Die Wahlverwandtschaften
by
Johann Wolfgang von Goethe

Part 7 out of 7



Denn haben wir nicht meistenteils die Schwäche, daß wir jemanden auch
zu seinem Besten nicht gern quälen mögen?




Charlotte sann alle Mittel durch, endlich geriet sie auf den Gedanken,
jenen Gehülfen aus der Pension kommen zu lassen, der über Ottilien
viel vermochte, der wegen ihres unvermuteten Außenbleibens sich sehr
freundlich geäußert, aber keine Antwort erhalten hatte.

Man spricht, um Ottilien nicht zu überraschen, von diesem Vorsatz in
ihrer Gegenwart.

Sie scheint nicht einzustimmen; sie bedenkt sich; endlich scheint ein
Entschluß in ihr zu reifen, sie eilt nach ihrem Zimmer und sendet noch
vor Abend an die Versammelten folgendes Schreiben.

"Warum soll ich ausdrücklich sagen, meine Geliebten, was sich von
selbst versteht?

Ich bin aus meiner Bahn geschritten, und ich soll nicht wieder hinein.

Ein feindseliger Dämon, der Macht über mich gewonnen, scheint mich von
außen zu hindern, hätte ich mich auch mit mir selbst wieder zur
Einigkeit gefunden.

Ganz rein war mein Vorsatz, Eduarden zu entsagen, mich von ihm zu
entfernen.

Ihm hofft ich nicht wieder zu begegnen.

Es ist anders geworden; er stand selbst gegen seinen eigenen Willen
vor mir.

Mein Versprechen, mich mit ihm in keine Unterredung einzulassen, habe
ich vielleicht zu buchstäblich genommen und gedeutet.

Nach Gefühl und Gewissen des Augenblicks schwieg ich, verstummt ich
vor dem Freunde, und nun habe ich nichts mehr zu sagen.

Ein strenges Ordensgelübde, welches den, der es mit überlegung eingeht,
vielleicht unbequem ängstiget, habe ich zufällig, vom Gefühl
gedrungen, über mich genommen.

Laßt mich darin beharren, solange mir das Herz gebietet.

Beruft keine Mittelsperson!

Dringt nicht in mich, daß ich reden, daß ich mehr Speise und Trank
genießen soll, als ich höchstens bedarf.

Helft mir durch Nachsicht und Geduld über diese Zeit hinweg.

Ich bin jung, die Jugend stellt sich unversehens wieder her. Duldet
mich in eurer Gegenwart, er freut mich durch eure Liebe, belehrt mich
durch eure Unterhaltung; aber mein Innres überlaßt mir selbst!" Die
längst vorbereitete Abreise der Männer unterblieb, weil jenes
auswärtige Geschäft des Majors sich verzögerte.

Wie erwünscht für Eduard!

Nun durch Ottiliens Blatt aufs neue angeregt, durch ihre trostvollen,
hoffnunggebenden Worte wieder ermutigt und zu standhaftem Ausharren
berechtigt, erklärte er auf einmal, er werde sich nicht entfernen.

"Wie töricht", rief er aus, "das Unentbehrlichste, Notwendigste
vorsätzlich, voreilig wegzuwerfen, das, wenn uns auch der Verlust
bedroht, vielleicht noch zu erhalten wäre!

Und was soll es heißen?

Doch nur, daß der Mensch ja scheine, wollen, wählen zu können.

So habe ich oft, beherrscht von solchem albernen Dünkel, Stunden, ja
Tage zu früh mich von Freunden losgerissen, um nur nicht von dem
letzten, unausweichlichen Termin entschieden gezwungen zu werden.

Diesmal aber will ich bleiben.

Warum soll ich mich entfernen?

Ist sie nicht schon von mir entfernt?

Es fällt mir nicht ein, ihre Hand zu fassen, sie an mein Herz zu
drücken; sogar darf ich es nicht denken, es schaudert mir.

Sie hat sich nicht von mir weg, sie hat sich über mich weg gehoben".

Und so blieb er, wie er wollte, wie er mußte.

Aber auch dem Behagen glich nichts, wenn er sich mit ihr zusammenfand.

Und so war auch ihr dieselbe Empfindung geblieben; auch sie konnte
sich dieser seligen Notwendigkeit nicht entziehen.

Nach wie vor übten sie eine unbeschreibliche, fast magische
Anziehungskraft gegeneinander aus.

Sie wohnten unter Einem Dache; aber selbst ohne gerade aneinander zu
denken, mit andern Dingen beschäftigt, von der Gesellschaft hin und
her gezogen, näherten sie sich einander.

Fanden sie sich in Einem Saale, so dauerte es nicht lange, und sie
standen, sie saßen nebeneinader.

Nur die nächste Nähe konnte sie beruhigen, aber auch völlig beruhigen,
und diese Nähe war genug; nicht eines Blickes, nicht eines Wortes,
keiner Gebärde, keiner Berührung bedurfte es, nur des reinen
Zusammenseins.

Dann waren es nicht zwei Menschen, es war nur Ein Mensch im
bewußtlosen, vollkommnen Behagen, mit sich selbst zufrieden und mit
der Welt.

Ja, hätte man eins von beiden am letzten Ende der Wohnung festgehalten,
das andere hätte sich nach und nach von selbst, ohne Vorsatz, zu ihm
hinbewegt.

Das Leben war ihnen ein Rätsel, dessen Auflösung sie nur miteinander
fanden.

Ottilie war durchaus heiter und gelassen, so daß man sich über sie
völlig beruhigen konnte.

Sie entfernte sich wenig aus der Gesellschaft, nur hatte sie es
erlangt, allein zu speisen.

Niemand als Nanny bediente sie.

Was einem jeden Menschen gewöhnlich begegnet, wiederholt sich mehr,
als man glaubt, weil seine Natur hiezu die nächste Bestimmung gibt.

Charakter, Individualität, Neigung, Richtung, örtlichkeit, Umgebungen
und Gewohnheiten bilden zusammen ein Ganzes, in welchem jeder Mensch
wie in einem Elemente, in einer Atmosphäre schwimmt, worin es ihm
allein bequem und behaglich ist.

Und so finden wir die Menschen, über deren Veränderlichkeit so viele
Klage geführt wird, nach vielen Jahren zu unserm Erstaunen unverändert
und nach äußern und innern unendlichen Anregungen unveränderlich.

So bewegte sich auch in dem täglichen Zusammenleben unserer Freunde
fast alles wieder in dem alten Gleise.

Noch immer äußerte Ottilie stillschweigend durch manche Gefälligkeit
ihr zuvorkommendes Wesen, und so jedes nach seiner Art.

Auf diese Weise zeigte sich der häusliche Zirkel als ein Scheinbild
des vorigen Lebens, und der Wahn, als ob noch alles beim alten sei,
war verzeihlich.




Die herbstlichen Tage, an Länge jenen Frühlingstagen gleich, riefen
die Gesellschaft um eben die Stunde aus dem Freien ins Haus zurück.

Der Schmuck an Früchten und Blumen, der dieser Zeit eigen ist, ließ
glauben, als wenn es der Herbst jenes ersten Frühlings wäre; die
Zwischenzeit war ins Vergessen gefallen.

Denn nun blühten die Blumen, dergleichen man in jenen ersten Tagen
auch gesäet hatte; nun reiften Früchte an den Bäumen, die man damals
blühen gesehen.

Der Major ging ab und zu; auch Mittler ließ sich öfter sehen. Die
Abendsitzungen waren meistens regelmäßig.

Eduard las gewöhnlich, lebhafter, gefühlvoller, besser, ja sogar
heiterer, wenn man will, als jemals.

Es war, als wenn er, so gut durch Fröhlichkeit als durch Gefühl,
Ottiliens Erstarren wieder beleben, ihr Schweigen wieder auflösen
wollte.

Er setzte sich wie vormals, daß sie ihm ins Buch sehen konnte, ja er
ward unruhig, zerstreut, wenn sie nicht hineinsah, wenn er nicht gewiß
war, daß sie seinen Worten mit ihren Augen folgte.

Jedes unerfreuliche, unbequeme Gefühl der mittleren Zeit war
ausgelöscht.

Keines trug mehr dem andern etwas nach; jede Art von Bitterkeit war
verschwunden.

Der Major begleitete mit der Violine das Klavierspiel Charlottens, so
wie Eduards Flöte mit Ottiliens Behandlung des Saiteninstruments
wieder wie vormals zusammentraf.

So rückte man dem Geburtstage Eduards näher, dessen Feier man vor
einem Jahre nicht erreicht hatte.

Er sollte ohne Festlichkeit in stillem, freundlichem Behagen diesmal
gefeiert werden.

So war man, halb stillschweigend halb ausdrücklich, miteinander
übereingekommen.

Doch je näher diese Epoche heranrückte, vermehrte sich das Feierliche
in Ottiliens Wesen, das man bisher mehr empfunden als bemerkt hatte.

Sie schien im Garten oft die Blumen zu mustern; sie hatte dem Gärtner
angedeutet, die Sommergewächse aller Art zu schonen, und sich
besonders bei den Astern aufgehalten, die gerade dieses Jahr in
unmäßiger Menge blühten.

Das Bedeutendste jedoch, was die Freunde mit stiller Aufmerksamkeit
beobachteten, war, daß Ottilie den Koffer zum erstenmal ausgepackt und
daraus verschiedenes gewählt und abgeschnitten hatte, was zu einem
einzigen, aber ganzen und vollen Anzug hinreichte.

Als sie das übrige mit Beihülfe Nannys wieder einpacken wollte, konnte
sie kaum damit zustande kommen; der Raum war übervoll, obgleich schon
ein Teil herausgenommen war.

Das junge habgierige Mädchen konnte sich nicht satt sehen, besonders
da sie auch für alle kleineren Stücke des Anzugs gesorgt fand.

Schuhe, Strümpfe, Strumpfbänder mit Devisen, Handschuhe und so manches
andere war noch übrig.

Sie bat Ottilien, ihr nur etwas davon zu schenken.

Diese verweigerte es, zog aber sogleich die Schublade einer Kommode
heraus und ließ das Kind wählen, das hastig und ungeschickt zugriff
und mit der Beute gleich davonlief, um den übrigen Hausgenossen ihr
Glück zu verkünden und vorzuzeigen.

Zuletzt gelang es Ottilien, alles sorgfältig wieder einzuschichten;
sie öffnete hierauf ein verborgenes Fach, das im Deckel angebracht war.


Dort hatte sie kleine Zettelchen und Briefe Eduards, mancherlei
aufgetrocknete Blumenerinnerungen früherer Spaziergänge, eine Locke
ihres Geliebten und was sonst noch verborgen.

Noch eins fügte sie hinzu--es war das Porträt ihres Vaters--und
verschloß das Ganze, worauf sie den zarten Schlüssel an dem goldnen
Kettchen wieder um den Hals an ihre Brust hing.

Mancherlei Hoffnungen waren indes in dem Herzen der Freunde rege
geworden.

Charlotte war überzeugt, Ottilie werde auf jenen Tag wieder zu
sprechen anfangen; denn sie hatte bisher eine heimliche Geschäftigkeit
bewiesen, eine Art von heiterer Selbstzufriedenheit, ein Lächeln, wie
es demjenigen auf dem Gesichte schwebt, der Geliebten etwas Gutes und
Erfreuliches verbirgt.

Niemand wußte, daß Ottilie gar manche Stunde in großer Schwachheit
hinbrachte, aus der sie sich nur für die Zeiten, wo sie erschien durch
Geisteskraft emporhielt.

Mittler hatte sich diese Zeit öfters sehen lassen und war länger
geblieben als sonst gewöhnlich.

Der hartnäckige Mann wußte nur zu wohl, daß es einen gewissen Moment
gibt, wo allein das Eisen zu schmieden ist.

Ottiliens Schweigen sowie ihre Weigerung legte er zu seinen Gunsten
aus.

Es war bisher kein Schritt zu Scheidung der Gatten geschehen; er
hoffte das Schicksal des guten Mädchens auf irgendeine andere günstige
Weise zu bestimmen; er horchte, er gab nach, er gab zu verstehen und
führte sich nach seiner Weise klug genug auf.

Allein überwältigt war er stets, sobald er Anlaß fand, sein
Räsonnement über Materien zu äußern, denen er eine große Wichtigkeit
beilegte.

Er lebte viel in sich, und wenn er mit andern war, so verhielt er sich
gewöhnlich nur handelnd gegen sie.

Brach nun einmal unter Freunden seine Rede los, wie wir schon öfter
gesehen haben, so rollte sie ohne Rücksicht fort, verletzte oder
heilte, nutzte oder schadete, wie es sich gerade fügen mochte.

Den Abend vor Eduards Geburtstage saßen Charlotte und der Major
Eduarden, der ausgeritten war, erwartend beisammen; Mittler ging im
Zimmer auf und ab; Ottilie war auf dem ihrigen geblieben, den
morgenden Schmuck auseinanderlegend und ihrem Mädchen manches
andeutend, welches sie vollkommen verstand und die stummen Anordnungen
geschickt befolgte.

Mittler war gerade auf eine seiner Lieblingsmaterien gekommen. Er
pflegte gern zu behaupten, daß sowohl bei der Erziehung der Kinder als
bei der Leitung der Völker nichts ungeschickter und barbarischer sei
als Verbote, als verbietende Gesetze und Anordnungen.

"Der Mensch ist von Hause aus tätig", sagte er; "und wenn man ihm zu
gebieten versteht, so fährt er gleich dahinter her, handelt und
richtet aus.

Ich für meine Person mag lieber in meinem Kreise Fehler und Gebrechen
so lange dulden, bis ich die entgegengesetzte Tugend gebieten kann,
als daß ich den Fehler los würde und nichts Rechtes an seiner Stelle
sähe.

Der Mensch tut recht gern das Gute, das Zweckmäßige, wenn er nur dazu
kommen kann; er tut es, damit er was zu tun hat, und sinnt darüber
nicht weiter nach als über alberne Streiche, die er aus Müßiggang und
langer Weile vornimmt.




Wie verdrießlich ist mirs oft, mit anzuhören, wie man die Zehn Gebote
in der Kinderlehre wiederholen läßt.

Das vierte ist noch ein ganz hübsches, vernünftiges, gebietendes Gebot.


'Du sollst Vater und Mutter ehren'. Wenn sich das die Kinder recht in
den Sinn schreiben, so haben sie den ganzen Tag daran auszuüben.

Nun aber das fünfte, was soll man dazu sagen?

'Du sollst nicht töten'.

Als wenn irgendein Mensch im mindesten Lust hätte, den andern
totzuschlagen!

Man haßt einen, man erzürnt sich, man übereilt sich, und in Gefolg von
dem und manchem andern kann es wohl kommen, daß man gelegentlich einen
totschlägt.

Aber ist es nicht eine barbarische Anstalt, den Kindern Mord und
Totschlag zu verbieten?

Wenn es hieße: 'sorge für des andern Leben, entferne, was ihm
schädlich sein kann, rette ihn mit deiner eigenen Gefahr; wenn du ihn
beschädigst, denke, daß du dich selbst beschädigst': das sind Gebote,
wie sie unter gebildeten, vernünftigen Völkern statthaben und die man
bei der Katechismuslehre nur kümmerlich in dem 'was ist das?'
nachschleppt.

Und nun gar das sechste, das finde ich ganz abscheulich!

Was?

Die Neugierde vorahnender Kinder auf gefährliche Mysterien reizen,
ihre Einbildungskraft zu wunderlichen Bildern und Vorstellungen
aufregen, die gerade das, was man entfernen will, mit Gewalt
heranbringen!

Weit besser wäre es, daß dergleichen von einem heimlichen Gericht
willkürlich bestraft würde, als daß man vor Kirch und Gemeinde davon
plappern läßt".

In dem Augenblick trat Ottilie herein.

"Du sollst nicht ehebrechen", fuhr Mittler fort.

"Wie grob, wie unanständig!

Klänge es nicht ganz anders, wenn es hieße: 'du sollst Ehrfurcht haben
vor der ehelichen Verbildung; wo du Gatten siehst, die sich lieben,
sollst du dich darüber freuen und teil daran nehmen wie an dem Glück
eines heitern Tages.

Sollte sich irgend in ihrem Verhältnis etwas trüben, so sollst du
suchen, es aufzuklären; du sollst suchen, sie zu begütigen, sie zu
besänftigen, ihnen ihre wechselseitigen Vorteile deutlich zu machen,
und mit schöner Uneigennützigkeit das Wohl der andern fördern, indem
du ihnen fühlbar machst, was für ein Glück aus jeder Pflicht und
besonders aus dieser entspringt, welche Mann und Weib unauflöslich
verbindet?" Charlotte saß wie auf Kohlen, und der Zustand war ihr um
so ängstlicher, als sie überzeugt war, daß Mittler nicht wußte, was
und wo ers sagte, und ehe sie ihn noch unterbrechen konnte, sah sie
schon Ottilien, deren Gestalt sich verwandelt hatte, aus dem Zimmer
gehen.

"Sie erlassen uns wohl das siebente Gebot", sagte Charlotte mit
erzwungenem Lächeln.

"Alle die übrigen", versetzte Mittler, "wenn ich nur das rette, worauf
die andern beruhen".

Mit entsetzlichem Schrei hereinstürzend rief Nanny: "sie stirbt!

Das Fräulein stirbt!

Kommen Sie!

Kommen Sie!" Als Ottilie nach ihrem Zimmer schwankend zurückgekommen
war, lag der morgende Schmuck auf mehreren Stühlen völlig ausgebreitet,
und das Mädchen, das betrachtend und bewundernd daran hin und her
ging, rief jubelnd aus: "sehen Sie nur, liebstes Fräulein, das ist ein
Brautschmuck, ganz Ihrer wert!" Ottilie vernahm diese Worte und sank
auf den Sofa.

Nanny sieht ihre Herrin erblassen, erstarren; sie läuft zu Charlotten;
man kommt.

Der ärztliche Hausfreund eilt herbei; es scheint ihm nur eine
Erschöpfung.

Er läßt etwas Kraftbrühe bringen; Ottilie weist sie mit Abscheu weg,
ja sie fällt fast in Zuckungen, als man die Tasse dem Munde nähert.

Er fragt mit Ernst und Hast, wie es ihm der Umstand eingab, was
Ottilie heute genossen habe.

Das Mädchen stockt; er wiederholt seine Frage; das Mädchen bekennt,
Ottilie habe nichts genossen.

Nanny scheint ihm ängstlicher als billig.

Er reißt sie in ein Nebenzimmer, Charlotte folgt, das Mädchen wirft
sich auf die Kniee, sie gesteht, daß Ottilie schon lange so gut wie
nichts genieße.

Auf Andringen Ottiliens habe sie die Speisen an ihrer Statt genossen;
verschwiegen habe sie es wegen bittender und drohender Gebärden ihrer
Gebieterin, und auch, setzte sie unschuldig hinzu, weil es ihr gar so
gut geschmeckt.

Der Major und Mittler kamen heran; sie fanden Charlotten tätig in
Gesellschaft des Arztes.

Das bleiche himmlische Kind saß, sich selbst bewußt, wie es schien, in
der Ecke des Sofas.

Man bittet sie, sich niederzulegen; sie verweigerts, winkt aber, daß
man das Köfferchen herbeibringe.

Sie setzt ihre Füße darauf und findet sich in einer halb liegenden,
bequemen Stellung.

Sie scheint Abschied nehmen zu wollen, ihre Gebärden drücken den
Umstehenden die zarteste Anhänglichkeit aus, Liebe, Dankbarkeit,
Abbitte und das herzlichste Lebewohl.

Eduard, der vom Pferde steigt, vernimmt den Zustand, er stürzt in das
Zimmer, er wirft sich an ihre Seite nieder, faßt ihre Hand und
überschwemmt sie mit stummen Tränen.

So bleibt er lange.

Endlich ruft er aus: "soll ich deine Stimme nicht wieder hören?

Wirst du nicht mit einem Wort für mich ins Leben zurückkehren?

Gut, gut!

Ich folge dir hinüber; da werden wir mit andern Sprachen reden!" Sie
drückt ihm kräftig die Hand, sie blickt ihn lebevoll und liebevoll an,
und nach einem tiefen Atemzug, nach einer himmlischen, stummen
Bewegung der Lippen: "versprich mir zu leben!" ruft sie aus, mit
holder, zärtlicher Anstrengung; doch gleich sinkt sie zurück.

"Ich versprech es!" rief er ihr entgegen, doch rief er es ihr nur nach;
sie war schon abgeschieden.

Nach einer tränenvollen Nacht fiel die Sorge, die geliebten Reste zu
bestatten, Charlotten anheim.




Der Major und Mittler standen ihr bei.

Eduards Zustand war zu bejammern.

Wie er sich aus seiner Verzweiflung nur hervorheben und einigermaßen
besinnen konnte, bestand er darauf, Ottilie sollte nicht aus dem
Schlosse gebracht, sie sollte gewartet, gepflegt, als eine Lebende
behandelt werden; denn sie sei nicht tot, sie könne nicht tot sein.

Man tat ihm seinen Willen, insofern man wenigstens das unterließ, was
er verboten hatte.

Er verlangte nicht, sie zu sehen.

Noch ein anderer Schreck ergriff, noch eine andere Sorge beschäftigte
die Freunde.

Nanny, von dem Arzt heftig gescholten, durch Drohungen zum Bekenntnis
genötigt und nach dem Bekenntnis mit Vorwürfen überhäuft, war
entflohen.

Nach langem Suchen fand man sie wieder, sie schien außer sich zu sein.

Ihre Eltern nahmen sie zu sich.

Die beste Begegnung schien nicht anzuschlagen, man mußte sie
einsperren, weil sie wieder zu entfliehen drohte.

Stufenweise gelang es, Eduarden der heftigsten Verzweiflung zu
entreißen, aber nur zu seinem Unglück; denn es ward ihm deutlich, es
ward ihm gewiß, daß er das Glück seines Lebens für immer verloren habe.


Man wagte es ihm vorzustellen, daß Ottilie, in jener Kapelle
beigesetzt, noch immer unter den Lebendigen bleiben und einer
freundlichen, stillen Wohnung nicht entbehren würde.

Es fiel schwer, seine Einwilligung zu erhalten, und nur unter der
Bedingung, daß sie im offenen Sarge hinausgetragen und in dem Gewölbe
allenfalls nur mit einem Glasdeckel zugedeckt und eine immerbrennende
Lampe gestiftet werden sollte, ließ er sichs zuletzt gefallen und
schien sich in alles ergeben zu haben.

Man kleidete den holden Körper in jenen Schmuck, den sie sich selbst
vorbereitet hatte; man setzte ihr einen Kranz von Asterblumen auf das
Haupt, die wie traurige Gestirne ahnungsvoll glänzten.

Die Bahre, die Kirche, die Kapelle zu schmücken, wurden alle Gärten
ihres Schmucks beraubt.

Sie lagen verödet, als wenn bereits der Winter alle Freude aus den
Beeten weggetilgt hätte.

Beim frühsten Morgen wurde sie im offnen Sarge aus dem Schloß getragen,
und die aufgehende Sonne rötete nochmals das himmlische Gesicht. Die
Begleitenden drängten sich um die Träger, niemand wollte vorausgehn,
niemand folgen, jedermann sie umgeben, jedermann noch zum letztenmale
ihre Gegenwart genießen.

Knaben, Männer und Frauen, keins blieb ungerührt.

Untröstlich waren die Mädchen, die ihren Verlust am unmittelbarsten
empfanden.

Nanny fehlte.

Man hatte sie zurückgehalten, oder vielmehr man hatte ihr den Tag und
die Stunde des Begräbnisses verheimlicht.

Man bewachte sie bei ihren Eltern in einer Kammer, die nach dem Garten
ging.

Als sie aber die Glocken läuten hörte, ward sie nur allzubald inne,
was vorging, und da ihre Wächterin aus Neugierde, den Zug zu sehen,
sie verließ, entkam sie zum Fenster hinaus auf einen Gang und von da,
weil sie alle Türen verschlossen fand, auf den Oberboden.

Eben schwankte der Zug den reinlichen, mit Blättern bestreuten Weg
durchs Dorf hin.

Nanny sah ihre Gebieterin deutlich unter sich, deutlicher,
vollständiger, schöner als alle, die dem Zuge folgten.

überirdisch, wie auf Wolken oder Wogen getragen, schien sie ihrer
Dienerin zu winken, und diese, verworren, schwankend, taumelnd,
stürzte hinab.

Auseinander fuhr die Menge mit einem entsetzlichen Schrei nach allen
Seiten.

Vom Drängen und Getümmel waren die Träger genötigt, die Bahre
niederzusetzen.

Das Kind lag ganz nahe daran; es schien an allen Gliedern
zerschmettert.

Man hob es auf; und zufällig oder aus besonderer Fügung lehnte man es
über die Leiche, ja es schien selbst noch mit dem letzten Lebensrest
seine geliebte Herrin erreichen zu wollen.

Kaum aber hatten ihre schlotternden Glieder Ottiliens Gewand, ihre
kraftlosen Finger Ottiliens gefaltete Hände berührt, als das Mädchen
aufsprang, Arme und Augen zuerst gen Himmel erhob, dann auf die Kniee
vor dem Sarge niederstürzte und andächtig entzückt zu der Herrin
hinaufstaunte.

Endlich sprang sie wie begeistert auf und rief mit heiliger Freude:
"ja, sie hat mir vergeben!

Was mir kein Mensch, was ich mir selbst nicht vergeben konnte, vergibt
mir Gott durch ihren Blick, ihre Gebärde, ihren Mund.

Nun ruht sie wieder so still und sanft; aber ihr habt gesehen, wie sie
sich aufrichtete und mit entfalteten Händen mich segnete, wie sie mich
freundlich anblickte!

Ihr habt es alle gehört, ihr seid Zeugen, daß sie zu mir sagte: 'dir
ist vergeben!'

Ich bin nun keine Mörderin mehr unter euch, sie hat mir verziehen,
Gott hat mir verziehen, und niemand kann mir mehr etwas anhaben".

Umhergedrängt stand die Menge; sie waren erstaunt, sie horchten und
sahen hin und wider, und kaum wußte jemand, was er beginnen sollte.

"Tragt sie nun zur Ruhe!" sagte das Mädchen; "sie hat das Ihrige getan
und gelitten und kann nicht mehr unter uns wohnen".

Die Bahre bewegte sich weiter, Nanny folgte zuerst, und man gelangte
zur Kirche, zur Kapelle.

So stand nun der Sarg Ottiliens, zu ihren Häupten der Sarg des Kindes,
zu ihren Füßen das Köfferchen, in ein starkes eichenes Behältnis
eingeschlossen.

Man hatte für eine Wächterin gesorgt, welche in der ersten Zeit des
Leichnams wahrnehmen sollte, der unter seiner Glasdecke gar
liebenswürdig dalag.

Aber Nanny wollte sich dieses Amt nicht nehmen lassen; sie wollte
allein, ohne Gesellin bleiben und der zum erstenmal angezündeten Lampe
fleißig warten.

Sie verlangte dies so eifrig und hartnäckig, daß man ihr nachgab, um
ein größeres Gemütsübel, das sich befürchten ließ, zu verhüten.




Aber sie blieb nicht lange allein; denn gleich mit sinkender Nacht,
als das schwebende Licht, sein volles Recht ausübend, einen helleren
Schein verbreitete, öffnete sich die Türe, und es trat der Architekt
in die Kapelle, deren fromm verzierte Wände bei so mildem Schimmer
altertümlicher und ahnungsvoller, als er je hätte glauben können, ihm
entgegendrangen.

Nanny saß an der einen Seite des Sarges.

Sie erkannte ihn gleich; aber schweigend deutete sie auf die
verblichene Herrin.

Und so stand er auf der andern Seite, in jugendlicher Kraft und Anmut,
auf sich selbst zurückgewiesen, starr, in sich gekehrt, mit
niedergesenkten Armen, gefalteten, mitleidig gerungenen Händen, Haupt
und Blick nach der Entseelten hingeneigt.

Schon einmal hatte er so vor Belisar gestanden.

Unwillkürlich geriet er jetzt in die gleiche Stellung; und wie
natürlich war sie auch diesmal!

Auch hier war etwas unschätzbar Würdiges von seiner Höhe herabgestürzt;
und wenn dort Tapferkeit, Klugheit, Macht, Rang und Vermögen in einem
Manne als unwiederbringlich verloren bedauert wurden, wenn
Eigenschaften, die der Nation, dem Fürsten in entscheidenden Momenten
unentbehrlich sind, nicht geschätzt, vielmehr verworfen und
ausgestoßen worden, so waren hier soviel andere stille Tugenden, von
der Natur erst kurz aus ihren gehaltreichen Tiefen hervorgerufen,
durch ihre gleichgültige Hand schnell wieder ausgetilgt, seltene,
schöne, liebenswürdige Tugenden, deren friedliche Einwirkung die
bedürftige Welt zu jeder Zeit mit wonnevollem Genügen umfängt und mit
sehnsüchtiger Trauer vermißt.

Der Jüngling schwieg, auch das Mädchen eine Zeitlang; als sie ihm aber
die Tränen häufig aus dem Auge quellen sah, als er sich im Schmerz
ganz aufzulösen schien, sprach sie mit so viel Wahrheit und Kraft, mit
so viel Wohlwollen und Sicherheit ihm zu, daß er, über den Fluß ihrer
Rede erstaunt, sich zu fassen vermochte und seine schöne Freundin ihm
in einer höhern Region lebend und wirkend vorschwebte.

Seine Tränen trockneten, seine Schmerzen linderten sich, knieend nahm
er von Ottilien, mit einem herzlichen Händedruck von Nanny Abschied,
und noch in der Nacht ritt er vom Orte weg, ohne jemand weiter gesehen
zu haben.

Der Wundarzt war die Nacht über ohne des Mädchens Wissen in der Kirche
geblieben und fand, als er sie des Morgens besuchte, sie heiter und
getrosten Mutes.

Er war auf mancherlei Verirrungen gefaßt; er dachte schon, sie werde
ihm von nächtlichen Unterredungen mit Ottilien und von andern solchen
Erscheinungen sprechen, aber sie war natürlich, ruhig und sich völlig
selbstbewußt.

Sie erinnerte sich vollkommen aller früheren Zeiten, aller Zustände
mit großer Genauigkeit, und nichts in ihren Reden schritt aus dem
gewöhnlichen Gange des Wahren und Wirklichen heraus als nur die
Begebenheit beim Leichenbegängnis, die sie mit Freudigkeit oft
wiederholte: wie Ottilie sich aufgerichtet, sie gesegnet, ihr
verziehen und sie dadurch für immer beruhigt habe.

Der fortdauernd schöne, mehr schlaf--als todähnliche Zustand Ottiliens
zog mehrere Menschen herbei.

Die Bewohner und Anwohner wollten sie noch sehen, und jeder mochte
gern aus Nannys Munde das Unglaubliche hören; manche, um darüber zu
spotten, die meisten, um daran zu zweifeln, und wenige, um sich
glaubend dagegen zu verhalten.

Jedes Bedürfnis, dessen wirkliche Befriedigung versagt ist, nötigt zum
Glauben.

Die vor den Augen aller Welt zerschmetterte Nanny war durch Berührung
des frommen Körpers wieder gesund geworden; warum sollte nicht auch
ein ähnliches Glück hier andern bereitet sein?

Zärtliche Mütter brachten zuerst heimlich ihre Kinder, die von
irgendeinem übel behaftet waren, und sie glaubten eine plötzliche
Besserung zu spüren.

Das Zutrauen vermehrte sich, und zuletzt war niemand so alt und so
schwach, der sich nicht an dieser Stelle eine Erquickung und
Erleichterung gesucht hätte.

Der Zudrang wuchs, und man sah sich genötigt, die Kapelle, ja außer
den Stunden des Gottesdienstes die Kirche zu verschließen.

Eduard wagte sich nicht wieder zu der Abgeschiedenen.

Er lebte nur vor sich hin, er schien keine Träne mehr zu haben, keines
Schmerzes weiter fähig zu sein.

Seine Teilnahme an der Unterhaltung, sein Genuß von Speis und Trank
vermindert sich mit jedem Tage.

Nur noch einige Erquickung scheint er aus dem Glase zu schlürfen, das
ihm freilich kein wahrhafter Prophet gewesen.

Er betrachtet noch immer gern die verschlungenen Namenszüge, und sein
ernstheiterer Blick dabei scheint anzudeuten, daß er auch jetzt noch
auf eine Vereinigung hoffe.

Und wie den Glücklichen jeder Nebenumstand zu begünstigen, jedes
Ungefähr mit emporzuheben scheint, so mögen sich auch gern die
kleinsten Vorfälle zur Kränkung, zum Verderben des Unglücklichen
vereinigen.

Denn eines Tages, als Eduard das geliebte Glas zum Munde brachte,
entfernte er es mit Entsetzen wieder; es war dasselbe und nicht
dasselbe; er vermißt ein kleines Kennzeichen.

Man dringt in den Kammerdiener, und dieser muß gestehen, das echte
Glas sei unlängst zerbrochen und ein gleiches, auch aus Eduards
Jugendzeit, untergeschoben worden.

Eduard kann nicht zürnen, sein Schicksal ist ausgesprochen durch die
Tat; wie soll ihn das Gleichnis rühren?

Aber doch drückt es ihn tief.

Der Trank scheint ihm von nun an zu widerstehen; er scheint sich mit
Vorsatz der Speise, des Gesprächs zu enthalten.

Aber von Zeit zu Zeit überfällt ihn eine Unruhe.

Er verlangt wieder etwas zu genießen, er fängt wieder an zu sprechen.

"Ach!" sagte er einmal zu dem Major, der ihm wenig von der Seite kam,
"was bin ich unglücklich, daß mein ganzes Bestreben nur immer eine
Nachahmung, ein falsches Bemühen bleibt!

Was ihr Seligkeit gewesen, wird mir Pein; und doch, um dieser
Seligkeit willen bin ich genötigt, diese Pein zu übernehmen.

Ich muß ihr nach, auf diesem Wege nach; aber meine Natur hält mich
zurück und mein Versprechen.

Es ist eine schreckliche Aufgabe, das Unnachahmliche nachzuahmen.

Ich fühle wohl, Bester, es gehört Genie zu allem, auch zum
Märtyrertum".

Was sollen wir bei diesem hoffnungslosen Zustande der ehegattlichen,
freundschaftlichen, ärztlichen Bemühungen gedenken, in welchen sich
Eduards Angehörige eine Zeitlang hin und her wogten?

Endlich fand man ihn tot.




Mittler machte zuerst diese traurige Entdeckung.

Er berief den Arzt und beobachtete, nach seiner gewöhnlichen Fassung,
genau die Umstände, in denen man den Verdacht des getroffen hatte.

Charlotte stürzte herbei; ein Verdacht des Selbstmordes regte sich in
ihr; sie wollte sich, sie wollte die andern einer unverzeihlichen
Unvorsichtigkeit anklagen.

Doch der Arzt aus natürlichen und Mittler aus sittlichen Gründen
wußten sie bald vom Gegenteil zu überzeugen.

Ganz deutlich war Eduard von seinem Ende überrascht worden.

Er hatte, was er bisher sorgfältig zu verbergen pflegte, das ihm von
Ottilien übriggebliebene in einem stillen Augenblick vor sich aus
einem Kästchen, aus einer Brieftasche ausgebreitet: eine Locke, Blumen,
in glücklicher Stunde gepflückt, alle Blättchen, die sie ihm
geschrieben, von jenem ersten an, das ihm seine Gattin so zufällig
ahnungsreich übergeben hatte.

Das alles konnte er nicht einer ungefähren Entdeckung mit Willen
preisgeben.

Und so lag denn auch dieses vor kurzem zu unendlicher Bewegung
aufgeregte Herz in unstörbarer Ruhe; und wie er in Gedanken an die
Heilige eingeschlafen war, so konnte man wohl ihn selig nennen.

Charlotte gab ihm seinen Platz neben Ottilien und verordnete, daß
niemand weiter in diesem Gewölbe beigesetzt werde.

Unter dieser Bedingung machte sie für Kirche und Schule, für den
Geistlichen und den Schullehrer ansehnliche Stiftungen.

So ruhen die Liebenden nebeneinander.

Friede schwebt über ihrer Stätte, heitere, verwandte Engelsbilder
schauen vom Gewölbe auf sie herab, und welch ein freundlicher
Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen.




 


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