Geschichte des Agathon, Teil 1
by
Christoph Martin Wieland

Part 2 out of 5




Vorbereitung zu einem sehr interessanten Diskurs


"Wenn wir auf das Tun und Lassen der Menschen acht geben, mein lieber
Callias, so scheint zwar, dass alle ihre Sorgen und Bemuehungen kein andres
Ziel haben als sich gluecklich zu machen; allein die Seltenheit
dererjenigen die es wuerklich sind, oder es doch zu sein glauben, beweiset
zugleich, dass die meisten nicht wissen, durch was fuer Mittel sie sich
gluecklich machen sollen, wenn sie es nicht sind; oder wie sie sich ihres
guten Glueckes bedienen sollen, um in denjenigen Zustand zu kommen den man
Glueckseligkeit nennt. Es gibt eben so viele die im Schosse des Ansehens,
des Gluecks und der Wollust, als solche die in einem Zustande von Mangel,
Dienstbarkeit und Unterdrueckung elend sind. Einige haben sich aus diesem
letztern Zustand emporgearbeitet, in der Meinung, dass sie nur darum
unglueckselig sein, weil es ihnen am Besitz der Gueter des Gluecks fehle.
Allein die Erfahrung hat sie gelehrt, dass wenn es eine Kunst gibt, die
Mittel zur Glueckseligkeit zu erwerben, es vielleicht eine noch schwerere,
zum wenigsten eine seltnere Kunst sei, diese Mittel recht zu gebrauchen.
Es ist daher allezeit die Beschaeftigung der Verstaendigsten unter den
Menschen gewesen, durch Verbindung dieser beiden Kuenste diejenige heraus
zu bringen, die man die Kunst gluecklich zu leben nennen kann, und in deren
wuerklichen Ausuebung, nach meinem Begriffe, die Weisheit besteht, die so
selten ein Anteil der Sterblichen ist. Ich nenne sie eine Kunst, weil sie
von der fertigen Anwendung gewisser Regeln abhaengt, die nur durch die
uebung erlangt werden kann: Allein sie setzt wie alle Kuenste einen gewissen
Grad von Faehigkeit voraus, den nur die Natur gibt, und den sie nicht allen
zu geben pflegt. Einige Menschen scheinen kaum einer groessern
Glueckseligkeit faehig zu sein als die Austern, und wenn sie ja eine Seele
haben, so ist es nur so viel als sie brauchen, um ihren Leib eine Zeitlang
vor der Faeulnis zu bewahren. Ein groesserer und vielleicht der groesste Teil
der Menschen befindet sich nicht in diesem Fall; aber weil es ihnen an
genugsamer Staerke des Gemuets, und an einer gewissen Zaertlichkeit der
Empfindung mangelt, so ist ihr Leben gleich dem Leben der uebrigen Tiere
des Erdbodens, zwischen Vergnuegen, die sie weder zu waehlen noch zu
geniessen, und Schmerzen, denen sie weder zu widerstehen noch zu entfliehen
wissen, geteilt. Wahn und Leidenschaften sind die Triebfedern dieser
menschlichen Maschinen; beide setzen sie einer unendlichen Menge von uebeln
aus, die es nur in einer betrognen Einbildung, aber eben darum wo nicht
schmerzlicher doch anhaltender und unheilbarer sind, als diejenigen die
uns die Natur auferlegt. Diese Art von Menschen ist keines gesetzten und
anhaltenden Vergnuegens, keines Zustandes von Glueckseligkeit faehig; ihre
Freuden sind Augenblicke, und ihre uebrige Dauer ist entweder ein
wuerkliches Leiden, oder ein unaufhoerliches Gefuehl verworrner Wuensche, eine
immerwaehrende Ebbe und Flut von Furcht und Hoffnung, von Phantasien und
Geluesten; kurz eine unruhige Bewegung die weder ein gewisses Mass noch ein
festes Ziel hat, und also weder ein Mittel zur Erhaltung dessen was gut
ist sein kann, noch dasjenige geniessen laesst, was man wuerklich besitzt. Es
scheint also unmoeglich zu sein, ohne eine gewisse Zaertlichkeit der
Empfindung, die uns in einer weitern Sphaere, mit feinern Sinnen und auf
eine angenehmere Art geniessen laesst, und ohne diejenige Staerke der Seele,
die uns faehig macht das Joch der Phantasie und des Wahns abzuschuetteln,
und die Leidenschaften in unsrer Gewalt zu haben, zu demjenigen ruhigen
Zustande von Genuss und Zufriedenheit zu kommen, der die Glueckseligkeit
ausmacht. Nur derjenige ist in der Tat gluecklich, der sich von den uebeln
die nur in der Einbildung bestehen, gaenzlich frei zu machen; diejenigen
aber, denen die Natur den Menschen unterworfen hat, entweder zu vermeiden,
oder doch zu vermindern--und das Gefuehl derselben einzuschlaefern, hingegen
sich in den Besitz alles des Guten, dessen uns die Natur faehig gemacht hat,
zu setzen, und was er besitzt, auf die angenehmste Art zu geniessen weiss;
und dieser Glueckselige allein ist der Weise.

Wenn ich dich anders recht kenne, Callias, so hat dich die Natur mit den
Faehigkeiten es zu sein so reichlich begabt, als mit den Vorzuegen, deren
kluger Gebrauch uns die Gunstbezeugungen des Gluecks zu verschaffen pflegt.
Dem ungeachtet bist du weder gluecklich, noch hast du die Miene es jemals
zu werden, so lange du nicht gelernt haben wirst, von beiden einen andern
Gebrauch zu machen als du bisher getan hast. Du wendest die Staerke deiner
Seele an, dein Herz gegen das wahre Vergnuegen unempfindlich zu machen, und
beschaeftigest deine Empfindlichkeit mit unwesentlichen Gegenstaenden, die
du nur in der Einbildung siehest, und nur im Traume geniessest; die
Vergnuegungen, welche die Natur dem Menschen zugeteilt hat, sind fuer dich
Schmerzen, weil du dir Gewalt antun musst sie zu entbehren; und du setzest
dich allen uebeln aus, die sie uns vermeiden lehrt, indem du anstatt einer
nuetzlichen Geschaeftigkeit dein Leben mit den suessen Einbildungen
wegtraeumest, womit du dir die Beraubung des wuerklichen Vergnuegens zu
ersetzen suchst. Dein uebel, mein lieber Callias, entspringt von einer
Einbildungskraft, die dir ihre Geschoepfe in einem ueberirdischen Glanze
zeigt, der dein Herz verblendet, und ein falsches Licht ueber das was
wuerklich ist ausbreitet; einer dichterischen Einbildungskraft, die sich
beschaeftiget schoenere Schoenheiten, und angenehmere Vergnuegungen zu
erfinden als die Natur hat; einer Einbildungskraft, ohne welche weder
Homere, noch Alcamene, noch Polygnote waeren; welche gemacht ist unsre
Ergoetzungen zu verschoenern, aber nicht die Fuehrerin unsers Lebens zu sein.
Um weise zu sein, hast du nichts noetig als die gesunde Vernunft an die
Stelle dieser begeisterten Zauberin, und die kalte ueberlegung an den Platz
eines sehr oft betrueglichen Gefuehls zu setzen. Bilde dir auf etliche
Augenblick' ein, dass du den Weg zur Glueckseligkeit erst suchen muessest;
frage die Natur, hoere ihre Antwort, und folge dem Pfade, den sie dir
vorzeichnen wird."




ZWEITES KAPITEL

Theorie der angenehmen Empfindungen


"Und wen anders als die Natur koennen wir fragen, um zu wissen wie wir
leben sollen, um wohl zu leben? Die Goetter? Wenn eine Gottheit ist, so
ist sie entweder die Natur selbst, oder die Urheberin der Natur; in beiden
Faellen ist die Stimme der Natur die Stimme der Gottheit. Sie ist die
allgemeine Lehrerin aller Wesen; sie lehrt jedes Tier vom Elephanten bis
zum Insekt, was seiner besondern Verfassung gut oder schaedlich ist. Um so
gluecklich zu sein als es diese innerliche Einrichtung erlaubt, braucht das
Tier nichts weiter, als dieser Stimme der Natur zu folgen, welche bald
durch den suessen Zug des Vergnuegens, bald durch das ungedultige Fodern des
Beduerfnisses, bald durch das aengstliche Pochen des Schmerzens es zu
demjenigen locket, was ihm zutraeglich ist, oder es zur Erhaltung seines
Lebens und seiner Gattung auffordert, oder es vor demjenigen warnet, was
seinem Wesen die Zerstoerung draeuet. Sollte der Mensch allein von dieser
muetterlichen Vorsorge ausgenommen sein, oder er allein irren koennen, wenn
er der Stimme folget, die zu allen Wesen redet? Oder ist nicht vielmehr
die Unachtsamkeit und der Ungehorsam gegen ihre Erinnerungen die einzige
wahre Ursache, warum unter einer unendlichen Menge von lebenden Wesen der
Mensch das einzige Unglueckselige ist?

Die Natur hat allen ihren Werken eine gewisse Einfalt eingedrueckt, die
ihre muehsamen Anstalten und eine genaue Regelmaessigkeit unter einem Schein
von Leichtigkeit und ungezwungner Anmut verbirgt. Mit diesem Stempel
sind auch die Gesetze der Glueckseligkeit bezeichnet, die sie dem Menschen
vorgeschrieben hat. Sie sind einfaeltig, leicht auszuueben, und fuehren
gerade und sicher zum Zweck. Die Kunst gluecklich zu leben, wuerde die
gemeinste unter allen Kuensten sein, wie sie die leichteste ist, wenn die
Menschen nicht gewohnt waeren sich einzubilden, dass man grosse Absichten
nicht anders, als durch grosse Anstalten erreichen koenne. Es scheint ihnen
zu einfaeltig, dass alles was ihnen die Natur durch den Mund der Weisheit zu
sagen hat, in diese drei Erinnerungen zusammen fliessen soll: Befriedige
deine Beduerfnisse, vergnuege alle deine Sinnen, und erspare dir so viel du
kannst alle schmerzhaften Empfindungen. Und doch wird dich eine kleine
Aufmerksamkeit ueberfuehren, dass die vollstaendigste Glueckseligkeit deren die
Sterblichen faehig sind, in die Linie eingeschlossen ist, die von diesen
dreien Formuln bezeichnet wird.

Es hat Narren gegeben, welche die Frage muehsam untersucht haben, ob das
Vergnuegen ein Gut, und der Schmerz ein uebel sei? Es hat noch groessere
Narren gegeben, welche wuerklich behaupteten, der Schmerz sei kein uebel,
und das Vergnuegen kein Gut; und was das lustigste dabei ist, beide haben
Toren gefunden, die albern genug waren, diese Narren fuer weise zu halten.
Das Vergnuegen ist kein Gut, sagen sie, weil es Faelle gibt wo der Schmerz
ein groesseres Gut ist; und der Schmerz ist kein uebel, weil er zuweilen
besser ist als das Vergnuegen. Sind diese Wortspiele einer Antwort wert?
Was wuerd' ein Zustand sein, der in einem vollstaendigen unaufhoerlichen
Gefuehl des hoechsten Grades aller moeglichen Schmerzen bestuende? Wenn dieser
Zustand das hoechste uebel ist, so ist der Schmerz ein uebel. Doch wir
wollen die Schwaetzer mit Worten spielen lassen, die ihnen bedeuten muessen
was sie wollen. Die Natur entscheidet diese Frage, wenn es eine sein kann,
auf eine Art, die keinen Zweifel uebrig laesst. Wer ist, der nicht lieber
vernichtet als unaufhoerlich gepeiniget werden wollte? Wer sieht nicht
einen schoenen Gegenstand lieber, als einen ekelhaften? Wer hoert nicht
lieber den Gesang der Grasmuecke, als das Geheul der Nachteule? Wer zieht
nicht einen angenehmen Geruch oder Geschmack einem widrigen vor? Und
wuerde nicht der enthaltsame Callias selbst lieber auf einem Lager von
Blumen in den Rosenarmen irgend einer schoenen Nymphe ruhen, als in den
gluehenden Armen des ehernen Goetzenbildes, welchem die Andacht gewisser
Syrischer Voelker, wie man sagt, ihre Kinder opfert? Eben so wenig scheint
es einem Zweifel unterworfen zu sein, dass der Schmerz und das Vergnuegen so
unvertraeglich sind, dass eine einzige gepeinigte Nerve genug ist, uns gegen
die vereinigten Reizungen aller Wollueste unempfindlich zu machen. Die
Freiheit von allen Arten der Schmerzen ist also unstreitig eine
unumgaengliche Bedingung der Glueckseligkeit; allein da sie nichts positives
ist, so ist sie nicht so wohl ein Gut, als der Zustand, worin man des
Genusses des Guten faehig ist. Dieser Genuss allein ist es, dessen Dauer
den Stand hervorbringt, den man Glueckseligkeit nennt.

Es ist unleugbar, dass nicht alle Arten und Grade des Vergnuegens gut sind.
Die Natur allein hat das Recht uns die Vergnuegen anzuzeigen, die sie uns
bestimmt hat. So unendlich die Menge dieser angenehmen Empfindungen zu
sein scheint, so ist doch leicht zu sehen, dass sie alle entweder zu den
Vergnuegungen der Sinne, oder der Einbildungskraft, oder zu einer dritten
Klasse, die aus beiden zusammen gesetzt ist, gehoeren. Die Vergnuegen der
Einbildungskraft sind entweder Erinnerungen an ehmals genossene sinnliche
Vergnuegen; oder Mittel uns den Genuss derselben reizender zu machen; oder
angenehme Dichtungen und Traeume, die entweder in einer neuen willkuerlichen
Zusammensetzung der angenehmen Ideen, die uns die Sinne gegeben, oder in
einer dunkel eingebildeten Erhoehung der Grade jener Vergnuegen, die wir
erfahren haben, bestehen. Es sind also, wenn man genau reden will, alle
Vergnuegungen im Grunde sinnlich, indem sie, es sei nun unmittelbar oder
vermittelst der Einbildungskraft, von keinen andern als sinnlichen
Vorstellungen entstehen koennen.

Die Philosophen reden von Vergnuegen des Geistes, von Vergnuegen des Herzens,
von Vergnuegen der Tugend. Alle diese Vergnuegen sind es fuer die Sinnen
oder fuer die Einbildungskraft, oder sie sind nichts. Warum ist Homer
unendlich mal angenehmer zu lesen als Heraclitus? Weil die Gedichte des
ersten eine Reihe von Gemaelden darstellen, die entweder durch die
eigentuemliche Reizungen des Gegenstandes, oder die Lebhaftigkeit der
Farben, oder einen Kontrast, der das Vergnuegen durch eine kleine Mischung
mit widrigen Empfindungen erhoehet, oder die Erregung angenehmer Bewegungen,
unsre Phantasie bezaubern.--Da die trocknen Schriften des Philosophen
nichts darstellen, als eine Reihe von Woertern, womit man abgezogne
Begriffe bezeichnet, von denen sich die Einbildungskraft nicht anders als
mit vieler Anstrengung und einer bestaendigen Bemuehung, die gaenzliche
Verwirrung so vieler unbestimmter Schattenbilder zu verhueten, einige Ideen
machen kann; wenn anders dasjenige so genennt zu werden verdient, was in
Absicht seines wirklichen Gegenstands in der Natur, kaum so viel ist als
ein Schatten gegen den Koerper der ihn zu werfen scheint. Es ist wahr, es
gibt abgezogene Begriffe, die fuer gewisse enthusiastische Seelen
entzueckend sind; aber warum sind sie es? In der Tat bloss darum, weil ihre
Einbildungskraft sie auf eine schlaue Art zu verkoerpern weiss. Untersuche
alle angenehmen Ideen von dieser Art, so unkoerperlich und geistig sie
scheinen moegen, und du wirst finden, dass das Vergnuegen, so sie deiner
Seele machen, von den sinnlichen Vorstellungen entsteht, womit sie
begleitet sind. Bemuehe dich so sehr als du willst, dir Goetter ohne
Gestalt, ohne Glanz, ohne etwas das die Sinnen ruehrt, vorzustellen; es
wird dir unmoeglich sein. Der Jupiter des Homer und Phidias, die Idee
eines Hercules oder Theseus, wie unsre Einbildungskraft sich diese Helden
vorzustellen pflegt, die Ideen eines ueberirdischen Glanzes, einer mehr als
menschlichen Schoenheit, eines ambrosischen Geruchs, werden sich unvermerkt
an die Stelle derjenigen setzen, die du dich vergeblich zu machen
bestrebest; und du wirst noch immer an dem irdischen Boden kleben, wenn du
schon in den empyreischen Gegenden zu schweben glaubst. Sind die
Vergnuegen des Herzens weniger sinnlich? Sie sind die Allersinnlichsten.
Ein gewisser Grad derselben verbreitet eine wolluestige Waerme durch unser
ganzes Wesen, belebt den Umlauf des Blutes, ermuntert das Spiel der Fibern,
und setzt unsre ganze Maschine in einen Zustand von Behaglichkeit, der
sich der Seele um so mehr mitteilet, als ihre eigne natuerliche
Verrichtungen auf eine angenehme Art dadurch erleichtert werden. Die
Bewunderung, die Liebe, das Verlangen, die Hoffnung, das Mitleiden, jeder
zaertliche Affekt bringt diese Wuerkung in einigem Grad hervor, und ist
desto angenehmer, je mehr er sich derjenigen Wollust naehert, die unsre
Alten wuerdig gefunden haben, in der Gestalt der personifizierten Schoenheit,
aus deren Genuss sie entspringt, unter die Goetter gesetzt zu werden.
Derjenige, den sein Freund niemals in Entzueckungen gesetzt hat, die den
Entzueckungen der Liebe aehnlich sind, ist nicht berechtiget von den
Vergnuegen der Freundschaft zu reden. Was ist das Mitleiden, welches uns
zur Guttaetigkeit treibt? Wer anders ist desselben faehig als diese
empfindlichen Seelen, deren Auge durch den Anblick, deren Ohr durch den
aechzenden Ton des Schmerzens und Elends gequaelet wird, und die in dem
Augenblick, da sie die Not eines Ungluecklichen erleichtern, beinahe
dasselbige Vergnuegen fuehlen, welches sie in eben diesem Augenblick an
seiner Stelle gefuehlt haetten? Wenn das Mitleiden nicht ein wolluestiges
Gefuehl ist, warum ruehrt uns nichts so sehr als die leidende Schoenheit?
Warum lockt die klagende Phaedra in der Nachahmung zaertliche Traenen aus
unsern Augen, da die winselnde Haesslichkeit in der Natur nichts als Ekel
erweckt? Und sind etwan die Vergnuegen der Wohltaetigkeit und Menschenliebe
weniger sinnlich? Dasjenige, was in dir vorgehen wird, wenn du dir die
kontrastierenden Gemaelde einer geaengstigten und einer froehlichen Stadt
vorstellest, die Homer auf den Schild des Achilles setzt, wird dir diese
Frage aufloesen! Nur diejenigen, die der Genuss des Vergnuegens in die
lebhafteste Entzueckung setzt, sind faehig, von den lachenden Bildern einer
allgemeinen Freude und Wonne so sehr geruehrt zu werden, dass sie dieselbige
ausser sich zu sehen wuenschen; das Vergnuegen der Guttaetigkeit wird allemal
mit demjenigen in Verhaeltnis stehen, welches ihnen der Anblick eines
vergnuegten Gesichts, eines froehlichen Tanzes, einer oeffentlichen
Lustbarkeit macht; und es ist nur der Vorteil ihres Vergnuegens, je
allgemeiner diese Szene ist. Je groesser die Anzahl der Froehlichen und die
Mannigfaltigkeit der Freuden, desto groesser die Wollust, wovon diese Art
von Menschen, an denen alles Sinn, alles Herz und Seele ist, beim Anblick
derselben ueberstroemet werden. Lass uns also gestehen, Callias, dass alle
Vergnuegen, die uns die Natur anbeut, sinnlich sind; und dass die
hochfliegendste, abgezogenste und geistigste Einbildungskraft uns keine
andre verschaffen kann, als solche, die wir auf eine weit vollkommnere Art
aus dem rosenbekraenzten Becher, und von den Lippen der schoenen Cyane
saugen koennten.

Es ist wahr, es gibt noch eine Art von Vergnuegen, die beim ersten Anblick
eine Ausnahme von meinem Satz zu machen scheint. Man koennte sie
kuenstliche nennen, weil wir sie nicht aus den Haenden der Natur empfangen,
sondern nur gewissen uebereinkommnissen der menschlichen Gesellschaft zu
danken haben, durch welche dasjenige, was uns dieses Vergnuegen macht, die
Bedeutung eines Gutes erhalten hat. Allein die kleinste ueberlegung ist
hinlaenglich uns zu ueberzeugen, dass diese Dinge uns keine andre Art von
Vergnuegen machen, als die wir vom Besitz des Geldes haben; welches wir mit
Gleichgueltigkeit ansehen wuerden, wenn es uns nicht fuer alle die wuerklichen
Vergnuegen Gewaehr leistete, die wir uns dadurch verschaffen koennen. Von
dieser Art ist dasjenige, welches der Ehrgeizige empfindet, wenn ihm
Bezeugungen einer scheinbaren Hochachtung oder Unterwuerfigkeit gemacht
werden, die ihm als Zeichen seines Ansehens und der Macht, die ihm
dasselbe ueber andre gibt, angenehm sind. Ein morgenlaendischer Despot
bekuemmert sich wenig um die Hochachtung seiner Voelker; sklavische
Unterwuerfigkeit ist fuer ihn genug. Ein Mensch hingegen, dessen Glueck in
den Haenden solcher Leute liegt, die seines gleichen sind, ist genoetiget,
sich ihre Hochachtung zu erwerben. Allein diese Unterwuerfigkeit ist dem
Despoten, diese Hochachtung ist dem Republikaner nur darum angenehm, weil
sie das Vermoegen oder die Gelegenheit gibt, die Leidenschaften und die
Begierden desto besser zu befriedigen, welche die unmittelbaren Quellen
des Vergnuegens sind. Warum ist Alcibiades ehrgeizig? Alcibiades bewirbt
sich um einen Ruhm, der seine Ausschweifungen, seinen uebermut, seinen
schleppenden Purpur, seine Schmaeuse und Liebeshaendel bedeckt; der es den
Atheniensern ertraeglich macht, den Liebesgott, mit dem Blitze Jupiters
bewaffnet, auf dem Schilde seines Feldherrn zu sehen; der die Gemahlin
eines spartanischen Koenigs so sehr verblendet, dass sie stolz darauf ist,
fuer seine Buhlerin gehalten zu werden. Ohne diese Vorteile wuerde ihm
Ansehn und Ruhm so gleichgueltig sein, als ein Haufen Rechenpfennige einem
corinthischen Wucherer. 'Allein', spricht man, 'wenn es seine Richtigkeit
hat, dass die Vergnuegen der Sinne alles sind, was uns die Natur zuerkannt
hat, was ist leichter und was braucht weniger Kunst und Anstalten, als
gluecklich zu sein? Wie wenig bedarf die Natur um zu frieden zu sein?' Es
ist wahr, die rohe Natur bedarf wenig. Ihre Unwissenheit ist ihr Reichtum.
Eine Bewegung, die seinen Koerper munter erhaelt, eine Nahrung die den
Hunger stillt, ein Weib, schoen oder haesslich, wenn ihn die Ungeduld eines
gewissen Beduerfnisses beunruhiget, ein schattichter Rasen, wenn er des
Schlafs bedarf, und eine Hoehle, sich vor dem Ungewitter zu sichern, ist
alles was der wilde Mensch noetig hat, um in dem Lauf von achtzig oder
hundert Jahren sich nur nicht einmal einfallen zu lassen, dass man mehr
brauchen koenne. Die Vergnuegen der Einbildungskraft und des Geschmacks
sind nicht fuer ihn; er geniesst nicht mehr als die uebrigen Tiere, und
geniesst wie sie. Wenn er gluecklich ist, weil er sich nicht fuer
ungluecklich haelt, so ist er es doch nicht in Vergleichung mit demjenigen,
fuer den die Kuenste des Witzes und des Geschmacks die angenehmste Art der
Beduerfnisse der Natur zu geniessen, und eine unendliche Menge von
Ergoetzungen der Sinne und der Einbildung erfunden haben, wovon die Natur
in dem rohen Zustande, worin wir sie uns in den aeltesten Zeiten vorstellen,
keinen Begriff hat. Diese Vergleichung, es ist wahr, findet nur in dem
Stand einer Gesellschaft statt, die sich in einer langen Reihe von
Jahrhunderten endlich zu einem gewissen Grade der Vollkommenheit erhoben
hat. In einem solchen aber wird alles das zum Beduerfnis, was der Wilde
nur darum nicht vermisset, weil es ihm unbekannt ist; und ein Diogenes
koennte zu Corinth nicht gluecklich sein, wenn er nicht ein Narr waere.
Gewisse poetische Koepfe haben sich ein goldnes Alter, ein Arcadien, ein
angenehmes Hirtenleben getraeumt, welches zwischen der rohen Natur und der
Lebensart des begueterten Teils eines gesitteten und sinnreichen Volkes das
Mittel halten soll. Sie haben die verschoenerte Natur von allem demjenigen
entkleidet, wodurch sie verschoenert worden ist, und dieses idealische
Wesen die schoene Natur genannt. Allein ausserdem, dass diese schoene Natur,
in dieser nackten Einfalt, welche man ihr gibt, niemals irgendwo vorhanden
war; wer siehet nicht, dass die Lebensart des goldnen Alters der Dichter,
zu derjenigen, welche durch die Kuenste mit allem bereichert und ausgeziert
worden, was der Witz zu erfinden faehig ist, um uns in den Armen einer
ununterbrochnen Wollust, vor dem ueberdruss der Saettigung zu bewahren; dass,
sage ich, jene dichtrische Lebensart zu dieser sich eben so verhaelt, wie
die Lebensart des wildesten Sogdianers zu jener? Wenn es angenehmer ist
in einer bequemen Huette zu wohnen als in einem hohlen Baum, so ist es noch
angenehmer in einem geraeumigen Hause zu wohnen, das mit den
ausgesuchtesten und wolluestigsten Bequemlichkeiten versehen, und, wohin
man die Augen wendet, mit Bildern des Vergnuegens ausgeziert ist; und wenn
eine mit Baendern und Blumen geschmueckte Phyllis reizender ist als eine
schmutzige und zottichte Wilde, muss nicht eine von unsern Schoenen, deren
natuerliche Reizungen durch einen wohlausgesonnenen und schimmernden Putz
erhoben werden, um eben so viel besser gefallen als eine Phyllis?"




DRITTES KAPITEL

Die Geisterlehre eines echten Materialisten


"Wir haben die Natur gefragt, Callias, worin die Glueckseligkeit bestehe,
die sie uns zugedacht habe, und wir haben ihre Antwort. Ein
schmerzenfreies Leben, die angenehmste Befriedigung unsrer natuerlichen
Beduerfnisse, und der abwechslende Genuss aller Arten von Vergnuegen, womit
die Einbildungskraft, der Witz und die Kuenste unsern Sinnen zu schmeicheln
faehig sind.--Dieses ist alles was der Mensch fodern kann, und wenn es eine
erhabnere Art von Glueckseligkeit gibt, so koennen wir wenigstens gewiss sein,
dass sie nicht fuer uns gehoert, da wir nicht einmal faehig sind, uns eine
Vorstellung davon zu machen. Es ist wahr, der enthusiastische Teil unter
den Verehrern der Goetter schmeichelt sich mit einer zukuenftigen
Glueckseligkeit, zu welcher die Seele nach der Zerstoerung des Koerpers erst
gelangen soll. Die Seele, sagen sie, war ehmals eine Freundin und
Gespielin der Goetter, sie war unsterblich wie sie, und begleitete (wie
Plato homerisiert) den gefluegelten Wagen Jupiters, um mit den uebrigen
Unsterblichen die unvergaengliche Schoenheiten zu beschauen, womit die
unermesslichen Raeume ueber den Sphaeren erfuellt sind. Ein Krieg, der unter
den Bewohnern der unsichtbaren Welt entstand, verwickelte sie in den Fall
der Besiegten; sie ward vom Himmel gestuerzt, und in den Kerker eines
tierischen Leibes eingeschlossen, um durch den Verlust ihrer ehmaligen
Wonne, in einem Zustand, der eine Kette von Plagen und Schmerzen ist, ihre
Schuld auszutilgen. Das unendliche Verlangen, der nie gestillte Durst
nach einer Glueckseligkeit, die sie in keinem irdischen Gut findet, ist das
einzige, das ihr zu ihrer Qual von ihrem vormaligen Zustand uebrig
geblieben ist; und es ist unmoeglich, dass sie diese vollkommne Seligkeit,
wodurch sie allein befriediget werden kann, wieder erlange, eh sie sich
wieder in ihren urspruenglichen Stand, in das reine Element der Geister
empor geschwungen hat. Sie ist also vor dem Tode keiner andern
Glueckseligkeit faehig als derjenigen, deren sie durch eine freiwillige
Absonderung von allen irdischen Dingen, durch Ertoedung aller irdischen
Leidenschaften und Entbehrung aller sinnlichen Vergnuegen, faehig gemacht
wird. Nur durch diese Entkoerperung wird sie der Beschauung der
wesentlichen und goettlichen Dinge faehig, worin die Geister ihre einzige
Nahrung und diese vollkommne Wonne finden, wovon die sinnlichen Menschen
sich keinen Begriff machen koennen. Solchergestalt kann sie nur, nachdem
sie durch verschiedne Grade der Reinigung, von allem was tierisch und
koerperlich ist, gesaeubert worden, sich wieder zu der ueberirdischen Sphaere
erheben, mit den Goettern leben, und im Unverwandten Anschauen des
wesentlichen und ewigen Schoenen, wovon alles Sichtbare bloss der Schatten
ist, Ewigkeiten durchleben, die eben so grenzenlos sind, als die Wonne,
von der sie ueberstroemet werden.

Ich zweifle nicht daran, Callias, dass es Leute geben mag, bei denen die
Milzsucht hoch genug gestiegen ist, dass diese Begriffe eine Art von
Wahrheit fuer sie haben. Es ist auch nichts leichters, als dass junge Leute
von lebhafter Empfindung und feurigen Einbildungskraft, durch eine einsame
Lebensart und den Mangel solcher Gegenstaende und Freuden, worin sich
dieses uebermaessige Feuer verzehren koennte, von diesen hochfliegenden
Schimaeren eingenommen werden, welche so geschickt sind, ihre nach
Vergnuegen lechzende Einbildungskraft durch eine Art von Wollust zu
taeuschen, die nur desto lebhafter ist, je verworrener und dunkler die
bezaubernden Phantomen sind die sie hervorbringen; allein ob diese Traeume
ausser dem Gehirn ihrer Erfinder, und derjenigen, deren Einbildungskraft so
gluecklich ist ihnen nachfliegen zu koennen, einige Wahrheit oder
Wuerklichkeit haben, ist eine Frage, deren Eroerterung nicht zum Vorteil
derselben ausfaellt, wenn sie der gesunden Vernunft aufgetragen wird. Je
weniger die Menschen wissen, desto geneigter sind sie, zu waehnen und zu
glauben. Wem anders als der Unwissenheit und dem Aberglauben der aeltesten
Welt haben die Nymphen und Faunen, die Najaden und Tritonen, die Furien
und die erscheinenden Schatten der Verstorbnen ihre vermeinte Wuerklichkeit
zu danken? Je besser wir die Koerperwelt kennen lernen, desto enger werden
die Grenzen des Geister-Reichs. Ich will itzo nichts davon sagen, ob es
wahrscheinlich sei, dass die Priesterschaft, die von jeher einen so
zahlreichen Orden unter den Menschen ausgemacht, bald genug die Entdeckung
machen musste, was fuer grosse Vorteile man durch diesen Hang der Menschen
zum Wunderbaren von ihren beiden heftigsten Leidenschaften, der Furcht und
der Hoffnung, ziehen koenne. Wir wollen bei der Sache selbst bleiben.
Worauf gruendet sich die erhabne Theorie, von der wir reden? Wer hat
jemals diese Goetter, diese Geister gesehen, deren Dasein sie voraussetzt?
Welcher Mensch erinnert sich dessen, dass er ehmals ohne Koerper in den
aetherischen Gegenden geschwebt, den gefluegelten Wagen Jupiters begleitet,
und mit den Goettern Nektar getrunken habe? Was fuer einen sechsten oder
siebenten Sinn haben wir, um die Wuerklichkeit der Gegenstaende damit zu
erkennen, womit man die Geisterwelt bevoelkert? Sind es unsre innerlichen
Sinnen? Was sind diese anders als das Vermoegen der Einbildungskraft die
Wuerkungen der aeussern Sinnen nachzuaeffen? Was sieht das inwendige Auge
eines Blindgebornen? Was hoert das innere Ohr eines gebornen Tauben? Oder
was sind diese Szenen, in welche die erhabenste Einbildungskraft
auszuschweifen faehig ist, anders als neue Zusammensetzungen, die sie
gerade so macht, wie ein Maedchen aus den Blumen, die in einem Parterre
zerstreut stehen, einen Kranz flicht; oder hoehere Grade dessen was die
Sinnen wuerklich empfunden haben, von welchen man jedoch immer unfaehig
bleibt, sich einige klare Vorstellung zu machen; denn was empfinden wir
bei dem aetherischen Schimmer, oder den ambrosischen Geruechen der
homerischen Goetter? Wir sehen, wenn ich so sagen kann, den Schatten eines
Glanzes in unsrer Einbildung; wir glauben einen lieblichen Geruch zu
empfinden; aber wir sehen keinen aetherischen Glanz, und empfinden keinen
ambrosischen Geruch. Kurz, man verbiete den Schoepfern der ueberirdischen
Welten sich keiner irdischen und sinnlichen Materialien zu bedienen, so
werden ihre Welten, um mich eines ihrer Ausdruecke zu bedienen, ploetzlich
wieder in den Schoss des Nichts zurueckfallen, woraus sie gezogen worden.
Und brauchen wir wohl noch einen andern Beweis, um uns diese ganze Theorie
verdaechtig zu machen, als die Methode, die man uns vorschreibt, um zu der
geheimnisvollen Glueckseligkeit zu gelangen, welcher wir diejenige
aufopfern sollen, die uns die Natur und unsre Sinnen anbieten? Wir sollen
uns den sichtbaren Dingen entziehen, um die unsichtbaren zu sehen; wir
sollen aufhoeren zu empfinden, damit wir desto lebhafter phantasieren
koennen. 'Verstopfet eure Sinnen', sagen sie, 'so werdet ihr Dinge sehen
und hoeren, wovon diese tierischen Menschen, die gleich dem Vieh mit den
Augen sehen, und mit den Ohren hoeren, sich keinen Begriff machen koennen.'
Eine vortreffliche Diaet, in Wahrheit; die Schueler des Hippokrates werden
dir beweisen, dass man keine bessere erfinden kann, um wahnwitzig zu werden.
Es scheint also sehr wahrscheinlich, dass alle diese Geister, diese
Welten, welche sie bewohnen, und diese Glueckseligkeiten, welche man nach
dem Tode mit ihnen zu teilen hofft, nicht mehr Wahrheit haben, als die
Nymphen, die Liebesgoetter und die Grazien der Dichter, als die Gaerten der
Hesperiden und die Inseln der Circe und Calypso; kurz, als alle diese
Spiele der Einbildungskraft, welche uns belustigen, ohne dass wir sie fuer
wuerklich halten. Die Religion unsrer Vaeter befiehlt uns einen Jupiter,
eine Venus zu glauben; ganz gut; aber was fuer eine Vorstellung macht man
uns von ihnen? Jupiter soll ein Gott, Venus eine Goettin sein: Allein der
Jupiter des Phidias ist nichts mehr als ein heroischer Mann, noch die
Venus des Praxiteles mehr als ein schoenes Weib; von dem Gott und der
Goettin hat kein Mensch in Griechenland den mindesten Begriff. Man
verspricht uns nach dem Tod ein unsterbliches Leben bei den Goettern; aber
die Begriffe die wir uns davon machen, sind entweder aus den sinnlichen
Wolluesten, oder den feinern und geistigern Freuden, die wir in diesem
Leben erfahren haben, zusammengesetzt; es ist also klar, dass wir gar keine
echte Vorstellung von dem Leben der Geister und von ihren Freuden haben.
Ich will hiemit nicht leugnen, dass es Goetter, Geister oder vollkommnere
Wesen als wir sind, haben koenne oder wuerklich habe. Alles was meine
Schluesse zu beweisen scheinen, ist dieses, dass wir unfaehig sind, uns eine
richtige Idee von ihnen zu machen, oder kurz, dass wir nichts von ihnen
wissen. Wissen wir aber nichts, weder von ihrem Zustande noch von ihrer
Natur, so ist es fuer uns eben so viel, als ob sie gar nicht waeren.
Anaxagoras bewies mir einst mit dem ganzen Enthusiasmus eines Sternsehers,
dass der Mond Einwohner habe. Vielleicht sagte er die Wahrheit. Allein
was sind diese Mondbewohner fuer uns? Meinest du, der Koenig Philippus
werde sich die mindeste Sorge machen, die Griechen moechten sie gegen ihn
zu Huelfe rufen? Es moegen Einwohner im Monde sein; fuer uns ist der Mond
weder mehr noch weniger als eine leere glaenzende Scheibe, die unsre Naechte
erheitert, und unsre Zeit abmisst. Hat es aber diese Bewandtnis, wie es
denn nicht anders sein kann, wie toericht ist es, den Plan seines Lebens
nach Schimaeren einzurichten, und sich der Glueckseligkeit deren man
wuerklich geniessen koennte, zu begeben, um sich mit ungewissen Hoffnungen zu
weiden; die Frucht seines Daseins zu verlieren, so lange man lebt, in
Hoffnung sich dafuer schadlos zu halten, wenn man nicht mehr sein wird!
Denn dass wir itzt leben, und dass dieses Leben aufhoeren wird, das wissen
wir gewiss; ob ein andres alsdann anfange, ist wenigstens ungewiss, und wenn
es auch waere, so ist es doch unmoeglich, das Verhaeltnis desselben gegen das
itzige zu bestimmen, da wir kein Mittel haben uns einen echten Begriff
davon zu machen. Lass uns also den Plan unsers Lebens auf das gruenden, was
wir kennen und wissen; und nachdem wir gefunden haben, was das glueckliche
Leben ist, den geradesten und sichersten Weg suchen, auf dem wir dazu
gelangen koennen."




VIERTES KAPITEL

Worin Hippias bessere Schluesse macht


"Ich habe schon bemerkt, dass die Glueckseligkeit, welche wir suchen, nur in
dem Stand einer Gesellschaft, die sich schon zu einem gewissen Grade der
Vollkommenheit erhoben hat, statt finde. In einer solchen Gesellschaft
entwickeln sich alle diese mannichfaltigen Geschicklichkeiten, die bei dem
wilden Menschen, der so wenig bedarf, so einsam lebt, und so wenig
Leidenschaften hat, immer muessige Faehigkeiten bleiben. Die Einfuehrung des
Eigentums, die Ungleichheit der Gueter und Staende, die Armut der einen, der
ueberfluss, die ueppigkeit und die Traegheit der andern, dieses sind die
wahren Goetter der Kuenste, die Mercure und die Musen, denen wir ihre
Erfindung oder doch ihre Vollkommenheit zu danken haben. Wie viel
Menschen muessen ihre Bemuehungen vereinigen, um einen einzigen Reichen zu
befriedigen! Diese bauen seine Felder und Weinberge, andre pflanzen seine
Lustgaerten, noch andre bearbeiten den Marmor, woraus seine Wohnung
aufgefuehrt wird; tausende durchschiffen den Ozean um ihm die Reichtuemer
fremder Laender zuzufuehren; tausende beschaeftigen sich, die Seide und den
Purpur zu bereiten, die ihn kleiden; die Tapeten, die seine Zimmer
schmuecken; die kostbaren Gefaesse, woraus er isst und trinkt; und die weichen
Lager, worauf er der wolluestigsten Ruhe geniesst. Tausende muessen in
schlaflosen Naechten ihren Witz verzehren, um neue Bequemlichkeiten, neue
Wollueste, eine leichtere und angenehmere Art die leichtesten und
angenehmsten Verrichtungen, die uns die Natur auferlegt, zu tun, fuer ihn
zu erfinden, und durch die Zaubereien der Kunst, die den gemeinsten Dingen
einen Schein der Neuheit zu geben weiss, seinen Ekel zu taeuschen, und seine
vom Genuss ermuedeten Sinnen aufzuwecken. Fuer ihn arbeitet der Maler, der
Tonkuenstler, der Dichter, der Schauspieler, und ueberwindet unendliche
Schwierigkeiten, um Kuenste zur Vollkommenheit zu treiben, welche die
Anzahl seiner Ergoetzungen vermehren sollen. Allein alle diese Leute,
welche fuer den gluecklichen Menschen arbeiten, wuerden es nicht tun, wenn
sie nicht selbst gluecklich zu sein wuenschten. Sie arbeiten nur fuer
denjenigen, der ihre Bemuehung fuer sein Vergnuegen belohnen kann. Der Koenig
von Persien selbst ist nicht maechtig genug, den Zeuxes zu zwingen, dass er
ihm eine Leda male. Nur die Zauberkraft des Goldes, welchem eine
allgemeine uebereinkunft der gesitteten Voelker den Wert aller nuetzlichen
und angenehmen Dinge beigelegt hat, kann den Genie und den Fleiss einem
Midas dienstbar machen, der ohne seine Schaetze kaum so viel wert waere, dem
Maler, der fuer ihn arbeitet, die Farben zu reiben. Die Kunst, sich die
Mittel zur Glueckseligkeit zu verschaffen, ist also schon gefunden, mein
lieber Callias, sobald wir die Kunst gefunden haben, einen genugsamen
Vorrat von diesem Steine der Weisen zu bekommen, der uns die ganze Natur
unterwirft, der Millionen von unsers Gleichen zu freiwilligen Sklaven
unsrer ueppigkeit macht, und der uns in jedem schlauen Kopf einen
dienstwilligen Mercur, und durch den unwiderstehlichen Glanz eines goldnen
Regens, in jeder Schoenen eine Danae finden laesst. Die Kunst reich zu
werden, Callias, ist im Grunde nichts anders, als die Kunst, sich des
Eigentums andrer Leute mit ihrem guten Willen zu bemaechtigen. Ein Despot
hat unter dem Schutz eines Vorurteils, welches demjenigen sehr aehnlich ist,
womit die Egypter den Krokodil vergoetterten, in diesem Stueck einen
ungemeinen Vorteil: Da sich seine Rechte so weit erstrecken als seine
Macht, und diese Macht durch keine Pflichten eingeschraenkt ist, weil ihn
niemand zwingen kann, sie zu erfuellen; so kann er sich das Vermoegen seiner
Untertanen zueignen, ohne sich darum zu bekuemmern, ob es mit ihrem guten
Willen geschieht. Es kostet ihn keine Muehe, unermessliche Reichtuemer zu
erwerben, und, um mit der unmaessigsten Schwelgerei in einem Tag Millionen
zu verschwenden, hat er nichts noetig, als denjenigen Teil des Volkes, den
seine Duerftigkeit zu einer immerwaehrenden Arbeit verdammt, an diesem Tage
fasten zu lassen. Allein ausser dem, dass dieser Vorteil nur sehr wenigen
Sterblichen zu Teil werden kann, so ist er nicht so beschaffen, dass ein
weiser Mann ihn beneiden koennte. Das Vergnuegen hoeret auf Vergnuegen zu
sein, so bald es ueber einen gewissen Grad getrieben wird. Das uebermass
der sinnlichen Wollueste zerstoeret die Werkzeuge der Empfindung; das
uebermass der Vergnuegen der Einbildungskraft, verderbt den Geschmack des
echten Schoenen, indem fuer unmaessige Begierden nichts reizend sein kann, was
in die Verhaeltnisse und das Ebenmass der Natur eingeschlossen ist. Daher
ist das gewoehnliche Schicksal der morgenlaendischen Fuersten, die in die
Mauern ihres Serails eingekerkert sind, in den Armen der Wollust vor
Ersaettigung und ueberdruss umzukommen; indessen, dass die suessesten Gerueche
von Arabien vergeblich fuer sie dueften, dass die geistigen Weine ihnen
ungekostet aus Kristallen entgegenblinken, dass tausend Schoenheiten, deren
jede zu Paphos einen Altar erhielte, alle ihre Reizungen, alle ihre
buhlerische Kuenste umsonst verschwenden, ihre schlaffen Sinnen zu erwecken,
und zehen tausend Sklaven ihrer ueppigkeit in die Wette eifern, um
unerhoerte und ungeheure Wollueste zu erdenken, welche faehig sein moechten,
wenigstens die gluehende Phantasie dieser unglueckseligen Gluecklichen auf
etliche Augenblicke zu betruegen. Wir haben also mehr Ursache, als man
insgemein glaubt, der Natur zu danken, wenn sie uns in einen Stand setzt,
wo wir das Vergnuegen durch Arbeit erkaufen muessen, und vorher unsre
Leidenschaften maessigen lernen, eh wir zu einer Glueckseligkeit gelangen,
die wir ohne diese Maessigung nicht geniessen koennten.

Da nun die Despoten und die Strassenraeuber die einzigen sind, denen es,
jedoch auf ihre Gefahr, zusteht, sich des Vermoegens andrer Leute mit
Gewalt zu bemaechtigen: So bleibt demjenigen, der sich aus einem Zustand
von Mangel und Abhaenglichkeit empor schwingen will, nichts anders uebrig,
als dass er sich die Geschicklichkeit erwerbe, den Vorteil und das
Vergnuegen der Lieblinge des Glueckes zu befoerdern. Unter den vielerlei
Arten, wie dieses geschehen kann, sind einige dem Menschen von Genie, mit
Ausschluss aller uebrigen, vorbehalten, und teilen sich nach ihrem
verschiednen Endzweck in zwo Klassen ein, wovon die erste die Vorteile,
und die andre das Vergnuegen des betraechtlichsten Teils einer Nation zum
Gegenstand hat. Die erste, welche die Regierungs--und Kriegs-Kuenste in
sich begreift, scheint ordentlicher Weise nur in freien Staaten Platz zu
finden; die andre hat keine Grenzen als den Grad des Reichtums und der
ueppigkeit eines jeden Volks, von welcher Art seine Staatsverfassung sein
mag. In dem armen Athen wurde ein guter Feld-Herr unendlichmal hoeher
geschaetzt, als ein guter Maler; in dem reichen und wolluestigen Athen gibt
man sich keine Muehe zu untersuchen, wer der tuechtigste sei, ein Kriegsheer
anzufuehren; man hat wichtigere Dinge zu entscheiden; die Frage ist, welche
unter etlichen Taenzerinnen die artigsten Fuesse hat, und die schoensten
Spruenge macht? ob die Venus des Praxiteles, oder des Alcamenes die
schoenere ist?--Die Kuenste des Genie von der ersten Klasse fuehren fuer sich
allein selten zum Reichtum. Die grossen Talente, die grossen Verdienste und
Tugenden, die dazu erfodert werden, finden sich gemeiniglich nur in armen
und emporstrebenden Republiken, die alles, was man fuer sie tut, nur mit
Lorbeerkraenzen bezahlen. In Staaten aber, wo Reichtum und ueppigkeit schon
die Oberhand gewonnen haben, braucht man alle diese Talente und Tugenden
nicht, welche die Regierungskunst zu erfodern scheint. Man kann in
solchen Staaten Gesetze geben, ohne ein Solon zu sein; man kann ihre
Kriegsheere anfuehren, ohne ein Leonidas oder Themistokles zu sein.
Perikles, Alcibiades, regierten zu Athen den Staat, und fuehrten die Voelker
an; obgleich jener nur ein Redner war, und dieser keine andre Kunst kannte,
als die Kunst sich der Herzen zu bemeistern. In solchen Republiken hat
das Volk die Eigenschaften, die in einem despotischen Staate der Einzige
hat, der kein Sklave ist; man braucht ihm nur zu gefallen, um zu allem
tuechtig befunden zu werden. Perikles herrschte, ohne die aeusserlichen
Zeichen der koeniglichen Wuerde zu tragen, so unumschraenkt in dem freien
Athen, als Artaxerxes in dem untertaenigen Asien. Seine Talente, und die
Kuenste die er von der schoenen Aspasia gelernt hatte, erwarben ihm eine Art
von Oberherrschaft, die nur desto unumschraenkter war, da sie ihm
freiwillig zugestanden wurde; die Kunst eine grosse Meinung von sich zu
erwecken, die Kunst zu ueberreden, die Kunst von der Eitelkeit der
Athenienser Vorteil zu ziehen und ihre Leidenschaften zu lenken; diese
machten seine ganze Regierungskunst aus. Er verwickelte die Republik in
ungerechte und unglueckliche Kriege, er erschoepfte die oeffentliche
Schatzkammer, er erbitterte die Bundsgenossen durch gewaltsame
Erpressungen; und damit das Volk keine Zeit haette, eine so schoene
Staats-Verwaltung genauer zu beobachten, so bauete er Schauspielhaeuser,
gab ihnen schoene Statuen und Gemaelde zu sehen, unterhielt sie mit
Taenzerinnen und Virtuosen, und gewoehnte sie so sehr an diese abwechselnden
Ergoetzungen, dass die Vorstellung eines neuen Stuecks, oder der Wettstreit
unter etlichen Floetenspielern zuletzt Staats-Angelegenheiten wurden, ueber
welchen man diejenigen vergass die es in der Tat waren. Hundert Jahre
frueher wuerde man einen Perikles fuer eine Pest der Republik angesehen haben;
allein damals wuerde Perikles ein Aristides gewesen sein. In der Zeit
worin er lebte, war Perikles, so wie er war, der groesste Mann der Republik;
der Mann der Athen zu dem hoechsten Grade der Macht und des Glanzes erhub,
den es zu erreichen faehig war; der Mann, dessen Zeit als das goldne Alter
der Musen in allen kuenftigen Jahrhunderten angezogen werden wird; und, was
fuer ihn selbst das interessanteste war, der Mann, fuer den die Natur die
Euripiden und Aristophane, die Phidias, die Zeuxes, die Damonen, und die
Aspasien zusammen brachte, um sein Privatleben so angenehm zu machen, als
sein oeffentliches Leben glaenzend war. Die Kunst ueber die Einbildungskraft
der Menschen zu herrschen, die geheimen, ihnen selbst verborgnen
Triebfedern ihrer Bewegungen nach unserm Gefallen zu lenken, und sie zu
Werkzeugen unsrer Absichten zu machen, indem wir sie in der Meinung
erhalten, dass wir es von den ihrigen sind, ist also, ohne Zweifel,
diejenige, die ihrem Besitzer am nuetzlichsten ist, und dieses ist die
Kunst welche die Sophisten lehren und ausueben; die Kunst, welcher sie das
Ansehen, die Unabhaenglichkeit und die gluecklichen Tage, deren sie geniessen,
zu danken haben. Du kannst dir leicht vorstellen, Callias, dass sie sich
in etlichen Stunden weder lehren noch lernen laesst; allein meine Absicht
ist auch fuer itzt nur, dir ueberhaupt einen Begriff davon zu geben.
Dasjenige, was man die Weisheit der Sophisten nennt, ist die
Geschicklichkeit sich der Menschen so zu bedienen, dass sie geneigt sind,
unser Vergnuegen zu befoerdern, oder ueberhaupt die Werkzeuge unsrer
Absichten zu sein. Die Beredsamkeit, welche diesen Namen erst alsdann
verdient, wenn sie im Stand ist, die Zuhoerer, wer sie auch sein moegen, von
allem zu ueberreden, was wir wollen, und in jeden Grad einer jeden
Leidenschaft zu setzen, die zu unsrer Absicht noetig ist; eine solche
Beredsamkeit ist unstreitig ein unentbehrliches Werkzeug, und das
vornehmste wodurch die Sophisten diesen Zweck erreichen. Die Grammatici
bemuehen sich, junge Leute zu Rednern zu bilden; die Sophisten tun mehr,
sie lehren sie ueberreder zu werden, wenn mir dieses Wort erlaubt ist.
Hierin allein besteht das Erhabne einer Kunst, die vielleicht noch niemand
in dem Grade besessen hat, wie Alcibiades, der in unsern Zeiten so viel
Aufsehens gemacht hat. Der Weise bedient sich dieser ueberredungs-Gabe nur
als eines Werkzeugs zu hoehern Absichten. Alcibiades ueberlaesst es einem
Antiphon, sich mit Ausfeilung einer kuenstlichgesetzten Rede zu bemuehen; er
ueberredet indessen seine Landsleute, dass ein so liebenswuerdiger Mann wie
Alcibiades das Recht habe zu tun, was ihm einfalle; er ueberredet die
Spartaner zu vergessen, dass er ihr Feind gewesen, und dass er es bei der
ersten Gelegenheit wieder sein wird; er ueberredet die Koenigin Timea, dass
sie ihn bei sich schlafen lasse, und die Satrapen des grossen Koenigs, dass
er ihnen die Athenienser zu eben der Zeit verraten wolle, da er die
Athenienser ueberredet, dass sie ihm Unrecht tun, ihn fuer einen Verraeter zu
halten. Diese ueberredungskraft setzt die Geschicklichkeit voraus, jede
Gestalt anzunehmen, wodurch wir demjenigen gefaellig werden koennen, auf den
wir Absichten haben; die Geschicklichkeit, sich der verborgensten Zugaenge
seines Herzens zu versichern, seine Leidenschaften, je nachdem wir es
noetig finden, zu erregen, zu liebkosen, eine durch die andre zu verstaerken,
oder zu schwaechen, oder gar zu unterdrucken; sie erfodert eine
Gefaelligkeit, die von den Sittenlehrern Schmeichelei genennt wird, aber
diesen Namen nur alsdann verdient, wenn sie von den Gnathonen die um die
Tafeln der Reichen sumsen, nachgeaeffet wird,--eine Gefaelligkeit, die aus
einer tiefen Kenntnis der Menschen entspringt, und das Gegenteil von der
laecherlichen Sproedigkeit gewisser Phantasten ist, die den Menschen uebel
nehmen, dass sie anders sind, als wie diese ungebetenen Gesetzgeber es
haben wollen; kurz, diejenige Gefaelligkeit ohne welche es vielleicht
moeglich ist, die Hochachtung, aber niemals die Liebe der Menschen zu
erlangen; weil wir nur diejenigen lieben koennen, die uns aehnlich sind, die
unsern Geschmack haben oder zu haben scheinen, und so eifrig sind, unser
Vergnuegen zu befoerdern, dass sie hierin die Aspasia von Milet zum Muster
nehmen, welche sich bis ans Ende in der Gunst des Perikles erhielt, indem
sie in demjenigen Alter, worin man die Seele der Damen zu lieben pflegt,
sich in die Grenzen der Platonischen Liebe zurueckzog, und die Rolle des
Koerpers durch andre spielen liess. Ich lese in deinen Augen Callias, was
du gegen diese Kuenste einzuwenden hast, die sich so uebel mit den
Vorurteilen vertragen, die du gewohnt bist fuer Grundsaetze zu halten. Es
ist wahr, die Kunst zu leben, welche die Sophisten lehren, ist auf ganz
andre Begriffe von dem, was in sittlichem Verstande schoen und gut ist
gebaut, als diejenigen hegen, die von dem idealischen Schoenen, und von
einer gewissen Tugend, die ihr eigner Lohn sein soll, so viel schoene Dinge
zu sagen wissen. Allein, wenn du noch nicht muede bist mir zuzuhoeren, als
ich es bin zu schwatzen; so denke ich, dass es nicht schwer sein werde dich
zu ueberzeugen, dass das idealische Schoene und die idealische Tugend mit
jenen Geistermaerchen, wovon wir erst gesprochen haben, in die naemliche
Klasse gehoeren."




FUeNFTES KAPITEL

Der Anti-Platonismus in Nuce


"Was ist das Schoene? Was ist das Gute? Eh wir diese Fragen beantworten
koennen, muessen wir, deucht mich, vorher fragen: Was ist das, was die
Menschen schoen und gut nennen? Wir wollen vom Schoenen den Anfang machen.
Was fuer eine unendliche Verschiedenheit in den Begriffen, die man sich bei
den verschiedenen Voelkern des Erdbodens von der Schoenheit macht! Alle
Welt kommt darin ueberein, dass ein schoenes Weib das schoenste unter allen
Werken der Natur sei. Allein wie muss sie sein, um fuer eine vollkommne
Schoenheit in ihrer Art gehalten zu werden? Hier faengt der Widerspruch an.
Stelle dir eine Versammlung von so vielen Liebhabern vor, als es
verschiedne Nationen unter verschiednen Himmelsstrichen gibt; was ist
gewisser, als dass ein jeder den Vorzug seiner Geliebten vor den uebrigen
behaupten wird? Der Europaeer wird die blendende weisse, der Mohr die
rabengleiche Schwaerze der seinigen vorziehen; der Grieche wird einen
kleinen Mund, eine Brust, die mit der hohlen Hand bedeckt werden kann, und
das angenehme Ebenmass einer feinen Gestalt; der Africaner wird die
eingedrueckte Nase, und die aufgeschwollnen dickroten Lippen; der Persianer
die grossen Augen und den schlanken Wuchs, der Serer, die kleinen Augen,
die Kegelrunde dicke und winzigen Fuesse an der seinigen bezaubernd finden.
Hat es mit dem Schoenen in sittlichen Verstande, mit dem was sich geziemt,
eine andre Bewandtnis? Die Spartanischen Toechter scheuen sich nicht, in
einem Aufzug gesehen zu werden, wodurch in Athen die geringste oeffentliche
Metze sich entehrt hielte. In Persien wuerd' ein Frauenzimmer, das an
einem oeffentlichen Orte sein Gesicht entbloesste, eben so angesehen, als in
Smyrna eine die sich nackend sehen liesse. Bei den morgenlaendischen
Voelkern erfodert der Wohlstand eine Menge von Beugungen und untertaenigen
Gebaerden, die man gegen diejenigen macht, die man ehren will; bei den
Griechen wuerde diese Hoeflichkeit fuer eben so schaendlich und sklavenmaessig
gehalten werden, als die attische Politesse zu Persepolis grob und
baeurisch scheinen wuerde. Bei den Griechen hat eine freigeborne ihre Ehre
verloren, die sich den jungfraeulichen Guertel von einem andern, als ihrem
Manne aufloesen laesst; bei gewissen Voelkern die jenseits des Ganges wohnen,
ist ein Maedchen desto vorzueglicher, je mehr es Liebhaber gehabt hat, die
seine Reizungen aus Erfahrung anzuruehmen wissen. Diese Verschiedenheit
der Begriffe vom sittlichen Schoenen zeigt sich nicht nur in besondern
Gebraeuchen und Gewohnheiten verschiedner Voelker, wovon sich die Beispiele
ins Unendliche haeufen liessen; sondern selbst in dem Begriff, den sie sich
ueberhaupt von der Tugend machen. Bei den Roemern ist Tugend und Tapferkeit
einerlei; bei den Atheniensern schliesst dieses Wort alle Arten von
nuetzlichen und angenehmen Eigenschaften in sich. Zu Sparta kennt man
keine andre Tugend als den Gehorsam gegen die Gesetze; in despotischen
Reichen keine andre, als die sklavische Untertaenigkeit gegen den Monarchen
und seine Satrapen; am caspischen Meere ist der tugenhafteste der am
besten rauben kann, und die meisten Feinde erschlagen hat; und in dem
waermsten Striche von Indien hat nur der die hoechste Tugend erreicht, der
sich durch eine voellige Untaetigkeit, ihrer Meinung nach, den Goettern
aehnlich macht. Was folget nun aus allen diesen Beispielen? Ist nichts an
sich selbst schoen oder recht? Gibt es kein gewisses Modell, wornach
dasjenige, was schoen oder sittlich ist, beurteilt werden muss? Wir wollen
sehen. Wenn ein solches Modell ist, so muss es in der Natur sein. Denn es
waere Torheit, sich einzubilden, dass ein Pygmalion eine Bildsaeule schnitzen
koenne, welche schoener sei als Phryne, die kuehn genug war, bei den
Olympischen Spielen, in eben dem Aufzug worin die drei Goettinnen um den
Preis der Schoenheit stritten, das ganze Griechenland zum Richter ueber die
ihrige zu machen. Die Venus eines jeden Volks ist nichts anders als die
Abbildung eines Weibes, die bei einer allgemeinen Versammlung dieses Volks
fuer diejenige erklaert wuerde, bei der sich die National-Schoenheit im
hoechsten Grade befinde. Allein welches unter so vielerlei Modellen ist
denn an sich selbst das schoenste? Der Grieche wird fuer seine
rosenwangichte, der Mohr fuer seine rabenschwarze, der Perser fuer seine
schlanke, und der Serer fuer seine runde Venus mit dem dreifachen Kinn
streiten. Wer soll den Ausschlag geben? Wir wollen es versuchen.
Gesetzt, es wuerde eine allgemeine Versammlung angestellt, wozu eine jede
Nation den schoensten Mann und das schoenste Weib, nach ihrem
National-Modell zu urteilen, geschickt haetten; und wo die Weiber zu
entscheiden haetten, welcher unter allen diesen Mitwerbern um den Preis der
Schoenheit der schoenste Mann, und die Maenner, welche unter allen das
schoenste Weib waere: Ich sage also, man wuerde gar bald diejenigen aus allen
uebrigen aussondern, die unter diesen milden und gemaessigten Himmelsstrichen
geboren worden, wo die Natur allen ihren Werken ein feineres Ebenmass der
Gestalt, und eine angenehmere Mischung der Farben zu geben pflegt. Denn
die vorzuegliche Schoenheit der Natur in den gemaessigten Zonen erstreckt sich
vom Menschen bis auf die Pflanzen. Unter diesen Auserlesnen von beiden
Geschlechtern wuerde vielleicht der Vorzug lange zweifelhaft sein; allein
endlich wuerde doch unter den Maennern derjenige den Preis erhalten, bei
dessen Landesleuten die verschiednen gymnastischen uebungen am staerksten,
und Verhaeltnisweise in dem hoechsten Grade der Vollkommenheit getrieben
wuerden; und alle Maenner wuerden mit einer Stimme diejenige fuer die schoenste
unter den Schoenen erklaeren, die von einem Volke abgeschickt worden,
welches bei der Erziehung der Toechter die moeglichste Entwicklung und
Kultur der natuerlichen Schoenheit zur Hauptsache machte. Der Spartaner
wuerde also vermutlich fuer den schoensten Mann, und die Perserin fuer das
schoenste Weib erklaert werden. Der Grieche, welcher der Anmut den Vorzug
vor der Schoenheit gibt, weil die griechischen Weiber mehr reizend als
schoen sind, wuerde nichts desto weniger zu eben der Zeit, da sein Herz
einem Maedchen von Paphos oder Milet den Vorzug gaebe, bekennen muessen, dass
die Perserin schoener sei; und eben dieses wuerde der Serer tun, ob er
gleich das dreifache Kinn und den Wanst seiner Landsmaennin reizender
finden wuerde.--Lass uns zu dem sittlichen Schoenen fortgehen. So gross auch
hierin die Verschiedenheit der Begriffe unter verschiednen Zonen ist, so
wird doch schwerlich geleugnet werden koennen, dass die Sitten derjenigen
Nation, welche die geistreichste, die munterste, die geselligste, die
angenehmste ist, den Vorzug der Schoenheit haben. Die ungezwungne und
einnehmende Hoeflichkeit des Atheniensers muss einem jeden Fremden
angenehmer sein, als die abgemessene, ernsthafte und zeremonienvolle
Hoeflichkeit der Morgenlaender; das verbindliche Wesen, der Schein von
Leutseligkeit, so der erste seinen kleinsten Handlungen zu geben weiss, muss
vor dem steifen Ernst des Persers, oder der rauhen Gutherzigkeit des
Scythen eben so sehr den Vorzug erhalten, als der Putz einer Dame von
Smyrna, der die Schoenheit weder ganz verhuellt, noch ganz den Augen preis
gibt, vor der Vermummung der Morgenlaenderin oder der tierischen Bloesse
einer Wilden. Das Muster der aufgeklaertesten und geselligsten Nation
scheint also die wahre Regul des sittlichen Schoenen, oder des Anstaendigen
zu sein, und Athen und Smyrna sind die Schulen, worin man seinen Geschmack
und seine Sitten bilden muss. Allein nachdem wir eine Regul fuer das Schoene
gefunden haben, was fuer eine werden wir fuer das, was Recht ist finden?
wovon so verschiedene und widersprechende Begriffe unter den Menschen
herrschen, dass eben dieselbe Handlung, die bei dem einen Volke mit
Lorbeerkraenzen und Statuen belohnt wird, bei der andern eine schmaehliche
Todesstrafe verdient; und dass kaum ein Laster ist, welches nicht irgendwo
seinen Altar und seinen Priester habe. Es ist wahr, die Gesetze sind bei
dem Volke, welchem sie gegeben sind, die Richtschnur des Rechts und
Unrechts; allein was bei diesem Volk durch das Gesetz befohlen wird, wird
bei einem andern durch das Gesetz verboten. Die Frage ist also: Gibt es
nicht ein allgemeines Gesetz, welches bestimmt, was an sich selbst Recht
ist? Ich antworte ja, und dieses allgemeine Gesetz kann kein andres sein,
als die Stimme der Natur, die zu einem jeden spricht: Suche dein Bestes;
oder mit andern Worten: Befriedige deine natuerliche Begierden, und geniesse
so viel Vergnuegen als du kannst. Dieses ist das einzige Gesetz, das die
Natur dem Menschen gegeben hat; und so lang er sich im Stande der Natur
befindet, ist das Recht, das er an alles hat, was seine Begierden
verlangen, oder was ihm gut ist, durch nichts anders als das Mass seiner
Staerke eingeschraenkt; er darf alles, was er kann, und ist keinem andern
nichts schuldig. Allein der Stand der Gesellschaft, welcher eine Anzahl
von Menschen zu ihrem gemeinschaftlichen Besten vereiniget, setzt zu jenem
einzigen Gesetz der Natur, suche dein eignes Bestes, die Einschraenkung,
ohne einem andern zu schaden. Wie also im Stande der Natur einem jeden
Menschen alles recht ist, was ihm nuetzlich ist; so erklaert im Stande der
Gesellschaft das Gesetz alles fuer unrecht und strafwuerdig, was der
Gesellschaft schaedlich ist, und verbindet hingegen die Vorstellung eines
Vorzugs und belohnungswuerdigen Verdienstes mit allen Handlungen, wodurch
der Nutzen oder das Vergnuegen der Gesellschaft befoerdert wird. Die
Begriffe von Tugend und Laster gruenden sich also eines Teils auf den
Vertrag den eine gewisse Gesellschaft unter sich gemacht hat, und in so
ferne sind sie willkuerlich; andern Teils auf dasjenige, was einem jeden
Volke nuetzlich oder schaedlich ist; und daher kommt es, dass ein so grosser
Widerspruch unter den Gesetzen verschiedner Nationen herrschet. Das Klima,
die Lage, die Regierungsform, die Religion, das eigne Temperament und der
National-Charakter eines jeden Volks, seine Lebensart, seine Staerke oder
Schwaeche, seine Armut oder sein Reichtum, bestimmen seine Begriffe von dem,
was ihm gut oder schaedlich ist; daher diese unendliche Verschiedenheit
des Rechts oder Unrechts unter den policiertesten Nationen; daher der
Kontrast der Moral der gluehenden Zonen mit der Moral der kalten Laender,
der Moral der freien Staaten mit der Moral der despotischen Reiche; der
Moral einer armen Republik, welche nur durch den kriegerischen Geist
gewinnen kann, mit der Moral einer reichen, die ihren Wohlstand dem Geist
der Handelschaft und dem Frieden zu danken hat; daher endlich die
Albernheit der Moralisten, welche sich den Kopf zerbrechen, um zu
bestimmen, was fuer alle Nationen recht sei, ehe sie die Aufloesung der
Aufgabe gefunden haben, wie man machen koenne, dass eben dasselbe fuer alle
Nationen gleich nuetzlich sei.


Die Sophisten, deren Sittenlehre sich nicht auf abstrakte Ideen, sondern
auf die Natur und wirkliche Beschaffenheit der Dinge gruendet, finden die
Menschen an einem jeden Ort, so, wie sie sein koennen. Sie schaetzen einen
Staatsmann zu Athen, an sich selbst, nicht hoeher als einen Gaukler zu
Persepolis, und eine ehrbare Matrone von Sparta ist in ihren Augen kein
vortrefflicheres Wesen als eine Lais zu Corinth. Es ist wahr, der Gaukler
wuerde zu Athen, und die Lais zu Sparta schaedlich sein; allein ein
Aristides wuerde zu Persepolis, und eine Spartanerin zu Corinth wo nicht
eben so schaedlich, doch wenigstens ganz unnuetzlich sein. Die Idealisten,
wie ich diese Philosophen zu nennen pflege, welche die Welt nach ihren
Ideen umschmelzen wollen, bilden ihre Lehrjuenger zu Menschen, die man
nirgends fuer einheimisch erkennen kann, weil ihre Moral eine Gesetzgebung
voraussetzt, welche nirgends vorhanden ist. Sie bleiben arm und
ungeachtet, weil ein Volk nur demjenigen Hochachtung und Belohnung
zuerkennt, der seinen Nutzen befoerdert oder doch zu befoerdern scheint; ja
sie werden als Verderber der Jugend, und als heimliche Feinde der
Gesellschaft angesehen, und die Landesverweisung oder der Giftbecher ist
zuletzt alles, was sie fuer die undankbare Bemuehung davon tragen, die
Menschen zu entkoerpern, um sie in die Klasse der idealischen Wesen, der
mathematischen Punkte, Linien und Dreiecke zu erhoehen. Klueger, als diese
eingebildeten Weisen, die, wie jener Floetenspieler von Aspondus, nur fuer
sich selbst singen, ueberlassen die Sophisten den Gesetzen eines jeden
Volks ihre Buerger zu lehren, was Recht oder Unrecht sei. Da sie selbst zu
keinem besondern Staatskoerper gehoeren, so geniessen sie die Vorrechte eines
Weltbuergers, und indem sie den Gesetzen und der Religion eines jeden
Volkes bei dem sie sich befinden, eine aeusserliche Achtung bezeugen,
wodurch sie vor allen Ungelegenheiten mit den Handhabern derselben
gesichert werden; so erkennen und befolgen sie doch in der Tat kein andres
als jenes allgemeine Gesetz der Natur, welches dem Menschen sein eignes
Bestes zur einzigen Richtschnur gibt. Alles wodurch ihre natuerliche
Freiheit eingeschraenkt wird, ist die Beobachtung einer nuetzlichen Klugheit,
die ihnen vorschreibt ihren Handlungen die Farbe, den Schnitt und die
Auszierung zu geben, wodurch sie denjenigen, mit welchen sie zu tun haben,
am gefaelligsten werden. Das moralische Schoene ist fuer unsre Handlungen
eben das, was der Putz fuer unsern Leib; und es ist eben so noetig, seine
Auffuehrung nach den Vorurteilen und dem Geschmack derjenigen zu modeln,
mit denen man lebt, als es noetig ist sich so zu kleiden wie sie. Ein
Mensch, der nach einem gewissen besondern Modell gebildet worden, sollte,
wie die wandelnden Bildsaeulen des Daedalus, an seinen vaeterlichen Boden
angefesselt werden; denn er ist nirgends an seinem Platz als unter seines
gleichen. Ein Spartaner wuerde sich nicht besser schicken, die Rolle eines
obersten Sklaven des Artaxerxes zu spielen, als ein Sarmater sich schickte
Polemarchus zu Athen zu sein. Der Weise hingegen ist der allgemeine
Mensch, der Mensch, dem alle Farben, alle Umstaende, alle Verfassungen und
Stellungen anstehen, und er ist es eben darum, weil er keine besondre
Vorurteile und Leidenschaften hat, weil er nichts als ein Mensch ist. Er
gefaellt allenthalben, weil er, wohin er kommt, sich die Vorurteile und
Torheiten gefallen laesst, die er antrifft. Wie sollte er nicht geliebt
werden, er, der immer bereit ist sich fuer die Vorteile andrer zu beeifern,
ihre Begriffe zu billigen, ihren Leidenschaften zu schmeicheln? Er weiss,
dass die Menschen von nichts ueberzeugter sind, als von ihren Irrtuemern, und
nichts zaertlicher lieben als ihre Fehler; und dass es kein gewisseres
Mittel gibt sich ihren Abscheu zuzuziehen, als wenn man ihnen eine
Wahrheit entdeckt, die sie nicht wissen wollen. Weit entfernt also,
ihnen die Augen wider ihren Willen zu eroeffnen, oder ihnen einen Spiegel
vorzuhalten, der ihnen ihre Haesslichkeit vorrueckte, bestaerkt er den Toren
in dem Gedanken, dass nichts abgeschmackter sei als Verstand haben, den
Verschwender in dem Wahn, dass er grossmuetig, den Knicker in den Gedanken,
dass er ein guter Haushalter, die Haessliche in der suessen Einbildung, dass sie
desto geistreicher, und den Reichen in der ueberredung, dass er ein
Staatsmann, ein Gelehrter, ein Held, ein Goenner der Musen und ein Liebling
der Damen sei. Er bewundert das System des Philosophen, die einbildische
Unwissenheit des Hofmanns, und die grossen Taten des Generals; er gestehet
dem Tanzmeister ohne Widerrede zu, dass Cimon der groesste Mann in
Griechenland gewesen waere, wenn er die Fuesse besser zu setzen gewusst haette;
und dem Maler, dass man mehr Genie braucht, ein Zeuxes als ein Homer zu
sein. Diese Art mit den Menschen umzugehen, ist von unendlich groesserm
Vorteil als man beim ersten Anblick denken moechte. Sie erwirbt ihm ihre
Liebe, ihr Zutrauen, und eine desto groessere Meinung von seinen Verdienste,
je groesser diejenige ist, die er von den ihrigen zu haben scheint. Sie ist
das gewisseste Mittel, zu den hoechsten Stufen des Gluecks empor zu steigen.
Meinest du, dass es allein die groessten Talente, die vorzueglichsten
Verdienste seien, die einen Archonten, einen Heerfuehrer, einen Satrapen,
oder den Guenstling eines Fuersten machen? Siehe dich in den Republiken um;
du wirst finden, dass dieser sein Ansehen der laechelnden Miene zu danken
hat, womit er die Buerger gruesst; ein andrer der emphatischen Peripherie
seines Wanstes; ein dritter der Schoenheit seiner Gemahlin, und ein vierter
seiner bruellenden Stimme. Gehe an die Hoefe, du wirst Leute finden, welche
das Glueck, worin sie schimmern, der Empfehlung eines Kammerdieners, der
Gunst einer Dame, die sich fuer ihre Talente verbuergt hat, oder der Gabe
des Schlafs schuldig sind, womit sie befallen werden, wenn der Vezier mit
ihren Weibern scherzt. Nichts ist in diesem Lande der Bezauberungen
gewoehnlicher, als einen unbaertigen Knaben in einen General, einen
Pantomimen in einen Staatsminister, einen Kuppler in einen Oberpriester
verwandelt zu sehen; ein Mensch ohne alle Verdienste kann oft durch ein
einziges Talent, und wenn es auch nur das Talent eines Esels waere, zu
einem Gluecke gelangen, das ein andrer durch die groessten Verdienste
vergeblich zu erhalten gesucht hat. Wer koennte demnach zweifeln, dass die
Kunst der Sophisten nicht faehig sein sollte, ihrem Besitzer auf diese oder
jene Art die Gunst des Glueckes zu verschaffen? Vorausgesetzt, dass er die
natuerlichen Gaben besitze, ohne welche der Mann von Verstand in der Welt
allezeit dem Narren Platz machen muss, der damit versehen ist. Allein
selbst auf dem Wege der Verdienste ist niemand gewisser sein Glueck zu
machen, als ein Sophist. Wo ist der Platz, den er nicht mit Ruhm
bekleiden wird? Wer ist geschickter die Menschen zu regieren als
derjenige, der am besten mit ihnen umzugehen weiss? Wer schickt sich
besser zu oeffentlichen Unterhandlungen? Wer ist faehiger der Ratgeber
eines Fuersten zu sein? Ja, wofern er nur das Glueck auf seiner Seite hat,
wer wird mit groesserm Ruhm ein Kriegsheer anfuehren als er? Wer wird die
Kunst besser verstehen, sich fuer die Geschicklichkeit und die Verdienste
seiner Subalternen belohnen zu lassen? Wer wird die Vorsicht, die er
nicht gehabt, die klugen Anstalten, die er nicht gemacht, die Wunden, die
er nicht bekommen hat, besser gelten zu machen wissen, als er?

Doch es ist Zeit einen Diskurs zu enden, der fuer beide ermuedend zu werden
anfangt. Ich habe dir genug gesagt, um den Zauber zu vernichten, den die
Schwaermerei auf deine Seele gelegt hat; und wenn dieses nicht genug ist,
so wuerde alles ueberfluessig sein was ich sagen koennte. Glaube uebrigens
nicht, Callias, dass der Orden der Sophisten einen unansehnlichen Teil der
menschlichen Gesellschaft ausmache. Die Anzahl derjenigen die unsre Kunst
ausueben, ist in allen Staenden sehr betraechtlich, und du wirst unter denen
die ein grosses Glueck gemacht haben, schwerlich einen einzigen finden, der
es nicht einer geschickten Anwendung unsrer Grundsaetze zu danken habe.
Diese Grundsaetze machen die gewoehnliche Denkungsart der Hofleute, der
Leute die sich dem Dienste der Grossen gewidmet haben, und ueberhaupt
derjenigen Klasse von Menschen aus, die an jedem Orte die edelsten und
angesehensten sind, und (die wenigen Faelle ausgenommen, wo das spielende
Glueck durch einen blinden Wurf einen Narren an den Platz eines klugen
Menschen fallen laesst) sind die geschickten Koepfe, die von diesen Maximen
den besten Gebrauch zu machen wissen, allezeit diejenigen, die es auf der
Bahn der Ehre und des Gluecks am weitesten bringen."




SECHSTES KAPITEL

Ungelehrigkeit des Agathon


Hippias konnte sich wohl berechtiget halten, einigen Dank bei seinem
Lehrjuenger verdient zu haben, da er sich so viele Muehe gegeben hatte, ihn
weise zu machen. Allein wir muessen es nur gestehen, er hatte es mit einem
Menschen zu tun, der nicht faehig war, die Wichtigkeit dieses Dienstes
einzusehen, oder die Schoenheit eines Systems zu empfinden, welches seinen
vermeinten Empfindungen so zuwider war. Seine Erwartung wurde also nicht
wenig betrogen, als Agathon, wie er sah, dass der weise Hippias zu reden
aufgehoert hatte, ihm diese kurze Antwort gab: "Du hast eine schoene Rede
gehalten, Hippias; deine Beobachtungen sind sehr fein, deine Schluesse sehr
buendig, deine Maximen sehr praktisch, und ich zweifle nicht, dass der Weg,
den du mir vorgezeichnet hast, zu der Glueckseligkeit wuerklich fuehre, deren
Vorzuege vor meiner Art gluecklich zu sein, du in ein so helles Licht
gesetzt. Dem ungeachtet empfinde ich nicht die mindeste Lust so gluecklich
zu sein, und wenn ich mich anders recht kenne, so werde ich schwerlich
eher ein Sophist werden, bis du deine Taenzerinnen entlaessest, dein Haus zu
einem oeffentlichen Tempel der Diana widmest, und nach Indien ziehst, ein
Bramine zu werden." Hippias lachte ueber diese Antwort, ohne dass sie ihm
desto besser gefiel. "Und was hast du gegen mein System einzuwenden?"
fragte er. "Dass es mich nicht ueberzeugt", erwiderte Agathon. "Und warum
nicht?" "Weil meine Erfahrung und Empfindung deinen Schluessen
widerspricht." "Ich moechte wohl wissen, was dieses fuer Erfahrungen und
Empfindungen sind, die demjenigen widersprechen, was alle Welt erfaehrt und
empfindt." "Du wuerdest beweisen, dass es Schimaeren sind." "Und wenn ich
es bewiesen haette?" "Du wuerdest es nur dir beweisen, Hippias; du wuerdest
nichts beweisen, als dass du nicht Callias bist." "Aber die Frage ist, ob
Hippias oder Callias richtig denkt?" "Wer soll Richter sein?" "Das ganze
menschliche Geschlecht." "Was wuerde das wider mich beweisen?" "Sehr viel.
Wenn zehen Millionen Menschen urteilen, dass zween oder drei aus ihrem
Mittel Narren sind, so sind sie es; das ist unleugbar." "Aber wie, wenn
die zehen Millionen, deren Ausspruch dir so entscheidend vorkommt, zehn
Millionen Toren waeren, und die drei waeren klug?" "Wie muesste das zugehen?"
"Koennen nicht zehn Millionen die Pest haben, und Sokrates allein gesund
herum gehen?" "Diese Instanz beweist nichts fuer dich. Ein Volk hat nicht
immer die Pest; Allein die zehn Millionen denken immer so wie ich. Sie
sind also in ihrem natuerlichen Zustande, wenn sie so denken; und wer
anders denkt, gehoert folglich entweder zu einer andern Gattung von Wesen,
oder zu den Wesen, die man Toren nennt." "So ergeb ich mich in mein
Schicksal." "Es gibt noch eine Alternative, junger Mensch. Du schaemest
dich, entweder deine Gedanken so schnell zu veraendern, oder du bist ein
Heuchler." "Keines von beiden, Hippias." "Leugne mir zum Exempel, wenn
du kannst, dass dir die schoene Cyane, die uns beim Fruehstueck bediente,
Begierden eingefloesst hat, und dass du verstohlne Blicke -" "Ich leugne
nichts." "So gestehe, dass das Anschauen dieser runden schneeweissen Arme,
dieses aus der flatternden Seide hervoratmenden Busens, die Begierde in
dir erregt, ihrer zu geniessen." "Ist das Anschauen kein Genuss?" "Keine
Ausfluechte, junger Mensch!" "Du betruegst dich, Hippias, wenn es erlaubt
ist einem Weisen das zu sagen; ich bedarf keiner Ausfluechte. Ich mache
nur einen Unterschied zwischen einem mechanischen Instinkt, der nicht
gaenzlich von mir abhaengt, und dem Willen meiner Seele. Ich habe den
Willen nicht gehabt, dessen du mich beschuldigest." "Ich beschuldige dich
nichts, als dass du meiner spottest. Ich denke, dass ich die Natur kennen
sollte. Die Schwaermerei kann in deinen Jahren keine so unheilbare
Krankheit sein, dass sie wider die Reizung des Vergnuegens sollte aushalten
koennen." "Deswegen vermeide ich die Gelegenheiten." "Du gestehest also,
dass Cyane reizend ist?" "Sehr reizend." "Und dass ihr Genuss ein Vergnuegen
waere?" "Vermutlich." "Warum quaelest du dich dann, dir ein Vergnuegen zu
versagen, das in deiner Gewalt ist." "Weil ich mich dadurch vieler andern
Vergnuegen berauben wuerde, die ich hoeher schaetze." "Kann man in deinem
Alter so sehr ein Neuling sein? Was fuer Vergnuegen, die allen uebrigen
Menschen unbekannt sind, hat die Natur fuer dich allein aufbehalten? Wenn
du noch groessere kennest als dieses,--doch ich merke dich. Du wirst mir
wieder von den Vergnuegungen der Geister, von Nektar und Ambrosia sprechen;
aber wir spielen itzt keine Komoedie, mein Freund. Die Erscheinung einer
Cyane in einem von den Gebueschen meiner Gaerten wuerde faehig sein, so gar
deinen Geistern Koerper zu geben." "Hippias, ich rede wie ich denke. Ich
kenne Vergnuegen, die ich hoeher schaetze als diejenigen, die der Mensch mit
den Tieren gemein hat." "Zum Exempel?" "Das Vergnuegen eine gute Handlung
zu tun." "Was nennest du eine gute Handlung?" "Eine Handlung, wodurch
ich, mit einiger Anstrengung meiner Kraefte, oder Aufopferung eines
Vorteils oder Vergnuegens, andrer Bestes befoerdere." "Du bist also toericht
genug zu glauben, dass du andern mehr schuldig seiest, als dir selbst?"
"Das nicht; sondern ich finde fuer gut, ein geringeres Vergnuegen dem
groessern aufzuopfern, welches ich alsdann geniesse, wenn ich das Glueck
meiner Nebengeschoepfe befoerdern kann." "Du bist sehr dienstfertig;
gesetzt aber es sei so, wie haengt dieses mit demjenigen zusammen, wovon
itzt die Rede ist?" "Das ist leicht zu sehen. Gesetzt, ich ueberliesse
mich den Eindruecken, welche die Reizungen der schoenen Cyane auf mich
machen koennten; gesetzt, sie liebte mich, und liesse mich alles erfahren,
was die Wollust berauschendes hat; eine Verbindung von dieser Art koennte
von keiner langen Dauer sein;" "aber wuerden die Erinnerungen der genossnen
Freuden nicht die Begierde erwecken, sie wieder zu geniessen? Eine neue
Cyane"--"wuerde mir wieder gleichgueltig werden, und eben diese Begierden
zurueck lassen." "Eine immerwaehrende Abwechslung ist also hierin, wie du
siehst, das Gesetz der Natur." "Aber auf diese Art wuerde ichs gar bald so
weit bringen, keiner Begierde widerstehen zu koennen." "Wozu brauchst du
zu widerstehen, so lange deine Begierden in den Schranken der Natur und
der Maessigung bleiben?" "Wie aber, wenn endlich das Weib meines Freundes,
oder welche es sonst waere, die der ehrwuerdige Name einer Mutter gegen den
blossen Gedanken eines unkeuschen Anfalls sicher stellen soll; oder wie,
wenn die unschuldige Jugend einer Tochter, die vielleicht kein andres
Heuratsgut als ihre Unschuld und Schoenheit hat; der Gegenstand dieser
Begierden wuerde, ueber die ich durch so vieles Nachgeben alle Gewalt
verloren haette?" "So haettest du dich in Griechenland wenigstens vor den
Gesetzen vorzusehen. Allein was muesste das fuer ein Hirn sein, das in
solchen Umstaenden kein Mittel ausfuendig machen koennte, seine Leidenschaft
zu vergnuegen, ohne sich mit den Gesetzen abzuwerfen? Ich sehe, du kennest
die Damen zu Athen und Sparta nicht." "O! was das betrifft, ich kenne so
gar die Priesterinnen zu Delphi. Aber ists moeglich, dass du im Ernste
gesprochen hast?" "Ich habe nach meinen Grundsaetzen gesprochen. Die
Gesetze haben in gewissen Staaten, (denn es gibt einige, wo sie mehr
Nachsicht haben) noetig gefunden, unser natuerliches Recht an eine jede, die
unsre Begierden erregt, einzuschraenken. Allein da dieses nur geschah, um
gewisse Ungelegenheiten zu verhindern, die aus dem ungescheuten Gebrauch
jenes Rechts in solchen Staaten zu besorgen waeren, so siehst du, dass der
Geist und die Absicht des Gesetzes nicht verletzt wird, wenn man
vorsichtig genug ist zu den Ausnahmen die man davon macht keine Zeugen zu
nehmen" "O Hippias!" rief Agathon hier aus, "ich habe dich, wohin ich
dich bringen wollte. Du siehest die Folgen deiner Grundsaetze. Wenn alles
an sich selbst recht ist, was meine Begierden wollen; wenn die
ausschweifenden Forderungen der Leidenschaft unter dem Namen des
Nuetzlichen, den sie nicht verdienen, die einzige Richtschnur unsrer
Handlungen sind; wenn die Gesetze nur mit einer guten Art ausgewichen
werden muessen, und im Dunkeln alles erlaubt ist; wenn die Tugend, und die
Hoffnungen der Tugend nur Schimaeren sind; was hindert die Kinder, sich
wider ihre Eltern zu verschwoeren? Was hindert die Mutter, sich selbst und
ihre Tochter dem meistbietenden Preis zu geben? Was hindert mich, wenn ich
dadurch gewinnen kann, den Dolch in die Brust meines Freundes zu stossen,
die Tempel der Goetter zu berauben, mein Vaterland zu verraten, oder mich
an die Spitze einer Raeuberbande zu stellen; und, wenn ich anders Macht
genug habe, ganze Laender zu verwuesten, ganze Voelker in ihrem Blute zu
ertraenken? Siehest du nicht, dass deine Grundsaetze, die du so unverschaemt
Weisheit nennest, und durch eine kuenstliche Vermischung des Wahren mit dem
Falschen scheinbar zu machen suchst, wenn sie allgemein wuerden, die
Menschen in weit aergere Ungeheuer, als Hyaenen, Tyger und Krokodille sind,
verwandeln wuerden? Du spottest der Tugend und Religion? Wisse, nur den
unausloeschlichen Zuegen, womit ihr Bild in unsre Seelen eingegraben ist,
nur dem geheimen und wunderbaren Reiz, der uns zu Wahrheit, Ordnung und
Guete zieht, und den Gesetzen besser zu statten kommt, als alle Belohnungen
und Strafen, ist es zuzuschreiben, dass es noch Menschen auf dem Erdboden
gibt, und dass unter diesen Menschen noch ein Schatten von Sittlichkeit und
Guete zu finden ist. Du erklaerst die Ideen von Tugend und sittlicher
Vollkommenheit fuer Phantasien. Siehe mich hier, Hippias, so wie ich hier
bin, biete ich den Verfuehrungen aller deiner Cyanen, den scheinbarsten
ueberredungen deiner Weisheit, und allen Vorteilen, die mir deine
Grundsaetze und dein Beispiel versprechen, trotz. Eine einzige von diesen
Phantasien ist hinreichend die unwesentliche Zauberei aller dieser
Blendwerke zu zerstreuen. Lass die Tugend immer eine Schwaermerei sein,
diese Schwaermerei macht mich gluecklich, und wuerde alle Menschen gluecklich,
und den ganzen Erdboden zu einem Himmel machen, wenn deine Grundsaetze, und
diejenige, welche sie ausueben, nicht, so weit ihr ansteckendes Gift dringt,
Elend und Verderbnis ausbreiteten."

Agathon wurde ganz gluehend, indem er dieses sagte; und ein Maler, um den
zuernenden Apollo zu malen, haette sein Gesicht in diesem Augenblick zum
Urbild nehmen muessen. Allein der weise Hippias erwiderte diesen Eifer mit
einem Laecheln, welches dem Momus selbst Ehre gemacht haette, und sagte ohne
seine Stimme zu veraendern: "Nunmehr glaube ich dich zu kennen, Callias,
und du wirst von meinen Verfuehrungen weiter nichts zu besorgen haben. Die
gesunde Vernunft ist nicht fuer so warme Koepfe gemacht, wie der deinige.
Wie leicht, wenn du mich zu verstehen faehig gewesen waerest, haettest du dir
den Einwurf selbst beantworten koennen, dass die Grundsaetze der Sophisten
und Weltleute verderblich waeren, wenn sie allgemein wuerden? Die Natur hat
schon davor gesorgt, dass sie nicht allgemein werden,--doch ich wuerde mir
selbst laecherlich sein, wenn ich deine begeisterte Apostrophe beantworten,
oder dir zeigen wollte, wie sehr auch der Affekt der Tugend das Gesicht
verfaelschen kann. Sei tugendhaft, Callias; fahre fort dich um den Beifall
der Geister, und die Gunst der aetherischen Schoenen zu bewerben; rueste dich,
dem Ungemach, das dein Platonismus dir in dieser Unterwelt zuziehen wird,
grossmuetig entgegen zu gehen, und troeste dich, wenn du Leute siehst, die
niedrig genug sind, sich an irdischen Glueckseligkeiten zu weiden, mit dem
frommen Gedanken, dass sie in dem andern Leben, wo die Reihe an dich kommt,
gluecklich zu sein, sich in den Flammen des Phlegeton waelzen werden."

Mit diesen Worten stund Hippias auf, warf einen veraechtlichmitleidigen
Blick auf den Agathon, und wandte ihm den Ruecken zu, um ihm mit einer
unter seines gleichen gewoehnlichen Hoeflichkeit zu verstehen zu geben, dass
er sich zurueckziehen koenne.




VIERTES BUCH




ERSTES KAPITEL

Geheimer Anschlag, den Hippias gegen die Tugend unsers Helden macht


Wir vermuten, dass es einigen Lesern scheinen werde, Hippias habe in seinem
Diskurs bei Agathon einen groessern Mangel von Erfahrung und Kenntnis der
Welt vorausgesetzt, als er, nach allem, was bereits mit ihm vorgegangen
war, haben konnte. Wir muessen also zur Entschuldigung dieses Weisen sagen,
dass Agathon, aus Ursachen, die uns unbekannt geblieben, fuer gut befunden
habe, von dem glaenzenden Teil seiner Begebenheiten, und sogar von seinem
Namen ein Geheimnis zu machen. Denn sein Name war durch die Rolle, die er
zu Athen gespielt hatte, in den griechischen Staedten allzubekannt worden,
als dass er es nicht auch dem Hippias haette sein sollen; ob dieser gleich,
seit dem er in Smyrna wohnte, sich wenig um die Staatsangelegenheiten der
Griechen bekuemmerte, die er in den Haenden seiner Freunde und Schueler ganz
wohl versorgt hielte. Da nun Agathon so sorgfaeltig gewesen war, ihm alles
zu verbergen, was einigen Verdacht haette erwecken koennen, dass er jemals
etwas mehr als ein Aufwaerter in dem Tempel zu Delphi gewesen; so konnte
Hippias mit desto besserm Grunde voraussetzen, dass er noch ein vollkommner
Neuling in der Welt sei, als weder die Denkungsart noch das Betragen
dieses jungen Menschen so beschaffen war, dass ein Kenner auf guenstigere
Gedanken haette gebracht werden sollen. Leute von seiner Art koennen, in
der Tat zehen Jahre hinter einander in der grossen Welt gelebt haben, ohne
dass sie dieses fremde und entlehnte Ansehen verlieren, welches beim ersten
Blick verkuendiget, dass sie hier nicht einheimisch sind; geschweige, dass
sie faehig waeren, sich jemals zu dieser edeln Freiheit von den Fesseln der
gesunden Vernunft, zu dieser weisen Gleichgueltigkeit gegen alles was die
schwaermerischen Seelen Empfindung nennen, und zu dieser verzaertelten
Feinheit des Geschmacks zu erheben, wodurch die Weltleute sich auf eine so
vorteilhafte Art unterscheiden. Solche Leute koennen wohl Beobachtungen
machen; allein da ihnen dieser Instinkt, dieses sympathetische Gefuehl
mangelt, mittelst dessen jene einander so schnell und zuverlaessig
ausfindig machen; oder deutlicher zu reden, da sie von allem auf eine
andre Art geruehrt werden, als jene; und sich, so sehr sie sich auch
anstrengten, niemals an ihre Stelle setzen koennen: so bleiben sie doch
immer in einem unbekannten Lande, wo ihre Erkenntnis nur bei Mutmassungen
stehen bleibt, und ihre Erwartung alle Augenblicke durch unbegreifliche
Zufaelle und unverhoffte Veraenderungen betrogen wird. Mit allen seinen
Vorzuegen war Agathon doch in eben dieser Klasse, und es ist also kein
Wunder, dass er, ungeachtet der tiefen Betrachtungen die er ueber seine
Unterredung mit dem Hippias bei sich selbst anstellte, sehr weit entfernt
war, die Gedanken zu erraten, womit dieser Sophist itzt umging, dessen
Eitelkeit durch den schlechten Fortgang seines Vorhabens, und den
Eigensinn dieses seltsamen Juenglings weit mehr beleidiget war, als er sich
hatte anmerken lassen. Agathon, wenn er das wuerklich waere, was er zu sein
schien, waere (dachte der weise Mann nicht ohne Grund) eine lebendige
Widerlegung seines Systems. "Wie?" sagte er zu sich selbst, (ein Umstand,
der ihm selten begegnete) "ich habe mehr als vierzig Jahre in der Welt
gelebt, und unter einer unendlichen Menge von Menschen von allen Staenden
und Klassen, nicht einen einzigen angetroffen, der meine Begriffe von der
menschlichen Natur nicht bestaetiget haette, und dieser junge Mensch sollte
mich noch an die Tugend glauben lehren? Es kann nicht sein; er ist ein
Phantast oder ein Heuchler. Was er auch sein mag, ich will es ausfuendig
machen.--Gut! Das ist ein vortrefflicher Einfall! Ich will ihn auf eine
Probe stellen, wo er unterliegen muss, wenn er ein Schwaermer, und wo er die
Maske ablegen wird, wenn er ein Komoediant ist. Er hat gegen Cyane
ausgehalten, dies hat ihn stolz und sicher gemacht. Aber das beweist noch
nichts. Wir wollen ihn auf eine staerkere Probe setzen; wenn er in dieser
den Sieg erhaelt, so muss er--ja, so will ich meine Nymphen entlassen, mein
Haus den Priestern der Cybele vermachen, und an den Ganges ziehen, und in
der Hoehle eines alten Palmbaums, mit geschlossnen Augen und den Kopf
zwischen den Knien, so lange in der naemlichen Positur sitzen bleiben, bis
ich, allen meinen Sinnen zu trotz, mir einbilde, dass ich nicht mehr bin!
"--Dies war ein hartes Geluebde; auch hielt sich Hippias sehr ueberzeugt,
dass es so weit nicht kommen wuerde, und damit er keine Zeit versaeumen
moechte; so machte er noch an demselbigen Tag Anstalt, seinen Anschlag
auszufuehren.




ZWEITES KAPITEL

Hippias stattet einer Dame einen Besuch ab


Die Damen zu Smyrna hatten damals eine Gewohnheit, welche ihrer Schoenheit
mehr Ehre machte als ihrer Sittsamkeit. Sie pflegten sich in den warmen
Monaten gemeiniglich alle Nachmittage eines kuehlenden Bades zu bedienen,
und, um keine lange Weile zu haben, nahmen sie um diese Zeit die Besuche
derjenigen Mannspersonen an, die das Recht eines freien Zutritts in ihren
Haeusern hatten. Diese Gewohnheit war in Smyrna eben so unschuldig als es
der Gebrauch bei unsern westlichen Nachbarinnen ist, Mannspersonen bei der
Toilette um sich zu haben; auch kam diese Freiheit nur den Freunden zu
statten, und, den besondern Fall ausgenommen, wenn die hartnaeckige
Bloedigkeit eines noch unerfahrnen Neulings einiger Aufmunterung noetig
hatte, waren die Liebhaber gaenzlich davon ausgeschlossen. Unter einer
grossen Anzahl von Schoenen, bei denen der weise Hippias dieses Vorrecht
genoss, war auch eine, die unter dem Namen Danae den ersten Rang in
derjenigen Klasse von Frauenzimmern einnahm, die man bei den Griechen
Freundinnen, oder noch eigentlicher Gesellschafterinnen zu nennen pflegte.
Diese Gattung von Damen war damals unter ihrem Geschlecht, was die
Sophisten unter dem maennlichen; sie stunden in keiner geringern Achtung,
und konnten sich ruehmen, dass die vollkommensten Modelle aller Vorzuege
ihres Geschlechts, wenn man die strenge Tugend ausnimmt, die Aspasien, die
Leontium und die Phrynen sich kein Bedenken machten von ihrem Orden zu
sein. Was die Danae betrifft, so machten die Mannspersonen zu Smyrna kein
Geheimnis daraus, dass sie, ihrem Urteil nach, an Schoenheit und Artigkeit
alle andre Frauenzimmer, galante und sproede, tugendhafte und andaechtige,
uebertreffe. Es ist wahr, die Geschichte meldet nicht, dass die Damen sich
sehr beeifert haetten, das Urteil der Mannspersonen durch ihren
oeffentlichen Beitritt zu bestaetigen; allein soviel ist gewiss, dass keine
unter ihnen war, die sich selbst nicht gestanden haette, dass, eine einzige
Person ausgenommen, die sie niemals oeffentlich nennen wollten, die schoene
Danae alle uebrigen eben so weit uebertreffe, als sie von dieser einzigen
Ungenannten uebertroffen werde. In der Tat war ihr Ruhm von dieser Seite
so festgesetzt, dass man das Geruecht nicht unwahrscheinlich fand, welches
versicherte, dass sie in ihrer ersten Jugend den beruehmtesten Malern zum
Modell gedient habe; und dass sie bei einer solchen Gelegenheit den Namen
erhalten, unter welchem sie in Jonien beruehmt war. Itzo hatte sie zwar
das dreissigste Jahr schon zurueckgelegt, allein ihre Schoenheit hatte
dadurch mehr gewonnen als verloren; und der blendende Jugendglanz, der mit
dem Mai des Lebens zu verschwinden pflegt, wurde durch tausend andre
Reizungen ersetzt, welche ihr, nach dem Urteil der Kenner, eine gewisse
Anziehungskraft gaben, die man, ohne sich eines schwuelstigen Ausdrucks
schuldig zu machen, in gewissen Umstaenden fuer unwiderstehlich halten
konnte. Dem ungeachtet scheute sich, unter der aegide der Gleichgueltigkeit,
worin ihn damals ordentlicher Weise auch die schoensten Figuren zulassen
pflegten, der weise Hippias nicht, seine Tugend oefters dieser Gefahr
auszusetzen. Er war der schoenen Danae unter dem Titel eines Freundes
vorzueglich angenehm, und die geheime Geschichte sagt so gar, dass sie ihn
ehmals nicht unwuerdig gefunden, ihm eine Zeitlang eine noch interessantere
Stelle, bei ihrer Person anzuvertrauen; eine Stelle die nur von den
liebenswuerdigsten seines Geschlechts bekleidet zu werden pflegte. Diese
Dame war es, deren Beihuelfe Hippias sich zu Ausfuehrung seines Anschlags
wider den Agathon bedienen wollte, dessen schwaermerische Tugend, seinen
Gedanken nach, eine Beschimpfung seiner Grundsaetze war, die er viel
weniger leiden konnte, als die allerscharfsinnigste Widerlegung in forma.
Er begab sich also zu der gewoehnlichen Stunde zu ihr, und war kaum in den
Saal getreten, wo sie sich befand, und in den Beduerfnissen des Bades, von
zween jungen Knaben, welche eher ein paar Liebesgoetter zu sein schienen,
bedient wurde; als sie schon in seinem Gesicht etwas bemerkte, das mit
seiner gewoehnlichen Heiterkeit einen Absatz machte. "Was hast du,
Hippias", sagte sie zu ihm, "dass du eine so tiefsinnige Miene mitbringst?"
"Ich weiss nicht", antwortete er, "warum ich tiefsinnig aussehen sollte,
wenn ich eine Dame im Bade besuche; aber das weiss ich, dass ich dich noch
nie so schoen gesehen habe, als diesen Augenblick." "Gut", sagte sie, "das
beweist, dass ich recht geraten habe. Ich bin gewiss, dass ich heute nicht
besser aussehe als das letztemal, da du mich sahest; aber deine Phantasie
ist hoeher gestimmt als gewoehnlich, und du schreibst den Einfluss, den sie
auf deine Augen hat, grossmuetig auf die Rechnung des Gegenstands, den du
vor dir hast; ich wollte wetten, dass die haesslichste meiner Kammermaedchen,
dir in diesem Augenblick eine Grazie scheinen wuerde." "Ich habe",
versetzte Hippias, "keine Ansprueche an eine lebhaftere Einbildungskraft zu
machen als Zeuxes und Aglaophon, welche sich nichts vollkommners zu
erfinden getrauten als Danae. Welche schoene Gelegenheit zu einer neuen
Verwandlung, wenn ich Jupiter waere!"--"Und was fuer eine Gestalt wolltest
du annehmen, um zu gleicher Zeit meine Sproedigkeit und deine liebe
Gemahlin zu hintergehen? Denn ich glaube kaum, dass unter allen
gefluegelten, vierfuessigen und kriechenden Tieren eines ist, das nicht schon
einem Unsterblichen haette dienen muessen, irgend ein ehrliches Maedchen zu
beschleichen." "Ich wuerde mich nicht lange besinnen", sagte Hippias; "was
fuer eine Gestalt koennte ich annehmen, die dir angenehmer und mir zu meiner
Absicht bequemer waere, als dieses Sperlings, der deine Liebhaber so oft zu
einer gerechten Eifersucht reizt; der, durch die zaertlichsten Namen
aufgemuntert, mit solcher Freiheit um deinen Nacken flattert, oder mit
mutwilligem Schnabel den schoensten Busen neckt, und die Liebkosungen
allezeit doppelt wieder empfaengt, die er dir gemacht hat." "Es ist dir
leichter wie es scheint", versetzte Danae, "einen Sperling an deine Stelle,
als dich an die Stelle eines Sperlings zu setzen; bald koenntest du mir
die Schmeicheleien meines kleinen Lieblings verdaechtig machen. Aber genug
von den Wundern, die du meiner Schoenheit zutrauest; wir wollen von was
anderm reden. Weissest du, dass ich meinem Liebhaber den Abschied gegeben
habe?" "Dem schoenen Hiacinthus?" "Ihm selbst, und was noch mehr ist, mit
dem festen Entschluss, seine Stelle nimmer zu ersetzen." "Das ist eine
tragische Entschliessung, schoene Danae." "Nicht so sehr als du denkest.
Ich versichre dich, Hippias, meine Geduld reicht nicht mehr zu, alle
Torheiten dieser abgeschmackten Gecken auszustehen, welche die Sprache der
Empfindung reden wollen und nichts fuehlen; deren Herz nicht so viel als
mit einer Nadelritze verwundet ist, ob sie gleich von Martern und von
Flammen reden; die unfaehig sind etwas anders zu lieben als sich, und denen
meine Augen nur zum Spiegel dienen sollen, um darin den Wert ihrer kleinen
unverschaemten Figur zu bewundern. Kaum glauben sie ein Recht an unsre
Guetigkeit zu haben, so bilden sie sich ein, dass sie uns viel Ehre erweisen,
wenn sie unsere Liebkosungen mit einer zerstreuten Miene dulden. Ein
jeder Blick, den sie auf mich werfen, sagt mir, dass ich ihnen nur zum
Spielzeug diene; und die Haelfte meiner Reizungen geht an ihnen verloren,
weil sie keine Seele haben, um die Schoenheiten einer Seele zu empfinden."
"Dein Unwille ist gerecht", versetzte der Sophist; "es ist verdriesslich,
dass man diesen Mannsleuten nicht begreiflich machen kann, dass die Seele
das liebenswuerdigste an einem schoenen Frauenzimmer ist. Aber beruhige
dich; nicht alle Maenner denken so unedel, und ich kenne einen, der dir
gefallen wuerde, wenn du, zur Abwechslung, einmal Lust haettest, es mit
einem geistigen Liebhaber zu versuchen." "Und wer kann das sein, wenn man
fragen darf?" "Es ist ein Juengling, gegen den deine Hyacinthe nur
Meerkatzengesichter sind, schoener als Adonis."--"Fi, Hippias, das ist als
wie wenn du sagtest, suesser als Honigseim. Du begreifst nicht, wie sehr
mir vor diesen schoenen Herren ekelt." "O! das hat nichts zu bedeuten; ich
stehe dir fuer diesen. Er hat keinen von den Fehlern der schoenen
Narcissen, die dir so aergerlich sind. Kaum scheint er es zu wissen, dass
er einen Leib hat. Das ist ein Mensch wie man nicht viele sieht, schoen
wie Apollo, aber geistig wie ein Zephyr; ein Mensch, der lauter Seele ist,
der dich, wie du hier bist, fuer eine blosse Seele ansehen wuerde, und der
alles auf eine geistige Art tut, was wir andere koerperlich tun. Du
verstehst mich ja, schoene Danae?" "Nicht allzuwohl; aber deine
Beschreibung gefaellt mir nichts desto minder. Du sprichst doch im Ernst?"
"In ganzem Ernst: Wenn du Lust hast die metaphysische Liebe zu kosten, so
habe ich deinen Mann gefunden. Er ist platonischer als Plato
selbst--denn ich denke, du koenntest uns geheime Nachrichten von diesem
beruehmten Weisen geben." "Ich erinnere mich", antwortete Danae laechelnd,
"dass er einmal mit einer meiner Freundinnen eine kleine Zerstreuung gehabt
hat, die du ihm nicht uebel nehmen musst. Wo ist ein Geist, dem ein
huebsches Maedchen von achtzehn Jahren nicht einen Koerper geben koennte?"
"Du kennest meinen Mann noch nicht", erwiderte Hippias; "die Goettin von
Paphos, ja du selbst wuerdest es bei ihm so weit nicht bringen. Du kannst
ihn Tag und Nacht um dich haben. Du kannst ihn auf alle Proben stellen,
du kannst ihn--bei dir schlafen lassen, Danae, ohne dass er dir Gelegenheit
geben wird, nur die mindeste kleine Ausrufung anzubringen; kurz, bei ihm
kann deine Tugend ganz ruhig einschlummern, ohne jemals in Gefahr zu
kommen, aufgeweckt zu werden." "Ach! nun verstehe ich dich; es verlohnte
sich der Muehe nicht, den Scherz so weit zu treiben. Ich verlange keinen
Liebhaber der sich nur darum an meine Seele haelt, weil ihm das uebrige zu
nichts nuetze ist." "Auch ist derjenige, den ich dir anpreise, weit
entfernt in diese Klasse zu gehoeren; mache dir darueber keinen Kummer. Was
du fuer die Folge einer physischen Notwendigkeit haeltst, ist bei ihm die
Wuerkung der Tugend, und der erhabnen Philosophie, von der er Profession
macht." "Du machst mich sehr neugierig ihn zu sehen; aber weisst du,
Hippias, dass meine Eitelkeit nicht zu frieden waere, auf eine so
kaltsinnige Art geliebt zu sein. Es ist wahr, ich bin dieser mechanischen
Liebhaber von Herzen ueberdruessig; aber ich wuerde mit einem andern eben so
uebel zu frieden sein, der gegen dasjenige ganz unempfindlich waere, wofuer
jene allein empfindlich sind. Ein Frauenzimmer findet allezeit ein
Vergnuegen darin, Begierden einzufloessen, auch wann sie nicht im Sinn hat,
sie zu vergnuegen. Die Sproeden selbst sind von dieser Schwachheit nicht
ausgenommen. Wozu haben wir noetig, dass uns ein Liebhaber sagt, dass wir
reizend sind? Wir wollen es aus den Wuerkungen sehen, die wir auf ihn
machen. Je weiser er ist, desto schmeichelnder ist es fuer unsre Eitelkeit,
wenn wir ihn aus seiner Fassung setzen koennen. Nein, du begreifst nicht,
wie sehr das Vergnuegen, das uns der Anblick aller der Torheiten macht,
wozu wir diese Herren der Schoepfung bringen koennen, alle andre uebertrifft,
die sie uns zu machen faehig sind. Ein Philosoph, der zu meinen Fuessen wie
eine Turteldaube girret, der mir zu Gefallen seine Haare und seinen Bart
kraeuseln laesst, der so wohl riecht wie ein arabischer Salbenhaendler, der
mir den Hof zu machen, mit meinem Schosshund schwatzt und Oden auf meinen
Sperling macht--ah! Hippias, man muss ein Frauenzimmer sein, um zu
begreifen, was das fuer ein Vergnuegen ist!"--"Ich bedaure dich"; erwiderte
der schalkhafte Sophist, "dass du diesem Vergnuegen bei dem Liebhaber, von
dem ich rede, entsagen musst. Er hat seine Proben schon gemacht. Er ist
zaertlich wie ein junger Seufzer, aber, wie gesagt, er ist es nur fuer die
Seele der Schoenen; alles uebrige macht keinen groessern Eindruck auf ihn, als
ein Gemaelde, oder eine Bildsaeule." "Das wollen wir sehen", versetzte
Danae; "ich verlange schlechterdings, dass du ihn diesen Abend zu mir
bringest; du wirst nur eine kleine Gesellschaft finden, die uns nicht
hindern soll. Aber wer ist denn dieser Ungenannte, von dem wir schon so
lange schwatzen?" "Es ist ein Sklave, den ich vor etlichen Wochen von
einem Cilicier gekauft habe, aber ein Sklave, wie man sonst nirgends sieht.
Er ist zu Delphi im Tempel des Apollo erzogen worden, und, so viel ich
vermute, wird er sein Dasein der antiplatonischen Liebe dieses Gottes zu
irgend einer artigen Schaeferin zu danken haben, die sich zu weit in seinen
Lorbeerhain gewagt haben mag. Er ist hernach eine geraume Zeit zu Athen
gewesen, und die schoenen Reden des Plato haben die romanhafte Erziehung
vollendet, die er in den geheiligten Hainen zu Delphi erhalten. Er geriet
durch einen Zufall in die Haende Cilicischer Seeraeuber, und aus diesen in
die meinige. Er nannte sich Pythokles; aber weil ich diese Art von Namen
nicht leiden kann, so hiess ich ihn Callias, und er verdient so zu heissen,
denn er ist der schoenste Mensch, den ich jemals gesehen habe. Seine
uebrigen Gaben bestaetigen die gute Meinung, die sein Anblick von ihm
erweckt. Er hat Verstand, Geschmack, und Wissenschaft; er ist ein
Liebhaber und ein Guenstling der Musen; aber mit allen diesen Vorzuegen ist
er doch nichts weiter als ein wunderlicher Kopf, ein Schwaermer und ein
unbrauchbarer Mensch. Er nennt seinen Eigensinn Tugend, weil er sich
einbildet, die Tugend muesse die Antipode der Natur sein; er haelt die
Ausschweifungen seiner Phantasie fuer Vernunft, weil er sie in einen
gewissen Zusammenhang gebracht hat; und sich selbst fuer weise, weil er auf
eine methodische Art raset. Er gefiel mir beim ersten Anblick, ich fasste
den Entschluss, etwas aus diesem jungen Menschen zu machen; aber alle meine
Muehe war umsonst; und wenn es moeglich ist, dass er durch jemand zu recht
gebracht werden kann, so muss es durch ein Frauenzimmer geschehen; denn ich
glaube bemerkt zu haben, dass man nur durch sein Herz in seinen Kopf kommen
kann. Die Unternehmung waere deiner wuerdig, schoene Danae, und wenn sie dir
nicht gelingt, so ist er unverbesserlich, und verdient nichts, als dass man
ihn seiner Torheit und seinem Schicksal ueberlasse."

"Du hast meinen ganzen Ehrgeiz rege gemacht, Hippias", versetzte die
schoene Danae; "bringe ihn diesen Abend mit; ich will ihn sehen, und wenn
er aus eben denselben Elementen zusammengesetzt ist, wie andre Erden-Soehne,
so wollen wir eine Probe machen, ob Danae ihrer Lehrmeisterin wuerdig ist."

Hippias war sehr erfreut, den Zweck seines Besuchs so gluecklich erreicht
zu haben, und versprach beim Abschied, zur bestimmten Zeit diesen
wunderbaren Juengling aufzufuehren, an welchem die schoene Danae so begierig
war, die Macht ihrer Reizungen zu versuchen.




DRITTES KAPITEL

Geschichte der schoenen Danae


Die Dame, mit welcher unsre Leser im vorigen Kapitel Bekanntschaft gemacht,
hat vermutlich einem guten Teil derselben nicht so uebel gefallen, dass sie
nicht eine naehere Nachricht von dem Charakter und der Geschichte derselben
erwarten sollten; und wir sind desto geneigter, ihrem Verlangen ein Genuege
zu tun, je noetiger der Verfolg unsrer Geschichten zu machen scheint, dass
der Leser in den Stand gesetzt werde, der schoenen Danae Gerechtigkeit
widerfahren zu lassen.

Die allgemeine Meinung zu Smyrna war, dass sie eine Tochter der beruehmten
Aspasia von Milet sei, die, nachdem sie in ihrer Vaterstadt die Kunst der
Galanterie, wovon sie Profession machte, durch die Verbindung derselben
mit der Philosophie und den Kuensten der Musen, zu jenem Grade der
Vollkommenheit erhoben hatte, der sie zur wahren Erfinderin derselben zu
machen schien, nach Athen gezogen war, wo sie sich ihrer seltnen Vorzuege
auf eine so kluge Art zu bedienen gewusst, dass sie sich endlich zur
unumschraenkten Beherrscherin des grossen Perikles, der das ganze
Griechenland beherrschte, oder wie die komischen Dichter ihrer Zeit sich
ausdrueckten, zur Juno dieses atheniensischen Jupiters erhoben hatte.
Allein die Vermutungen, worauf sich diese Meinung von der Abkunft der
Danae gruendeten, koennen nicht fuer hinlaenglich angesehen werden, das
Zeugnis verschiedner Geschichtschreiber zu ueberwaegen, welche versichern,
dass sie aus der Insel Scios gebuertig gewesen, und nach dem Tod ihrer
Eltern, in ihrem vierzehnten Jahr mit einem Bruder nach Athen gekommen, um
in dieser Stadt, worin alle angenehmen Talente willkommen waren, durch die
ihrigen ihren Unterhalt zu gewinnen. Die Kunst, welche sie hier trieb,
war eine Art von pantomimischen Taenzen, wozu gemeiniglich nur eine oder
zwo Personen erfordert wurden, und worin die tanzende Person, nach der
Modulation einer Floete oder Leier, gewisse Stuecke aus der Goetter--und
Heldengeschichte der Griechen, durch Gebaerden und Bewegungen vorstellte.
Allein, da diese Kunst wegen der Menge derer die sie trieben, nicht
zureichte sie zu unterhalten, so sahe sich die junge Danae genoetiget, den
Kuenstlern zu Athen die Dienste eines Models zu tun; und erhielt dadurch
ausser dem Nutzen, den sie davon zog, die schmeichelnde Ehre, bald als
Diana, bald als Venus auf die Altaere gestellt, die Bewunderung der Kenner
und die Anbetung des Poebels zu erhalten. Bei einer solchen Gelegenheit
trug es sich zu, dass sie von dem jungen Alcibiades ueberraschet, und in der
Stellung der Danae des Acrisius, welche sie eben vorstellte, allzureizend
befunden wurde, als dass einem geringern als Alcibiades auch nur der
Anblick so vieler Schoenheiten erlaubt sein sollte. Auf der andern Seite
wurde die junge Danae von der Figur, den Manieren, dem Stand und den
Reichtuemern dieses liebenswuerdigen Verfuehrers so sehr eingenommen, dass er
keine grosse Muehe hatte, sie zu bereden sich in seinen Schutz zu begeben.
Er brachte sie also in das Haus der Aspasia, welches zu gleicher Zeit eine
Akademie der schoensten Geister von Athen, und eine Frauenzimmer-Schule war,
worin junge Maedchen von den vorzueglichsten Gaben, unter der Aufsicht
einer so vollkommen Meisterin, eine Erziehung erhielten, welche sie zu der
Bestimmung geschickt machen sollte, die Grossen und die Weisen der Republik
in ihren Ruhestunden zu ergoetzen. Danae machte sich diese Gelegenheit
sowohl zu Nutze, dass sie die Gunst, und endlich selbst die Vertraulichkeit
der Aspasia erhielt, welche, weit ueber die Niedertraechtigkeit gemeiner
Seelen erhaben, sich mit so vielem Vergnuegen in dieser jungen Person
wieder hervorgebracht sah, dass sie dadurch zu der Vermutung Anlass gab,
deren wir bereits Erwaehnung getan haben. Inzwischen genoss Alcibiades
allein der Fruechte einer Erziehung, wodurch die natuerlichen Gaben seiner
jungen Freundin zu einer Vollkommenheit entwickelt wurden, die ihr den
Namen der zweiten Aspasia erwarb; und die schoene Danae legte sich selbst
die Pflicht auf, eine Treue gegen ihn zu beobachten, die er nicht zu
erwidern noetig fand. Da die Liebe zur Veraenderung eine staerkere
Leidenschaft bei ihm war, als die Liebe die ihm irgend ein Frauenzimmer
einfloessen konnte, so musste auch Danae, nachdem sie sich eine geraume Zeit
in dem ersten Platz bei ihm erhalten hatte, einer andern weichen, die
keinen Vorzug vor ihr hatte, als dass sie ihm neu war. So schwach Danae
von einer gewissen Seite sein mochte, so edel war ihr Herz in andern
Stuecken. Sie liebte den Alcibiades, weil sie von seiner Person und von
seinen Eigenschaften bezaubert war, und dachte wenig daran, von seinen
Reichtuemern Vorteil zu ziehen. Sie wuerde also nichts von ihm uebrig
behalten haben, als das Andenken von dem liebenswuerdigsten Mann ihrer Zeit
geliebt worden zu sein; wenn er nicht eben so stolz und freigebig gewesen
waere, als sie, wider die Gewohnheit ihrer Gespielen, uneigennuetzig war.
"Ich verlasse dich Danae", sagte er zu ihr, "allein ich werde nicht
zugeben, dass diejenige, die einst dem Alcibiades zugehoerte, jemals
genoetiget sein soll, dem Reichsten zu ueberlassen, was nur dem
Liebenswuerdigsten gehoert." Mit diesen Worten drang er ihr eine Summe auf,
die mehr als zulaenglich war, sie von dieser Seite ausser aller Gefahr zu
setzen. Der Tod der Aspasia und die Veraenderungen, die er nach sich zog,
bewogen sie, wenige Jahre darauf Athen zu verlassen, und nach etlichen
Begebenheiten, an denen ihr Herz keinen geringen Anteil hatte, Smyrna zu
ihrem bestaendigen Sitz zu erwaehlen. Hier hatte sie Gelegenheit dem
juengern Cyrus bekannt zu werden, dessen liebenswuerdige Eigenschaften durch
die Feder des Xenophon eben so bekannt worden sind, als der unglueckliche
Ausgang der Unternehmung, wodurch er sich auf den Thron des ersten Cyrus
zu schwingen hoffte. Ihr erster Anblick unterwarf ihr das Herz dieses
Prinzen, der so empfindlich gegen diejenige Art von Reizungen war, wodurch
sich die Schuelerinnen der Aspasia von den lebenden Statuen unterschieden,
die in den Morgenlaendern zum Vergnuegen der Grossen bestimmt werden, und in
der Tat zu dem einzigen Gebrauch den diese von ihnen zu machen wissen,
wenig Seele noetig haben. Allein so schmeichelhaft diese Eroberung fuer sie
war, so konnte sie doch nichts bewegen, ihn nach Sardes zu begleiten, und
ihre Freiheit der Ehre aufzuopfern, die erste seiner Sklavinnen zu sein.
Sie blieb also in Smyrna zurueck, wo sie durch die grossmuetige Freigebigkeit
des Cyrus, der sich hierin von keinem Athenienser uebertreffen lassen
wollte, in den Stand gesetzt war, ihre einzige Sorge sein zu lassen, wie
sie auf die angenehmste Art leben wollte. Sie bediente sich dieses Gluecks,
wie es der Name der zwoten Aspasia erfoderte. Ihre Wohnung schien ein
Tempel der Musen und Grazien zu sein, und wenn Amor von einer so reizenden
Gesellschaft nicht ausgeschlossen war, so war es jener Amor, den die Musen
beim Anacreon mit Blumenkraenzen binden, und der sich in dieser
Gefangenschaft so wohl gefaellt, dass Venus ihn vergeblich bereden will,
sich in seine vorige Freiheit setzen zu lassen. Die Spiele, die Scherze
und die Freuden, (wenn es uns erlaubt ist, die Sprache Homers zu
gebrauchen, wo die gewoehnliche zu matt scheint), schlossen mit den
laechelnden Stunden einen unaufloeslichen Reihentanz um sie her, und
Schwermut, ueberdruss, und Langeweile waren mit allen andern Feinden der
Ruhe und des Vergnuegens aus diesem Wohnplatz der Freude verbannt.

Wir haben, deucht uns, schon mehr als genug gesagt, um unsre Leser in
keine mittelmaessige Sorge fuer die Tugend unsers Helden zu setzen. In der
Tat hatte er sich noch niemals in Umstaenden befunden, wo wir weniger
hoffen duerfen, dass sie sich werde erhalten koennen; die Gefahr worin sie
bei der ueppigen Pythia, unter den rasenden Bachantinnen und in dem Hause
des weisen Hippias, welches dem Stalle der Circe so aehnlich sah,
geschwebet hatte, verdient nur nicht neben derjenigen genannt zu werden,
welcher wir ihn bald ausgesetzt sehen werden, und deren wir ihn gerne
ueberhoben haetten, wenn uns die Pflichten eines Geschichtschreibers
erlaubten, unsrer freundschaftlichen Parteilichkeit fuer ihn, auf Unkosten
der Wahrheit nachzugeben.




VIERTES KAPITEL

Wie gefaehrlich es ist, der Besitzer einer verschoenernden Einbildungskraft
zu sein


Wenn eine lebhafte Einbildungskraft ihrem Besitzer eine unendliche Menge
von Vergnuegen gewaehrt, die den uebrigen Sterblichen versagt sind; wenn ihre
magische Wuerkung alles Schoene in seinen Augen verschoenert, und ihn da in
Entzueckung setzt, wo andre kaum empfinden; wenn sie in gluecklichen Stunden,
ihm diese Welt zu einem Paradiese macht, und in traurigen seine Seele von
der Szene seines Kummers hinwegzieht, und in andre Welten versetzt, die
durch die vergroessernden Schatten einer vollkommnen Wonne seinen Schmerz
bezaubern: So muessen wir auf der andern Seite gestehen, dass sie nicht
weniger eine Quelle von Irrtuemern, von Ausschweifungen und von Qualen fuer
ihn ist, wovon er, selbst mit Beihuelfe der Weisheit und mit der feurigsten
Liebe zur Tugend, sich nicht eher losmachen kann, bis er, auf welche Art
es nun sein mag, so weit gekommen ist, die allzugrosse Lebhaftigkeit
derselben zu maessigen. Der weise Hippias hatte, die Wahrheit zu gestehen,
unserm Helden sehr wenig Unrecht getan, als er ihm eine Einbildungskraft
von dieser Art zuschrieb; ob wir ihm gleich in Absicht des Mittels nicht
voellig beifallen koennen, wodurch selbige, seiner Meinung nach, am besten
in das gehoerige Gleichgewicht mit den uebrigen Kraeften der Seele gesetzt
werden koenne. Die schlaue Danae hatte sich aus der Beschreibung des
Hippias eine solche Vorstellung von dem Agathon gemacht, dass sie alles
gewonnen zu haben glaubte, wenn sie nur seine Einbildungskraft auf ihre
Seite gebracht haben wuerde. Hippias, dachte sie, hatte nur darin gefehlt,
dass er ihn durch die Sinnen verfuehren wollte. Auf diese Voraussetzung
machte sie einen Plan, ueber den sie nicht wenig vergnuegt war; und dachte
so wenig daran, dass die Ausfuehrung sie ihr eignes Herz kosten koennte, als
Agathon sich von der Gefahr traeumen liess, die dem seinigen zubereitet
wurde. Endlich kam die Stunde, die dem Hippias bestimmt worden war.
Agathon begleitete seinen Herrn, ohne zu wissen wohin. Sie traten in
einen Palast, der auf einer doppelten Reihe von jonischen Saeulen ruhte,
und mit vielen vergoldeten Bildsaeulen ausgezieret war. Das Inwendige
dieses Hauses stimmte vollkommen mit der Pracht des aeusserlichen Anblicks
ueberein. Allenthalben begegnete ihm das geschaeftige Gewimmel von
unzaehlichen Sklaven und Sklavinnen, wovon die erstern alle unter zwoelf
Jahren zu sein schienen, und so wie die letztern von ausserordentlicher
Schoenheit waren. Ihre Kleidung stellte dem Aug' eine angenehme
Verbindung der Einfoermigkeit mit der Abwechslung vor; einige waren in weiss,
andre in himmelblau, andre in rosenfarb, andre in andre Farben gekleidet,
und jede Farbe schien eine besondere Klasse zu bezeichnen, welcher ihre
eigne Dienste angewiesen waren. Agathon, auf den alles lebhaftere
Eindruecke machte, als es noetig war, um nach dem Massstab der Moralisten
genug zu sein, wurde durch alles was er sah, so sehr bezaubert, dass er
sich in eine von seinen idealischen Welten versetzt glaubte. Allein eh er
Zeit hatte zu sich selbst zu kommen, fuehrte ihn Hippias in einen grossen
und hellerleuchteten Saal, worin die Gesellschaft versammelt war, welche
sie vermehren sollten. Er hatte kaum einen Blick auf sie geworfen, als
die schoene Danae ihm mit einer Anmut und Leutseligkeit die ihr eigen war,
entgegen kam, und ihm sagte, dass ein Freund des Hippias das Recht habe,
sich in ihrem Hause und in dieser Gesellschaft als einheimisch anzusehen.
Ein so verbindliches Kompliment verdiente wohl eine Antwort in eben diesem
Ton; allein Agathon war in diesem Augenblick ausser Stand, hoeflich zu sein:
Ein Blick, womit man den aeussersten Grad des angenehmsten Erstaunens malen
muesste, war alles, was er auf diese Anred' erwidern konnte. Die
Gesellschaft, die er versammelt fand, war aus lauter solchen Personen
zusammengesetzt, welche die Vorrechte des vertrautesten Umgangs in diesem
Hause genossen, und die attische Urbanitaet, die von der sproeden,
regelmaessigen und manierenreichen Politesse der heutigen Europaeer so sehr
verschieden war, in einem so hohen Grad als Danae selbst, besassen. In
einer Gesellschaft nach der heutigen Art wuerde Agathon, in den ersten
Augenblicken, da er sich darstellte, zu einer unendlichen Menge von
boshaften und spoettischen Anmerkungen Stoff gegeben haben; allein in
dieser war ein fluechtiger Blick alles, was er auszuhalten hatte. Die
Unterredung wurde fortgesetzt, niemand zischelte dem andern ins Ohr, oder
schien das Erstaunen zu bemerken, mit der seine Augen die schoene Danae zu
verschlingen schienen; kurz, man liess ihm alle Zeit die er brauchte um
wieder zu sich selbst zu kommen, wofern sich anders dieser Ausdruck fuer
die Verfassung schickt, in der er sich diesen ganzen Abend durch befand.
Vielleicht erwartet man, dass wir eine naehere Erlaeuterung ueber diesen
ausserordentlichen Eindruck geben sollen, welchen Danae auf unsern
allzureizbaren Helden machte; allein wir sehen uns noch ausser Stand, die
Neugierde des Lesers ueber einen Punkt zu befriedigen, wovon Agathon selbst
noch nicht faehig gewesen waere, Rechenschaft zu geben: Soviel koennen wir
inzwischen sagen, dass diese Dame dem Anschein nach niemals weniger
erwarten konnte, eine solche Wuerkung zu machen; so wenig Muehe hatte sie
sich gegeben, durch einen schlauen Putz ihre Reizungen in ein guenstiges
Licht zu setzen. Ein Kleid von weissem Taft, mit kleinen Streifen von
Purpur, und eine halberoeffnete Rose in ihrem schwarzen Haar, machte ihren
ganzen Staat aus; und von der Durchsichtigkeit, wodurch die Kleidung der
Cyane den Augen unsers Helden anstoessig gewesen, war die ihrige so weit
entfernt, dass man mit besserm Recht an ihr haette aussetzen koennen, dass sie
zu sehr verhuellt sei. Es ist wahr, sie hatte Sorge getragen, dass ein
kleiner niedlicher Fuss, der an Weisse den Alabaster uebertraf, dem Auge
nicht immer entzogen wuerde; und die ganze Schoenheit ihres Gesichts war
nicht vermoegend, den Agathon aufmerksam zu erhalten, wenn sich dieser
reizende Fuss sehen liess. Allein dieses, und eine schneeweisse Hand mit dem
Anfang eines vollkommen schoenen Arms war alles, was das neidische Gewand
den vorwitzigen Blicken nicht versagte; was es also auch sein mochte, was
in seinem Herzen vorging, so ist doch dieses gewiss, dass an der Person und
dem Betragen der schoenen Danae nicht das mindeste zu entdecken war, das
einige besondere Absicht auf unsern Helden haette anzeigen koennen; und dass
sie, es sei nun aus Unachtsamkeit oder Bescheidenheit, nicht einmal zu
bemerken schien, dass Agathon fuer sie allein Augen, und ueber ihrem
Anschauen den Gebrauch aller andern Sinnen verloren hatte.




FUeNFTES KAPITEL

Pantomimen


Nach Endigung der Mahlzeit, bei welcher Agathon beinahe einen blossen
Zuschauer abgegeben hatte, trat ein Taenzer und eine junge Taenzerin herein,
die nach der Modulation eben so vieler Floeten die Geschichte des Apollo
und der Daphne tanzten. Die Geschicklichkeit der Tanzenden befriedigte
alle Zuschauer; alles an ihnen war Seele und Ausdruck, und man glaubte sie
immer zu hoeren, ob man sie gleich nur sah. "Wie gefaellt dir diese
Taenzerin, Callias", fragte Danae den Agathon, welcher nur mittelmaessig
aufmerksam auf dieses Spiel zu sein schien, und der einzige war, der nicht
beobachtete, dass die Taenzerin von ungemeiner Schoenheit, und eben so wie
Cyane, kaum mit etwas mehr als gewebter Luft umhuellt war. "Mich deucht",
versetzte Agathon, der itzt erst anfing sie aufmerksamer anzusehen, "mich
deucht, dass sie, vielleicht aus allzugrosser Begierde zu gefallen, den
Charakter verlaesst den sie vorstellen soll. Warum sieht sie sich im
Fliehen um? Und mit einem Blick, der es ihrem Verfolger zu verweisen
scheint, dass er nicht schneller ist als sie?--Gut, sehr gut!" (fuhr er
fort, wie die Stelle kam, wo Daphne den Flussgott um Huelfe anruft,)
"unverbesserlich! Wie sie mitten in ihrem Gebet sich verwandelt! Wie sie
erbleicht! Wie sie schauert! Ihre Fuesse wurzeln mitten in einer
schreckhaften Bewegung ein; umsonst will sie ihre ausgebreiteten Arme
zurueckziehen.--Aber warum dieser zaertlichbange Blick auf ihren Liebhaber?
Warum diese Traene, die in ihrem Auge zu erstarren scheint?"--Ein
allgemeines Laecheln beantwortete die Frage Agathons. "Du tadelst gerade",
versetzte zuletzt einer von den Gaesten, "was wir am meisten bewundern.
Eine gewoehnliche Taenzerin wuerde nicht faehig gewesen sein, deinen Tadel zu
verdienen. Es ist unmoeglich mehr Geist, mehr Feinheit und einen schoenern
Kontrast in diese Rolle zu bringen, als die kleine Psyche, (so hiess die
Taenzerin) getan hat." Daphne selbst war nicht bestuerzter gewesen, da sie
sich verwandelt fuehlte, als Agathon in dem Augenblick, als er den Namen
Psyche hoerte; er stockte mitten in einem Worte, das er sagen wollte; er
erroetete, und seine Verwirrung war so merklich, dass Danae, welche sie der
Beschaemung seines Tadels zuschrieb, fuer noetig hielt, ihm zu Huelfe zu
kommen. "Der Tadel des Callias", sagte sie, "beweist, dass er den Geist,
womit Psyche ihre Rolle gespielt, so gut empfunden hat, als Phaedrias.
Aber vielleicht ist er darum nicht minder gegruendet. Psyche sollte die
Person der Daphne gespielt haben, und hat ihre eigene gespielt; ist es
nicht so, Psyche? Du dachtest, wie wuerde mir's an Daphnens Stelle gewesen
sein?"--"Und wie haette ichs anders machen koennen, meine Gebieterin?"
fragte die kleine Taenzerin. "Du haettest den Charakter annehmen sollen,
den ihr die Dichter geben, und hast dich begnuegt dich selbst in ihre
Umstaende zu setzen." "Was fuer ein Charakter ist denn das", erwiderte
Psyche. "Einer Sproeden", sagte der weise Hippias; "das ist der
Lieblings-Charakter des Callias." Abermalige Gelegenheit zum Erroeten fuer
den guten Agathon. "Du hast es nicht erraten", sagte er; "der Charakter,
den Daphne nach meiner Idee haben soll, ist Gleichgueltigkeit und Unschuld;
sie kann beides haben, ohne eine Sproede zu sein." "Psyche verdient also
desto mehr Lob", erwiderte Phaedrias (fuer den sie, wie die Geschichte
meldet, noch etwas mehr als eine Taenzerin war) "weil sie den Charakter
verschoenert hat, den sie vorstellen sollte. Der Streit zwischen Liebe und
Ehre erfordert mehr Genie um nachgeahmt zu werden, und ist fuer den
Zuschauer ruehrender, als die Gleichgueltigkeit, die ihr Callias geben will.
Und zudem, wo ist die junge Nymphe, die gegen die Liebe eines so schoenen
Gottes wie Apollo ist, gleichgueltig sein koennte?" "Ich bin deiner
Meinung", sagte Hippias. "Daphne flieht vor dem Apollo, weil sie ein
junges Maedchen ist; und weil sie ein junges Maedchen ist, so wuenscht sie
heimlich, dass er sie erhaschen moege. Warum sieht sie sich so oft um, als
um ihm zu verweisen, dass er nicht schneller sei? Wie er ihr so nahe ist,
dass sie nicht mehr entfliehen kann, so fleht sie dem Flussgotte, dass er sie
verwandeln soll. Grimasse! Warum stuerzte sie sich nicht in den Fluss,
wenn es ihr Ernst war? Sie tat was eine Nymphe tun soll, da sie den
Flussgott anrief; das war in der Ordnung: Aber wer konnte auch fuerchten, so
schnell erhoert zu werden? Und in welchem Augenblick konnte sie es weniger
wuenschen, als in eben diesem, da sie sich von den begierigen Armen ihres
Liebhabers schon umschlungen fuehlte? Hatte sie sich denn aus einem andern
Grund ausser Atem geloffen, als damit er sie desto gewisser erhaschen
moechte? Was ist also natuerlicher als der Unwille, der Schmerz und die
Traurigkeit, womit sie sein Betragen erwidert, da sie die Arme, womit sie
ihn--zurueckstossen will, zu Lorbeerzweigen erstarret fuehlt? Selbst der
zaertliche Blick ist natuerlich; die Verstellung hoert auf, wenn man in einen
Lorbeerbaum verwandelt wird. War nicht dieses das ganze Spiel der
Psyche? Und kann etwas natuerlicher sein? Es ist der Charakter eines
jungen Maedchens; eines von denen jungen Maedchen, versteht sichs, mein
lieber Callias, wie man sie in dieser materiellen Welt findet." "Ich
ergebe mich", versetzte Agathon; "die Taenzerin hat alles getan, was man
von ihr fodern konnte, und ich war laecherlich zu erwarten, dass sie die
Idee ausfuehren sollte, die ich von einer Daphne in meiner Phantasie habe."
Agathon hatte dieses kaum gesprochen, als Danae, ohne ein Wort zu sagen,
aufstund, der Taenzerin einen Wink gab, und mit ihr verschwand. In einer
kleinen Weile kam die Taenzerin allein wieder zurueck, die Floeten fingen
wieder an, und Apollo und Daphne wiederholten ihre Pantomime. Aber wie
erstaunte Agathon als er sah, dass es Danae selbst war, die in der Kleidung
der Taenzerin die Person der Daphne spielte! Armer Agathon! Allzureizende
Danae! Wer haette es glauben sollen? Ihr ganzes Spiel drueckte die eigenste
Idee des Agathon aus, aber mit einer Anmut, mit einer Zauberei, wovon ihm
seine Phantasie keine Idee gegeben hatte. Die Empfindungen, von denen
seine Seele in diesen Augenblicken ueberfallen wurde, waren so lebhaft, dass
er sich bemuehte, seine Augen von diesem zu sehr bezaubernden Gegenstand
abzuziehen; aber vergeblich! Eine unwiderstehliche Gewalt zog sie zurueck.
Wie edel, wie schoen waren ihre Bewegungen! Mit welch einer ruehrenden
Einfalt drueckte sie den Charakter der Unschuld aus! Er sah noch in
sprachloser Entzueckung nach dem Orte, wo sie zum Lorbeerbaum erstarrte,
als sie schon wieder verschwunden war, ohne das Lob und das Haendeklatschen
der Zuschauer zu erwarten, welche nicht Worte genug finden konnten, das
Vergnuegen auszudruecken, das ihnen Danae durch diese unerwartete Probe
ihres Talents gemacht hatte. In wenigen Minuten kam sie schon wieder in
ihrer eignen Person zurueck. "Wie sehr ist Callias dir verbunden, schoene
Danae", sagte Phaedrias indem sie hereintrat! "Du allein konntest seinen
Tadel rechtfertigen, nur diejenige konnte es, die liebenswuerdig genug ist,
um die Sproedigkeit selbst reizend zu machen. Wie sehr waere ein Apollo zu
bedauren, fuer den du Daphne waerest!" Es war gluecklich fuer den guten
Agathon, dass er, indem dieses mit einem bedeutenden Blick gesagt wurde, in
dem Anschauen der schoenen Danae so verloren war, dass er nichts hoerte; denn
sonst wuerde ein abermaliges Erroeten die Auslegung zu diesem Text gemacht
haben. Das Lob dieser Dame, und ein Gespraech ueber die Tanzkunst fuellte
den ueberrest der Zeit aus, welche diese Gesellschaft noch beieinander
zubrachte; ein Gespraech, dessen Mitteilung uns der Leser gerne nachlassen
wird, da wir seine Begierde nach angelegenern Materien zu befriedigen
haben. Nur diesen Umstand koennen wir nicht vorbeigehen, dass Agathon bei
diesem Anlass auf einmal so beredt wurde, als er vorher tiefsinnig und
stillschweigend gewesen war; eine laechelnde Heiterkeit schimmerte um sein
ganzes Gesicht, und noch niemal hatte sein Witz sich mit solcher
Lebhaftigkeit hervorgetan. Er erhielt den Beifall der ganzen Gesellschaft,
und die schoene Danae selbst konnte sich nicht enthalten, ihn von Zeit zu
Zeit mit einem Ausdruck von Vergnuegen und Zufriedenheit anzusehen;
indessen dass in seinen nur selten von ihr abgewandten Augen etwas glaenzte,
fuer welches wir uns umsonst bemuehet haben, in der Sprache der Menschen
einen Namen zu finden.




SECHSTES KAPITEL

Geheime Nachrichten


Wir haben von unserm Freunde Plutarch gelernt, dass sehr kleine
Begebenheiten oefters durch grosse Folgen merkwuerdig werden, und sehr kleine
Handlungen uns nicht selten tiefere Blicke in das Inwendige der Menschen
tun lassen, als die feierlichen Handlungen, wozu man, weil sie dem
oeffentlichen Urteil ausgesetzt sind, sich ordentlicher Weise in eine
gewisse mit sich selbst abgeredete Verfassung zu setzen pflegt. Die
Gruendlichkeit dieser Beobachtung hat uns bewogen, in der Geschichte der
Pantomime, welche das vorige Kapitel ausfuellt, so umstaendlich zu sein; und
wir hoffen uns deshalb vollkommen zu rechtfertigen, wenn wir diese
Erzaehlung durch dasjenige ergaenzen, was die liebenswuerdige Psyche betrifft,
mit welcher der Leser schon im ersten Buche, wiewohl nur im Vorbeigehen,
bekannt zu werden angefangen hat. Diese Psyche, so wie sie war, hatte
bisher unter allen Wesen, welche in die Sinne fallen, (wir setzen diese
Einschraenkung nicht ohne Ursach hinzu, so seltsam sie auch in
anti-platonischen Ohren klingen mag) den ersten Platz in seinem Herzen
eingenommen, und er hatte, seitdem sie von ihm entfernt war, kein
Frauenzimmer gesehen, die nicht durch die blosse Erinnerung an Psyche alle
Macht ueber sein Herz und selbst ueber seine Sinnen verloren haette; deren
Bewegungen, wie man weiss, sonst nicht immer mit den erstern so parallel
laufen, als gewisse Romanenschreiber vorauszusetzen scheinen. Die
Wahrheit zu gestehen, so war dieses nicht die Wuerkung derjenigen
heroischen Treue und Standhaftigkeit in der Liebe, welche in besagten
Romanen zu einer Tugend von der ersten Klasse gemacht wird; Psyche erhielt
sich im Besitz seines Herzens, weil ihm die Erinnerungen, die er von ihr
hatte, angenehmer waren, als die Empfindungen, die ihm irgend eine andre
Schoene einzufloessen vermocht, oder weil er bisher keine andre gesehen hatte,
die so sehr nach seinem Herzen gewesen waere. Eine Erfahrung von etlichen
Jahren beredete ihn, dass es allezeit so sein wuerde, und daher kam
vielleicht die Bestuerzung, wovon er befallen wurde, als der erste Anblick
der schoenen Danae ihm eine Vollkommenheit darstellte, die seiner
Einbildung nach allein jenseits des Mondes anzutreffen sein sollte. Er
muesste nicht Agathon gewesen sein, wenn diese Erscheinung sich nicht seiner
ganzen Seele so sehr bemeistert haette, wie wir gesehen haben. Niemals,
deuchte ihn, hatte er in einem so hohen Grad und in einer so seltnen
Harmonie alle diese feinern Schoenheiten, von denen gemeine Seelen nicht
geruehrt zu werden faehig sind, vereiniget gesehen. Ihre Gestalt, ihre
Blicke, ihr Laecheln, ihre Gebaerden, ihr Gang, alles hatte diese
Vollkommenheit, welche die Dichter den Goettinnen zuzuschreiben pflegen.
Was Wunder also, dass er in den ersten Stunden nichts als anschauen und
bewundern konnte, und dass seine entzueckte Seele noch keine Zeit hatte auf
dasjenige acht zu geben, was in ihr vorging. In der Tat waren alle ihre
uebrigen Kraefte so gebunden, dass er wider seine Gewohnheit in dieser ganzen
Zeit sich seiner Psyche eben so wenig erinnerte, als ob sie nie gewesen
waere. Allein als die junge Taenzerin zum Vorschein kam, welche die Person
der Daphne spielte, so stellte einige aehnlichkeit, die sie wuerklich in der
Gesichtsbildung und Figur mit Psyche hatte, ihm auf einmal, wiewohl ohne
dass er sich dessen deutlich bewusst war, das Bild seiner abwesenden
Geliebten vor die Augen; seine Einbildungskraft setzte durch eine
gewoehnliche mechanische Wuerkung Psyche an die Stelle dieser Daphne, und
wenn er so vieles an der Taenzerin auszusetzen fand, so war es im Grunde
nur darum, weil die Vergleichung den Betrug des ersten Anblicks entdeckte,
oder weil sie nicht Psyche war. So gewoehnlich dergleichen Spiele der
Einbildung sind, so selten ist es, dass man den Einfluss deutlich
unterscheidet, den sie auf unsre Urteile oder Neigungen zu haben pflegen.
Agathon selbst, der sich von seiner ersten Jugend an eine Beschaeftigung
daraus gemacht hatte, den geheimen Triebfedern seiner innerlichen
Bewegungen nachzuspueren, merkte dennoch nicht eher, was bei diesem Anlass
in seiner Phantasie vorging, bis der Name Psyche, dieser Name, dessen
blosser Ton sonst Musik in seinen Ohren gewesen war, ihn erschuetterte, und
in eine Verwirrung von Empfindungen setzte, die er selbst zu beschreiben
Muehe gehabt hat; wenn wir anders hievon nach der besondern Dunkelheit, die
in unsrer Urkunde ueber diese Stelle liegt, urteilen duerfen. Was auch die
Ursache dieser Bestuerzung gewesen sein mag, so ist gewiss, dass er weit
davon entfernt war nur zu argwoehnen, der Genius seiner ersten Liebe stutze
vielleicht darueber, eine Nebenbuhlerin in einem Herzen zu finden, welches
er von Psyche allein ausgefuellt zu sehen gewohnt war. Sein Selbstbetrug,
wofern es anders einer war, scheint desto mehr Entschuldigung zu verdienen,
weil dieser geliebte Name wuerklich in wenig Augenblicken seine ganze
Zaertlichkeit rege machte. Er bemerkte nun erst deutlich die aehnlichkeiten,
welche die beiden Psychen mit einander hatten; er verglich sie mit einem
Vorurteile, welches der Abwesenden so guenstig war, dass die Gegenwaertige
ihr nur zum Schatten dienen musste; ja wir wissen nicht, ob eine so
lebhafte Erinnerung nicht endlich der schoenen Danae selbst Abbruch getan
haette, wenn diese, gleich als ob sie durch eine Art von Divination erraten
haette was in seiner Seele vorging, nicht auf den gluecklichen Einfall
gekommen waere, sich an den Platz der kleinen Taenzerin zu setzen, um die
Vorstellung auszufuehren, welche sich Agathon von einer idealischen Daphne
gemacht, und deren die Geschmeidigkeit ihres Geistes sich so schnell und
so gluecklich zu bemaechtigen gewusst hatte. Einen schlimmern Streich konnte
sie in der Tat der einen und der andern Psyche nicht spielen. Beide
wurden von ihrem blendenden Glanze, wie benachbarte Sterne von dem vollen
Mond, ausgeloescht. Und wie haette ihn auch das Bild seiner abwesenden
Geliebten noch laenger beschaeftigen koennen, da alle Anschauungskraefte
seiner Seele, auf diesen einzigen bezaubernden Gegenstand geheftet, ihm
kaum zureichend schienen, dessen ganze Vollkommenheit zu empfinden; da er
diese sittliche Venus mit allen ihren geistigen Grazien wuerklich vor sich
sah, zu deren blossen Schattenbild ihn Psyche zu erheben vermocht hatte?

Wir wissen nicht, ob man eben ein Hippias sein muesste, um zu glauben, dass
gewisse Schoenheiten von einer nicht so unkoerperlichen, wiewohl in ihrer
Art eben so vollkommenen Natur, weit mehr als Agathon selbst gewahr wurde,
zu dieser Verzueckung in die idealischen Welten beigetragen haben koennten,
worin er waehrend dem pantomimischen Tanz der Danae sich befand. Die
Nymphen-maessige Kleidung, welche dieser Tanz erforderte, war nur
allzugeschickt diese Reizungen in ihrer ganzen Macht und in dem
mannigfaltigsten Lichte zu entwickeln; und wir muessen gestehen, die Goettin
der Liebe selbst haette sich nicht zuversichtlicher als die untadelliche
Danae dem Auge der schaerfsten Kenner, ja selbst den Augen einer
Nebenbuhlerin, in diesem Aufzug ueberlassen duerfen. Der Charakter der
ungeschminkten Unschuld, welchen sie so unverbesserlich nachahmte, schien
dadurch einen noch lebhaftern Ausdruck zu erhalten; aber einen so
lebhaften, dass ein jeder andrer als ein Agathon dabei in Gefahr gewesen
waere, die seinige zu verlieren. Freilich hatten die uebrigen Zuschauer
Muehe genug, sich zu enthalten, die Rolle des Apollo in ganzem Ernste zu
machen; aber von unsern Helden hatte Danae nichts zu besorgen; und sie
fand, dass Hippias nicht zuviel von ihm versprochen hatte. Diese
materiellen Schoenheiten, die er nicht einmal deutlich unterschied, weil
sie in seinen Augen mit den geistigen in Eins zusammengeflossen waren,
mochten den Grad der Lebhaftigkeit seiner Empfindungen noch so sehr
erhoehen, so konnten sie doch die Natur derselben nicht veraendern; niemals
in seinem Leben waren sie reiner, Begierden-freier, unkoerperlicher gewesen.
Kurz, so widersinnisch es jenen aus groeberm Stoff gebildeten Erdensoehnen,
welche in dem vollkommensten Weibe nur ein Weib sehen, scheinen mag, so
gewiss war es, dass Danae mit einer Gestalt und in einem Aufzug, welcher
(mit dem weisen Hippias zu reden) einen Geist haette verkoerpern moegen,
diesen seltsamen Juengling in einen so voelligen Geist verwandelte, als man
jemals diesseits und vielleicht auch jenseits des Mondes gesehen hat.




FUeNFTES BUCH




ERSTES KAPITEL

Was die Nacht durch in den Gemuetern einiger von unsern Personen
vorgegangen


Wir haben schon so viel von der gegenwaertigen Gemuetsverfassung unsers
Helden gesagt, dass man sich nicht verwundern wird, wenn wir hinzusetzen,
dass er den uebrigen Teil der Nacht in ununterbrochenem Anschauen dieser
idealen Vollkommenheit zubrachte, die seine Einbildungskraft mit einer ihr
gewoehnlichen Kunst, und ohne dass er den Betrug merkte, an die Stelle der
schoenen Danae geschoben hatte. Dieses Anschauen setzte sein Gemuet in eine
so angenehme und ruhige Entzueckung, dass er, gleich als ob nun alle seine
Wuensche befriediget waeren, nicht das geringste von der Unruhe, den
Begierden, der innerlichen Gaerung, der Abwechslung von Frost und Hitze
fuehlte, womit die Leidenschaft, mit der man ihn, nicht ohne
Wahrscheinlichkeit, behaftet glauben konnte, sich ordentlicher Weise
anzukuendigen pflegt.

Was die Danae betrifft, welche die Ehre hatte, diese erhabene Entzueckungen
in ihm zu erwecken, so brachte sie den Rest der Nacht wo nicht mit eben so
erhabenen doch in ihrer Art mit eben so angenehmen Betrachtungen zu.
Agathon hatte ihr gefallen, sie war mit dem Eindruck, den sie auf ihn
gemacht, zufrieden; und sie glaubte, nach den Beobachtungen, die ihr
dieser Abend bereits an die Hand gegeben, dass sie sich selbst mit gutem
Grunde zutrauen koenne, ihn, durch die gehoerigen Gradationen, zu einem
zweiten und vielleicht standhaftern Alcibiades zu machen. Nichts war ihr
hiebei angenehmer als die Bestaetigung des Plans, den sie sich ueber die Art
und Weise, wie man seinem Herzen am leichtesten beikommen koenne, gemacht
hatte. Es ist wahr, dass der Einfall, sich an die Stelle der Taenzerin zu
setzen, ihr erst in dem Augenblick gekommen war, da sie ihn ausfuehrte;
allein sie wuerde ihn nicht ausgefuehrt haben, wenn sie nicht die gute
Wuerkung davon mit einer Art von Gewissheit vorausgesehen haette. Haette sie
in dem ersten Augenblick, da sie sich ihm darstellte, in ihren Gebaerden,
oder in ihrem Anzug das mindeste gehabt, das ihm anstoessig haette sein
koennen, so wuerde es ihr schwer gewesen sein, den widrigen Eindruck dieses
ersten Augenblicks jemals wieder gut zu machen. Agathon musste in den Fall
gesetzt werden, sich selbst zu hintergehen, ohne es gewahr zu werden; und
wenn er fuer subalterne Reizungen empfindlich gemacht werden sollte, so
musste es durch Vermittlung der Einbildungskraft und auf eine solche Art
geschehen, dass die geistigen und die materiellen Schoenheiten sich in
seinen Augen vermengten, und dass er in den letztern nichts als den
Widerschein der ersten zu sehen glaubte. Danae wusste sehr wohl, dass die
intelligible Schoenheit keine Leidenschaft erweckt, und dass die Tugend
selbst, wenn sie (wie Plato sagt) in sichtbarer Gestalt unaussprechliche
Liebe einfloessen wuerde, diese Wuerkung mehr der blendenden Weisse und dem
reizenden Contour eines schoenen Busens, als der Unschuld, die aus
demselben hervorschimmerte, zuzuschreiben haben wuerde. Allein das wusste
Agathon noch nicht; er musste also betrogen werden, und, so wie sie es
anging, konnte sie mit der groessten Wahrscheinlichkeit hoffen, dass es ihr
gelingen wuerde.

Der weise Hippias hatte zuviel Ursache, den Agathon bei dieser Gelegenheit
zu beobachten, als dass ihm das geringste entgangen waere, was ihn von dem
gluecklichen Fortgang seines Anschlags zu versichern schien. Allein er
schmeichelte sich zuviel, wenn er hoffte, Callias werde, in dem
ekstatischen Zustande, worin er zu sein schien, ihn zum Vertrauten seiner
Empfindungen machen. Das Vorurteil, welches dieser wider ihn gefasst
hatte, verschloss ihm den Mund, so gern er auch dem Strome seiner
Begeisterung den Lauf gelassen haette. Eine Danae war in seinen Augen ein
so vortrefflicher Gegenstand, und das was er fuer sie empfand, so rein, so
weit ueber die brutale Denkungsart eines Hippias erhaben; dass er durch eine
unzeitige Vertraulichkeit gegen diesen Ungeweihten beides zu entheiligen
geglaubt haette.


 


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