Flametti
by
Hugo Ball

Part 3 out of 4




"Mba, mba, mba!" dröhnte die Musik.

Und Herr Direktor Farolyi vom Zirkus Donna Maria Josefa, ein
Pferdekenner wie kein zweiter, Flamettis erklärter Freund, kam aus
der Garderobe, steifte sich auf vor der Rampe, klopfte ans Glas und
sprach:

"Meine verehrten Herrschaften! Sie erleben jetzt die Sensation
dieses Abends. Unser Freund Flametti wird Ihnen jetzt seine von St.
Rotter bearbeiteten "Indianer" vorführen. Gestatten Sie mir, mit
kurzen Worten meiner Freude über den wohlgelungenen Abend und meiner
Bewunderung für unsren verehrten Flametti Ausdruck zu verleihen.
"Die Indianer": welche Gefühle durchwandern unsere Brust beim Klang
dieses Wortes! Welche Ahnungen entzücken das Herz! Welche
Hoffnungen und Erinnerungen liegen darin begraben! Der Rausch
unserer Kindheit, die Freude unserer Mannbarkeit! Wer hoffte nicht
selbst, als Indianer die Gefilde unserer Heimat zu durchschweifen.
Wem zuckt die Hand nicht nach Feuerwasser, dem Bowiemesser, nach dem
Skalp unserer Feinde!..."

Die Damen lächelten hold. Die Augen ihrer Freunde blitzten
verständnisinnig, verlegen.

"Wir alle kennen die Namen unserer Unterdrücker. Ich brauche sie
nicht zu nennen...."

Herr Detektiv Steix, der auch von der Partie war, zog sein Notizbuch
heraus und notierte sich etwas.

"Wir alle lieben die Freiheit, die Pferde, den Wigwam, den Kriegspfad.

Das alles sehen Sie in den "Indianern", die unser verehrter Freund
Ihnen jetzt vorführen wird. Sie sehen sogar noch mehr. Rache und
Vergeltung im Jenseits.

Unterdrückt von der brutalen Gewalt der Eindringlinge müssen sich die
Indianer verstecken in Urwald und Sumpf, zwischen Nattern und
Schlangen. Das sind wir, lieber Leser, das sind wir, teure Freundin.
Die Luft unseres stillen Quartiers wird mehr und mehr erfüllt von
den Klagen der Opfer, die sich die Polizei herausgreift. Das Volk
der Indianer geht dem Verfall entgegen.


"Doch dort oben in dem ew'gen Jagdgebiet
Singt der Indianer Volk sein Siegeslied",


und so schließe auch ich mit dem Ausruf:


"Doch dort oben in dem ew'gen Jagdgebiet
Singt der Indianer Volk sein Siegeslied."


In diesem Sinne erhebe ich mein Glas und stoße an auf das Wohl und
Gedeihen, das Glück und Genie unseres einzigartigen Flametti. Er
lebe hoch!"

Herr Farolyi, der Ungar, hatte sein Glas erhoben und leerte es in
einem Zug.

"Flametti, der Häuptling, hoch! Flametti, Flametti!" tobte das
Publikum. Man stampfte und johlte...

Der Vorhang hob sich. Leer war die Bühne, und die "Indianer" fanden
statt.

Erst die Ouvertüre mit den worgelnden Donner--und Blitz-Akkorden.

Dann der Kriegspfad:


"Die Letzten von dem Stamm der Delawaren,
Die Kriegerscharen
Der Delawaren--"


Dann der zweite Vers:


"Wenn man das Letzte uns genommen,
Wenn unsre Besten umgekommen,
Ziehn Falkenaug' und Feuerschein
Zum großen Geist dort oben ein.
Dann heben sich die Roten Brüder
Zu neuem Reich und Glanze wieder,
Und es erreicht das Blaßgesicht
Für seinen Raub ein Strafgericht."


Dann der dritte Vers, den Herrn Farolyi als Ausklang zitiert hatte:


"Und dort oben in dem ew'gen Jagdgebiet
Singt der Indianer Volk sein Siegeslied.
Einmal wieder ziehn wir noch auf Kriegespfad,
Einmal noch, wenn der Tag der Rache naht."


Und die Lichter im Saal waren verdunkelt. Und die Indianer, Flametti,
Jenny, die Soubrette, Fräulein Rosa, Fräulein Güssy und Fräulein
Traute schwenkten die roten Laternchen, in hohem Federschmuck, und
sangen so monoton-klagend, so herzergreifend-verschollen, daß
Fräulein Amalien und Mutter Dudlinger die Tränen in die Augen traten;
daß Herr Meyer plötzlich glaubte, er habe falsch gespielt, und
infolgedessen für einen Moment wirklich daneben griff; daß Engel beim
Vorhang seine Erregung nicht anders mehr bemeistern konnte, als indem
er zitternd eine Zigarette anzündete; und Herr Farolyi, der wieder
bei Donna Maria Josefa saß, ein über das andere Mal ausrief: "Macht
er wirklich hübsch, der Flametti!"

Gewiß hätte jetzt auch Herr Rotter seine Freude gehabt; denn die
Nasen, besonders die Flamettis, waren überraschend gut geklebt. Und
für den dritten Vers hatte sich Max eine so prachtvolle Apotheose
ausgedacht,--er allein stand aufrecht. Die Weiber knieten mit
gesenkten Köpfen und Lanzen um ihn herum. Dann sprangen alle auf,
ganz vor an die Rampe in eine Reihe, und drohten mit geschwungenem
Tomahawk--, daß auch der stumpfeste Batzenbengel solcher Auffassung
Unübertrefflichkeit hätte zusprechen müssen. Besonders die Damen
hielten sich über Erwarten gut.

Es war ein runder, glatter Erfolg.

"Flametti! Flametti! Feuerschein!" schrieen die , als
der Vorhang fiel und sich noch einmal hob.

Herr Farolyi in vehementem Enthusiasmus, ging klatschend bis vor die
Rampe. Donna Maria Josefa winkte mit Flatterhand. Mutter Dudlinger,
die so selbstlos den Fünfzigfrankenschein vorgestreckt hatte,
strahlte ein Strahlen, das über das ganze Lokal hinstrahlte. Miß
Ranovalla de Singapore, speckiges Wunder, stand auf und ließ ihre
beschatteten Augen schweifen. Sie empfand die Exotik dieser
"Indianer" als eine ihr ganz persönlich gewidmete Ovation. Und
Flametti verbeugte sich bärig, lächelnd, mit leuchtenden Jungensaugen,
ob all dem Glück und Erfolg.

Die Musik intonierte, wie auf Verabredung, den Missouristep, von
Engel mit selbstgefertigtem Plakat zu Bewußtsein gebracht. Bobby zog
seinen Sommerpaletot aus und parodierte in glitzernd zur Schau
gestelltem Eidechsenkostüm.

"Flametti! Flametti! Feuerschein raus!" tobte das Publikum immer
noch, und Flametti mußte allein erscheinen. Kühn, leuchtend und groß
stand er inmitten der Bühne, Delaware von Kopf bis zu Fuß, Held
dieses Abends, Würdenträger und Häuptling seines Reviers.

Nach der Kassierung aber kamen die dienstbaren Geister vom "Krokodil"
und Umgebung und räumten mit Hilfe des Publikums die Rosenhecken weg,
soweit sie im Wege waren. Ein anstoßender zweiter Saal wurde
geöffnet. Eine Vermischung des Varieté-Ensembles mit dem Publikum
fand statt: es wurde getanzt.

"Nein, Jenny, was ihr für ein Glück habt!" rief Raffaëla, "ich muß
mich ein bißchen zu euch setzen!" und sah Jenny träumerisch in die
Augen.

"Fräulein Raffaëla", stellte Jenny vor, "Herr Seidel, mein Freund aus
Baden; Fräulein Amalie, Frau Schnepfe."

Und Raffaëla, da Jenny gerade damit beschäftigt war, die Kassierung
nachzuzählen: "Was für ein Glück!"

"Ach, Raffaëla", seufzte Jenny, "wenn du wüßtest!"

"Was macht er denn?" flüsterte Raffaëla.

Und Jenny, unendlich traurig, die Hand am Munde, dann abwinkend:

"Ach, ich will lieber schweigen!"

Herr Seidel aus Baden zwirbelte unternehmend, mit disziplinierter
Eleganz, seinen Schnurrbart. Er stützte die Hand auf den Schenkel.
Der Ellbogen stand weit ab.

"Boston!" rief der Tanzordner und rutschte mit schleifenden Füßen
durch den gebohnerten Saal.

Frau Schnepfe schüttelte den Kopf ob solchen Tumults.

Fräulein Amalie, den Rücken an die Wand gelehnt, streichelte ihren
Zwergpintsch mit der gepflegten Haltung einer Dame, die in der
Hofloge sitzt.

Flametti, noch im Indianerkostüm, ging durch den Saal und quittierte,
mit seiner Stattlichkeit renommierend, die flüssig ihm dargebotenen
Glückwunschbeweise. Man befühlte die Lanze, die Lederhosen, den
Halsschmuck. Auch Herr C. Tipfel von den Sunda-Inseln war da.

"Du poussierst mit Flametti!" warf Bobby der treulosen Traute vor,
mit der er seit Wochen in zünftigem Briefwechsel stand. Sie standen
beim Vorhang. "Ich hab' es gesehen. Er hat dich ans Bein gefaßt,
als du die Treppe hinaufgingst. Ich hab' auch gesehen, wie ihr
getuschelt habt miteinander."

"Dummer Fatzke!" gab Traute zurück, "was bild'st du dir eigentlich
ein? Bist ja zwei Köpfe kleiner als ich! Willst du eine Frau
ernähren!"

"Na, schön!" sagte Bobby und musterte sie von oben bis unten. "Pfui
Teufel!" Er nahm seinen Regenschirm, zog den Paletot an, sagte
"Grüatzi!" und ging in den "Hopfenzwilling".

"Ach, Raffaëla!" sagte Jenny, "du glaubst es ja nicht! Aber wart'
nur ab! Ich werde mich revanchieren!"

Die Soubrette kam an den Tisch.

"Na, Fräulein", sagte Herr Seidel freundlich, "was trinken Sie?"

Die Soubrette zierte sich.

"Einen Eierkognak?"

"He, Fräulein!" hielt er die Kellnerin fest, "einen Eierkognak!"

Die Soubrette nahm Platz. "Laura heiße ich."

"Fräulein Laura--hübscher Name!" sagte Herr Seidel und legte den Arm
um ihre Stuhllehne.

Jenny entging es nicht. Sie hatte die Kasse gezählt und winkte
Flametti. "Da nimm: Hundertneunzig Franken."

Flametti schob das Geld mit gekrampfter Hand in die Hosentasche und
fühlte sich verpflichtet, eine Weile stehen zu bleiben.

"Wo ist die Traute?" fragte Jenny.

"Was weiß ich, wo die Traute ist!" fuhr er auf, "sie wird tanzen."

Jawohl, Fräulein Traute tanzte. In ausgelassenem Vorüberschieben
warf sie Flametti einen kokett-auffordernden Blick zu. Hei, flog ihr
Kopf in den Nacken!

"Ja ja, die Jugend!" träumte Frau Schnepfe resigniert.

"Uff!" schnaubte Flametti, "das war eine Hetze!" Jetzt lief es von
selbst.

Vorbei schob: Herr Scherrer, Handlungskommis aus Wien, mit Fräulein
Rosa. Vorbei schob: Herr Glatt, turmhoher Stehkragen,
Handlungskommis aus der Mark Brandenburg, mit Fräulein Güssy. Vorbei
schob: Herr Pips mit der hüftengewaltigen Lydia. Vorbei schob: der
Herr Krematioriumfritze, mit der in Feldgrau.

"Das ist der andere!" flüsterte Jenny vertraulich Raffaëla zu.
"Schwer reich. Der spendiert nachher Sekt. Immer französischen Sekt.
Er tut jetzt so, als säh' er mich nicht."

"Stattlicher Mann!" gab Raffaëla sich Mühe. Es schien ihr ein wenig
drauf anzukommen, Jenny die Ruhe zu nehmen.

Aus der Garderobe kam als der letzte Herr Meyer. Er hatte die Noten
hinaufgetragen. Unschlüssig blieb er stehen, Jennys gespicktes
Portemonnaie in der Tasche, das ihm bei jedem Schritt wie ein Klotz
an den Schenkel schlug.

"Ach, Herr Meyer", sagte Jenny und streckte sich über den Stuhl zu
ihm hin, "geben Sie her! Es ist nicht mehr nötig!" und ließ das
Monstrum von Portemonnaie, das Meyer ihr gleichgültig gab, in den
Busen rutschen.

Und Herr Meyer trat zu Flametti, sah in das Gewühl und meinte: "Pfui
Teufel, ist das eine Hitze!"

Und den Walzer tanzte auch Mutter Dudlinger. Sie hielt den Herrn
Pips fest um die Taille gefaßt und drehte sich auf den Zugstiefeln.
Herr Pips aber drehte sich wie ein Trabant um die Sonne.
Meistenteils war er verfinstert.

Und Engel machte auch Jennymama seine Aufwartung, animiert wie man's
werden kann, erhielt aber glatt einen Korb. "Ach, der Engel!"
lächelte Jennymama.

Und noch um ein Uhr kam ein Rudel Studenten: holländische Forsteleven.
Die schoben und pfiffen und klatschten dazu. Und hatten eine
eigene Laute dabei und stellten das ganze Lokal auf den Kopf.



Wer dem Indianerfeste nicht bis zum Ende beiwohnte, und wer Jenny
nicht kannte, erlebte am nächsten Tag überraschungen.

Flamettis Erfolg war unbestritten. Und galt ihm allein, nur ihm. Er
wurde gefeiert in allen Tönen.

Aber gerade das vertrug Jenny nicht. Gerade das lehnte sie ab. Sie
konnte in ihrer offenbaren Beschränktheit nicht einsehen, daß für
Flametti dieses Indianerspielen ein Bild, ein Symbol war, ja eine
Lebensfrage; begriff nicht, wie ein vernünftiger Mensch, ein Mann,
sich so kindisch benehmen konnte. Sie hatte, kurzum, keinen Sinn für
die Illusion, verstand auch nicht, was der Farolyi gekauderwelscht
hatte. Spielen, Wetten, Revolverschießen; Pariser Apachen,
Felsengebirge und Honolulu; ein Ritt durch die Wüste, Komantschen,
Bluthunde und Polizei: das alles waren ihr spanische Dörfer.

Weltfremd war Jenny und eitel dazu. Sie konnte für möglich halten,
das ganze Fest sei nur für sie arrangiert gewesen; Flametti nur für
sie, für Jennymama, geboren, sei es, indem er den Diener machte, wenn
sie Karotten einkaufte; sei es, indem er Mannderl und Weiberl
schnitzte fürs Wetterhäuschen.

Und ganz besonders: für "Wigwams" hatte sie gar keinen Sinn. Sie
hielt das für Humbug. In kleinlicher Mißgunst klammerte sie sich an
äußerlichkeiten, warf ihm gewöhnliche Vielweiberei vor. Als ob sich
ein Mann seiner Art von der Fertigkeit eines einzigen Weibes
gefesselt, entzückt und versorgt fühlen konnte.

Flametti versuchte umsonst, es ihr klar zu machen, morgens um zehn
Uhr, im Bett. Sie verstand nicht.

"Also was heißt das?" setzte sie sich verbissen und leidenschaftlich
im Bett auf.

"Daß ich meine Ruhe haben will!" erklärte Flametti abschließend und
drehte sich nach der anderen Seite.

Aber damit gab Jenny sich nicht zufrieden. So ließ sie sich nicht
abspeisen. Klarheit wollte sie haben von wegen dieser Person, dieser
Traute, der Schlampen, die nicht einmal wußte, wozu die Klosettschnur
da war, und die es doch wagte, ihr dreist ins Gesicht zu sagen, man
habe sie "abgesetzt".

"Du, Max, ich will Antwort!" drohte sie, "wie ist das mit der Traute?
Mach' mich nicht wild! Ich hab' euch wohl tuscheln sehen, gestern
im "Krokodil"! Gut: es war Publikum da. Aber heut will ich's wissen."

"Himmelherrgottsakrament, laß mir jetzt meine Ruhe!" setzte Flametti
sich ebenfalls auf. "Was soll ich denn machen mit ihr? Was willst
du denn? Soll ich vielleicht den Heiligen spielen? Darf ich nicht
meine Nachtruhe haben? Plag' ich mich immer noch nicht genug?" Eine
Prügelszene im Bett stand bevor.

"Gut!" sagte Jenny, "laß nur!" Sie wußte Bescheid. Heraus sprang
sie aus dem Bett, warf sich den Schlafrock über und war schon im
Lattenverschlag.

"Traute raus!" schrie sie und packte die schlafende Traute beim
Kragen.

"Pack' deine Sachen zusammen. Vorwärts marsch, marsch! Und heraus
aus der Wohnung!"

Traute fuhr auf. Der Ton, der ihr ans Ohr drang, war zu energisch,
als daß es ein Weigern gab. Schlaftrunken, eben noch mit dem Kommis
aus Brandenburg Twostep schiebend, glitt sie über die Bettkante
herunter. Unterkleider und Schuhzeug griff sie, stürzte das
Tanzkleid über den Kopf und bemerkte erst jetzt, worum es sich
handelte. "Raus, wohin?" fragte sie erstaunt.

"Raus aus der Wohnung! Raus auf die Straße! Ins Arbeitshaus, wenn
du Lust hast! Nur raus, und zwar sofort, oder ich hole die Polizei!"

Große Augen machte Fräulein Traute. Arbeitshaus? Straße? Polizei?
Was war denn passiert? Was war denn geschehen? Warum? Wieso? Was
hatte sie denn getan?

Sie bekam's mit der Angst. Verstört und verdattert riß sie die Augen
auf. Ihr Mund hing schief. Zitternd und bebend beeilte sie sich,
ihr Kleid zu schließen.

"Was hab' ich denn getan? Ich habe doch nichts getan!" stotterte sie.

"Du wirst schon wissen, was du getan hast!" schrie Jenny. "Fort!
sag' ich dir! Raus! Nur raus! Ich werde dir Beine machen!"; riß
Trautes Sachen vom Haken und warf sie ihr zu. "Das andere kannst du
dir holen lassen. Nur raus, auf der Stelle!"

"Sie haben mich hier nicht rauszuwerfen. Flametti hat mich hier
rauszuwerfen!" versuchte Traute.

"Was hab' ich?" schrie Jenny, jetzt vollends rabiat, und keilte die
Künstlerin aus dem Verschlag.

Die hielt sich mit beiden Händen fest an der Tür. Die Türe schlug zu.
Zwei Vasen mit Binsen und Klatschmohn fielen zerschellend hoch vom
Büfett. Nettchen, der Dackel, schoß, ein fauchendes Krokodil mit
zwei Reihen Sägezähnen, hervor aus den Sofafransen.

Die Mädel kreischten. Flametti, im Hemd, mit haarigen Beinen, drang
aus dem Hauptfrauzimmer.

"Was gibt's denn da?" riß er die Sklavin der Hauptfrau weg.

"Hier gibt's eine Kindsleiche, wenn sie nicht rauskommt."

"Hilfe! Hilfe!" schrie Traute, als sei ihr der Hals bereits
abgeschnitten, und rannte zum Fenster.

"Bist du ruhig!" drohte Flametti mit aufgeblasenen Backen. Schon war
die ganze Nachbarschaft an den Fenstern. Eine Scheibe klirrte.

"Raus kommt sie!" arbeitete Jenny.

"Willst du ruhig sein!" schäumte Flametti, ergriff das Brotmesser,
das auf dem Tisch lag, und ging auf die Frau los.

"Hilfe! Hilfe!" Jenny stieß auf der Flucht mit dem Kopf an den
Spiegelschrank. Nettchen, gurgelnd und seibernd, sprang hoch an
Flamettis Brust und verbiß sich im rot-weiß gestreifelten
Baumwollhemd.

Flametti kam zur Besinnung und ließ das erhobene Messer sinken.

"Machst du jetzt, daß du hinauskommst!" funkelte er Traute an und
bedeutete ihr mit dem Zeigefinger den Weg.

Und Traute, entsetzt, in die Enge getrieben, lief heulend über das
Plüschsofa, am Rocke den wütenden Hund nachschleifend, nahm einen
viertel Fußtritt Flamettis mit, schrie Zeter und Mordio, rannte die
Treppe hinunter zur Straße, und lief, was sie laufen konnte.

Die Mittagstafel war schlecht besucht. Auch die Häslis fehlten. Sie
hatten Kontrakt gemacht mit Ferrero, gestern noch spät in der Nacht,
nach dem "Schackerl", und fanden es nicht übertrieben, Flametti
Adieus zu ersparen.




V




Herr Meyer sah aus wie Friedrich Haase als Richard der Dritte. Man
fuhr nach Basel. Herr Meyer sah aus, als sei er, Herr Meyer,
verantwortlich für diese Partie. Man fuhr zu Herrn Schnepfe nach
Basel, und dieser Herr Meyer sah aus, als sei's eine Fahrt nach dem
Feuerland.

"Sehen Sie mal, Herr Meyer", sagte Flametti, "ich kenne doch
Schnepfes Lokal. Keine Sorge! Wochentags leer. Aber Sonntags
brillant. Und jetzt zur Meßzeit, mit unseren Schlagern...! Das
Wichtigste ist: man muß ihm den Schneid abkaufen, dem Schnepfe. Von
vornherein. Gar nicht aufkommen lassen. So und so sieht es aus bei
uns. Das und das brauchen wir.--Großes Lokal bei den Schnepfes.
Prachtvolle Zimmer. Guter Kontrakt."

Aber Herr Meyer schien seine Bedenken zu haben. Er hörte kaum zu.
Rauchte 'ne Zigarette und spuckte wegwerfend durchs Coupéfenster.

"Sehen Sie mal", sagte Flametti und tippte die Asche weltmännisch auf
die vorbeisausende Landschaft, "wir haben: die "Indianer", den
"Harem", den Friedhofsdieb", den "Mann mit der Riesenschnauze", die
"Nixen", die "Ausbrechernummer"...." Er zählte das alles an den
Fingern her.

"Die "Indianer"?" warf Herr Meyer ein.

"Na ja, die "Indianer"."

"Wieso die "Indianer"?"

"Na: ich, meine Frau, die Soubrette und Rosa."

"Schöne "Indianer"!" meinte Herr Meyer. Ihm konnt' es ja recht sein.

"Was wollen Sie?" meinte Flametti, "genügt das nicht?" Er wurde
heftig. "Jawohl! Werde mir fünf Soubretten engagieren! Zehn
Lehrmädel dazu!"

"Feine Stadt, Basel!" rief Jenny mit erhobenem Zeigefinger und
entnahm ihrer Handtasche zwei Schinkenbrote. "Gelt, Max, auf die
Meß' gehen wir? Und die Kavaliere bringen uns Leckerli?"

"In Basel gibt's doch die Leckerli", erklärte sie Fräulein Laura, die
ebenfalls skeptisch schien. "Solchene Tüten bringen sie an!" Sie
zeigte eine Tütengröße von reichlich einem halben Meter. "Und einen
zoologischen Garten gibt es: Wildschweine, Strauße, Giraffen! Feine
Stadt!"

Fräulein Laura schien ganz Ohr. Nervös sah sie von Flametti zu Meyer,
von Meyer zu Jenny.

"Der Herr Meyer meint, das Repertoire reiche nicht aus", lächelte Max
zu Jenny.

"Nimm ein Schinkenbrot, Max!"

Herr Meyer spuckte wegwerfend und finster. Und Jenny fühlte sich
verpflichtet, deutlichere Begriffe zu geben von dieser gesegneten
Stadt.

"Und der Rhein ist da", sagte sie kauend im hübsch ansitzenden
Reisekleid, "und die Polizei ist sehr streng. Papiere und
Heimatschein, da darf nicht das Tüpfel fehlen. Wenn dort eine auf
der Straße geht: zwei Tage. Schon ist sie weg."

Stoßhaft belustigt spuckte Herr Meyer. Doch seine Skepsis war
abgründig finster. Jeder Versuch, ihn aufzuhellen, schien vergebens.
Und Fräulein Laura zuckte nervös mit den Augenlidern. Sie schien
sich gar nicht zurechtzufinden.

Engel langte die Sachen herunter aus dem Gepäcknetz. Bobby sah nach
der Uhr und griff die Plakate. Rosa bemühte sich um den Käfig der
Turteltauben.

"Ist's schon so weit?" fragte Jenny erstaunt und steckte ihr
Schinkenbrot halb in den Mund, halb in die Reisetasche.

"Basel!" bestätigte Flametti.



"Ah, das ist recht!" rief Frau Schnepfe, als das Ensemble eintrat.
"Das ist recht!" und drehte an ihrem Ehering. "Guten Tag! Guten Tag!
Guten Tag!" und gab jedem einzelnen die Hand.

"Salü!" grüßte Flametti, "da sind wir!" und blieb mit Reisetasche und
Regenschirm ostentativ inmitten der Wirtsstube stehen, als wolle er
sagen: jetzt geht der Kontrakt an. Jetzt habt ihr zu sorgen für uns.

Frau Schnepfe bekam einen gelinden Schreck. Und die Soubrette, als
"Stimmungsmacherin" angezeigt, nahm sogleich einen Stuhl, ganz
erschöpft von Influenza, stützte den Kopf auf und begann
einzuschlafen.

"Wo ist der Beizer?" fragte Flametti forsch.

"Fritz!" rief Frau Schnepfe in irgendein Kellerloch, "da sind sie.
Komm einmal rauf, die Artisten sind da." Und Engel und Bobby
stapelten das Gepäck auf, schleppten den großen Koffer herein.

Da kam auch Herr Schnepfe zum Vorschein, blinzelnd und etwas verrußt
von der Kellerarbeit.

"Salü Max!" grüßte er mit salopp geschwungener Schneidigkeit und
blödem Gesichtsausdruck. Er trug eine Schnurrbartbinde, war klein
von Gestalt, und es fehlte der Kragenknopf.

"Salü Fritz!" grüßte Flametti souverän und stellte den Handkoffer ab.
Herr Schnepfe sah aus, als sei ihm nicht wißlich, um was es sich
handle.

"Das ist die Frau", stellte Flametti vor, "das ist die Soubrette, das
der Pianist, das die Rosa. Das der Engel und das unser Herr Bobby."

"Früh auf den Beinen!" meinte Herr Schnepfe.

"Schweinskopf mit Senf", porträtierte Engel, indem er den Koffer zum
andern Gepäck hinschob.

"Alles parat?" fragte Flametti militärisch.

"Alles parat!" rapportierte Herr Schnepfe, die Hand an der Hosennaht.
Den Scheitel hatte er sich mit Wasser und mit Pomade
zurechtgeplätscht. Doch sträubten sich seine Borsten.

"Wo sind denn die zwei andern Fräulein?" erkundigte sich Frau
Schnepfe freundlich und süß.

"Kommt Ersatz!" tröstete Flametti und hing nun auch seine Schirme auf.

"Na, dann zeig' mal die Zimmer!" gebot Herr Schnepfe und zog sich mit
einem kommißartigen Ruck die Kellerschürze über den Kopf.

"Wollt ihr nicht erst einen Kaffee trinken?"

Oh, das war eine freundliche Frau Schnepfe! Oh, die war nett!

"Oh ja", nickte Jenny mit ihrem süßesten Lächeln und gab der Frau
Schnepfe das Reiseplaid. Die gab's einer Kellnerin weiter.

Flametti nahm Rosa die Tauben ab, hing seinen Hut an den Haken und
nahm seine "Philos" heraus.

Die Kellnerin brachte Helles. Herr Schnepfe hantierte am Bierhahn,
gab seine Befehle. Jenny ging mit Frau Schnepfe die Wohnung besehen.
Und man war angekommen.

Nachmittags ging man zur Polizei, von wegen der Anmeldung. Die Stadt
war grau. Hohe Häuser, elektrische Straßenbahnen. Regenwetter und
Nebel.

Das Polizeihaus war ein efeuumwachsener, burgähnlicher Bau. Der Weg
hinauf führte vorbei am Gefängnis. Ein Sträfling sah mit
verwildertem Kasperlgesicht durchs Eisengitter herab auf die Straße.
Schweigend ging man vorbei, gedrückt, wie Katholiken vorübergehen am
Kreuz. Man nimmt seinen Hut ab.

Der Rückweg führte vorbei an der Messe. Das elektrische Karussel war
in vollem Betrieb. Eine blau gestrichne Karosse kam, zitternd und
rasselnd, in majestätischer Fahrt aus dem Tunnel. An der Stirnseite
des Wagens prangte ein Seeweibchen, Bruststück. Das schlug die
Tschinelle. Rot waren die Backen, weiß ihre Brüste gelackt. Stolz
flog sie dahin und zog einen ganzen Schwarm hochfarbig lackierter
Wagen aus dem Tunnel. Die Dampfpfeife schrillte.

Herrn Schnepfes Varietélokal war unschwer zu finden. Wenn man öfters
den Weg machte, fand man es spielend. Bei einem großen Bankhaus
schwenkte man ab nach rechts, in die Vorstadt. Vor dem Haus stand
ein Brunnen mit großem Bassin voll grasgrünen Wassers. Darüber der
heilige Bartholomäus, aus Stein gehauen, mit segnenden Händen. An
den Fenstern hingen Flamettis Plakate. In der Straße, am Abend,
schaukelte blau eine Bogenlampe.

Die Zimmer waren ein wenig kalt und schreckend im ersten Moment.
Mattscheiben und die gekalkten Wände erinnerten barsch an
Krankenbaracken in einem Gefängnisbau. Doch waren sie teilweise
hübsch mit öfen versehen und geräumig, ebenso wie das Konzertlokal.

Zwei ineinandergehende Kammern gleich überm Wirtslokal bekamen
Flametti und seine Frau, nebst Rosa. Eine Kammer im dritten Stock
die Herren Engel und Bobby. Ein Dienstmädchenzimmer im Seitenflügel
Herr Meyer und Fräulein Laura.

"Sagen Sie nur", meinte Frau Schnepfe zu Jenny, "warum haben Sie nur
die zwei netten Fräulein nicht mitgebracht?"

"Ach, Frau Schnepfe", winkte Jenny ab, "Sie haben ja keine Ahnung,
was in unsrem Beruf alles vorkommt: Die eine hab' ich entlassen
müssen--schlimme Geschichten! Die andre hat man mir abgenommen."

"Abgenommen?"

"Ja, denken Sie sich: die Mutter kam mir ins Haus und sagte, sie
dulde nicht länger, daß ihre Tochter Artistin ist. Wegen der Kerls."

"Was Sie nicht sagen!"



Die Vorstellungen waren nicht gut besucht. Trotz pomphafter
Vorreklame. Ein Dutzend Leute saßen wohl in den Ecken. Aber sie
"jaßten" und ließen sich weiter nicht stören. Keine Hand rührte sich,
wenn eine Nummer zu Ende war. Keine Miene verzog sich.

"Man muß sich einleben", meinte Flametti. "Es muß sich herumsprechen,
was wir zu bieten haben. Nur keine Sorge! Kommt schon."

Herr Meyer mußte sich jedenfalls bald überzeugen, daß die "Indianer"
auch ohne Güssy und Traute gingen.

"Sehen Sie", sagte Flametti, "Basel ist eine ernste Stadt. Religiös.
Das vornehme Bürgertum klatscht nicht gern. Lassen Sie uns etwas
Ernstes bringen, den "Friedhofsdieb", und wir haben ein volles Haus."

Also bekam Engel die Rolle der Zeugin Emilie Schmidt im
"Friedhofsdieb", was Frau Häsli früher zu spielen hatte, und lief
tagsüber unglücklich zwischen den Tischen und Stühlen umher und rang
mit dem Ausdruck.

Herr Meyer aber blieb skeptisch. Auch die Wirtsleute gefielen ihm
nicht.

Ihm war nicht entgangen, daß Herr Schnepfe auf seinem Glasdach einen
Wurf junger Wolfshunde aufzog. Die heulten dort nächtlich herum,
wenn die Ratten über das Dach wegstoben.

Eine innige Antipathie empfand Herr Meyer gegen Herrn Schnepfe. Auch
diese Frau, Frau Schnepfe, gefiel ihm nicht. Ihr gedrehtes Wesen
belästigte ihn. Herr Meyer war ein Poet. Wie sollte das Publikum
Zutrauen fassen, wenn die blutleckenden Wolfshundsbestien mit ihren
Hängeschwänzen das Haus durchstrichen und jedermann an den Waden
schnupperten; wenn die gedrehte Frau Schnepfe auf ihre gedrehte Art
"Guten Morgen!" sagte und einem die Hand gab, geziert-religiös, wie
Nonnen sich in der Kirche an Fingerspitzen das Weihwasser reichen!

Flametti aber versuchte es analytisch.

"Was ist Blödsinn?" philosophierte er in dem "Mann mit der
Riesenschnauze". "Blödsinn ist: wenn das Kind keinen Kopf hat.
Blödsinn ist aller Jammer der Welt. Blödsinn ist die Enttäuschung
der Seele, die Quintessenz der Melancholie. Blödsinn ist überhaupt
ein Blödsinn."

Das war Herrn Meyer so recht aus der Seele gesprochen. Das löste
seine Komplexe. Doch auch Erkenntnis vermochte die Basler nicht
aufzuheitern.

Mit ringförmigen Fischaugen saßen sie da, tranken ihr Bier aus,
zahlten und gingen. Die Soubrette hatte ein wenig Erfolg. Das Ganze
schien hoffnungslos.

"Alles nichts", sagte Jenny, "wir müssen Artisten haben!" Und eines
Tags bei Tisch verkündete sie dem erregten Ensemble: "Neue Artisten
kommen. Vornehme Artisten. Kinder, da müßt ihr euch fein benehmen!"

Zwei Tage später war's auch schon da. Die Tür ging auf. Ankamen die
neuen Artisten. Herr Leporello und Lydia, Herr Leporello und Lotte,
Herr Leporello und Raffaëla, nebst vielem Gepäck, darunter auch
Eisenstangen.

Das war ein Getue! Das war ein Geschmatze! Das war die lauterste
Seligkeit!

Lottely hinten, Lottely vorne! "Gut, daß ihr da seid!"--"Trinkst du
Helles, Lepo?"--"Wollt ihr einen Kaffee trinken?"--"Wie geht es der
Mutter?" und was dergleichen Begrüßungsformalitäten mehr sind.

Sogar Herr Meyer taute jetzt auf. Leben und Lebensart kamen ins Haus.
Die Reserviertheit Schnepfes verfing nicht mehr.

Und diese Nummern! Drahtseilakt und Czardas. Spitzentanz,
Matschiche und Drehbarer Unterleib! Ein wirklicher Zuwachs!
Akquisition! Das ließ sich hören!

Auch die neuen Artisten wurden untergebracht: Zimmer Numero 6 und 7.
Engel und Bobby beschäftigten sich mit dem neuen Gepäck und den
Eisenstangen. Herr Leporello gab Anweisungen. Und man begab sich
zur Polizei.

Eine Stunde später schon waren für Raffaëlas Drahtseilakt im Parkett
quer vor der Bühne die Stützen befestigt, die Zeitungsannonce war
aufgegeben, und der Erfolg war freundlichst gebeten, sich einzufinden.

Kam auch. Gleich der erste Abend gab einen hohen Begriff von den
Fähigkeiten der neuen Artisten. Die Kostüme waren zwar etwas
zerknittert. Sie hatten zu lange im Korb gelegen, und von Frau
Schnepfe war kein Bügeleisen zu erhalten. Auch mißglückte Herrn
Leporellos "Drehbarer Unterleib", weil Lepo zu Mittag infolge der
langen Bahnfahrt zuviel gegessen hatte.

Aber Raffaëlas "Matschiche auf dem hohen Seil" mit japanischem Schirm
und im Himbeertrikot--Teufel, hatte das Frauenzimmer Schenkel!
--ermunterte selbst die griesgrämigen Basler. Und als Fräulein Lydia
Czardas tanzte--verflucht noch einmal! Sie schlug auf das Tamburin
und ging mit pferdhaftem Posterieur stampfend und tänzelnd gegen die
grätschende Schwester los--, da gab es auch bei den Baslern keine
Bedenken mehr: laut und vernehmlich klatschten sie.

Am nächsten Abend gab es schon Ehrengäste: Herr Bums-die-Lerche, der
Komikerkönig, und Fräulein Nandl, das Wunder der Tätowierung, welch
letztere im Haus des Herrn Schnepfe auch wohnte, der guten Adresse
wegen.

In den nächsten Tagen brachte Raffaëla als Neuheit ihren
"Spitzentanz"--immer auf den Fußspitzen, nach der Melodie:


"Frühling ist's, die Blumen blühen wieder,
Süß berauschend duftet jetzt der Flieder",


immer auf den Fußspitzen; die Pointen markiert durch ein
Hochschnellen des Körpers, die Arme mit grazienhaft hinauf--und
hinuntergebogenen Handflächen ausgebreitet; immer so:


"Alle Vögel jauchzen, jubeln, si-hi-ngen,
Die Natur scheint neu sich zu verjü-hi-ngen."


Und Herr Leporello, wenn er eklatante Beweise seiner trommlerischen
Begabung bei der Begleitmusik abgelegt hatte, produzierte sein
"Teufelskabinett", bei dem er unter Zischen und Pfeifen auf einer
Sirene, mit zusammengelegten Gliedern durch einen Schornstein aus
Pappkarton, den Lydia festhielt, borstig herniederfuhr.

Wenn aber Herr Leporello Sonntags seinen komischen Teufelsakt
brachte--er erschien dann als eine infernalische Klatschbase im
Korsett, einen Kamm in der Perücke, das Hemd hing ihm hinten heraus
und der Rock aus Sackleinwand, mit roten Litzen benäht, war ihm zu
kurz--, dann spielte sich in seinen Mienen eine so diabolische
Einfältigkeit ab, daß der Kontrast zwischen seinen gespreizten
Zirkusposen und dem dargestellten Objekt die Zuschauer zu hellem
Grinsen entflammte.

Was Wunder, wenn das Geschäft sich hob? Wenn die Zirkusleute mehr
und mehr in den Vordergrund traten, auch bei der Direktion?

Ein Feldwebel von der St. Gotthard-Festung kam als Konzertbesucher.
Er hatte Urlaub. Die Frau war gestorben. Was der Mann alles
spendierte! Sogar Leckerli brachte er mit, die ersten, die man bei
Schnepfes zu sehen bekam.

Auch zum Zoologischen Garten ging man jetzt und zur Messe. Und zwar
teilte sich hier das Ensemble. Die Zirkusleute gingen mit Jenny zum
"Zoo". Die andern mit Flametti zur "Meß".

Der Basler Zoologische Garten scheint nicht so Üppig bestückt zu sein
wie Hagenbecks Tierpark zu Hamburg. Auch nicht so künstlerisch
interessant arrangiert wie etwa die kunstgewerbliche Menagerie zu
München. Wenigstens wußte der zoologisch interessierte Teil der
Vergnügungspartie nur Unbedeutendes zu berichten.

Jenny war aufgefallen, daß die Strauße im Basler Zoo "echte
Straußfedern" trugen. Lydia klagte, die Papageien hätten erbärmlich
geschrien. Die Ohren gellten ihr jetzt noch davon. Man solle den
Viechern die Hälse abschneiden, statt ihnen die Bälge mit Brot
vollzustopfen. Nur Raffaëla schien einen stärkeren Eindruck gerettet
zu haben.

"Kinder, der Elefant!" schlug sie die Hände zusammen und konnte sich
gar nicht genugtun, "so etwas Schamloses gibt es nicht mehr!"

Giraffen hatten sie nicht gesehen. Auch keine Wildschweine. Einige
Affen. Doch das war alles.

Die Messe war interessanter. Wer mit Flametti ging, fand keine
Enttäuschung.

Erst im Panoptikum: "Der Feuerkessel von Tahure": da platzten die
Bomben! Da staunte das Volk! Da streckten die toten Poilus die
Beine zum Himmel, wie niedergeknallt auf der Hasenjagd!

Dann auf der Rutschbahn: zwei Karossen hintereinander: in der ersten
Flametti und Fräulein Laura. In der zweiten Herr Engel und Meyer.
Wie flog man dahin! Wie flog man daher! Dann beim "Jägersalon":
"Schießen Sie mal, junger Herr!" Und Herr Engel schoß, auf den
Trommler. Und traf ihn; mitten in die Visage. Der rasselte los.
Aber unentgeltlich. Man war ja Artist. Es war eine Freude, zu leben!

Mittlerweile war es nun Winter geworden, ganz unvermerkt, über Nacht,
und man war gezwungen, sich enger zusammenzuschließen. Da gab es
lange Gesichter.

"Jenny, wir haben ja gar keinen Ofen!" reklamierten Lydia und
Raffaëla zugleich.

"Ist doch nicht kalt!" tröstete Jenny, "je, seid ihr verfroren!"
Aber es waren fünf Grad unter Null.

"Eene klappernde Kälte!" meinte Herr Leporello in komischem Baß, mit
hervortretenden Augen, und stellte sich vor den Ofen im Wirtslokal.

"Sie, Leporello! In Mesopotamien Krieg!" verkündete Bobby, der
eifrig die Zeitung studierte.

"Ha ick ja immer jesagt: in Mesopotamien fangen se ooch noch an!"

"Jenny", rief Raffaëla ins Wirtslokal, schnatternd vor Kälte und tief
beleidigt, "das geht so nicht! Ich muß einen Ofen haben! Wo soll
ich denn hin mit dem Kind?"

"Ich kann mir den Ofen doch nicht aus der Haut schneiden!" meinte
Jenny im blauen Schlafrock, am Ofen. "Hier ist es doch warm! Bleibt
doch hier unten im Wirtslokal!"

Das tat man denn auch. Raffaëla, Lydia, Lotte und Lepo blieben im
Wirtslokal. Lepo las seine Kriegsberichte, von morgens bis abends.
Lotte machte die Hosen naß. Lydia und Raffaëla schleppten einher in
den Schlafröcken und beschimpften einander.

Abends aber, während der Vorstellung, saßen die fünf Damen aufgeputzt
um Herrn Schnepfes Dauerbrandofen wie Papageien auf einem Eisenring
um den Dompteur.

"Kinder, nein, ist das eine Kälte!" zitterte Lydia mit erfrorener
Nase und zog ein Gesicht, als sei sie hereingefallen und komme erst
jetzt allmählich dahinter.

Und zu der Soubrette: "Ihr habt es gut. Ihr habt einen Ofen!"

Und alle bebten und preßten die Schenkel zusammen.

"Menschenskind!" tanzte Engel näher heran und rieb sich verbindlich
die Hände, "ist doch keene Kälte: fünf Grad! Hättest vergangenen
Winter dabei sein sollen!" und hob sich fast in die Luft, so betrieb
er mit beiden Armen gymnastische Packung. "Hauptsache ist: man
kriegt was Warmes in Magen!"

Nun, daran fehlte es nicht. Herr Schnepfe ließ sich nicht lumpen.

Der Kaffee zum Frühstück ließ zwar manches zu wünschen übrig. Die
Blechkanne, in der er serviert wurde, mochte innen ein wenig
verrostet sein. Die Damen erbrachen sich, wenn sie getrunken hatten.
Das konnte jedoch, wie Herr Schnepfe auf Reklamation hin bemerkte,
auch andere Ursachen haben.

Das Mittagessen war einfach tipp topp. "Sauerkraut, Würstel und
Pellkartoffel".--"Gulasch, Bohnen und Rösti".--"Hackfleisch, Erbsen
und Rettichsalat". Jennymama kochte besser; gewiß. Aber man war nun
einmal in der Fremde. Da war es, wie die Verhältnisse lagen, das
beste, den Magen zu heizen.

"Iß!" sagte Laura zu Meyer, "wer weiß, wann man wieder was kriegt!"

Eine kleine Rivalität brach aus zwischen den Zirkusartisten und dem
übrigen Teil des Ensembles, dem "Bruch", wie die Zirkusleute alle
Kollegen nannten, die nicht von Kindesbeinen auf beim Metier waren.

Die Zirkusleute pochten auf ihre Familie, Herkunft, Tradition. Sie
waren exklusiv und sahen den "Bruch" verächtlich an. Herr Leporello
etwa den kleinen Bobby. Beide waren sie Kontorsionisten. Bobby
arbeitete rückwärts, war also Schlangenmensch. Herr Leporello
arbeitete vorwärts, war also Froschmensch. Herr Leporello hatte die
komplizierteren Balancen, den drehbareren Unterleib. Bobby hatte den
besseren Handstand, das biegsamere Rückgrat.

Aber Herr Leporello ästimierte ihn nicht. Herr Leporello war
ausschließlich Artist. Bobby ging im Nebenberuf zeitweilig "auf
Heizerfahrt".

Oder Miß Raffaëla den Engel. Sie verlangte von ihm, daß er Einkäufe
für sie besorge. Sie glaubte, der Bühnenmeister sei hier auch
Stiefelputzer. Aber Engel lehnte es ab, "Kommissionen" zu machen.

"Hab' keine Zeit! Hab' zu studieren! Bin selber Artist!" Und
Flametti bestätigte das, indem er "Monteur" auf Engels Papier
durchstrich und "Artist" drüberschrieb.

Zwei Parteien bildeten sich. Die Partei der Zirkusartisten mit Jenny.
Die "Bruch"--und Apachenpartei mit Flametti.

Flametti waren die Zirkusdamen zuwider. Sie hänselten ihn. Er fand
sie verdorben, aufdringlich, utriert. Sein Herz war bei der andern
Partei, den Gestrandeten, den Gelegenheitskönnern, den Kindern Gottes.
Auch Meyer und Fräulein Laura waren nur herverschlagen ins Varieté.
Und doch--alle Hochachtung!

äußerlich aber tat sich die Rivalität in folgendem kund: Die
Zirkusleute brachten das Geld. Die Bruchleute hatten--den Ofen.

Die Zirkusleute lagen den ganzen Tag in Flamettis geheizter Stube
herum oder im Wirtslokal, wo das Glasdach tropfte, die Ratten liefen,
die Windeln rochen. Sie schürten und hetzten. Sie glaubten, wider
Verdienst schlecht weggekommen zu sein.

Die Bruchleute schlossen sich täglich enger zusammen im Zimmer des
Pianisten, wo zwar die ungefegte Brikettasche Mumien aus ihnen machte,
wo aber der Ofen glühte. Fräulein Laura wusch der Männer
gemeinsamen Kragen, Bobbys Eidechsenkostüm hing glitzernd über der
Wäscheleine. Man saß auf Herrn Meyers entgleistem Rohrplattenkoffer
und sang Schnadahüpfl zur Laute. Man richtete Engel ein Bett her am
Ofen, damit er geborgen war, wenn die Malaria ihn überfiel.

Und Engel erzählte mit traurig schluckender Stimme von Gudrun, der
Baronesse, die ihn geliebt, als er noch Forsteleve in Deutschland war,
beim Grafen von Reiffenstein.

Das Exil dieser Tage erhielt eine Abwechslung dadurch, daß es
plötzlich noch kälter wurde.

Es war jetzt so kalt, daß es wirklich nicht anging, länger zu singen:


"Die Luft ist lau, die Täler prangen lenzesgrün",


wie es in jenem Begrüßungsmarsch hieß, den man im "Krokodil" vor
Rosenlauben gesungen.

Die Damen rieben sich auf der Bühne ganz unverhohlen die Hände vor
Frost. Und wenn der Marsch auch ein heißblütiges Tempo hatte: die
Worte konnten jetzt nicht mehr an gegen den Rauhreif der Wirklichkeit.

Die Varietébesucher: Totengräber, Kirchendiener, Leichenbitter und
Mädchenjäger saßen mit Zapfenschnurrbärten, wenn sie zufällig in die
Peripherie des Saales gerieten, in die Nähe eines der großen Fenster.

Auch der Spitzentanz Raffaëlas verfing nicht mehr. Vergebens suchte
sie mittels Duftigkeit, Sinnenrausch und Beschwingtheit der Schritte
die Illusion eines Maientags aufrechtzuhalten. Ihr Odem wehte wie
Höhenrausch. Ihre Nase karfunkelte.

Man stellte wohl in die Damengarderobe einen Petroleumofen. Aber das
war wie ein Zündholz im Eisschrank.

Es ging nun auch nicht mehr an, daß der Vetter Flamettis, Herr
Graumann, länger mit einem Pappkarton die Gebirgsbewohner der Schweiz
photographierte.

So traf dieser Herr, Herr Graumann, Vetter Flamettis, eines Tags bei
Herrn Schnepfe ein, just in dem Augenblick, als die Generalprobe zum
"Friedhofsdieb" stattfand.

Sehr erstaunt war Herr Graumann, seinen Vetter Flametti in einem
langen, schwarzen Talar zu erblicken, als Richter vor einem Stoß
Aktenmappen. Eine kleine, zierliche Knabengestalt, dem Richterstuhl
gegenüber, schien prozessiert zu werden.

Es handelte sich um einen Friedhof und einen Topf, der gestohlen war;
Blumentopf.

Auf der Mitte der Bühne stand eine vornehme Dame, wohl eine Baronin,
mit Blicken, die halb auf den Richter, halb auf den Knaben gerichtet
waren. Neben ihr krausköpfig ein schmä

Wenn aber Herr Leporello Sonntags seinen komischen Teufelsakt
brachte--er erschien dann als eine infernalische Klatschbase im
Korsett, einen Kamm in der Perücke, das Hemd hing ihm hinten heraus
und der Rock aus Sackleinwand, mit roten Litzen benäht, war ihm zu
kurz--, dann spielte sich in seinen Mienen eine so diabolische
Einfältigkeit ab, daß der Kontrast zwischen seinen gespreizten
Zirkusposen und dem dargestellten Objekt die Zuschauer zu hellem
Grinsen entflammte.

Was Wunder, wenn das Geschäft sich hob? Wenn die Zirkusleute mehr
und mehr in den Vordergrund traten, auch bei der Direktion?

Ein Feldwebel von der St. Gotthard-Festung kam als Konzertbesucher.
Er hatte Urlaub. Die Frau war gestorben. Was der Mann alles
spendierte! Sogar Leckerli brachte er mit, die ersten, die man bei
Schnepfes zu sehen bekam.

Auch zum Zoologischen Garten ging man jetzt und zur Messe. Und zwar
teilte sich hier das Ensemble. Die Zirkusleute gingen mit Jenny zum
"Zoo". Die andern mit Flametti zur "Meß".

Der Basler Zoologische Garten scheint nicht so Üppig bestückt zu sein
wie Hagenbecks Tierpark zu Hamburg. Auch nicht so künstlerisch
interessant arrangiert wie etwa die kunstgewerbliche Menagerie zu
München. Wenigstens wußte der zoologisch interessierte Teil der
Vergnügungspartie nur Unbedeutendes zu berichten.

Jenny war aufgefallen, daß die Strauße im Basler Zoo "echte
Straußfedern" trugen. Lydia klagte, die Papageien hätten erbärmlich
geschrien. Die Ohren gellten ihr jetzt noch davon. Man solle den
Viechern die Hälse abschneiden, statt ihnen die Bälge mit Brot
vollzustopfen. Nur Raffaëla schien einen stärkeren Eindruck gerettet
zu haben.

"Kinder, der Elefant!" schlug sie die Hände zusammen und konnte sich
gar nicht genugtun, "so etwas Schamloses gibt es nicht mehr!"

Giraffen hatten sie nicht gesehen. Auch keine Wildschweine. Einige
Affen. Doch das war alles.

Die Messe war interessanter. Wer mit Flametti ging, fand keine
Enttäuschung.

Erst im Panoptikum: "Der Feuerkessel von Tahure": da platzten die
Bomben! Da staunte das Volk! Da streckten die toten Poilus die
Beine zum Himmel, wie niedergeknallt auf der Hasenjagd!

Dann auf der Rutschbahn: zwei Karossen hintereinander: in der ersten
Flametti und Fräulein Laura. In der zweiten Herr Engel und Meyer.
Wie flog man dahin! Wie flog man daher! Dann beim "Jägersalon":
"Schießen Sie mal, junger Herr!" Und Herr Engel schoß, auf den
Trommler. Und traf ihn; mitten in die Visage. Der rasselte los.
Aber unentgeltlich. Man war ja Artist. Es war eine Freude, zu leben!

Mittlerweile war es nun Winter geworden, ganz unvermerkt, über Nacht,
und man war gezwungen, sich enger zusammenzuschließen. Da gab es
lange Gesichter.

"Jenny, wir haben ja gar keinen Ofen!" reklamierten Lydia und
Raffaëla zugleich.

"Ist doch nicht kalt!" tröstete Jenny, "je, seid ihr verfroren!"
Aber es waren fünf Grad unter Null.

"Eene klappernde Kälte!" meinte Herr Leporello in komischem Baß, mit
hervortretenden Augen, und stellte sich vor den Ofen im Wirtslokal.

"Sie, Leporello! In Mesopotamien Krieg!" verkündete Bobby, der
eifrig die Zeitung studierte.

"Ha ick ja immer jesagt: in Mesopotamien fangen se ooch noch an!"

"Jenny", rief Raffaëla ins Wirtslokal, schnatternd vor Kälte und tief
beleidigt, "das geht so nicht! Ich muß einen Ofen haben! Wo soll
ich denn hin mit dem Kind?"

"Ich kann mir den Ofen doch nicht aus der Haut schneiden!" meinte
Jenny im blauen Schlafrock, am Ofen. "Hier ist es doch warm! Bleibt
doch hier unten im Wirtslokal!"

Das tat man denn auch. Raffaëla, Lydia, Lotte und Lepo blieben im
Wirtslokal. Lepo las seine Kriegsberichte, von morgens bis abends.
Lotte machte die Hosen naß. Lydia und Raffaëla schleppten einher in
den Schlafröcken und beschimpften einander.

Abends aber, während der Vorstellung, saßen die fünf Damen aufgeputzt
um Herrn Schnepfes Dauerbrandofen wie Papageien auf einem Eisenring
um den Dompteur.

"Kinder, nein, ist das eine Kälte!" zitterte Lydia mit erfrorener
Nase und zog ein Gesicht, als sei sie hereingefallen und komme erst
jetzt allmählich dahinter.

Und zu der Soubrette: "Ihr habt es gut. Ihr habt einen Ofen!"

Und alle bebten und preßten die Schenkel zusammen.

"Menschenskind!" tanzte Engel näher heran und rieb sich verbindlich
die Hände, "ist doch keene Kälte: fünf Grad! Hättest vergangenen
Winter dabei sein sollen!" und hob sich fast in die Luft, so betrieb
er mit beiden Armen gymnastische Packung. "Hauptsache ist: man
kriegt was Warmes in Magen!"

Nun, daran fehlte es nicht. Herr Schnepfe ließ sich nicht lumpen.

Der Kaffee zum Frühstück ließ zwar manches zu wünschen übrig. Die
Blechkanne, in der er serviert wurde, mochte innen ein wenig
verrostet sein. Die Damen erbrachen sich, wenn sie getrunken hatten.
Das konnte jedoch, wie Herr Schnepfe auf Reklamation hin bemerkte,
auch andere Ursachen haben.

Das Mittagessen war einfach tipp topp. "Sauerkraut, Würstel und
Pellkartoffel".--"Gulasch, Bohnen und Rösti".--"Hackfleisch, Erbsen
und Rettichsalat". Jennymama kochte besser; gewiß. Aber man war nun
einmal in der Fremde. Da war es, wie die Verhältnisse lagen, das
beste, den Magen zu heizen.

"Iß!" sagte Laura zu Meyer, "wer weiß, wann man wieder was kriegt!"

Eine kleine Rivalität brach aus zwischen den Zirkusartisten und dem
übrigen Teil des Ensembles, dem "Bruch", wie die Zirkusleute alle
Kollegen nannten, die nicht von Kindesbeinen auf beim Metier waren.

Die Zirkusleute pochten auf ihre Familie, Herkunft, Tradition. Sie
waren exklusiv und sahen den "Bruch" verächtlich an. Herr Leporello
etwa den kleinen Bobby. Beide waren sie Kontorsionisten. Bobby
arbeitete rückwärts, war also Schlangenmensch. Herr Leporello
arbeitete vorwärts, war also Froschmensch. Herr Leporello hatte die
komplizierteren Balancen, den drehbareren Unterleib. Bobby hatte den
besseren Handstand, das biegsamere Rückgrat.

Aber Herr Leporello ästimierte ihn nicht. Herr Leporello war
ausschließlich Artist. Bobby ging im Nebenberuf zeitweilig "auf
Heizerfahrt".

Oder Miß Raffaëla den Engel. Sie verlangte von ihm, daß er Einkäufe
für sie besorge. Sie glaubte, der Bühnenmeister sei hier auch
Stiefelputzer. Aber Engel lehnte es ab, "Kommissionen" zu machen.

"Hab' keine Zeit! Hab' zu studieren! Bin selber Artist!" Und
Flametti bestätigte das, indem er "Monteur" auf Engels Papier
durchstrich und "Artist" drüberschrieb.

Zwei Parteien bildeten sich. Die Partei der Zirkusartisten mit Jenny.
Die "Bruch"--und Apachenpartei mit Flametti.

Flametti waren die Zirkusdamen zuwider. Sie hänselten ihn. Er fand
sie verdorben, aufdringlich, utriert. Sein Herz war bei der andern
Partei, den Gestrandeten, den Gelegenheitskönnern, den Kindern Gottes.
Auch Meyer und Fräulein Laura waren nur herverschlagen ins Varieté.
Und doch--alle Hochachtung!

äußerlich aber tat sich die Rivalität in folgendem kund: Die
Zirkusleute brachten das Geld. Die Bruchleute hatten--den Ofen.

Die Zirkusleute lagen den ganzen Tag in Flamettis geheizter Stube
herum oder im Wirtslokal, wo das Glasdach tropfte, die Ratten liefen,
die Windeln rochen. Sie schürten und hetzten. Sie glaubten, wider
Verdienst schlecht weggekommen zu sein.

Die Bruchleute schlossen sich täglich enger zusammen im Zimmer des
Pianisten, wo zwar die ungefegte Brikettasche Mumien aus ihnen machte,
wo aber der Ofen glühte. Fräulein Laura wusch der Männer
gemeinsamen Kragen, Bobbys Eidechsenkostüm hing glitzernd über der
Wäscheleine. Man saß auf Herrn Meyers entgleistem Rohrplattenkoffer
und sang Schnadahüpfl zur Laute. Man richtete Engel ein Bett her am
Ofen, damit er geborgen war, wenn die Malaria ihn überfiel.

Und Engel erzählte mit traurig schluckender Stimme von Gudrun, der
Baronesse, die ihn geliebt, als er noch Forsteleve in Deutschland war,
beim Grafen von Reiffenstein.

Das Exil dieser Tage erhielt eine Abwechslung dadurch, daß es
plötzlich noch kälter wurde.

Es war jetzt so kalt, daß es wirklich nicht anging, länger zu singen:


"Die Luft ist lau, die Täler prangen lenzesgrün",


wie es in jenem Begrüßungsmarsch hieß, den man im "Krokodil" vor
Rosenlauben gesungen.

Die Damen rieben sich auf der Bühne ganz unverhohlen die Hände vor
Frost. Und wenn der Marsch auch ein heißblütiges Tempo hatte: die
Worte konnten jetzt nicht mehr an gegen den Rauhreif der Wirklichkeit.

Die Varietébesucher: Totengräber, Kirchendiener, Leichenbitter und
Mädchenjäger saßen mit Zapfenschnurrbärten, wenn sie zufällig in die
Peripherie des Saales gerieten, in die Nähe eines der großen Fenster.

Auch der Spitzentanz Raffaëlas verfing nicht mehr. Vergebens suchte
sie mittels Duftigkeit, Sinnenrausch und Beschwingtheit der Schritte
die Illusion eines Maientags aufrechtzuhalten. Ihr Odem wehte wie
Höhenrausch. Ihre Nase karfunkelte.

Man stellte wohl in die Damengarderobe einen Petroleumofen. Aber das
war wie ein Zündholz im Eisschrank.

Es ging nun auch nicht mehr an, daß der Vetter Flamettis, Herr
Graumann, länger mit einem Pappkarton die Gebirgsbewohner der Schweiz
photographierte.

So traf dieser Herr, Herr Graumann, Vetter Flamettis, eines Tags bei
Herrn Schnepfe ein, just in dem Augenblick, als die Generalprobe zum
"Friedhofsdieb" stattfand.

Sehr erstaunt war Herr Graumann, seinen Vetter Flametti in einem
langen, schwarzen Talar zu erblicken, als Richter vor einem Stoß
Aktenmappen. Eine kleine, zierliche Knabengestalt, dem Richterstuhl
gegenüber, schien prozessiert zu werden.

Es handelte sich um einen Friedhof und einen Topf, der gestohlen war;
Blumentopf.

Auf der Mitte der Bühne stand eine vornehme Dame, wohl eine Baronin,
mit Blicken, die halb auf den Richter, halb auf den Knaben gerichtet
waren. Neben ihr krausköpfig ein schmächtiger Herr, der als Zeuge
Emil Schmidt figurierte und offenbar seine Rolle noch nicht
vollkommen beherrschte; er stammelte, stotterte, war in der größten
Verlegenheit.

Herr Graumann trat näher, ein wenig verschüchtert von solch
künstlicher Atmosphäre, und legte die Hand vor die Augen, die Szene
prüfend auf ihren photographischen Gehalt.

"Von vorn!" schrie Flametti. Und es wiederholte sich der Auftritt,
Zeuge Emil Schmidt,--Friedhofsdieb.

Und jener krausköpfige Herr kam mit dem Knaben durch die Kulisse
herein, zitternd und bebend, so daß man ihn selbst für den
Delinquenten hielt. Er legte mit irren Augen die Hand auf die
Schulter des Knaben und sprach:


"Man immer ruhig, mein liebes Kind!
Die Wahrheit darf immer man sagen.
Dann kann man die Strafe, wie sie auch sei,
Mit leichterem Herzen ertragen.
Sprich frisch von der Leber weg....."


Engel hustete heftig. Das war nicht verwunderlich, denn hinter der
Bühne zog es abscheulich.

Flametti aber war wie ein Stier vor dem roten Tuch, diesem Husten
gegenüber.

"Laß das Husten sein!" schrie er und rüttelte seinen Amtstisch, "oder
ich werf' dir die Glocke vor den Kopf!"

Eine Glocke gab es auch auf dem Amtstisch, konstatierte Herr Graumann.

Und Engel hustete kurz noch zu Ende, räusperte sich und fuhr fort:


"Sprich frisch von der Leber weg
Und was zur Tat dich getrieben.
Ein Richter ist streng nach Gebühr, wenn es muß..."


"Hundsfott!" schrie Flametti, "ist das ein Vers?"

"Ein Richter ist streng, wenn sich's gebührt", berichtigte Engel,
zitternd vor Ergriffenheit,


"Doch weiß er auch Nachsicht zu üben."


"Gut!" sagte Flametti, "weiter!" Und er selbst wandte sich an den
Knaben:


"Tritt näher, mein Sohn, und habe nicht Scheu
Vor schreckender Tracht und Gebahren!
Und so du begangen hast, was es auch sei,
Hier kannst du es offenbaren.
Tritt näher und sprich! Vielleicht daß alsdann
Ein mildernder Umstand dir etwas Luft schaffen kann."


Und Flametti begleitete seinen letzten Satz mit einer erleichternden
Bewegung beider Hände, von der Magengegend aufsteigend gegen den
Brustkorb.

Herr Graumann fand diese Gerichtssitzung ein wenig romantisch, wenn
auch nicht fremd. Hörbar lächelte er.

"Wer ist da im Publikum?" brüllte Flametti, die Hand vor den Augen,
und ärgerlich über die neue Störung.

"Hallo Flametti!" rief Herr Graumann hinauf.

Und Flametti: "Ja, Menschenskind, wo kommst denn du her?" Die Glocke
stellte er hin und sprang, im Richtertalar, herunter über die Rampe.

"Direkt vom Tessin!"

Da war die Probe vertagt. Die Probe war aus. Und Engel atmete auf.

Herr Graumann blieb, als Flamettis Gast, drei Tage, zur großen Freude
des ganzen Ensembles, das er photographierte in allen möglichen und
unmöglichen Posen; immer mit dem Pappkarton, den er mit schwarzem
Tuch überzogen hatte, und mit dem er furchtbar penibel war. Die
Bilder versprach er später zu schicken.

Herr Graumann war ein Original. Ein wenig glich er dem Wurzelsepp
aus der bayrischen Bauernkomödie. Die ganze Schweiz bereiste er als
Photograph. Mit dem Pappkarton. In die entlegensten Dörfer kam er.
Und immer zu Fuß. Auch aus dem Tessin war er zu Fuß gekommen. Wind,
Wetter, Eis und Schnee vermochten ihm wenig anzuhaben. Es war sein
Beruf, zu wandern. Die Geschäfte brachten es mit sich.

Was wußte Herr Graumann für treffliche Schnurren zu erzählen! Manch
ernsthaftes Abenteuer und Rencontre mit der Polizei. Unter
Plattenreißern war er der yokerste.

"Herr Graumann!" rief Raffaëla taktlos, "Wie riechen Sie schön nach
den Kräutern!" und schöpfte mit der Hand von Herrn Graumanns Luft.
"Ist wohl Farnkraut?"

Und Lydia: "Sagen Sie, Graumann, tragen die Wanzen auch Fahnenstangen,
wenn sie Versammlung haben?"

Und Fred: "Sie, Graumann, wie macht man das: "Graumannol"?"

Denn Herr Graumann hatte in knappen Zeiten ein Mittel erfunden gegen
Insektenstich.

"Man nehme", sprach er, "Urin und Brombeersäure, füge dazu ein
Fünftel Salzwasser, das durch die Kiemen von Klippfisch ging.
Schüttle das Ganze."

Reißend waren sie abgegangen, die dreißig Flaschen von je einem
halben Liter à zwei Franken fünfzig, die er an einem sonnigen Mittag
in Mußestunden verfertigt hatte am Ufer des Lago Maggiore, und die
den Vergleich aushielten mit jedem Salmiakpräparat.

Herr Graumann nahm eine Prise, reichlich mit Glas untermischt, damit
es die Schleimhäute redlich beize, und Raffaëla und Lydia drangen ihn,
sie zu photographieren zusammen mit Lottely.

Das war nun nicht leicht, weil Lotte sich fürchtete vor dem
zerfederten Eulengesicht des Herrn Graumann. Aber es ging. Ein
halbes Dutzend Visit. Ein halbes Dutzend Kabinett.

Und Herr Graumann griff nach Stativ und Kasten und sagte:

"Bitte, den Kopf etwas schief! Bitte die Hand etwas höher! Bitte
etwas freundlicher, sonst kann ich's nicht machen."

Und schrieb die Bestellung in sein Notizbuch und nahm eine lächerlich
kleine Anzahlung. Dann mußte er weiter.

"Kinder!" rief Raffaëla, "das wird ein Vergnügen! Der Mama schicke
ich eins! Eins meinem Männe ins Feld! Eins dem Farolyi!"

Doch als Herr Graumann gegangen war, kehrte die alte Langeweile
wieder.

Herr Engel, um eine Diversion zu haben, feierte den Namenstag seiner
Tante, indem er in fremden Lokalen für eigene Rechnung ausbrach und
sich entfesselte. Herr Schnepfe unterhielt sich mit seiner Frau über
Tunis, allwo Frau Schnepfe Köchin gewesen war.

Schnepfe konnte das gar nicht für wahr annehmen. Hotelköchinnen in
Tunis? Nach seiner, Herrn Schnepfes unmaßgeblicher Ansicht, waren
Hotels nicht angebracht in einer Himmelsregion, wo haarige Bestien
meckernd über die Wüste strichen; wo Totengerippe und Schädel die
Wege markierten. Frauenzimmer hatten dort nichts zu suchen.

Und da man allgemach nicht mehr ausgehen konnte--die Kälte riß einem
die Ohren vom Kopfe--, so suchte sich jeder zuhaus nach Neigung und
Temperament die Zeit zu vertreiben.

Bobby unternahm umfassende Korrespondenzen zwecks Wiederherstellung
vernachlässigter finanzieller Beziehungen. Seine Mußestunden widmete
er der Pflege der kleinen Lotte, schneuzte sie, tränkte sie, legte
sie trocken.

Engel gab Herrn Meyer sachdienliche Ticks für ein Apachenstück, das
Meyer zu Ehren Flamettis entwarf, und versenkte sich in das Studium
medizinischer Schriften aus des Herrn Meyer Handbibliothek. Auch
schrieb er die Sätze druckfertig ab, die sich aus dieses Meyer
strotzender Feder wölbten.

Jenny und Rosa, ein Stockwerk tiefer, schneiderten orangefarbene
Matrosenkostüme für ein neues Ensemble, die "Commis voyageusen".

Herr Leporello, Parterre, hatte vertrackte politische Disputationen
mit einem vierzigjährigen zelotischen Schriftsetzer, der
selbstverfaßte revolutionäre Verse voller ästhetischen Klangs jeden
Nachmittag, eh' er zur Arbeit ging, eine Viertelstunde lang,
zielbewußt rezitierte.

Weniger friedlich beschäftigten sich die Damen Raffaëla und Lydia.

Solange noch Aussicht war auf Einladungen und Unterhaltung, auf
Kavaliere und Konditorei, ging es an. Solange waren sie guter Laune
und Üppig.

Da ihnen Haushalt und Belletristik nicht lagen, gaben sie selbdritt
der kleinen Lotte französischen Unterricht.

"Lottely, sag': "Bon jour!" kreischte Raffaëla.

"Lottely, sag' "Rabenmutter"!" ärgerte sich Lydia und gab Raffaëla
einen Stoß.

"Lottely, sag' "Voulez-vous coucher avec moi?"!" stichelte Raffaëla
und schoß den Vogel ab.

"Gib das Kind her! Halt' doch deinen Mund!", entrüstete sich Lydia.
"Ich würde mich schämen! Was die dem Kind beibringt, diesem
unschuldigen Seelchen! Gib das Kind her, du Fetzen!"

Und sie zerrten das schreiende Lottely hin und her, daß Lottely
selbst nicht mehr wußte, wer da die Mutter war.

Am Abend indes bei der Vorstellung waren Mutter und Tante längst
wieder versöhnt.

übermütig und ausgelassen stocherten sie, wenn Bobby seinen Bogen
schlug, mit den Angelruten der "Nixen" durch die Kulissenwand nach
Bobbys Bäuchlein und knäbischer Druse.

In der Garderobe kneipten sie mit den Lockenscheren die sanftmütige
Rosa, daß diese, halb ausgezogen und mit beiden Händen den wertvollen
Busen schützend, laut kreischend, bis auf die Bühne rannte.

Als aber die Kavaliere ausblieben und sich auch sonst nichts regte,
wandte sich auch bei ihnen das Temperament mehr nach innen.

Das bißchen Vorstellung, die paar Tänze, der Schnack, das alles
resorbierte sie nicht. Der Zirkus beschäftigt mehr, fordert mehr
Kraftaufwand, bietet indes auch mehr Sensation und Belustigung.

Sie vermißten die nötige Reibung, den Zug, den Elan. Die
Verpflanzung bekam ihnen nicht. Die Stille reizte sie auf.

Als man am Mittagstisch saß, kamen zwei Briefe an: einer für Lydia,
einer für Raffaëla.

"Ein Brief von meiner Mama!" rief Lydia, riß das halbe Tischtuch mit,
als sie aufsprang, und las gierig, mit langem Gesicht.

"Ein Brief von meinem geliebten Männe!" schrie Raffaëla und tanzte,
den Brief in der Luft mit Küssen bedeckend, auf den Filzpantoffeln.

Leporello, neugierig, brachte seinen Kaumechanismus ins Stocken.

"Was schreibt se denn?" fragte er und schnitt auf dem Holztisch sein
Brot.

"Ach, unsre liebe Mama! Das ist eine gute Mutter!", schmachtete
Lydia. "Meine lieben Kinder! Seid ja recht artig und zankt euch
nicht!"..."

"Ach, mach' nicht so'n Getöse!" rief Raffaëla. "Du mit deinem
Geschmachte! Als wenn es nur deine Mutter wäre! Meine Mutter ist's
ebensogut!"

"An mich ist der Brief adressiert!"

"Weil du beständig den Hader bringst!"

"Ich?" kreischte Lydia, durchschaut. "Unverschämte Person!"

Und schon lagen sie sich in den Haaren.

Die Briefe von Mutter und Gatte vermischten sich unter dem Tisch.
Lottely, die soeben noch munter mit ihrem Zinnlöffel den Tisch
bearbeitet hatte, ließ ab von dieser Beschäftigung und suchte mit
einem resolut angesetzten, heulenden "Bäh!" die Aufmerksamkeit ihrer
Mutter von der sympathischen Lydia abzulenken.

Flametti schimpfte und Lepo zog unter dem Tisch sein Sprungbein an,
um einzugreifen, falls der Streit peinlichere Dimensionen annehmen
sollte.

Jenny allein beschwichtigte:

"Kinder, na setzt euch! Das Fleisch wird ja kalt!"

Es wurde schlimmer von Tag zu Tag. Die wahre, die Zirkusnatur kam
zum Vorschein.

Welch ein Schreck für das ganze Ensemble und auch für Herrn Schnepfe,
als eines Tags in der Vorstellung die Eisenstütze des Drahtseils, die
am Parkett des Herrn Schnepfe festgeschraubt war, ganz unvermittelt
herausbrach, samt einem halben Quadratmeter Parkett!

Raffaëla tanzte gerade den Matchiche. In fliederfarbenem
Satinröckchen, den einen Fuß vorschiebend über den "Telegraphendraht",
wie Flametti zu sagen pflegte, den andern Fuß nach rückwärts hoch in
die Luft geschlagen, den Japanschirm in gezierter Hand, hielt sie
bedacht die Balance, so heftig schaukelnd und mit dem Japanschirm
schlagend, daß die Petroleumhängelampen des Herrn Schnepfe in
blutiger Majestät sich verfinsterten.

Schon hatte sie die Mitte des Seils erreicht: da krachte der Boden.
Der Eisenträger neigte sich und das ganze Spektakel, Raffaëla im
Fliederkostüm, der Japanschirm, das vorgeschobene Bein und das
hochgeschlagene Bein, fielen auf dem geknickten Telegraphendraht
ineinander.

"Ach Gott, meine Schwester!" schrie Lydia, als stürzte ein Neubau
zusammen, "helft ihr doch! Zieht sie doch heraus! Ach, ihr lieben
Leute, helft ihr doch!"

Es war jedoch nicht viel passiert. Das Seil war nur ein Meter
achtzig hoch gespannt. Raffaëla lag wohl am Boden, der Schirm
daneben. Aber sie schien sich nur auszuruhen. Abgestürzt war sie
aus luftiger Höhe und dem Publikum bot sich Gelegenheit, ihre
Schenkel zu besehen, wie man eine Schwalbe besieht, die sich an
schwindelnder Kirchturmspitze den Kopf einstieß und nun plötzlich,
den Blicken der Gaffer preisgegeben, ganz nahe am Boden liegt.

Aus dem Schreck kam man nicht mehr heraus. Immer fiel seit diesem
Begebnis Raffaëla irgendwo herunter.

Von der Bühne fiel sie herunter und hätte sich fast das Bein
gebrochen.

Von der Treppe fiel sie herunter; polternd kam sie angerutscht. Und
man mußte den Arzt holen.

Vom Draht, der jetzt der Länge nach durch das Lokal gespannt war,
fiel sie ein zweites Mal herunter, mitten auf einen mit Gästen
besetzten Tisch, wo sie, zwischen Biergläsern, verdutzt und verschämt
einen Augenblick lächelnd stehen blieb, eine bierschaumgeborene Venus.

Bösartig aber gebärdete sich Lydia.

Sie schimpfte aufs Essen, auf ihr kaltes Zimmer, auf die Männer, die
samt und sonders Sklavenhalter und Ausbeuter, Tagediebe und
Unterdrücker seien, die kein Geld herausrückten.

Sie lieh Jennys Petroleumofen aus und gab ihn, ausgebrannt, ruiniert
und durchlöchert zurück.

Hin war der Respekt vor Flametti und seinen "Indianern".

Wenn sie Flametti sorgfältig sich schminken sah in der Garderobe,
schminkte sie selbst sich in niedriger Farcerie ostentativ einen
Körperteil, von dessen Ausbeutung für Theaterzwecke selbst die Wilden
der Südsee sich nichts hätten träumen lassen.

"Wart' nur! Ich werd' es der Mama schon schreiben!" rief Raffaëla
verletzt und entrüstet.

Aber dann brach die empfindsam Lydia in heftige Tränen aus:

"Nicht einmal Spaß darf man machen! Was hat man denn noch vom Leben?
Aufhängen möchte man sich!"

Und als eines Tages sich Leporello die Freiheit nahm, mit Flametti
zusammen einen Rennstall zu besichtigen, brach zwischen Lydia und
Lepo ein solch abgründiger Haß aus, daß sich Herr Schnepfe genötigt
sah, noch spät in der Nacht mit seinem prämierten Wolfshunde
einzuschreiten.

"Judenverkäufer! Bandit! Unterdrücker! Schmierfink!" schrie Lydia,
von Raffaëla gezaust und von Lepo zerdroschen, daß es weithin den
Gang und das Haus durchgellte.

Sogar Jenny, die sich in Wahrheit aufopfernd benahm--sie lieh ihren
Protegés das halbe Boudoir aus, Brennschere, Seife, Nachttopf,
Benzin--, wurde in Mitleidenschaft gezogen.

"Du, Jenny", sondierte Raffaëla, als sie an Jennys Namenstag
traulichen Streuselkuchen zum Kaffee bekam, "Wie ist das denn mit der
Traute geworden? Schreibt er ihr noch? Der schreibt ihr doch sicher
noch! Meinst du nicht auch?"

"Nein, nein", meinte Jenny bedeutungsvoll, "der schreibt ihr nicht
mehr. Dem ist die Lust vergangen. Das hat sich ausgeschrieben."

Und einige Tage später: "Du, Jenny, der hat was mit der Soubrette.
Der Lepo auch. Gib mal acht, wenn sie singt! Ist dir denn das noch
nicht aufgefallen?"

"Geh'", sagte Jenny, "du träumst!" Aber sie nahm sich vor, auf der
Hut zu sein.

Und Raffaëla in ihrer Strohwitwenschaft, leistete sich's, mit
Flametti anzubändeln.

Sie hielt ihn nach alledem, was Jenny ihr anvertraut hatte, für einen
Naivling.

Schon duzten sie sich, trotz Flamettis erklärter Antipathie, als
eines Tags Jenny dahinterkam in der Garderobe.

"Was ist denn nun das?" schrie sie, hochrot und abgetrieben von
dieser ewigen Hetzjagd hinter dem Gatten her, "mit einer
verheirateten Frau fängst du auch noch an? Hast du noch nicht genug
mit dem einen Prozeß? Willst du uns ganz ruinieren?"

"Und du, Raffaëla, schämst du dich nicht?"

"Prozeß? Prozeß?" staunten Lydia und die Soubrette zugleich.

Herr Meyer aber verfinsterte sich noch tiefer.

Während Herr Engel, sein Sekretär, Fortschritte machte in der
druckfertigen Abschrift des langsam anschwellenden Apachenstücks,
gönnte Herr Meyer seiner Inspiration nicht Ruhe noch Rast.

Tag und Nacht saß Herr Meyer, durchstreichend, was er geschrieben,
neu ordnend, was sich nicht fügen wollte. Ja, es konnte passieren,
daß die Inspiration ihn in Momenten heimsuchte, die in der rastlosen
Hingabe an Fräulein Laura gipfelten; daß es ihn aus dem Schlaf
auftrieb inmitten der Nacht. Dann schnellte er aus dem Bett mit
gesträubten Haaren, und nicht ließ er locker, bis daß der Gedanke
gefesselt war.

"Laura", sagte Flametti, als eines Tags Herr Meyer wieder mit völlig
gelähmten Augenlidern bei Tisch erschien, "sagen sie doch dem Meyer,
er soll sich nicht gar so quälen mit seinem Ensemble. Wissen Sie:
"Die Apachen"--offen gestanden--gefällt mir nicht recht. Verstehen
Sie wohl: gefällt mir schon. Aber es ist zu direkt. Das Publikum
stößt sich dran. Man muß Rücksicht nehmen. Außerdem wird es
nächstens bei uns entscheidende Veränderungen geben."

Fräulein Laura machte große Augen.

Sie hatte mit Engel bereits den "Apachentanz" einstudiert, der
zwischen Messergefunkel und einem entrissenen Portemonnaie viel rüde
Körpergymnastik und mancherlei Aneinanderpressen der Hüftbecken mit
sich brachte.

"Veränderungen?"

"Ja, Veränderungen. Im Vertrauen gesagt: Mit den Zirkusleuten--das
geht so nicht mehr. Leporello--allen Respekt. Aber die
Weiber--unmöglich. Meine Frau hat sie engagiert. Wir brauchten
Ersatz für die Häslis. Gut. Aber jetzt ist es so weit, daß sie
selbst schon verrückt wird."

Und als Fräulein Laura erschrocken und sehr besorgt nach Worten
suchte:

"Der ganze Kram ist mir über. Es gibt keine Achtung mehr, keinen
Respekt in der Welt. Keine...."

"Grandezza", wollte er sagen. Er suchte das Wort, fand es nicht und
ersetzte es durch eine Geste.

"Nur Gemeinheit. Auch meine Frau: sie meint es ja gut. Aber vom
Höheren versteht sie halt nichts. Die Weiber haben das an sich: sie
sind gemein. Niederträchtig alle. Das ist es. Sie sind aus Prinzip
gegen das... das..."

Wieder blieb ihm das Wort aus.

"Sie sind aus Prinzip dagegen. Leer sind sie und dumm wie der Teufel.
Alles ziehen sie in den Dreck.--Sie hat mir den Zirkus ins Haus
gebracht. Wer weiß, warum. Vielleicht nur, weil sie's allein nicht
schaffen konnte. Man kommt auf den Hund."

Laura versuchte zu lächeln.

"Ach was! Depressionen!" rief sie und schwenkte den Lockenkopf.
"Geht vorüber. Sowie der Besuch sich hebt. Sowie der Erfolg
einsetzt. Müssen es denn gerade die "Indianer" sein? Es gibt doch
andere Nummern!"

Aber Flametti schüttelte den Kopf.

"Unverstand von der Jenny. Ah, diese ganze schäbige Wirklichkeit!
--Schad', daß der Türke hoch ging. Es war eine Beruhigung, so einen
Mann in der Welt zu wissen; solch eine Quantität von Opium, Kokain
und Haschisch."

Laura lächelte, gütig, bewundernd.

"Eine Freundin von mir, Russin, hat Kokain. Ich werde ihr schreiben..
."

Und eine zarte Sympathie entstand zwischen beiden, Anlaß zu manchem
Vertrauen.

Eines Tags aber sah man Flametti ganz besonders niedergeschlagen.

Eine Vorladung war gekommen, vom Bezirksanwalt. "Mißbrauch und
Mißhandlung von Dienstpersonal, Verführung Minderjähriger". Traute
und Güssy hatten Anzeige erstattet.

"Was hast du gesagt?" bestürmte Jenny den Gatten, als er vom
Untersuchungsrichter zurückkam.

"Was hab' ich gesagt?" brummte Flametti, "das kannst du dir denken.
Es kommt zum Prozeß."




VI




Herr Leporello hieß mit Vornamen Emil.

Er war schlank, lang, geschmeidig. Zwei mächtige Eckzähne, blitzende
Augen, ein heiserer Baß geben einen Begriff seiner Persönlichkeit.
Besonderes Merkmal: steifer, schleifender Gang der Zirkusleute, die
sich bei einer verwegenen Pièce einen Bruch geholt haben. Auch seine
Weste war eine Weste, wie man sie nur beim Zirkus trägt: goldfarbig,
Tapetenmuster mit allerhand Schnörkeln und Tressen.

Dieser Leporello Emil, Artist, geboren 17. März 1883, bekam seine
Kriegsbeorderung just an dem Tage, da seine Tante Geburtstag hatte.

"Emil!" wehklagte Lydia, "ach, Emil! Die Beorderung!"

Ihr Schmerz kannte keine Grenzen. Und obzwar dieser Schmerz
keineswegs affektiert war, stand er doch in einem so auffallenden
Gegensatz zu Lydias früherem Benehmen, ihrem Haß, ihrer Verachtung,
wovon man in Basel gelegentlich der nächtlichen Szene mit Herrn
Schnepfes prämiertem Wolfshund ein Beispiel gesehen hat, daß es Lydia
selbst zu Bewußtsein kam.

"Ach, ich weiß gar nicht", seufzte sie und die Hände fielen ihr in
den Schoß, "ich möchte gar nichts mehr hören und sehen, seit ich weiß,
daß mein Emil in den Krieg muß. Ach Emil, wie wird das enden!"

Aber Emil war guten Mutes.

"Ho ho!" lachte er gedrückt, ohne die Eckzähne zu zeigen, "laß man
jehen! Ick bin froh drum. Det Vaterland ruft. Da jibts keene
Zicken."

Und dann nahm er sein Handköfferchen eines Tags und hatte den Paletot
an und den Regenschirm in der Hand und verabschiedete sich.

Lydias Augen hingen an ihm wie leere Sonnenblumen im Herbst, auf die
es geregnet hat.

"Ach, ihr lieben Leute! Mein guter, lieber Emil! jetzt geht er dahin
und wer weiß, ob er wiederkommt."

Und sie streckte sich auf den Zehenspitzen, umarmte und küßte ihn,
und stellte immer wieder ihr eigenes Handtäschchen dabei auf den
Boden; denn sie begleitete ihn bis zur Grenze.

Aber Emil war guten Mutes und sagte:

"Herrjott nochmal! Man meent ja, es jeht in die Ewigkeit!"

Er hoffte, draußen schon Kameraden zu finden. Es gab dort gewiß
lustige Brüder genug. Tarock spielen würde man sicher auch dort.
Als Froschmensch wird es ihm leichter fallen, sich in der
Kriegsgymnastik zurechtzufinden. Und es gab Bilder in den
"Illustrierten", aus denen hervorging, daß auch da draußen nicht
immer nur die Granaten platzten.

Und so reiste er ab.

Man spielte jetzt wieder im "Krokodil". Basel war doch nicht das
Richtige. Man war zur Fuchsweide zurückgekehrt. Warum auch nicht?
Die Polizeibuße war bezahlt. In der Fuchsweide war man zu Hause.
Und wo man zu Hause ist, da soll man sich nähren.

Freilich hatte sich hier in der Zwischenzeit vieles geändert. Es war
nicht die alte Fuchsweide mehr. Ein neues Polizeiregiment war
aufgekommen. Ein andrer Inspektor. Es wehte ein schärferer Wind.

Die Annehmlichkeiten des "Krokodilen" waren die alten. Das Klavier
vorzüglich. Die Heizung brillant. Biermarken im überfluß.

Aber die Polizei hatte heftige Lücken gerissen ins Publikum. Hin war
der mondäne Glanz. Hin war die Freude. Verschwunden die Habitués.
Verschwunden der "Totenkopf" und seine Schwester. Verschwunden
Fräulein Amalie. Verschwunden Herr Pips. Verschwunden der Herr
Krematoriumfritze, der all sein Geld verjuckt und mit der Dame in
Feldgrau ein von der Polizei nicht gern gesehenes Verhältnis auf
Gegenseitigkeit unterhalten hatte.

Dagegen gab es nun in der Fuchsweide ein "Organ": "Die Zündschnur.
Organ gegen die Übergriffe der Polizei und des Kapitalismus",
redigiert von Herrn Dr. Asfalg, einem ehemaligen Freund und
Studiengenossen des derzeitigen Polizeihauptmanns.

Herr Dr. Asfalg, ein Schwärmer und Utopist, ließ sich die Interessen
der Fuchsweidenbewohner sehr angelegen sein.

Als der neue Polizeihauptmann, Herr Adalbert Schumm, eines Tages
höchst persönlich im "Krokodil" erschien, um nach dem Rechten zu
sehen, kam es zu ganz privaten Auseinandersetzungen und Ohrfeigen
zwischen ihm und seinem ehemaligen Keilfuchs, und die Szene endete so,
daß Herr Polizeihauptmann Schumm, der incognito da war, den
Schauplatz mit Schimpf und Schande verlassen mußte, weil ihn anders
das schwere Geschütz des Dr. Asfalg, eine Gruppe Schlachthausgehilfen,
in Grund und Boden geschlagen hätte.

Und wenn auch Herr Dr. Asfalg den Kampf in der Folge mehr ins ideelle
Gebiet hinüberspielte, so waren doch solche erregte Läufte den Musen
nicht günstig.

Herr Polizeihauptmann Schumm dekretierte:

"In allen Konzert--und Vergnügungslokalen der Fuchsweide untersage
ich hiermit ab 1. Dezember die Schaustellung wilder Tiere,
dressierter Löwen, Bären, Affen; Bärenringkampf, singende Schakale,
sogenannte Meerweibchen etc. Dergleichen untersage ich die Verwendung
von Schlagzeug, große Trommel, Pauke, Tschinelle, Schrummbaß bis auf
weiteres. Wer diesem Verbot zuwiderhandelt, wird mit Polizeibuße
bestraft bis zu dreihundert Franken."

Und Herr Dr. Asfalg erwiderte in der "Zündschnur":

"Wir kennen die wilden Tiere, Tiger, Füchse und Affen der Polizei.
Es bedarf keiner Hinweise. Wir werden uns bemühen, sie um die Ecke
zu bringen.

Wir kennen auch den Schrummbaß der Polizei. Es ist ein Instrument,
das rasselt, wenn man es auf den Boden stößt. Wir werden dahin
wirken, daß auch dies Instrument verschwindet.

Wir stellen uns auf den Boden der nacktesten Wirklichkeit. Wir
werden in Unterhosen die Nationalhymne singen. Wir werden in
Schnurrbartbinden unsre Ensembles aufführen, statt uns Masken zu
schminken. Wir werden uns Bäuche stopfen und Scheitel ziehen wie sie
Herr Adalbert Schumm zur Schau trägt, und werden auf diese Weise
hottentottischer wirken als, nach dem Urteil der Polizei, alle wilden
Tiere und Pauken zusammengenommen." ("Zündschnur", Nummer 3, vom 18.
Dezember).

Und ein andermal, (Nummer 4, Seite 3): "Man lasse dem Volk seine
harmlosen Freuden. Wie sagt doch der Dichter: "Freude, schöner
Götterfunke, Tochter aus Elysium!""

"Jene aber, Verräter an der Notdurft der Menschheit gehen darauf aus,
dem Leben seinen holden Schimmer, seinen Flaum zu nehmen. gez. Dr. A."

Und als eine neue Razzia stattfand, konnte man in der "Zündschnur",
Nummer 6, Jahrgang I, die Sätze lesen:

"Freunde! Mitbürger! Genossen!

Hört! Euer Bestes, euer Gemüt ist verdächtig. Vor Gericht ist alles
Gemüt verdächtig. Gemüt kennzeichnet unseren Henkern Menschen, die
auf suspekten Wegen gelitten haben und zermürbt sind. Gemüt ist für
sie Opposition und Verschwörung. Gemüt ist das Merkmal von Menschen,
die renitent sind, waren oder sein werden. Gemüt ist Eigendünkel und
eine Gefahr für sie. Leute von Gemüt gehören in Untersuchungshaft.
Man recherchiert mit Recht und Erfolg nach kriminellen Akten von
ihnen. Legt euer Gemüt ab!"

Bei solchen Ergüssen war es erklärlich, daß das Geschäft litt, daß
sich die Habitués verflogen.

Gerade der letztere Artikel wurde deshalb von direktorialer Seite
sehr angefeindet. Sein ironischer Ton war leicht mißzuverstehen.

"Legt euer Gemüt ab!", das konnte auch heißen: Meidet die
Vorstellungen! Gebt keine Gelegenheit, euch zu fassen!

Das mußte dem Publikum Angst einjagen, es abhalten, zu kommen.

Der Dr. Asfalg in seinem Fanatismus ging entschieden zu weit, begann
der Sache zu schaden. Und erreichen, der Polizei gegenüber, konnte
er doch nichts. Sie hatte die Macht. Sie hatte vom Staat die
Befugnis, zu "säubern". Und wenn man Sauberkeit, Ordnung und
Rechtlichkeit anerkannte, dann mußte man auch die Polizei anerkennen.

Nur den vereinten rhetorischen Anstrengungen der Direktionen gelang
es, den Besuch ein wenig zu heben.

Neben herausgebügelten Bauernweibern, die in der Stadt ihre Einkäufe
besorgten, saß ein französischer Invalide, dem beim Aufstehen die
Krücken fielen. Neben dem Seifensieder, den die Reklameaufsätze der
"Zündschnur" angelockt hatten, saß eine brotlose Köchin, voller
Entschluß, unsittlich zu werden und sich im Varieté den
entscheidenden Stoß zu holen.

Dabei reklamierte Herr Schnepfe von Basel aus zwei turmhohe
Rechnungen über gehabte Extraschnitzel, Hähnchen, Schnecken der Damen
Raffaëla und Lydia, die unter Nichtbegleichung der Zeche Knall und
Fall abgereist waren.

Man trat im "Krokodil" jetzt auf in Jennys neuen Orangekostümen.

Es war eine Sensation.

Jenny in diesem Matrosenkostüm sah aus wie Suppenkaspar auf Reisen.
Rosas gemäßigte Hammelbeine daneben standen mit durchgedrückten Waden
wie gedrechselt aus einem Stück, ohne Gelenke und Knöchel. Die
Spatzenbeine der Soubrette gaben der Linie der drei Chanteusen einen
wenigstens in der Perspektive harmonischen Abschluß.

Interessanter wurde das Bild, wenn die drei Damen sich dann vom
Profil her boten.

Mit einem gerissenen Haken schwenkte Herr Meyer auf dem Klavier:


"Da geh'n die Mädchen hin,
Da sitzt der Jüngling drin,
Da ist's, wohin sich alles zieht."


Das rechte Bein der Damen hob sich dreifach. Die hinterste Hosennaht
der Matrosenkostüme, prall ausgefüllt mit Unterwäsche, schwankte,
zuckte, zackte.

Losmarchierten die drei, mit zum Publikum geneigten Köpfen und
gewinnender Eleganz.

Aber es war kein Erfolg. Und das hatte weniger ästhetische als
moralische Gründe.

Es gelang den Damen Raffaëla und Lydia nach Leporellos Einberufung
nicht länger, ihre Renommee aufrechtzuerhalten. Die Hochachtung
schwand. Der Respekt der Apachenpartei erfuhr eine Ernüchterung.
Man kam dahinter, daß die Vornehmheit der Zirkusartisten nur Getue
gewesen war.

Es stellten sich allerhand ehrenrührige Fakta heraus. In früheren
Zirkusengangements sollen sie schürzenvoll das Kleingeld
weggeschleppt haben. Noch jetzt fand man unten am See, wo die
Zirkusse standen, bei eifrigem Suchen und zufälligen Gängen
Kupfer--und Silbermünzen, die beim Wegschleppen der Gelder zu Boden
gefallen waren.

Es stellte sich auch heraus, daß Lydia und Raffaëla keineswegs
Artisten von Kindesbeinen auf waren, Artisten, die gewissermaßen
schon an der Mutterbrust in Spagat ausbrachen. Im Gegenteil: Frau
Scheideisen war Hebamme gewesen, eh' sie zum Zirkus ging und sich
Donna Maria Josefa nannte.

Raffaëla und Lydia legten auch keineswegs Wert darauf, mühevoll
Renommee und Distanz zu wahren.

Raffaëla hatte die Hände voll Arbeit mit ihrem Kinde. Lydia ging auf
in der Sehnsucht nach dem entschwundenen Gatten.

"Ach, mein Emil! ach, mein Emil!" jammerte sie und die Tränen standen
ihr in den Augen.

Die Sehnsucht verstörte ihr kleines Gehirn. Die Augen flossen ihr
aus.

"Ach, Emil! ach, Emil! wer hätte das denken können!"

Hinauf lief sie in ihr Zimmer und schleppte die Photographieständer
herunter, während der Vorstellung, um sie den Gästen zu zeigen.

"So hat er ausgesehen. Das ist er. Ach, mein guter Emil! Sie haben
ihn sicher schon totgeschossen!"

Und wenn sie dann die Photographien ansah--da stand Emil Leporello,
freundlich lächelnd mit Augen eines Dompteurs, den Arm in die Seite
gestützt, die Beine übereinander geschlagen--und sich
vergegenwärtigte, wie er zerhackt und gevierteilt auf einer Rasenbank
in Sibirien den Raben zum Fraß überlassen dalag und nach ihr rief:
"Lydia, hierher, zu mir!" dann brach ihr das Herz. Herunter hing ihr
der Unterkiefer, herunter hingen ihr die Augenlider, die Arme. Ein
kleiner Tropfen bildete sich an der spitzen Nase. Ausbrach sie in
lautes Heulen und war untröstlich.

Umsonst versicherte man ihr, er sei gewiß noch in der Kaserne, und
wer weiß, ob er jemals, wenn er doch nur seine Eckzähne habe und
nicht gut beißen könne, hinauskomme in den Schützengraben.

Kein vernünftiges Wort verfing. Kein Scherzwort genügte ihr. Sie
hatte genug von der Welt. Dem Hauptmann wollte sie schreiben,
hinreisen zu ihm, sich niederwerfen vor ihm, sich ihm anbieten zu
jeder Schmach, wenn er ihr nur ihren Emil wiedergebe. Eine
Deklassierung der Zirkusartisten fand statt, eine Nivellierung
innerhalb des Ensembles.

Ja die Apachenpartei, die unter empfindsamen Regungen weniger litt,
gewann langsam wieder die Oberhand.

Monsieur Henry, der Ausbrecherkönig, beherrschte jetzt völlig die
Rolle der Zeugin Emilie Schmidt. Und Herr Piener, der
Schlangenmensch, unter dem überragenden Druck der Begabung Leporellos
nicht länger leidend, arbeitete sich unter täglichen Trainagen und
Fräulein Lauras geneigter Assistenz langsam wieder in den Vordergrund.

Einen wirklichen Knacks aber erlitt die moralische Situation des
Ensembles, als man dahinterkam, Flametti habe einen Prozeß, und als
man erfuhr, um was für einen Prozeß es sich handelte.

"Kinder!" rief Raffaëla, und ein Licht ging ihr auf, "habt ihr gehört,
was der Alte für einen Prozeß hat? Verführung Minderjähriger, das
Schwein. Soll man das glauben? Schabernackelt hat er mit der Güssy
und mit der Traute!"

Sie setzte sich--es war im Zimmer des Pianisten und der
Soubrette--und ließ die Hand auf die Tischkante fallen.

"Das ist nichts Neues", meinte Bobby, der für Laura Zigaretten
besorgt hatte und den fadenscheinigen Wollschal, der ihm von der
Schulter gerutscht war, über die Schulter zurückwarf. "Schon in Bern
hat er mit denen was gehabt, bevor sie noch zu uns kamen."

"Ja, Kinder, das ist ja die Höhe!" rief Raffaëla in ihrer
emphatischen Weise. "Die stecken ihn ja ins Zuchthaus! Was machen
wir nur?"

"O jeh!" winkte die Soubrette ab und verkniff zynisch das linke Auge.
Sie wußte noch ganz andere Dinge. Aber sie wollte nicht reden.

Auch Lydia kam jetzt ins Zimmer.

"Hm, so was!" sagte sie und nickte sorgenschwer. "Das ist doch ein
Skandal! Der alte Esel!"

Man wohnte jetzt im "Krokodil". Lydia, Raffaëla und Lottely, der
Pianist und die Soubrette hatten je ein Zimmer im kleinen Hotel. Zu
den Mahlzeiten ging man hinüber in Flamettis Wohnung.

Herr Meyer kam zurück von der Bibliothek. Er arbeitete noch immer an
seinem Apachenstück.

"Vor allem eins", sagte er. "Ruhig Blut. Ich habe das lange kommen
sehen. Schon in Basel. Es ist mir nichts Neues. Im schlimmsten
Fall machen wir selbst ein Ensemble. Wir sind eins, zwei, drei, vier,
fünf, sechs Leute, die alle etwas können. Engel macht seine
Ausbrechernummer. Bobby macht den Schlangenmenschen. Sie beide
tanzen. Ich spiele Klavier. Es müßte doch mit dem Teufel zugehen,
wenn wir keinen Erfolg hätten. Außerdem habe ich ein Apachenstück
geschrieben, glänzend. Das führen wir auf. Aber: Diskretion!"


 


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