich zu ergehen Lust hat.

Mit so billigen Gesinnungen betrachten wir die Anstalten des
Architekten zum Ausmalen der Kapelle.

Die Farben waren bereitet, die Maße genommen, die Kartone gezeichnet;
allen Anspruch auf Erfindung hatte er aufgegeben; er hielt sich an
seine Umrisse: nur die sitzenden und schwebenden Figuren geschickt
auszuteilen, den Raum damit geschmackvoll auszuzieren, war seine Sorge.


Das Gerüste stand, die Arbeit ging vorwärts, und da schon einiges, was
in die Augen fiel, erreicht war, konnte es ihm nicht zuwider sein, daß
Charlotte mit Ottilien ihn besuchte.

Die lebendigen Engelsgesichter, die lebhaften Gewänder auf dem blauen
Himmelsgrunde erfreuten das Auge, indem ihr stilles frommes Wesen das
Gemüt zur Sammlung berief und eine sehr zarte Wirkung hervorbrachte.

Die Frauen waren zu ihm aufs Gerüst gestiegen, und Ottilie bemerkte
kaum, wie abgemessen leicht und bequem das alles zuging, als sich in
ihr das durch frühern Unterricht Empfangene mit einmal zu entwickeln
schien, sie nach Farbe und Pinsel griff und auf erhaltene Anweisung
ein faltenreiches Gewand mit soviel Reinlichkeit als Geschicklichkeit
anlegte.

Charlotte, welche gern sah, wenn Ottilie sich auf irgendeine Weise
beschäftigte und zerstreute, ließ die beiden gewähren und ging, um
ihren eigenen Gedanken nachzuhängen, um ihre Betrachtungen und Sorgen,
die sie niemanden mitteilen konnte, für sich durchzuarbeiten. Wenn
gewöhnliche Menschen, durch gemeine Verlegenheiten des Tags zu einem
leidenschaftlich ängstlichen Betragen aufgeregt, uns ein mitleidiges
Lächeln abnötigen, so betrachten wir dagegen mit Ehrfurcht ein Gemüt,
in welchem die Saat eines großen Schicksals ausgesäet worden, das die
Entwicklung dieser Empfängnis abwarten muß und weder das Gute noch das
Böse, weder das Glückliche noch das Unglückliche, was daraus
entspringen soll, beschleunigen darf und kann.

Eduard hatte durch Charlottens Boten, den sie ihm in seine Einsamkeit
gesendet, freundlich und teilnehmend, aber doch eher gefaßt und ernst
als zutraulich und liebevoll, geantwortet.

Kurz darauf war Eduard verschwunden, und seine Gattin konnte zu keiner
Nachricht von ihm gelangen, bis sie endlich von ungefähr seinen Namen
in den Zeitungen fand, wo er unter denen, die sich bei einer
bedeutenden Kriegsgelegenheit hervorgetan hatten, mit Auszeichnung
genannt war.

Sie wußte nun, welchen Weg er genommen hatte, sie erfuhr, daß er
großen Gefahren entronnen war; allein sie überzeugte sich sogleich,
daß er größere aufsuchen würde, und sie konnte sich daraus nur
allzusehr deuten, daß er in jedem Sinne schwerlich vom äußersten würde
zurückzuhalten sein.

Sie trug diese Sorgen für sich allein immer in Gedanken und mochte sie
hin und wider legen, wie sie wollte, so konnte sie doch bei keiner
Ansicht Beruhigung finden.

Ottilie, von alledem nichts ahnend, hatte indessen zu jener Arbeit die
größte Neigung gefaßt und von Charlotten gar leicht die Erlaubnis
erhalten, regelmäßig darin fortfahren zu dürfen.

Nun ging es rasch weiter, und der azurne Himmel war bald mit würdigen
Bewohnern bevölkert.

Durch eine anhaltende übung gewannen Ottilie und der Architekt bei den
letzten Bildern mehr Freiheit; sie wurden zusehends besser.

Auch die Gesichter, welche dem Architekten zu malen allein überlassen
war, zeigten nach und nach eine ganz besondere Eigenschaft; sie fingen
sämtlich an, Ottilien zu gleichen.

Die Nähe des schönen Kindes mußte wohl in die Seele des jungen Mannes,
der noch keine natürliche oder künstlerische Physiognomie vorgefaßt
hatte, einen so lebhaften Eindruck machen, daß ihm nach und nach auf
dem Wege vom Auge zur Hand nichts verlorenging, ja daß beide zuletzt
ganz gleichstimmig arbeiteten.

Genug, eins der letzten Gesichtchen glückte vollkommen, so daß es
schien, als wenn Ottilie selbst aus den himmlischen Räumen
heruntersähe.




An dem Gewölbe war man fertig; die Wände hatte man sich vorgenommen
einfach zu lassen und nur mit einer hellern bräunlichen Farbe zu
überziehen; die zarten Säulen und künstlichen bildhauerischen Zieraten
sollten sich durch eine dunklere auszeichnen.

Aber wie in solchen Dingen immer eins zum andern führt, so wurden noch
Blumen und Fruchtgehänge beschlossen, welche Himmel und Erde gleichsam
zusammenknüpfen sollten.

Hier war nun Ottilie ganz in ihrem Felde.

Die Gärten lieferten die schönsten Muster, und obschon die Kränze sehr
reich ausgestattet wurden, so kam man doch früher, als man gedacht
hatte, damit zustande.

Noch sah aber alles wüste und roh aus.

Die Gerüste waren durcheinander geschoben, die Bretter übereinander
geworfen, der ungleiche Fußboden durch mancherlei vergossene Farben
noch mehr verunstaltet.

Der Architekt erbat sich nunmehr, daß die Frauenzimmer ihm acht Tage
Zeit lassen und bis dahin die Kapelle nicht betreten möchten.

Endlich ersuchte er sie an einem schönen Abende, sich beiderseits
dahin zu verfügen; doch wünschte er, sie nicht begleiten zu dürfen,
und empfahl sich sogleich.

"Was er uns auch für eine überraschung zugedacht haben mag", sagte
Charlotte, als er weggegangen war, "so habe ich doch gegenwärtig keine
Lust hinunterzugehen.

Du nimmst es wohl allein über dich und gibst mir Nachricht.

Gewiß hat er etwas Angenehmes zustande gebracht.

Ich werde es erst in deiner Beschreibung und dann gern in der
Wirklichkeit genießen".

Ottilie, die wohl wußte, daß Charlotte sich in manchen Stücken in acht
nahm, alle Gemütsbewegungen vermied und besonders nicht überrascht
sein wollte, begab sich sogleich allein auf den Weg und sah sich
unwillkürlich nach dem Architekten um, der aber nirgends erschien und
sich mochte verborgen haben.

Sie trat in die Kirche, die sie offen fand.

Diese war schon früher fertig, gereinigt und eingeweiht.

Sie trat zur Türe der Kapelle, deren schwere, mit Erz beschlagene Last
sich leicht vor ihr auftat und sie in einem bekannten Raume mit einem
unerwarteten Anblick überraschte.

Durch das einzige hohe Fenster fiel ein ernstes, buntes Licht herein;
denn es war von farbigen Gläsern anmutig zusammengesetzt.

Das Ganze erhielt dadurch einen fremden Ton und bereitete zu einer
eigenen Stimmung.

Die Schönheit des Gewölbes und der Wände ward durch die Zierde des
Fußbodens erhöht, der aus besonders geformten, nach einem schönen
Muster gelegten, durch eine gegossene Gipsfläche verbundenen
Ziegelsteinen bestand.

Diese sowohl als die farbigen Scheiben hatte der Architekt heimlich
bereiten lassen und konnte nun in kurzer Zeit alles zusammenfügen.
Auch für Ruheplätze war gesorgt.

Es hatten sich unter jenen kirchlichen Altertümern einige schön
geschnitzte Chorstühle vorgefunden, die nun gar schicklich an den
Wänden angebracht umherstanden.

Ottilie freute sich der bekannten, ihr als ein unbekanntes Ganze
entgegentretenden Teile.

Sie stand, ging hin und wider, sah und besah; endlich setzte sie sich
auf einen der Stühle, und es schien ihr, indem sie auf--und
umherblickte, als wenn sie wäre und nicht wäre, als wenn sie sich
empfände und nicht empfände, als wenn dies alles vor ihr, sie vor sich
selbst verschwinden sollte; und nur als die Sonne das bisher sehr
lebhaft beschienene Fenster verließ, erwachte Ottilie vor sich selbst
und eilte nach dem Schlosse.

Sie verbarg sich nicht, in welche sonderbare Epoche diese überraschung
gefallen sei.

Es war der Abend vor Eduards Geburtstage.

Diesen hatte sie freilich ganz anders zu feiern gehofft.

Wie sollte nicht alles zu diesem Feste geschmückt sein!

Aber nunmehr stand der ganze herbstliche Blumenreichtum ungepflückt.

Diese Sonnenblumen wendeten noch immer ihr Angesicht gen Himmel, diese
Astern sahen noch immer still bescheiden vor sich hin, und was
allenfalls davon zu Kränzen gebunden war, hatte zum Muster gedient,
einen Ort auszuschmücken, der, wenn er nicht bloß eine Künstlergrille
bleiben, wenn er zu irgend etwas genutzt werden sollte, nur zu einer
gemeinsamen Grabstätte geeignet schien.

Sie mußte sich dabei der geräuschvollen Geschäftigkeit erinnern, mit
welcher Eduard ihr Geburtsfest gefeiert; sie mußte des neugerichteten
Hauses gedenken, unter dessen Decke man sich soviel Freundliches
versprach.

Ja das Feuerwerk rauschte ihr wieder vor Augen und Ohren, je einsamer
sie war, desto mehr vor der Einbildungskraft; aber sie fühlte sich
auch nur um desto mehr allein.

Sie lehnte sich nicht mehr auf seinen Arm und hatte keine Hoffnung, an
ihm jemals wieder eine Stütze zu finden.

Eine Bemerkung des jungen Künstlers muß ich aufzeichnen: "wie am
Handwerker so am bildenden Künstler kann man auf das deutlichste
gewahr werden, daß der Mensch sich am wenigsten zuzueignen vermag, was
ihm ganz eigens angehört.

Seine Werke verlassen ihn so wie die Vögel das Nest, worin sie
ausgebrütet worden".

Der Baukünstler vor allen hat hierin das wunderlichste Schicksal.

Wie oft wendet er seinen ganzen Geist, seine ganze Neigung auf, um
Räume hervorzubringen, von denen er sich selbst ausschließen muß! Die
königlichen Säle sind ihm ihre Pracht schuldig, deren größte Wirkung
er nicht mitgenießt.

In den Tempeln zieht er eine Grenze zwischen sich und dem
Allerheiligsten; er darf die Stufen nicht mehr betreten, die er zur
hrzerhebenden Feierlichkeit gründete, so wie der Goldschmied die
Monstranz nur von fern anbetet, deren Schmelz und Edelsteine er
zusammengeordnet hat.

Dem Reichen übergibt der Baumeister mit dem Schlüssel des Palastes
alle Bequemlichkeit und Behäbigkeit, ohne irgend etwas davon
mitzugenießen.

Muß sich nicht allgemach auf diese Weise die Kunst von dem Künstler
entfernen, wenn das Werk wie ein ausgestattetes Kind nicht mehr auf
den Vater zurückwirkt?

Und wie sehr mußte die Kunst sich selbst befördern, als sie fast
allein mit dem öffentlichen, mit dem, was allen und also auch dem
Künstler gehörte, sich zu beschäftigen bestimmt war!

Eine Vorstellung der alten Völker ist ernst und kann furchtbar
scheinen.




Sie dachten sich ihre Vorfahren in großen Höhlen ringsumher auf
Thronen sitzend in stummer Unterhaltung.

Dem Neuen, der hereintrat, wenn er würdig genug war, standen sie auf
und neigten ihm einen Willkommen.

Gestern, als ich in der Kapelle saß und meinem geschnitzten Stuhle
gegenüber noch mehrere umhergestellt sah, erschien mir jener Gedanke
gar freundlich und anmutig.

"Warum kannst du nicht sitzenbleiben?" dachte ich bei mir selbst,
"still und in dich gekehrt sitzenbleiben, lange, lange, bis endlich
die Freunde kämen, denen du aufstündest und ihren Platz mit
freundlichem Neigen anwiesest".

Die farbigen Scheiben machen den Tag zur ernsten Dämmerung, und jemand
müßte eine ewige Lampe stiften, damit auch die Nacht nicht ganz
finster bliebe.

Man mag sich stellen, wie man will, und man denkt sich immer sehend.

Ich glaube, der Mensch träumt nur, damit er nicht aufhöre zu sehen.

Es könnte wohl sein, daß das innere Licht einmal aus uns herausträte,
sodaß wir keines andern mehr bedürften.

Das Jahr klingt ab.

Der Wind geht über die Stoppeln und findet nichts mehr zu bewegen; nur
die roten Beeren jener schlanken Bäume scheinen uns noch an etwas
Munteres erinnern zu wollen, so wie uns der Taktschlag des Dreschers
den Gedanken erweckt, daß in der abgesichelten ähre soviel Nährendes
und Lebendiges verborgen liegt.

Wie seltsam mußte solchen Ereignissen, nach diesem aufgedrungenen
Gefühl von Vergänglichkeit und Hinschwinden Ottilie durch die
Nachricht getroffen werden, die ihr nicht länger verborgen bleiben
konnte, daß Eduard sich dem wechselnden Kriegsglück überliefert habe.

Es entging ihr leider keine von den Betrachtungen, die sie dabei zu
machen Ursache hatte.

Glücklicherweise kann der Mensch nur einen gewissen Grad des Unglücks
fassen; was darüber hinausgeht, vernichtet ihn oder läßt ihn
gleichgültig.

Es gibt Lagen, in denen Furcht und Hoffnung eins werden, sich einander
wechselseitig aufheben und in eine dunkle Fühllosigkeit verlieren.

Wie könnten wir sonst die entfernten Geliebtesten in stündlicher
Gefahr wissen und dennoch unser tägliches, gewöhnliches Leben immer so
forttreiben.

Es war daher, als wenn ein guter Geist für Ottilien gesorgt hätte,
indem er auf einmal in diese Stille, in der sie einsam und
unbeschäftigt zu versinken schien, ein wildes Heer hereinbrachte, das,
indem es ihr von außen genug zu schaffen gab und sie aus sich selbst
führte, zugleich in ihr das Gefühl eigener Kraft anregte.

Charlottens Tochter, Luciane, war kaum aus der Pension in die große
Welt getreten, hatte kaum in dem Hause ihrer Tante sich von
zahlreicher Gesellschaft umgeben gesehen, als ihr Gefallenwollen
wirklich Gefallen erregte und ein junger, sehr reicher Mann gar bald
eine heftige Neigung empfand, sie zu besitzen.

Sein ansehnliches Vermögen gab ihm ein Recht, das Beste jeder Art sein
eigen zu nennen, und es schien ihm nichts weiter abzugehen als eine
vollkommene Frau, um die ihn die Welt so wie um das übrige zu beneiden
hätte.

Diese Familienangelegenheit war es, welche Charlotten bisher sehr viel
zu tun gab, der sie ihre ganze überlegung, ihre Korrespondenz widmete,
insofern diese nicht darauf gerichtet war, von Eduard nähere Nachricht
zu erhalten; deswegen auch Ottilie mehr als sonst in der letzten Zeit
allein blieb.

Diese wußte zwar um die Ankunft Lucianens; im Hause hatte sie deshalb
die nötigsten Vorkehrungen getroffen; allein so nahe stellte man sich
den Besuch nicht vor.

Man wollte vorher noch schreiben, abreden, näher bestimmen, als der
Sturm auf einmal über das Schloß und Ottilien hereinbrach.

Angefahren kamen nun Kammerjungfern und Bediente, Brancards mit
Koffern und Kisten; man glaubte schon eine doppelte und dreifache
Herrschaft im Hause zu haben; aber nun erschienen erst die Gäste
selbst: die Großtante mit Lucianen und einigen Freundinnen, der
Bräutigam gleichfalls nicht unbegleitet.

Da lag das Vorhaus voll Vachen, Mantelsäcke und anderer lederner
Gehäuse.

Mit Mühe sonderte man die vielen Kästchen und Futterale auseinander.

Des Gepäckes und Geschleppes war kein Ende.

Dazwischen regnete es mit Gewalt, woraus manche Unbequemlichkeit
entstand.

Diesem ungestümen Treiben begegnete Ottilie mit gleichmütiger
Tätigkeit, ja ihr heiteres Geschick erschien im schönsten Glanze; denn
sie hatte in kurzer Zeit alles untergebracht und angeordnet.

Jedermann war logiert, jedermann nach seiner Art bequem, und glaubte
gut bedient zu sein, weil er nicht gehindert war, sich selbst zu
bedienen.

Nun hätten alle gern, nach einer höchst beschwerlichen Reise, einige
Ruhe genossen; der Bräutigam hätte sich seiner Schwiegermutter gern
genähert, um ihr seine Liebe, seinen guten Willen zu beteuern; aber
Luciane konnte nicht rasten.

Sie war nun einmal zu dem Glücke gelangt, ein Pferd besteigen zu
dürfen.

Der Bräutigam hatte schöne Pferde, und sogleich mußte man aufsitzen.

Wetter und Wind, Regen und Sturm kamen nicht in Anschlag; es war, als
wenn man nur lebte, um naß zu werden und sich wieder zu trocknen.

Fiel es ihr ein, zu Fuße auszugehen, so fragte sie nicht, was für
Kleider sie anhatte und wie sie beschuht war: sie mußte die Anlagen
besichtigen, von denen sie vieles gehört hatte.

Was nicht zu Pferde geschehen konnte, wurde zu Fuß durchrannt.

Bald hatte sie alles gesehen und abgeurteilt.

Bei der Schnelligkeit ihres Wesens war ihr nicht leicht zu
widersprechen.

Die Gesellschaft hatte manches zu leiden, am meisten aber die
Kammermädchen, die mit Waschen und Bügeln, Auftrennen und Annähen
nicht fertig werden konnten.

Kaum hatte sie das Haus und die Gegend erschöpft, als sie sich
verpflichtet fühlte, rings in der Nachbarschaft Besuch abzulegen.

Weil man sehr schnell ritt und fuhr, so reichte die Nachbarschaft
ziemlich fern umher.

Das Schloß ward mit Gegenbesuchen überschwemmt, und damit man sich ja
nicht verfehlen möchte, wurden bald bestimmte Tage angesetzt. Indessen
Charlotte mit der Tante und dem Geschäftsträger des Bräutigams die
innern Verhältnisse festzustellen bemüht war und Ottilie mit ihren
Untergebenen dafür zu sorgen wußte, daß es an nichts bei so großem
Zugang fehlen möchte, da denn Jäger und Gärtner, Fischer und Krämer in
Bewegung gesetzt wurden, zeigte sich Luciane immer wie ein brennender
Kometenkern, der einen langen Schweif nach sich zieht.




Die gewöhnlichen Besuchsunterhaltungen dünkten ihr bald ganz
unschmackhaft.

Kaum daß sie den ältesten Personen eine Ruhe am Spieltisch gönnte: wer
noch einigermaßen beweglich war--und wer ließ sich nicht durch ihre
reizenden Zudringlichkeiten in Bewegung setzen?

-, Mußte herbei, wo nicht zum Tanze, doch zum lebhaften Pfand-,
Straf--und Vexierspiel.

Und obgleich das alles, so wie hernach die Pfänderlösung, auf sie
selbst berechnet war, so ging doch von der andern Seite niemand,
besonders kein Mann, er mochte von einer Art sein, von welcher er
wollte, ganz leer aus; ja es glückte ihr, einige ältere Personen von
Bedeutung ganz für sich zu gewinnen, indem sie ihre eben einfallenden
Geburts--und Namenstage ausgeforscht hatte und besonders feierte.

Dabei kam ihr ein ganz eignes Geschick zustatten, sodaß, indem alle
sich begünstigt sahen, jeder sich für den am meisten Begünstigten
hielt: eine Schwachheit, deren sich sogar der älteste in der
Gesellschaft am allermerklichsten schuldig machte.

Schien es bei ihr Plan zu sein, Männer, die etwas vorstellten, Rang,
Ansehen, Ruhm oder sonst etwas Bedeutendes für sich hatten, für sich
zu gewinnen, Weisheit und Besonnenheit zuschanden zu machen und ihrem
wilden, wunderlichen Wesen selbst bei der Bedächtlichkeit Gust zu
erwerben, so kam die Jugend doch dabei nicht zu kurz; jeder hatte sein
Teil, seinen Tag, seine Stunde, in der sie ihn zu entzücken und zu
fesseln wußte.

So hatte sie den Architekten schon bald ins Auge gefaßt, der jedoch
aus seinem schwarzen, langlockigen Haar so unbefangen heraussah, so
gerad und ruhig in der Entfernung stand, auf alle Fragen kurz und
verständig antwortete, sich aber auf nichts weiter einzulassen geneigt
schien, daß sie sich endlich einmal, halb unwillig halb listig,
entschloß, ihn zum Helden des Tages zu machen und dadurch auch für
ihren Hof zu gewinnen.

Nicht umsonst hatte sie so vieles Gepäck mitgebracht, ja es war ihr
noch manches gefolgt.

Sie hatte sich auf eine unendliche Abwechselung in Kleidern vorgesehen.


Wenn es ihr Vergnügen machte, sich des Tages drei-, viermal umzuziehen
und mit gewöhnlichen, in der Gesellschaft üblichen Kleidern vom Morgen
bis in die Nacht zu wechseln, so erschien sie dazwischen wohl auch
einmal im wirklichen Maskenkleid, als Bäuerin und Fischerin, als Fee
und Blumenmädchen.

Sie verschmähte nicht, sich als alte Frau zu verkleiden, um desto
frischer ihr junges Gesicht aus der Kutte hervorzuzeigen; und wirklich
verwirrte sie dadurch das Gegenwärtige und das Eingebildete dergestalt,
daß man sich mit der Saalnixe verwandt und verschwägert zu sein
glaubte.

Wozu sie aber diese Verkleidungen hauptsächlich benutzte, waren
pantomimische Stellungen und Tänze, in denen sie verschiedene
Charaktere auszudrücken gewandt war.

Ein Kavalier aus ihrem Gefolge hatte sich eingerichtet, auf dem Flügel
ihre Gebärden mit der wenigen nötigen Musik zu begleiten; es bedurfte
nur einer kurzen Abrede, und sie waren sogleich in Einstimmung.

Eines Tages, als man sie bei der Pause eines lebhaften Balls auf ihren
eigenen heimlichen Antrieb gleichsam aus dem Stegereife zu einer
solchen Darstellung aufgefordert hatte, schien sie verlegen und
überrascht und ließ sich wider ihre Gewohnheit lange bitten.

Sie zeigte sich unentschlossen, ließ die Wahl, bat wie ein
Imporvisator um einen Gegenstand, bis endlich jener Klavier spielende
Gehülfe, mit dem es abgeredet sein mochte, sich an den Flügel setzte,
einen Trauermarsch zu spielen anfing und sie aufforderte, jene
Artemisia zu geben, welche sie so vortrefflich einstudiert habe.

Sie ließ sich erbitten, und nach einer kurzen Abwesenheit erschien sie,
bei den zärtlich traurigen Tönen des Totenmarsches, in Gestalt der
königlichen Witwe, mit gemessenem Schritt, einen Aschenkrug vor sich
hertragend.

Hinter ihr brachte man eine große schwarze Tafel und in einer goldenen
Reißfeder ein wohlzugeschnitztes Stück Kreide.

Einer ihrer Verehrer und Adjutanten, dem sie etwas ins Ohr sagte, ging
sogleich den Architekten aufzufordern, zu nötigen und gewissermaßen
herbeizuschieben, daß er als Baumeister das Grab des mausolus zeichnen
und also keineswegs einen Statisten, sondern einen ernstlich
Mitspielenden vorstellen sollte.

Wie verlegen der Architekt auch äußerlich erschien--denn er machte in
seiner ganz schwarzen, knappen, modernen Zivilgestalt einen
wunderlichen Kontrast mit jenen Flören, Kreppen, Fransen, Schmelzen,
Quasten und Kronen -, so faßte er sich doch gleich innerlich, allein
um so wunderlicher war es anzusehen.

Mit dem größten Ernst stellte er sich vor die große Tafel, die von ein
paar Pagen gehalten wurde, und zeichnete mit viel Bedacht und
Genauigkeit ein Grabmal, das zwar eher einem longobardischen als einem
karischen König wäre gemäß gewesen, aber doch in so schönen
Verhältnissen, so ernst in seinen Teilen, so geistreich in seinen
Zieraten, daß man es mit Vergnügen entstehen sah und, als es fertig
war, bewunderte.

Er hatte sich in diesem ganzen Zeitraum fast nicht gegen die Königin
gewendet, sondern seinem Geschäft alle Aufmerksamkeit gewidmet.

Endlich, als er sich vor ihr neigte und andeutete, daß er nun ihre
Befehle vollzogen zu haben glaube, hielt sie ihm noch die Urne hin und
bezeichnete das Verlangen, diese oben auf dem Gipfel abgebildet zu
sehen.

Er tat es, obgleich ungern, weil sie zu dem Charakter seines übrigen
Entwurfs nicht passen wollte.

Was Lucianen betraf, so war sie endlich von ihrer Ungeduld erlöst;
denn ihre Absicht war keineswegs, eine gewissenhafte Zeichnung von ihm
zu haben.

Hätte er mit wenigen Strichen nur hinskizziert, was etwa einem
Monument ähnlich gesehen, und sich die übrige Zeit mit ihr abgegeben,
so wäre das wohl dem Endzweck und ihren Wünschen gemäßer gewesen.

Bei seinem Benehmen dagegen kam sie in die größte Verlegenheit; denn
ob sie gleich in ihrem Schmerz, ihren Anordnungen und Andeutungen,
ihrem Beifall über das nach und nach Entstehende ziemlich abzuwechseln
suchte und sie ihn einigemal beinahe herumzerrte, um nur mit ihm in
eine Art von Verhältnis zu kommen, so erwies er sich doch gar zu steif,
dergestalt daß sie allzuoft ihre Zuflucht zur Urne nehmen, sie an ihr
Herz drücken und zum Himmel schauen mußte, ja zuletzt, weil sich doch
dergleichen Situationen immer steigern, mehr einer Witwe von Ephesus
als einer Königin von Karien ähnlich sah.

Die Vorstellung zog sich daher in die Lage; der Klavierspieler, der
sonst Geduld genug hatte, wußte nicht mehr, in welchen Ton er
ausweichen sollte.

Er dankte Gott, als er die Urne auf der Pyramide stehn sah, und fiel
unwillkürlich, als die Königin ihren Dank ausdrücken wollte, in ein
lustiges Thema, wodurch die Vorstellung zwar ihren Charakter verlor,
die Gesellschaft jedoch völlig aufgeheitert wurde, die sich denn
solgeich teilte, der Dame für ihren vortrefflichen Ausdruck und dem
Architekten für seine künstliche und zierliche Zeichnung eine freudige
Bewunderung zu beweisen.

Besonders der Bräutigam unterhielt sich mit dem Achritekten.

"Es tut mir leid", sagte jener, "daß die Zeichnung so vergänglich ist.

Sie erlauben wenigstens, daß ich sie mir auf mein Zimmer bringen lasse
und mich mit Ihnen darüber unterhalte".




-"Wenn es Ihnen Vergnügen macht", sagte der Architekt, "so kann ich
Ihnen sorgfältige Zeichnungen von dergleichen Gebäuden und Monumenten
vorlegen, wovon dieses nur ein zufälliger, flüchtiger Entwurf ist".

Ottilie stand nicht fern und trat zu den beiden.

"Versäumen Sie nicht",sagte sie zum Architekten, "den Herrn Baron
gelegentlich Ihre Sammlung sehen zu lassen; er ist ein Freund der
Kunst und des Altertums; ich wünsche, daß Sie sich näher kennenlernen".


Luciane kam herbeigefahren und fragte: "wovon ist die Rede?" "Von
einer Sammlung Kunstwerke", antwortete der Baron, "welche dieser Herr
besitzt und die er uns gelegentlich zeigen will".

"Er mag sie nur gleich bringen!" rief Luciane.

"Nicht wahr, Sie bringen sie gleich?" setzte sie schmeichelnd hinzu,
indem sie ihn mit beiden Händen freundlich anfaßte.

"Es möchte jetzt der Zeitpunkt nicht sein", versetzte der Architekt.

"Was!" rief Luciane gebieterisch, "Sie wollen dem Befehl Ihrer Königin
nicht gehorchen?" Dann legte sie sich auf ein neckisches Bitten.

"Sein Sie nicht eigensinnig!" sagte Ottilie halb leise.

Der Architekt entfernte sich mit einer Beugung; sie war weder bejahend
noch verneinend.

Kaum war er fort, als Luciane sich mit einem Windspiel im Saale
herumjagte.

"Ach!" rief sie aus, indem sie zufällig an ihre Mutter stieß, "wie bin
ich nicht unglücklich!

Ich habe meinen Affen nicht mitgenommen; man hat es mir abgeraten; es
ist aber nur die Bequemlichkeit meiner Leute, die mich um dieses
Vergnügen bringt.

Ich will ihn aber nachkommen lassen, es soll mir jemand hin, ihn zu
holen.

Wenn ich nur sein Bildnis sehen könnte, so wäre ich schon vergnügt.

Ich will ihn aber gewiß auch malen lassen, und er soll mir nicht von
der Seite kommen".

"Vielleicht kann ich dich trösten", versetzte Charlotte, "wenn ich dir
aus der Bibliothek einen ganzen Band der wunderlichsten Affenbilder
kommen lasse".

Luciane schrie vor Freuden laut auf, und der Folioband wurde gebracht.

Der Anblick dieser menschenähnlichen und durch den Künstler noch mehr
vermenschlichten abscheulichen Geschöpfe machte Lucianen die größte
Freude.

Ganz glücklich aber fühlte sie sich, bei einem jeden dieser Tiere die
ähnlichkeit mit bekannten Menschen zu finden.

"Sieht der nicht aus wie die Onkel?" rief sie unbarmherzig, "der wie
der Galanteriehändler M-, der wie der Pfarrer S-, und dieser ist der
Dings -, der--leibhaftig.

Im Grunde sind doch die Affen die eigentlichen Incroyables, und es ist
unbegreiflich, wie man sie aus der besten Gesellschaft ausschließen
mag".

Sie sagte das in der besten Gesellschaft, doch niemand nahm es ihr
übel.

Man war so gewohnt, ihrer Anmut vieles zu erlauben, daß man zuletzt
ihrer Unart alles erlaubte.

Ottilie unterhielt sich indessen mit dem Bräutigam.

Sie hoffte auf die Rückkunft des Architekten, dessen ernstere,
geschmackvollere Sammlungen die Gesellschaft von diesem Affenwesen
befreien sollten.

In dieser Erwartung hatte sie sich mit dem Baron besprochen und ihn
auf manches aufmerksam gemacht.

Allein der Architekt blieb aus, und als er endlich wiederkam, verlor
er sich unter der Gesellschaft, ohne etwas mitzubringen und ohne zu
tun, als ob von etwas die Frage gewesen wäre.

Ottilie ward einen Augenblick--wie soll mans nennen?--Verdrießlich,
ungehalten, betroffen; sie hatte ein gutes Wort an ihn gewendet, sie
gönnte dem Bräutigam eine vergnügte Stunde nach seinem Sinne, der bei
seiner unendlichen Liebe für Lucianen doch von ihrem Betragen zu
leiden schien.

Die Affen mußten einer Kollation Platz machen.

Gesellige Spiele, ja sogar noch Tänze, zuletzt ein freudeloses
Herumsitzen und Wiederaufjagen einer schon gesunkenen Lust dauerten
diesmal, wie sonst auch, weit über Mitternacht.

Denn schon hatte sich Luciane gewöhnt, morgens nicht aus dem Bette und
abends nicht ins Bette gelangen zu können.

Um diese Zeit finden sich in Ottiliens Tagebuch Ereignisse seltner
angemerkt, dagegen häufiger auf das Leben bezügliche und vom Leben
abgezogene Maximen und Sentenzen.

Weil aber die meisten derselben wohl nicht durch ihre eigene Reflexion
entstanden sein können, so ist es wahrscheinlich, daß man ihr
irgendeinen Heft mitgeteilt, aus dem sie sich, was ihr gemütlich war,
ausgeschrieben.

Manches Eigene von innigererem Bezug wird an dem roten Faden wohl zu
erkennen sein.

Wir blicken so gern in die Zukunft, weil wir das Ungefähre, was sich
in ihr hin und her bewegt, durch stille Wünsche so gern zu unsern
Gunsten heranleiten möchten.

Wir befinden uns nicht leicht in großer Gesellschaft, ohne zu denken,
der Zufall, der so viele zusammenbringt, solle uns auch unsre Freunde
herbeiführen.

Man mag noch so eingezogen leben, so wird man, ehe man sichs versieht,
ein Schuldner oder ein Gläubiger.

Begegnet uns jemand, der uns Dank schuldig ist, gleich fällt es uns
ein.

Wie oft können wir jemand begegnen, dem wir Dank schuldig sind, ohne
daran zu denken!

Sich mitzuteilen ist Natur; mitgeteiltes aufzunehmen, wie es gegeben
wird, ist Bildung.

Niemand würde viel in Gesellschaften sprechen, wenn er sich bewußt
wäre, wie oft er die andern mißversteht.

Man verändert fremde Reden beim Wiederholen wohl nur darum so sehr,
weil man sie nicht verstanden hat.

Wer vor andern lange allein spricht, ohne den Zuhörern zu schmeicheln,
erregt Widerwillen.

Jedes ausgesprochene Wort erregt den Gegensinn.

Widerspruch und Scheichelei machen beide ein schlechtes Gespräch.




Die angenehmsten Gesellschaften sind die, in welchen eine heitere
Ehrerbietung der Glieder gegeneinander obwaltet.

Durch nichts bezeichnen die Menschen mehr ihren Charakter als durch
das, was sie lächerlich finden.

Das Lächerliche entspringt aus einem sittlichen Kontrast, der auf eine
unschädliche Weise für die Sinne in Verbindung gebracht wird. Der
sinnliche Mensch lacht oft, wo nichts zu lachen ist.

Was ihn auch anregt, sein inneres Behagen kommt zum Vorschein.

Der Verständige findet fast alles lächerlich, der Vernünftige fast
nichts.

Einem bejahrten Manne verdachte man, daß er sich noch um junge
Frauenzimmer bemühte.

"Es ist das einzige Mittel", versetzte er, "sich zu verjüngen, und das
will doch jedermann".

Man läßt sich seine Mängel vorhalten, man läßt sich strafen, man
leidet manches um ihrer willen mit Geduld; aber ungeduldig wird man,
wenn man sie ablegen soll.

Gewisse Mängel sind notwendig zum Dasein des einzelnen.

Es würde uns unangenehm sein, wenn alte Freunde gewisse Eigenheiten
ablegten.

Man sagt: "es stirbt bald", wenn einer etwas gern seine Art und Weise
tut.

Was für Mängel dürfen wir behalten, ja an uns kultivieren? Solche,
die den andern eher schmeicheln als sie verletzen.

Die Leidenschaften sind Mängel oder Tugenden, nur gesteigerte.

Unsre Leidenschaften sind wahre Phönixe.

Wie der alte verbrennt, steigt der neue sogleich wieder aus der Asche
hervor.

Große Leidenschaften sind Krankheiten ohne Hoffnung.

Was sie heilen könnte, macht sie erst recht gefährlich.

Die Leidenschaft erhöht und mildert sich durchs Bekennen.

In nichts wäre die Mittelstraße vielleicht wünschenswerter als im
Vertrauen und Verschweigen gegen die, die wir lieben.

So peitschte Luciane den Lebensrausch im geselligen Strudel immer vor
sich her.

Ihr Hofstaat vermehrte sich täglich, teils weil ihr Treiben so manchen
erregte und anzog, teils weil sie sich andre durch Gefälligkeit und
Wohltun zu verbinden wußte.

Mittteilend war sie im höchsten Grade; denn da ihr durch die Neigung
der Tante und des Bräutigams soviel Schönes und Köstliches auf einmal
zugeflossen war, so schien sie nichts Eigenes zu besitzen und den Wert
der Dinge nicht zu kennen, die sich um sie gehäuft hatten.

So zauderte sie nicht einen Augenblick, einen kostbaren Schal
abzunehmen und ihn einem Frauenzimmer umzuhängen, das ihr gegen die
übrigen zu ärmlich gekleidet schien, und sie tat das auf eine so
neckische, geschickte Weise, daß niemand eine solche Gabe ablehnen
konnte.

Einer von ihrem Hofstaat hatte stets eine Börse und den Auftrag, in
den Orten, wo sie einkehrten, sich nach den ältesten und Kränksten zu
erkundigen und ihren Zustand wenigstens für den Augenblick zu
erleichtern.

Dadurch entstand ihr in der ganzen Gegend ein Name von
Vortrefflichkeit, der ihr doch auch manchmal unbequem ward, weil er
allzuviel lästige Notleidende an sie heranzog.

Durch nichts aber vermehrte sie so sehr ihren Ruf als durch ein
auffallendes, gutes, beharrliches Benehmen gegen einen unglücklichen
jungen Mann, der die Gesellschaft floh, weil er, übrigens schön und
wohlgebildet, seine rechte Hand, obgleich rühmlich, in der Schlacht
verloren hatte.

Diese Verstümmlung erregte ihm einen solchen Mißmut, es war ihm so
verdrießlich, daß jede neue Bekanntschaft sich auch immer mit seinem
Unfall bekannt machen sollte, daß er sich lieber versteckte, sich dem
Lesen und andern Studien ergab und ein für allemal mit der
Gesellschaft nichts wollte zu schaffen haben.

Das Dasein dieses jungen Mannes blieb ihr nicht verborgen.

Er mußte herbei, erst in kleiner Gesellschaft, dann in größerer, dann
in der größten.

Sie benahm sich anmutiger gegen ihn als gegen irgendeinen andern;
besonders wußte sie durch zudringliche Dienstfertigkeit ihm seinen
Verlust wert zu machen, indem sie geschäftig war, ihn zu ersetzen.
Bei Tafel mußte er neben ihr seinen Platz nehmen; sie schnitt ihm vor,
sodaß er nur die Gabel gebrauchen durfte.

Nahmen ältere, Vornehmere ihm ihre Nachbarschaft weg, so erstreckte
sie ihre Aufmerksamkeit über die ganze Tafel hin, und die eilenden
Bedienten mußten das ersetzen, was ihm die Entfernung zu rauben drohte.


Zuletzt munterte sie ihn auf, mit der linken Hand zu schreiben; er
mußte alle seine Versuche an sie richten, und so stand sie, entfernt
oder nah, immer mit ihm in Verhältnis.

Der junge Mann wußte nicht, wie ihm geworden war, und wirklich fing er
von diesem Augenblick ein neues Leben an.

Vielleicht sollte man denken, ein solches Betragen wäre dem Bräutigam
mißfällig gewesen; allein es fand sich das Gegenteil.

Er rechnete ihr diese Bemühungen zu großem Verdienst an und war um so
mehr darüber ganz ruhig, als er ihre fast übertriebenen Eigenheiten
kannte, wodurch sie alles, was im mindesten verfänglich schien, von
sich abzulehnen wußte.

Sie wollte mit jedermann nach Belieben umspringen, jeder war in Gefahr,
von ihr einmal angestoßen, gezerrt oder sonst geneckt zu werden;
niemand aber durfte sich gegen sie ein Gleiches erlauben, niemand sie
nach Willkür berühren, niemand auch nur im entferntesten Sinne eine
Freiheit, die sie sich nahm, erwidern; und so hielt sie die andern in
den strengsten Grenzen der Sittlichkeit gegen sich, die sie gegen
andere jeden Augenblick zu übertreten schien.

überhaupt hätte man glauben können, es sei bei ihr Maxime gewesen,
sich dem Lobe und dem Tadel, der Neigung und der Abneigung gleichmäßig
auszusetzen.

Denn wenn sie die Menschen auf mancherlei Weise für sich zu gewinnen
suchte, so verdarb sie es wieder mit ihnen gewöhnlich durch eine böse
Zunge, die niemanden schonte.

So wurde kein Besuch in der Nachbarschaft abgelegt, nirgends sie und
ihre Gesellschaft in Schlössern und Wohnungen freundlich aufgenommen,
ohne daß sie bei der Rückkehr auf das ausgelassenste merken ließ, wie
sie alle menschlichen Verhältnisse nur von der lächerlichen Seite zu
nehmen geneigt sei.

Da waren drei Brüder, welche unter lauter Komplimenten, wer zuerst
heiraten sollte, das Alter übereilt hatte; hier eine kleine, junge
Frau mit einem großen, alten Manne; dort umgekehrt ein kleiner,
munterer Mann und eine unbehülfliche Riesin.




In dem einen Hause stolperte man bei jedem Schritt über ein Kind; das
andre wollte ihr bei der größten Gesellschaft nicht voll erscheinen,
weil keine Kinder gegenwärtig waren.

Alte Gatten sollten sich nur schnell begraben lassen, damit doch
wieder einmal jemand im Hause zum Lachen käme, da ihnen keine Noterben
gegeben waren.

Junge Eheleute sollten reisen, weil das Haushalten sie gar nicht
kleide.

Und wie mit den Personen, so machte sie es auch mit den Sachen, mit
den Gebäuden wie mit dem Haus--und Tischgeräte.

Besonders alle Wandverzierungen reizten sie zu lustigen Bemerkungen.

Von dem ältesten Hautelisseteppich bis zu der neusten Papiertapete,
vom ehrwürdigsten Familienbilde bis zum frivolsten neuen Kupferstich,
eins wie das andre mußte leiden, eins wie das andre wurde durch ihre
spöttischen Bemerkungen gleichsam aufgezehrt, so daß man sich hätte
verwundern sollen, wie fünf Meilen umher irgend etwas nur noch
existierte.

Eigentliche Bosheit war vielleicht nicht in diesem verneinenden
Bestreben; ein selbstischer Mutwille mochte sie gewöhnlich anreizen;
aber eine wahrhafte Bitterkeit hatte sich in ihrem Verhältnis zu
Ottilien erzeugt.

Auf die ruhige, ununterbrochene Tätigkeit des lieben Kindes, die von
jedermann bemerkt und gepriesen wurde, sah sie mit Verachtung herab;
und als zur Sprache kam, wie sehr sich Ottilie der Gärten und der
Treibhäuser annehme, spottete sie nicht allein darüber, indem sie
uneingedenk des tiefen Winters, in dem man lebte, sich zu verwundern
schien, daß man weder Blumen noch Früchte gewahr werde, sondern sie
ließ auch von nun an so viel Grünes, so viel Zweige und was nur irgend
keimte, herbeiholen und zur täglichen Zierde der Zimmer und des
Tisches verschwenden, daß Ottilie und der Gärtner nicht wenig gekränkt
waren, ihre Hoffnungen für das nächste Jahr und vielleicht auf längere
Zeit zerstört zu sehen.

Ebensowenig gönnte sie Ottilien die Ruhe des häuslichen Ganges, worin
sie sich mit Bequemlichkeit fortbewegte.

Ottilie sollte mit auf die Lust--und Schlittenfahrten, sie sollte mit
auf die Bälle, die in der Nachbarschaft veranstaltet wurden; sie
sollte weder Schnee noch Kälte noch gewaltsame Nachtstürme scheuen, da
ja soviel andre nicht davon stürben.

Das zarte Kind litt nicht wenig darunter, aber Luciane gewann nichts
dabei; denn obgleich Ottilie sehr einfach gekleidet ging, so war sie
doch, oder so schien sie wenigstens immer den Männern die Schönste.

Ein sanftes Anziehen versammelte alle Männer um sie her, sie mochte
sich in den großen Räumen am ersten oder am letzten Platze befinden;
ja der Bräutigam Lucianens selbst unterhielt sich oft mit ihr, und
zwar um so mehr, las er in einer Angelegenheit, die ihn beschäftigte,
ihren Rat, ihre Mitwirkung verlangte.

Er hatte den Architekten näher kennen lernen, bei Gelegenheit seiner
Kunstsammlung viel über das Geschichtliche mit ihm gesprochen, in
andern Fällen auch, besonders bei Betrachtung der Kapelle, sein Talent
schätzen gelernt.

Der Baron war jung, reich; er sammelte, er wollte bauen; seine
Liebhaberei war lebhaft, seine Kenntnisse schwach; er glaubte in dem
Architekten seinen Mann zu finden, mit dem er mehr als Einen Zweck
zugleich erreichen könnte.

Er hatte seiner Braut von dieser Absicht gesprochen; sie lobte ihn
darum und war höchlich mit dem Vorschlag zufrieden, doch vielleicht
mehr, um diesen jungen Mann Ottilien zu entziehen--denn sie glaubte so
etwas von Neigung bei ihm zu bemerken -, als daß sie gedacht hätte,
sein Talent zu ihren Absichten zu benutzen.

Denn ob er gleich bei ihren extemporierten Festen sich sehr tätig
erwiesen und manche Ressourcen bei dieser und jener Anstalt dargeboten,
so glaubte sie es doch immer selbst besser zu verstehen; und da ihre
Erfindungen gewöhnlich gemein waren, so reichte, um sie auszuführen,
die Geschicklichkeit eines gewandten Kammerdieners ebensogut hin als
die des vorzüglichsten Künstlers.

Weiter als zu einem Altar, worauf geopfert ward, und zu einer
Bekränzung, es mochte nun ein gipsernes oder ein lebendes Haupt sein,
konnte ihre Einbildungskraft sich nicht versteigen, wenn sie irgend
jemand zum Geburts--und Ehrentage ein festliches Kompliment zu machen
gedachte.

Ottilie konnte dem Bräutigam, der sich nach dem Verhältnis des
Architekten zum Hause erkundigte, die beste Auskunft geben.

Sie wußte, daß Charlotte sich schon früher nach einer Stelle für ihn
umgetan hatte; denn wäre die Gesellschaft nicht gekommen, so hätte
sich der junge Mann gleich nach Vollendung der Kapelle entfernt, weil
alle Bauten den Winter über stillstehn sollten und mußten; und es war
daher sehr erwünscht, wenn der geschickte Künstler durch einen neuen
Gönner wieder genutzt und befördert wurde.

Das persönliche Verhältnis Ottiliens zum Architekten war ganz rein und
unbefangen.

Seine angenehme und tätige Gegenwart hatte sie wie die Nähe eines
ältern Bruders unterhalten und erfreut.

Ihre Empfindungen für ihn blieben auf der ruhigen, leidenschaftslosen
Oberfläche der Blutsverwandtschaft; denn in ihrem Herzen war kein Raum
mehr; es war von der Liebe zu Eduard ganz gedrängt ausgefüllt, und nur
die Gottheit, die alles durchdringt, konnte dieses Herz zugleich mit
ihm besitzen.

Indessen je tiefer der Winter sich senkte, je wilderes Wetter, je
unzugänglicher die Wege, desto anziehender schien es, in so guter
Gesellschaft die abnehmenden Tage zuzubringen.

Nach kurzen Ebben überflutete die Menge von Zeit zu Zeit das Haus.

Offiziere von entfernteren Garnisonen, die gebildeten zu ihrem großen
Vorteil, die roheren zur Unbequemlichkeit der Gesellschaft, zogen sich
herbei; am Zivilstande fehlte es auch nicht, und ganz unerwartet kamen
eines Tages der Graf und die Baronesse zusammen angefahren.

Ihre Gegenwart schien erst einen wahren Hof zu bilden.

Die Männer von Stand und Sitten umgaben den Grafen, und die Frauen
ließen der Baronesse Gerechtigkeit widerfahren.

Man verwunderte sich nicht lange, sie beide zusammen und so heiter zu
sehen; denn man vernahm, des Grafen Gemahlin sei gestorben, und eine
neue Verbindung werde geschlossen sein, sobald es die Schicklichkeit
nur erlaube.

Ottilie erinnerte sich jenes ersten Besuchs, jedes Worts, was über
Ehestand und Scheidung, über Verbindung und und Trennung, über
Hoffnung, Erwartung, Entbehren und Entsagen gesprochen ward.

Beide Personen, damals noch ganz ohne Aussichten, standen nun vor ihr,
dem gehofften Glück so nahe, und ein unwillkürlicher Seufzer drang aus
ihrem Herzen.

Luciane hörte kaum, daß der Graf ein Liebhaber von Musik sei, so wußte
sie ein Konzert zu veranstalten; sie wollte sich dabei mit Gesang zur
Gitarre hören lassen.

Es geschah.

Das Instrument spielte sie nicht ungeschickt, ihre Stimme war angenehm;
was aber die Worte betraf, so verstand man sie so wenig, als wenn
sonst eine deutsche Schöne zur Gitarre singt.

Indes versicherte jedermann, sie habe mit viel Ausdruck gesungen, und
sie konnte mit dem lauten Beifall zufrieden sein.




Nur ein wunderliches Unglück begegnete bei dieser Gelegenheit. In
der Gesellschaft befand sich ein Dichter, den sie auch besonders zu
verbinden hoffte, weil sie einige Lieder von ihm an sie gerichtet
wünschte, und deshalb diesen Abend meist nur von seinen Liedern
vortrug.

Er war überhaupt, wie alle, höflich gegen sie, aber sie hatte mehr
erwartet.

Sie legte es ihm einigemal nahe, konnte aber weiter nichts von ihm
vernehmen, bis sie endlich aus Ungeduld einen ihrer Hofleute an ihn
schickte und sondieren ließ, ob er denn nicht entzückt gewesen sei,
seine vortrefflichen Gedichte so vortrefflich vortragen zu hören.

"Meine Gedichte?" versetzte dieser mit Erstaunen.

"Verzeihen Sie, mein Herr", fügte er hinzu; "ich habe nichts als
Vokale gehört und die nicht einmal alle.

Unterdessen ist es meine Schuldigkeit, mich für eine so liebenswürdige
Intention dankbar zu erweisen".

Der Hofmann schwieg und verschwieg.

Der andre suchte sich durch einige wohltönende Komplimente aus der
Sache zu ziehen.

Sie ließ ihre Absicht nicht undeutlich merken, auch etwas eigens für
sie Gedichtetes zu besitzen.

Wenn es nicht allzu unfreundlich gewesen wäre, so hätte er ihr das
Alphabet überreichen können, um sich daraus ein beliebiges Lobgedicht
zu irgendeiner vorkommenden Melodie selbst einzubilden.

Doch sollte sie nicht ohne Kränkung aus dieser Begebenheit scheiden.

Kurze Zeit darauf erfuhr sie, er habe noch selbigen Abend einer von
Ottiliens Lieblingsmelodien ein allerliebstes Gedicht untergelegt, das
noch mehr als verbindlich sei.

Luciane, wie alle Menschen ihrer Art, die immer durcheinander mischen,
was ihnen vorteilhaft und was ihnen nachteilig ist, wollte nun ihr
Glück im Rezitieren versuchen.

Ihr Gedächtnis war gut, aber, wenn man aufrichtig reden sollte, ihr
Vortrag geistlos und heftig, ohne leidenschaftlich zu sein.

Sie rezitierte Balladen, Erzählungen und was sonst in Deklamatorien
vorzukommen pflegt.

Dabei hatte sie die unglückliche Gewohnheit angenommen, das, was sie
vortrug, mit Gesten zu begleiten, wodurch man das, was eigentlich
episch und lyrisch ist, auf eine unangenehme Weise mit dem
Dramatischen mehr verwirrt als verbindet.

Der Graf, ein einsichtsvoller Mann, der gar bald die Gesellschaft,
ihre Neigungen, Leidenschaften und Unterhaltungen übersah, brachte
Lucianen glücklicher--oder unglücklicherweise auf eine neue Art von
Darstellung, die ihrer Persönlichkeit sehr gemäß war.

"Ich finde", sagte er, "hier so manche wohlgestaltete Personen, denen
es gewiß nicht fehlt, malerische Bewegungen und Stellungen nachzuahmen.


Sollten sie es noch nicht versucht haben, wirkliche, bekannte Gemälde
vorzustellen?

Eine solche Nachbildung, wenn sie auch manche mühsame Anordnung
erfordert, bringt dagegen auch einen unglaublichen Reiz hervor".

Schnell ward Luciane gewahr, daß sie hier ganz in ihrem Fach sein
würde.

Ihr schöner Wuchs, ihre volle Gestalt, ihr regelmäßiges und doch
bedeutendes Gesicht, ihre lichtbraunen Haarflechten, ihr schlanker
Hals, alles war schon wie aufs Gemälde berechnet; und hätte sie nun
gar gewußt, daß sie schöner aussah, wenn sie still stand, als wenn sie
sich bewegte, indem ihr im letzten Falle manchmal etwas störendes
Ungraziöses entschlüpfte, so hätte sie sich mit noch mehrerem Eifer
dieser natürlichen Bildnerei ergeben.

Man suchte nun Kupferstiche nach berühmten Gemälden, man wählte zuerst
den Belisar nach van Dyck.

Ein großer und wohlgebauter Mann von gewissen Jahren sollte den
sitzenden blinden General, der Architekt den vor ihm teilnehmend
traurig stehenden Krieger nachbilden, dem er wirklich etwas ähnlich
sah.

Luciane hatte sich, halb bescheiden, das junge Weibchen im
Hintergrunde gewählt, das reichliche Almosen aus einem Beutel in die
flache Hand zählt, indes eine Alte sie abzumahnen und ihr vorzustellen
scheint, daß sie zuviel tue.

Eine andre, ihm wirklich Almosen reichende Frauensperson war nicht
vergessen.

Mit diesen und andern Bildern beschäftigte man sich sehr ernstlich.

Der Graf gab dem Architekten über die Art der Einrichtung einige Winke,
der sogleich ein Theater dazu aufstellte und wegen der Beleuchtung
die nötige Sorge trug.

Man war schon tief in die Anstalten verwickelt, als man erst bemerkte,
daß ein solches Unternehmen einen ansehnlichen Aufwand verlangte und
daß auf dem Lande mitten im Winter gar manches Erfordernis abging.

Deshalb ließ, damit ja nichts stocken möge.

Luciane beinah ihre sämtliche Garderobe zerschneiden, um die
verschiedenen Kostüme zu liefern, die jene Künstler willkürlich genug
angegeben hatten.

Der Abend kam herbei, und die Darstellung wurde vor einer großen
Gesellschaft und zu allgemeinem Beifall ausgeführt.

Eine bedeutende Musik spannte die Erwartung.

Jener Belisar eröffnete die Bühne.

Die Gestalten waren so passend, die Farben so glücklich ausgeteilt,
die Beleuchtung so kunstreich, daß man fürwahr in einer andern Welt zu
sein glaubte, nur daß die Gegenwart des Wirklichen statt des Scheins
eine Art von ängstlicher Empfindung hervorbrachte.

Der Vorhang fiel und ward auf Verlangen mehr als einmal wieder
aufgezogen.

Ein musikalisches Zwischenspiel unterhielt die Gesellschaft, die man
durch ein Bild höherer Art überraschen wollte.

Es war die bekannte Vorstellung von Poussin: Ahasverus und Esther.

Diesmal hatte sich Luciane besser bedacht.

Sie entwickelte in der ohnmächtig hingesunkenen Königin alle ihre
Reize und hatte sich klugerweise zu den umgebenden, unterstützenden
Mädchen lauter hübsche, wohlgebildete Figuren ausgesucht, worunter
sich jedoch keine mit ihr auch nur im mindesten messen konnte.

Ottilie blieb von diesem Bilde wie von den übrigen ausgeschlossen.

Auf den goldnen Thron hatten sie, um den Zeus gleichen König
vorzustellen, den rüstigsten und schönsten Mann der Gesellschaft
gewählt, sodaß dieses Bild wirklich eine unvergleichliche
Vollkommenheit gewann.

Als drittes hatte man die sogenannte "väterliche Ermahnung" von
Terburg gewählt, und wer kennt nicht den herrlichen Kupferstich
unseres Wille von diesem Gemälde!

Einen Fuß über den andern geschlagen, sitzt ein edler, ritterlicher
Vater und scheint seiner vor ihm stehenden Tochter ins Gewissen zu
reden.




Diese, eine herrliche Gestalt im faltenreichen, weißen Atlaskleide,
wird zwar nur von hinten gesehen, aber ihr ganzes Wesen scheint
anzudeuten, daß sie sich zusammennimmt.

Daß jedoch die Ermahnung nicht heftig und beschämend sei, sieht man
aus der Miene und Gebärde des Vaters; und was die Mutter betrifft, so
scheint diese eine kleine Verlegenheit zu verbergen, indem sie in ein
Glas Wein blickt, das sie eben auszuschlürfen im Begriff ist.

bei dieser Gelegenheit nun sollte Luciane in ihrem höchsten Glanze
erscheinen.

Ihre Zöpfe, die Form ihres Kopfes, Hals und Nacken waren über alle
Begriffe schön, und die Taille, von der bei den modernen
antikisierenden Bekleidungen der Frauenzimmer wenig sichtbar wird,
höchst zierlich, schlank und leicht, zeigte sich an ihr in dem älteren
Kostüm äußerst vorteilhaft; und der Architekt hatte gesorgt, die
reichen Falten des weißen Atlasses mit der künstlichsten Natur zu
legen, sodaß ganz ohne Frage diese lebendige Nachbildung weit über
jenes Originalbildnis hinausreichte und ein allgemeines Entzücken
erregte.

Man konnte mit dem Wiederverlangen nicht endigen, und der ganz
natürliche Wunsch, einem so schönen Wesen, das man genugsam von der
Rückseite gesehen, auch ins Angesicht zu schauen, nahm dergestalt
überhand, daß ein lustiger, ungeduldiger Vogel die Worte, die man
manchmal an das Ende einer Seite zu schreiben pflegt: "tournez s'il
vous plait", laut ausrief und eine allgemeine Beistimmung erregte.

Die Darstellenden aber kannten ihren Vorteil zu gut und hatten den
Sinn dieser Kunststücke zu wohl gefaßt, als daß sie dem allgemeinen
Ruf hätten nachgeben sollen.

Die beschämt scheinende Tochter blieb ruhig stehen, ohne den
Zuschauern den Ausdruck ihres Angesichts zu gönnen; der Vater blieb in
seiner ermahnenden Stellung sitzen, und die Mutter brachte Nase und
Augen nicht aus dem durchsichtigen Glase, worin sich, ob sie gleich zu
trinken schien, der Wein nicht verminderte.--Was sollen wir noch viel
von kleinen Nachstücken sagen, wozu man niederländische Wirtshaus--und
Jahrmarktsszenen gewählt hatte!

Der Graf und die Baronesse reisten ab und versprachen, in den ersten
glücklichen Wochen ihrer nahen Verbindung wiederzukehren, und
Charlotte hoffte nunmehr, nach zwei mühsam überstandenen Monaten, die
übrige Gesellschaft gleichfalls loszuwerden.

Sie war des Glücks ihrer Tochter gewiß, wenn bei dieser der erste
Braut--und Jugendtaumel sich würde gelegt haben; denn der Bräutigam
hielt sich für den glücklichsten Menschen von der Welt.

Bei großem Vermögen und gemäßigter Sinnesart schien er auf eine
wunderbare Weise von dem Vorzuge geschmeichelt, ein Frauenzimmer zu
besitzen, das der ganzen Welt gefallen mußte.

Er hatte einen so ganz eigenen Sinn, alles auf sie und erst durch sie
auf sich zu beziehen, daß es ihm eine unangenehme Empfindung machte,
wenn sich nicht gleich ein Neuankommender mit aller Aufmerksamkeit auf
sie richtete und mit ihm, wie es wegen seiner guten Eigenschaften
besonders von älteren Personen oft geschah, eine nähere Verbindung
suchte, ohne sich sonderlich um sie zu kümmern.

Wegen des Architekten kam es bald zur Richtigkeit.

Aufs Neujahr sollte ihm dieser folgen und das Karneval mit ihm in der
Stadt zubringen, wo Luciane sich von der Wiederholung der so schön
eingerichteten Gemälde sowie von hundert andern Dingen die größte
Glückseligkeit versprach, um so mehr, als Tante und Bräutigam jeden
Aufwand für gering zu achten schienen, der zu ihrem Vergnügen
erfordert wurde.

Nun sollte man scheiden, aber das konnte nicht auf eine gewöhnliche
Weise geschehen.

Man scherzte einmal ziemlich laut, daß Charlottens Wintervorräte nun
bald aufgezehrt seien, als der Ehrenmann, der den Belisar vorgestellt
hatte und freilich reich genug war, von Lucianens Vorzügen hingerissen,
denen er nun schon so lange huldigte, unbedachtsam ausrief: "so
lassen Sie es uns auf politische Art halten!

Kommen Sie nun und zehren mich auch auf!

Und so geht es dann weiter in der Runde herum".

Gesagt, getan: Luciane schlug ein.

Den andern Tag war gepackt, und der Schwarm warf sich auf ein anderes
Besitztum.

Dort hatte man auch Raum genug, aber weniger Bequemlichkeit und
Einrichtung.

Daraus entstand manches Unschickliche, das erst Lucianen recht
glücklich machte.

Das Leben wurde immer wüster und wilder.

Treibjagen im tiefsten Schnee, und was man sonst nur Unbequemes
auffinden konnte, wurde veranstaltet.

Frauen so wenig als Männer durften sich ausschließen, und so zog man
jagend und reitend, schlittenfahrend und lärmend von einem Gute zum
andern, bis man sich endlich der Residenz näherte; da denn die
Nachrichten und Erzählungen, wie man sich bei Hofe und in der Stadt
vergnüge, der Einbildungskraft eine andere Wendung gaben und Lucianen
mit ihrer sämtlichen Begleitung, indem die Tante schon vorausgegangen
war, unaufhaltsam in einen andern Lebenskreis hineinzogen.

Man nimmt in der Welt jeden, wofür er sich gibt; aber er muß sich auch
für etwas geben.

Man erträgt die Unbequemen lieber, als man die Unbedeutenden duldet.

Man kann der Gesellschaft alles aufdringen, nur nicht, was eine Folge
hat.

Wir lernen die Menschen nicht kennen, wenn sie zu uns kommen; wir
müssen zu ihnen gehen, um zu erfahren, wie es mit ihnen steht.

Ich finde es beinahe natürlich, daß wir an Besuchenden mancherlei
auszusetzen haben, daß wir sogleich, wenn sie weg sind, über sie nicht
zum liebevollsten urteilen; denn wir haben sozusagen ein Recht, sie
nach unserm Maßstabe zu messen.

Selbst verständige und billige Menschen enthalten sich in solchen
Fällen kaum einer scharfen Zensur.

Wenn man dagegen bei andern gewesen ist und hat sie mit ihren
Umgebungen, Gewohnheiten, in ihren notwendigen, unausweichlichen
Zuständen gesehen, wie sie um sich wirken oder wie sie sich fügen, so
gehört schon Unverstand und böser Wille dazu, um das lächerlich zu
finden, was uns in mehr als einem Sinne ehrwürdig scheinen müßte.

Durch das, was wir Betragen und gute Sitten mennen, soll das erreicht
werden, was außerdem nur durch Gewalt oder auch nicht einmal durch
Gewalt zu erreichen ist.

Der Umgang mit Frauen ist das Element guter Sitten.

Wie kann der Charakter, die Eigentümlichkeit des Menschen, mit der
Lebensart bestehen?

Das Eigentümliche müßte durch die Lebensart erst recht hervorgehoben
werden.

Das Bedeutende will jedermann, nur soll es nicht unbequem sein.

Die größten Vorteile im Leben überhaupt wie in der Gesellschaft hat
ein gebildeter Soldat.




Rohe Kriegsleute gehen wenigstens nicht aus ihrem Charakter, und weil
doch meist hinter der Stärke eine Gutmütigkeit verborgen liegt, so ist
im Notfall auch mit ihnen auszukommen.

Niemand ist lästiger als ein täppischer Mensch vom Zivilstande.

Von ihm könnte man die Feinheit fordern, da er sich mit nichts Rohem
zu beschäftigen hat.

Wenn wir mit Menschen leben, die ein zartes Gefühl für das Schickliche
haben, so wird es uns angst um ihretwillen, wenn etwas Ungeschicktes
begegnet.

So fühle ich immer für und mit Charlotten, wenn jemand mit dem Stuhle
schaukelt, weil sie das in den Tod nicht leiden kann.

Es käme niemand mit der Brille auf der Nase in ein vertrauliches
Gemach, wenn er wüßte, daß uns Frauen sogleich die Lust vergeht, ihn
anzusehen und uns mit ihm zu unterhalten.

Zutraulichkeit an der Stelle der Ehrfurcht ist immer lächerlich.

Es würde niemand den Hut ablegen, nachdem er kaum das Kompliment
gemacht hat, wenn er wüßte, wie komisch das aussieht.

Es gibt kein äußeres Zeichen der Höflichkeit, das nicht einen tiefen
sittlichen Grund hätte.

Die rechte Erziehung wäre, welche dieses Zeichen und den Grund
zugleich überlieferte.

Das Betragen ist ein Spiegel, in welchem jeder sein Bild zeigt.

Es gibt eine Höflichkeit des Herzens; sie ist der Liebe verwandt.

Aus ihr entspringt die bequemste Höflichkeit des äußern Betragens.

Freiwillige Abhänglichkeit ist der schönste Zustand, und wie wäre der
möglich ohne Liebe.

Wir sind nie entfernter von unsern Wünschen, als wenn wir uns
einbilden, das Gewünschte zu besitzen.

Niemand ist mehr Sklave, als der sich für frei hält, ohne es zu sein.

Es darf sich einer nur für frei erklären, so fühlt er sich den
Augenblick als bedingt.

Wagt er es, sich für bedingt zu erklären, so fühlt er sich frei.

Gegen große Vorzüge eines andern gibt es kein Rettungsmittel als die
Liebe.

Es ist was Schreckliches um einen vorzüglichen Mann, auf den sich die
Dummen was zugute tun.

Es gibt, sagt man, für den Kammerdiener keinen Helden.

Das kommt aber bloß daher, weil der Held nur vom Helden anerkannt
werden kann.

Der Kammerdiener wird aber wahrscheinlich seinesgleichen zu schätzen
wissen.

Es gibt keinen größern Trost für die Mittelmäßigkeit, als daß das
Genie nicht unsterblich sei.

Die größten Menschen hängen immer mit ihrem Jahrhundert durch eine
Schwachheit zusammen.

Man hält die Menschen gewöhnlich für gefährlicher, als sie sind.

Toren und gescheite Leute sind gleich unschädlich.

Nur die Halbnarren und Halbweisen, das sind die Gefährlichsten.

Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man
verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst.

Selbst im Augenblick des höchsten Glücks und der höchsten Not bedürfen
wir des Künstlers.

Die Kunst beschäftigt sich mit dem Schweren und Guten.

Das Schwierige leicht behandelt zu sehen, gibt uns das Anschauen des
Unmöglichen.

Die Schwierigkeiten wachsen, je näher man dem Ziele kommt.

Säen ist nicht so beschwerlich als ernten.

Die große Unruhe, welche Charlotten durch diesen Besuch erwuchs, ward
ihr dadurch vergütet, daß sie ihre Tochter völlig begreifen lernte,
worin ihr die Bekanntschaft mit der Welt sehr zu Hülfe kam.

Es war nicht zum erstenmal, daß ihr ein so seltsamer Charakter
begegnete, ob er ihr gleich noch niemals auf dieser Höhe erschien.

Und doch hatte sie aus der Erfahrung, daß solche Personen, durchs
Leben, durch mancherlei Ereignisse, durch elterliche Verhältnisse


 


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