Geschichte des Agathon, Teil 1
by
Christoph Martin Wieland

Part 3 out of 5







ZWEITES KAPITEL

Eine kleine metaphysische Abschweifung


Es gibt so verschiedne Gattungen von Liebe, dass es, wie uns ein Kenner
derselben versichert hat, nicht unmoeglich waere, drei oder vier Personen zu
gleicher Zeit zu lieben, ohne dass sich eine derselben ueber Untreue zu
beklagen haette. Agathon hatte in einem Alter von siebzehn Jahren fuer die
Priesterin zu Delphi etwas zu empfinden angefangen, das derjenigen Art von
Liebe glich, die, nach dem Ausdruck des Fieldings, ein wohlzubereiteter
Rostbeef einem Menschen einfloesst, der guten Appetit hat. Diese Liebe
hatte, ehe er selbst noch wusste, was daraus werden koennte, der
Zaertlichkeit weichen muessen, welche ihm Psyche einfloesste. Die Zuneigung,
die er zu diesem liebenswuerdigen Geschoepfe trug, war eine Liebe der
Sympathie, eine Harmonie der Herzen, eine geheime Verwandtschaft der
Seelen, die sich denen, so sie nicht aus Erfahrung kennen, unmoeglich
beschreiben laesst; eine Liebe an der das Herz und der Geist mehr Anteil
nimmt als die Sinnen, und die vielleicht die einzige Art von Verbindung
ist, welche, (wofern sie allgemein sein koennte) den Sterblichen einigen
Begriff von den Verbindungen und Vergnuegen himmlischer Geister zu geben
faehig waere. Wir sehen voraus, dass unsre meisten Leser bei dieser Stelle
die Nase ruempfen, und zweifeln werden, ob wir uns selbst verstehen; allein
wir lassen uns dieses gar nicht anfechten. Sancho, wenn er (wie es ihm
zuweilen begegnete) eine Menge schoener Sachen vorgebracht hatte, wovon
weder sein Herr noch irgend ein andrer, oder auch er selbst etwas
verstehen konnte, pflegte sich damit zu troesten, dass er sagte: "Gott
versteht mich"; und der Geschichtschreiber des Agathons kann es ganz wohl
leiden, dass diese und aehnliche Stellen seines Werkes von allen andern
Lesern fuer Galimathias gehalten werden, da er versichert ist, dass *** ihn
versteht--Agathon koennte also von dieser gedoppelten Art von Liebe, wovon
eine die Antipode der andern ist, aus Erfahrung sprechen; allein diejenige,
worin jene beiden sich in einander mischen, die Liebe, welche die Sinnen,
den Geist und das Herz zugleich bezaubert, die heftigste, die reizendste
und gefaehrlichste aller Leidenschaften, war ihm mit allen ihren Symptomen
und Wuerkungen noch unbekannt; und es ist also kein Wunder, dass sie sich
schon seines ganzen Wesens bemeistert hatte, eh es ihm nur eingefallen war,
ihr zu widerstehen. Es ist wahr, dasjenige was in seinem Gemuete vorging,
nachdem er in zween oder drei Tagen die schoene Danae weder gesehen, noch
etwas von ihr gehoert hatte, haette den Zustand seines Herzens einem
unbefangnen Zuschauer verdaechtig gemacht; aber er selbst war weit entfernt
das geringste Misstrauen in die Unschuld seiner Gesinnungen zu setzen. Was
ist natuerlicher, als das Verlangen, das vollkommenste und liebenswuerdigste
unter allen Wesen, nachdem man es einmal gesehen hat, immer zu sehen?
Solche Schluesse macht die Leidenschaft. Aber was sagte denn die Vernunft
dazu? die Vernunft? O, die sagte gar nichts. uebrigens muessen wir doch,
es mag nun zur Entschuldigung unsers Helden dienen oder nicht, den Umstand
nicht aus der Acht lassen, dass er von der schoenen Danae nichts anders
wusste, als was er gesehen hatte. Der Charakter, den ihr die Welt beilegte,
war ihm gaenzlich unbekannt; er hatte noch keinen Anlass, und, die Wahrheit
zu sagen, auch kein Verlangen gehabt, sich darnach zu erkundigen.




DRITTES KAPITEL

Worin die Absichten des Hippias einen merklichen Schritt machen



Inzwischen waren ungefaehr acht Tage verflossen, welche dem
stillschweigenden und melancholischen Agathon, zu grossem Vergnuegen des
boshaften Sophisten, achthundert Jahre dauchten, als dieser an einem
Morgen zu ihm kam, und mit einer gleichgueltigen Art zu ihm sagte: "Danae
hat einen Aufseher ueber ihre Gaerten und Landgueter vonnoeten; was sagst du
zu dem Einfall, den ich habe, dich an diesen Platz zu setzen? Mich daucht,
du wuerdest dich nicht uebel zu einem solchen Amte schicken; hast du nicht
Lust in ihre Dienste zu treten?" Ein Wort, welches Bestuerzung und
uebermaessige Freude, Misstrauen und Hoffnung, Erblassen und Gluehen zu
gleicher Zeit ausdrueckte, wuerde uns wohl zustatten kommen, die Verwirrung
auszudruecken, worein diese Anrede den guten Agathon setzte. Sie war zu
gross, als dass er sogleich haette antworten koennen. Allein die Augen des
Hippias, in denen er einen Teil der Bosheit lase, die der Sophist zu
verbergen sich bemuehte, gaben ihm bald die Sprache wieder. "Wenn du Lust
hast, dich auf diese Art von mir los zu machen", versetzte er mit so
vieler Fassung als ihm moeglich war, "so hab ich nur eine Bedenklichkeit -"
"Und diese ist?" "--dass ich mich sehr schlecht auf die Landwirtschaft
verstehe." "Das hat nichts zu bedeuten", antwortete der Sophist; "du
wirst Leute unter dir haben, die sich desto besser darauf verstehen, und
das ist genug. Im uebrigen glaube ich, dass du mit Vergnuegen in diesem
Hause sein wirst. Du liebest das Landleben, und du wirst Gelegenheit
haben alle seine Annehmlichkeiten zu schmecken. Wenn du es zufrieden bist,
so geh ich, um diese Sache in Richtigkeit zu bringen." "Du hast dir das
Recht erkauft, mit mir zu machen was du willt", erwiderte Agathon. "Die
Wahrheit zu sagen", fuhr Hippias fort, "ungeachtet der kleinen
Misshelligkeiten unsrer Koepfe, verlier ich dich ungern: Allein Danae
scheint es zu wuenschen, und ich habe Verbindlichkeiten gegen sie; sie hat,
ich weiss nicht woher, eine grosse Meinung von deiner Faehigkeit gefasst, und
da ich alle Tage Gelegenheit haben werde, dich in ihrem Hause zu sehen, so
kann ich mirs um so eher gefallen lassen, dich an eine Freundin abzutreten,
von der ich gewiss bin, dass dir so begegnet werden wird, wie du es
verdienest." Agathon beharrte in dem Ton der Gleichgueltigkeit, den er
angenommen hatte, und Hippias, dem es Muehe genug kostete, die Spoettereien
zurueckzuhalten, die ihm alle Augenblicke auf die Lippen kamen, verliess ihn,
ohne sich merken zu lassen, dass er wuesste, was er von dieser
Gleichgueltigkeit denken sollte. Das Betragen Agathons bei diesem Anlass
wird ihn vielleicht in den Verdacht setzen, dass er sich bewusst gewesen sei,
dass es nicht richtig in seinem Herzen stehe, warum haette er sonst noetig
gehabt sich zu verbergen? Allein man muss sich der Vorurteile erinnern, die
er wider den Sophisten gefasst hatte, um zu sehen, dass er vollkommen in
seinem Charakter blieb, indem er Empfindungen vor ihm zu verbergen suchte,
die einem so unverbesserlichen Anti-Platon ganz unverstaendlich oder
vollkommen laecherlich gewesen waeren. Die Freude, welcher er sich ueberliess,
so bald er sich allein sah, laesst uns keinen Zweifel uebrig, dass er damals
noch nicht das geringste Misstrauen in sein Herz gesetzt habe. Diese
Freude war ueber allen Ausdruck.

Liebhaber von einer gewissen Art koennen sich eine Vorstellung davon machen,
welche der allerbesten Beschreibung wert ist; und den uebrigen wuerde diese
Beschreibung ohngefaehr so viel helfen, als eine Seekarte einem Fussgaenger.
Die unvergleichliche Danae wieder zu sehen; nicht nur wieder zu sehen, in
ihrem Hause zu sein, unter ihren Augen zu leben, ihres Umgangs zu geniessen,
vielleicht--ihrer Freundschaft gewuerdiget zu werden--hier hielt seine
entzueckte Einbildungskraft stille. Die Hoffnungen eines gewoehnlichen
Liebhabers wuerden weiter gegangen sein; allein Agathon war kein
gewoehnlicher Liebhaber. "Ich liebe die schoene Danae", sagte Hyacinthus,
da er nach ihrem Genuss luestern war; "eben darum liebt ihr sie nicht",
wuerde ihm die Sokratische Diotima geantwortet haben. Derjenige, der in
dem Augenblick, da ihm seine Geliebte den ersten Kuss auf ihre Hand
gestattet, einen Wunsch nach einer groessern Glueckseligkeit hat, muss nicht
sagen, dass er liebe.




VIERTES KAPITEL

Veraenderung der Szene


Danae hatte von der Freigebigkeit des Prinzen Cyrus, ausser dem Hause,
welches sie zu Smyrna bewohnte, ein Landgut, in der anmutigsten Gegend
ausserhalb dieser Stadt, wo sie von Zeit zu Zeit einige dem Vergnuegen
geweihte Tage zuzubringen pflegte. Hieher musste sich Agathon begeben, um
von seinem neuen Amte Besitz zu nehmen, und dasjenige zu veranstalten, was
zum Empfang seiner Gebieterin noetig war, welche sich vorgenommen hatte,
den Rest der schoenen Jahrszeit auf dem Lande zu geniessen. Wir
widerstehen der Versuchung, eine Beschreibung von diesem Landgut zu machen,
um dem Leser das Vergnuegen zu lassen, sich dasselbe so wohlangelegt, so
praechtig und so angenehm vorzustellen als er selbst es will. Alles, was
wir davon sagen wollen, ist, dass diejenigen, deren Einbildungskraft
einiger Unterstuetzung noetig hat, den sechszehnten Gesang des "befreiten
Jerusalems" lesen muessten, um sich eine Vorstellung von dem Orte zu machen,
den sich diese griechische Armide zum Schauplatz der Siege auswaehlte, die
sie ueber unsern Helden zu erhalten hoffte. Sie fand nicht fuer gut, oder
konnte es nicht ueber sich selbst erhalten, ihn lange auf ihre Ankunft
warten zu lassen; und sie war kaum angelangt, als sie ihn zu sich rufen
liess, und ihn durch folgende Anrede in eine angenehme Bestuerzung setzte:
"Die Bekanntschaft, die wir vor einigen Tagen mit einander gemacht haben,
waere, auch ohne die Nachrichten, die mir Hippias von dir gegeben, schon
genug gewesen, mich zu ueberzeugen, dass du fuer den Stand nicht geboren bist,
in den dich ein widriger Zufall gesetzt hat. Die Gerechtigkeit, die ich
Personen von Verdiensten widerfahren zu lassen faehig bin, gab mir das
Verlangen ein, dich aus einer Abhaenglichkeit von dem Hippias zu setzen,
welche die Verschiedenheit deiner Denkungsart von der seinigen, dir in die
Laenge beschwerlich gemacht haette. Er hatte die Gefaelligkeit, dich mir
als eine Person vorzuschlagen, die sich schickte, die Stelle eines
Aufsehers in meinem Hause zu vertreten. Ich nahm sein Erbieten an, um das
Vergnuegen zu haben, den Gebrauch davon zu machen, den ich deinen
Verdiensten und meiner Denkungsart schuldig bin. Du bist frei, Callias,
und vollkommen Meister zu tun was du fuer gut befindest. Kann die
Freundschaft, die ich dir anbiete, dich bewegen bei mir zu bleiben, so
wird der Name eines Amtes, von dessen Pflichten ich dich voellig
freispreche, wenigstens dazu dienen, der Welt eine begreifliche Ursache zu
geben, warum du in meinem Hause bist; wo nicht, so soll das Vergnuegen,
womit ich zu Befoerderung der Entwuerfe, die du wegen deines kuenftigen
Lebens machen kannst, die Hand bieten werde, dich von der Lauterkeit der
Bewegungsgruende ueberzeugen, welche mich so gegen dich zu handeln
angetrieben haben." Die edle und ungezwungene Anmut, womit dieses
gesprochen wurde, vollendete die Wuerkung, die eine so grossmuetige Erklaerung
auf den Empfindungs-vollen Agathon machen musste, "was fuer eine Art zu
denken! was fuer eine Seele!" Konnt' er weniger tun, als sich zu ihren
Fuessen werfen, um in Ausdruecken, deren Verwirrung ihre ganze Beredsamkeit
ausmachte, der Bewundrung und der Dankbarkeit Luft zu machen, deren
uebermass seine Brust zersprengen zu wollen schien. "Keine Danksagungen,
Callias", unterbrach ihn die grossmuetige Danae, "was ich getan habe, ist
nicht mehr als ich einem jeden andern, der deine Verdienste haette, eben
sowohl schuldig zu sein glaubte -" "Ich habe keine Ausdruecke fuer das was
ich empfinde, anbetungswuerdige Danae", rief der entzueckte Agathon, "ich
nehme dein Geschenk an, um das Vergnuegen zu geniessen, dein freiwilliger
Sklave zu sein; eine Ehre, gegen die ich die Krone des Koenigs von Persien
verschmaehen wuerde. Ja, schoenste Danae, seitdem ich dich gesehen habe,
kenne ich kein groesseres Glueck als dich zu sehen; und wenn alles, was ich
in deinem Dienste tun kann, faehig sein kann, dich von der
unaussprechlichen Empfindung, die ich von deinem Werte habe, zu ueberzeugen;
wuerdig sein kann, mit einem zufriednen Blick von dir belohnt zu werden--o
Danae! wer wird denn so gluecklich sein als ich?" "Lasst uns", sagte die
bescheidne Nymphe, "ein Gespraech enden, das die allzugrosse Dankbarkeit
deines Herzens auf einen zu hohen Ton gestimmt hat. Ich habe dir gesagt,
auf was fuer einem Fuss du hier sein wirst. Ich sehe dich als einen Freund
meines Hauses an, dessen Gegenwart mir Vergnuegen macht, dessen Wert ich
hoch schaetze, und dessen Dienste mir in meinen Angelegenheiten desto
nuetzlicher sein koennen, da sie freiwillig und die Frucht einer
uneigennuetzigen Freundschaft sein werden." Mit diesen Worten verliess sie
den dankbaren Agathon, in dessen Erklaerung einige vielleicht Schwulst und
Unsinn, oder wenigstens zuviel Feuer und Entzueckung gefunden haben werden.
Allein sie werden sich zu erinnern belieben, dass Agathon weder in einer
so gelassenen Gemuetsverfassung war, wie sie; noch alles wusste, was sie
durch unsere Indiskretion von der schoenen Danae erfahren haben. Wir
wissen freilich was wir ungefaehr von ihr denken sollen; allein in seinen
Augen war sie eine Goettin; und zu ihren Fuessen liegend konnte er, zumal bei
der Verbindlichkeit, die er ihr hatte, natuerlicher Weise, diese Danae
nicht mit einer so philosophischen Gleichgueltigkeit ansehen, wie wir
andern.

Agathon war nun also ein Hausgenosse der schoenen Danae, und entfaltete mit
jedem Tage neue Verdienste, die ihm dieses Glueck wuerdig zeigten, und die
seine geringe Achtung fuer den Hippias ihn verhindert hatte, in dessen
Hause sehen zu lassen. Da nebst den besondern Ergoetzungen des Landlebens
diese feinere Art von Belustigungen, an denen der Witz und die Musen den
meisten Anteil haben, die hauptsaechlichste Beschaeftigung war, wozu man die
Zeit in diesem angenehmen Aufenthalt anwendete; so hatte er Gelegenheit
genug, seine Talente von dieser Seite schimmern zu lassen; und seine
bezauberte Phantasie gab ihm so viele Erfindungen an die Hand, dass er
keine andre Muehe hatte, als diejenigen auszuwaehlen, die er am
geschicktesten glaubte, seine Gebieterin und die kleine Gesellschaft von
vertrauten Freunden, die sich bei ihr einfanden, zu ergoetzen. So weit war
es schon mit demjenigen gekommen, der vor wenigen Wochen es fuer eine
geringschaetzige Bestimmung hielt, in der Person eines unschuldigen
Anagnosten die jonischen Ohren zu bezaubern.

In der Tat koennen wir laenger nicht verbergen, dass diese unbeschreibliche
Empfindung (wie er dasjenige nannte was ihm die schoene Danae eingefloesst
hatte) dieses ich weiss nicht was, welches wir, so wenig er es auch
gestanden haette, ganz ungescheut Liebe nennen wollen, in dem Lauf von
wenigen Tagen so sehr zugenommen hatte, dass einem jeden andern als einem
Agathon die Augen ueber den wahren Zustand seines Herzens aufgegangen waeren.
Wir wissen wohl, dass die Umstaendlichkeit unsrer Erzaehlung bei diesem
Teile seiner Geschichte, den Ernsthaftern unter unsern Lesern, wenn wir
anders dergleichen haben werden, sehr langweilig vorkommen wird. Allein
die Achtung, die wir ihnen schuldig sind, kann uns nicht verhindern, uns
die Vorstellung zu machen, dass diese Geschichte vielleicht kuenftig, und
wenn es auch nur aus einem Gewuerzladen waere, einem jungen noch nicht ganz
ausgebrueteten Agathon in die Haende fallen koennte, der aus einer genauern
Beschreibung der Veraenderungen, welche die Goettin Danae nach und nach in
dem Herzen und der Denkungsart unsers Helden hervorgebracht, sich gewisse
Beobachtungen und Kautelen ziehen koennte, von denen er vielleicht einen
guten Gebrauch zu machen Gelegenheit bekommen moechte. Wir glauben also,
wenn wir diesem zukuenftigen Agathon zu Gefallen uns die Muehe nehmen, der
Leidenschaft unsers Helden von der Quelle an in ihrem wiewohl noch
geheimen Lauf nachzugehen, desto eher entschuldiget zu sein, da es allen
uebrigen, die mit diesen Anekdoten nichts zu machen wissen, frei steht, das
folgende Kapitel zu ueberschlagen.




FUeNFTES KAPITEL

Natuerliche Geschichte der Platonischen Liebe


"Die Quelle der Liebe", sagt Zoroaster, oder haette es doch sagen koennen,
"ist das Anschauen eines Gegenstandes, der unsre Einbildungskraft
bezaubert." Der Wunsch diesen Gegenstand immer anzuschauen, ist der erste
Grad derselben. Je bezaubernder dieses Anschauen ist, und je mehr die an
dieses Bild der Vollkommenheit angeheftete Seele daran zu entdecken und zu
bewundern findet, desto laenger bleibt sie in den Grenzen dieses ersten
Grades der Liebe stehen. Dasjenige was sie hiebei erfaehrt, kommt anfangs
demjenigen ausserordentlichen Zustande ganz nahe, den man Verzueckung nennt;
alle andere Sinnen, alle wirksamen Kraefte der Seele scheinen stille zu
stehen, und in einen einzigen Blick, worin man keiner Zeitfolge gewahr
wird, verschlungen zu sein. Dieser Zustand ist zu gewaltsam, als dass er
lange dauern koennte; langsamer oder schneller macht er der Empfindung
eines unaussprechlichen Vergnuegens Platz, welches die natuerliche Folge
jenes ekstatischen Anschauens ist, und wovon, wie einige Adepten uns
versichert haben, keine andre Art von Vergnuegen oder Wollust uns einen
bessern Begriff geben kann, als der unreine und duestre Schein einer
Pechfackel von der Klarheit des unkoerperlichen Lichts, worin, nach der
Meinung der Morgenlaendischen Weisen, die Geister als in ihrem Elemente
leben. Dieses innerliche Vergnuegen aeussert sich bald durch die
Veraenderungen, die es in dem mechanischen Teil unsers Wesens hervorbringt;
es wallt mit huepfender Munterkeit in unsern Adern, es schimmert aus unsern
Augen, es giesst eine laechelnde Heiterkeit ueber unser Gesicht, und gibt
allen unsern Bewegungen eine neue Lebhaftigkeit und Anmut: es stimmt und
erhoehet alle Kraefte unsrer Seele, belebt das Spiel der Phantasie und des
Witzes, und kleidet, so zu sagen, alle unsre Ideen in den Schimmer und die
Farbe der Liebe. Ein Liebhaber ist in diesem Augenblick mehr als ein
gewoehnlicher Mensch; er ist (wie Plato sagt) von einer Gottheit voll, die
aus ihm redet und wuerket; und es ist keine Vollkommenheit, keine Tugend,
keine Heldentat so gross, wozu er in diesem Stande der Begeistrung und
unter den Augen des geliebten Gegenstands nicht faehig waere. Dieser
Zustand dauert noch fort, wenn er gleich von demselben entfernt wird, und
das Bild desselben, das seine ganze Seele auszufuellen scheint, ist so
lebhaft, dass es einige Zeit braucht, bis er der Abwesenheit des Urbildes
gewahr wird. Aber kaum empfindet die Seele diese Abwesenheit, so
verschwindet jenes Vergnuegen mit seinem ganzen bezauberten Gefolge; man
erfaehrt in immer zunehmenden Graden das Gegenteil von allen Wuerkungen
jener Begeisterung, wovon wir geredet haben; und derjenige der vor kurzem
mehr als ein Mensch schien, scheint nun nichts als der Schatten von sich
selbst, ohne Leben, ohne Geist, zu nichts geschickt als in einoeden
Wildnissen wie ein Gespenst umherzuirren, den Namen seiner Goettin in
Felsen einzugraben, und den tauben Baeumen seine Schmerzen vorzuseufzen;
ein klaeglicher Zustand, in Wahrheit, wenn nicht ein einziger Blick des
Gegenstands, von dem diese seltsame Bezauberung herruehrt, hinlaenglich waere,
in einem Wink diesem Schatten wieder einen Leib, dem Leib eine Seele, und
der Seele diese Begeisterung wieder zu geben, durch welche sie ohne
Beobachtung einiger Gradation von der Verzweiflung zu unermesslicher Wonne
uebergeht. Wenn Agathon dieses alles nicht voellig in so hohem Grad erfuhr,
als andre von seiner Art, so muss dieses vermutlich allein dem Einfluss
beigemessen werden, den seine werte Psyche noch in dasjenige hatte, was in
seinem Herzen vorging. Allein wir muessen gestehen, dieser Einfluss wurde
immer schwaecher; die lebhaften Farben, womit ihr Bild seiner Phantasie
ehemals vorgeschwebt hatte, wurden immer matter; und anstatt dass ihn sonst
sein Herz an sie erinnert hatte, musste es itzt von ohngefaehr und durch
einen Zufall geschehen. Endlich verschwand dieses Bild gaenzlich; Psyche
hoerte auf fuer ihn zu existieren, ja kaum erinnerte er sich alles dessen,
was vor seiner Bekanntschaft mit der schoenen Danae vorgegangen war anders,
als ein erwachsener Mensch sich seiner ersten Kindheit erinnert. Es ist
also leicht zu begreifen, dass seine ganze vormalige Art zu empfinden und
zu sein, einige Veraenderung erlitt, und gleichsam die Farbe und den Ton
des Gegenstands bekam, der mit einer so unumschraenkten Macht auf ihn
wuerkte. Sein ernsthaftes Wesen machte nach und nach einer gewissen
Munterkeit Platz, die ihm vieles, das er ehmals missbilligst hatte, in
einem guenstigern Lichte zeigte; seine Sittenlehre wurde unvermerkt freier
und gefaelliger, und seine ehmaligen guten Freunde, die aetherischen Geister,
wenn sie ja noch einigen Zutritt bei ihm hatten, mussten sich gefallen
lassen, die Gestalt der schoenen Danae anzunehmen, um vorgelassen zu werden.
Vor Begierde der Beherrscherin seines Herzens zu gefallen, vergass er,
sich um den Beifall unsichtbarer Zuschauer seines Lebens zu bekuemmern; und
der Zustand der entkoerperten Seelen deuchte ihn nicht mehr so
beneidenswuerdig, seitdem er im Anschauen dieser irdischen Goettin ein
Vergnuegen genoss, welches alle seine Einbildungen ueberstieg. Der Wunsch
immer bei ihr zu sein, war nun erfuellt, dem zweiten, der auf diesen
gefolget sein wuerde, dem Verlangen ihre Freundschaft zu besitzen war sie
selbst gleich anfangs grossmuetiger Weise zuvorgekommen, und die
verbindliche und vertraute Art, wie sie etliche Tage lang mit ihm umging,
liess ihm von dieser Seite nichts zu wuenschen uebrig. Er hatte ihre
Freundschaft, nun wuenschte er auch ihre Zaertlichkeit zu haben--Ihre
Zaertlichkeit!--Ja, aber eine Zaertlichkeit, wie nur die Einbildungskraft
eines Agathons faehig ist, sich vorzustellen. Kurz, da er anfing zu
merken, dass er sie liebe, so wuenschte er wieder geliebt zu werden. Allein
er liebte sie mit einer so uneigennuetzigen, so geistigen, so
begierdenfreien Liebe, als ob sie eine Sylphide gewesen waere; und der
kuehnste Wunsch, den er zu wagen faehig war, war nur, in derjenigen
sympathetischen Verbindung der Seelen mit ihr zu stehen, wovon ihm Psyche
die Erfahrung gegeben hatte. "Wie angenehm" (dacht er) "wie
entzueckungsvoll, wie sehr ueber alles, was die Sprache der Sterblichen
ausdruecken kann, musste eine solche Sympathie mit einer Danae sein, da sie
mit Psyche schon so angenehm gewesen war!" Zum Unglueck fuer unsern
Platoniker war dieses ein Plan, wozu Danae, welche dieses mal keine
Sylphide spielen wollte, sich nicht so gut anliess, als er es gewuenscht
hatte. Sie fuhr immer fort sich in den Grenzen der Freundschaft zu halten,
und, die Wahrheit zu sagen, sie war entweder nicht geistig genug, sich
von dieser intellektualischen Liebe, von der er ihr so viel schoenes
vorsagte, einen rechten Begriff zu machen; oder sie fand es laecherlich, in
ihrem Alter und mit ihrer Figur eine Rolle zu spielen, die, nach ihrer
Denkungsart, sich nur fuer eine Person schickte, die im Bade keine Besuche
mehr annimmt; wenn sie gleich allzu bescheiden war, ihm dieses mit Worten
zu sagen, so fand sie doch Mittel genug, ihm ihre Gedanken ueber diesen
Punkt auf eine vielleicht eben so nachdrueckliche Art zu erkennen zu geben.
Gewisse kleine Nachlaessigkeiten in ihrem Putz, ein verraeterischer Zephir,
oder ihr Sperling, der indem sie neben Agathon auf einer Ruhebank sass, mit
mutwilligem Schnabel an dem Gewand zerrte, das zu ihren Fuessen herabfloss,
schienen seiner aetherischen Liebe zu spotten, und ihm Aufmunterungen zu
geben, die ein minder bezauberter Liebhaber nicht noetig gehabt haette.
Danae hatte Ursache mit der Wuerkung dieser kleinen Kunstgriffe zufrieden
zu sein. Agathon, welcher sich angewoehnt hatte, den Leib und die Seele
als zwei verschiedene Wesen zu betrachten, und in dessen Augen Danae eine
geraume Zeit nichts anders, als (nach dem Ausdruck des Guidi) eine
himmlische Schoenheit in einem irdischen Schleier gewesen war, vermengte
diese beiden Wesen je laenger je mehr in seiner Phantasie mit einander, und
er konnte es desto leichter, da in der Tat alle koerperlichen Schoenheiten
seiner Goettin so beseelt waren, und alle Schoenheiten ihrer Seele so
lebhaft aus diesem reizenden Schleier hervorschimmerten, dass es beinahe
unmoeglich war, sich eine ohne die andre vorzustellen. Dieser Umstand
brachte zwar keine wesentliche Veraenderung in seiner Art zu lieben hervor;
doch ist gewiss, dass er nicht wenig dazu beitrug, ihn unvermerkt in eine
Verfassung zu setzen, welche die Absichten der schlauen Danae mehr zu
beguenstigen als abzuschrecken schien. "O du, fuer den wir aus grossmuetiger
Freundschaft uns die Muehe gegeben haben, dieses dir allein gewidmete
Kapitel zu schreiben, halte hier ein und frage dein Herz. Wenn du eine
Danae gefunden hast (armer Juengling! welche Molly Seagrim kann es nicht
in deinen bezauberten Augen sein?) und du verstehest den Schluss dieses
Kapitels, so koemmt unsre Warnung schon zu spaet, und du bist verloren,
fliehe, von dem Augenblick an, da du sie gesehen; fliehe, und ersticke den
Wunsch sie wieder zu sehen! Wenn du das nicht kannst; wenn du, nachdem du
diese Warnung gelesen, nicht willst: so bist du kein Agathon mehr, so bist
du was wir andern alle sind; tue was du willst, es ist nichts mehr an dir
zu verderben."




SECHSTES KAPITEL

Worin der Geschichtschreiber sich einiger Indiskretion schuldig macht


Die schoene Danae war sehr weit entfernt, gleichgueltig gegen die Vorzuege
des Callias zu sein, und es kostete ihr wuerklich, so gesetzt sie auch war,
einige Muehe, ihm zu verbergen, wie sehr sie von seiner Liebe geruehrt war,
und wie gern sie sich dieselbe zu Nutz gemacht haette. Allein aus einem
Agathon einen Alcibiades zu machen, das konnte nicht das Werk von etlichen
Tagen sein, und um so viel weniger, da er durch unmerkliche Schritte, und
ohne, dass sie selbst etwas dabei zu tun schien, zu einer so grossen
Veraenderung gebracht werden musste, wenn sie anders dauerhaft sein sollte.
Die grosse Kunst war, unter der Masque der Freundschaft seine Begierden zu
eben der Zeit zu reizen, da sie selbige durch eine unaffektierte
Zurueckhaltung abzuschrecken schien. Allein auch dieses war nicht genug;
er musste vorher die Macht zu widerstehen verlieren; wenn der Augenblick
einmal gekommen sein wuerde, da sie die ganze Gewalt ihrer Reizungen an ihm
zu pruefen entschlossen war. Eine zaertliche Weichlichkeit musste sich
vorher seiner ganzen Seele bemeistern, und seine in Vergnuegen schwimmende
Sinnen mussten von einer suessen Unruhe und wolluestigen Sehnsucht eingenommen
werden, ehe sie es wagen wollte, einen Versuch zu machen, der, wenn er zu
frueh gemacht worden waere, gar leicht ihren ganzen Plan haette vereiteln
koennen. Zum Unglueck fuer unsern Helden ersparte ihr seine magische
Einbildungskraft die Haelfte der Muehe, welche sie aus einem uebermass von
Freundschaft anwenden wollte, ihm die Verwandlung, die mit ihm vorgehen
sollte, zu verbergen. Ein Laecheln seiner Goettin war genug, ihn in
Vergnuegen zu zerschmelzen; ihre Blicke schienen ihm einen ueberirdischen
Glanz ueber alles auszugiessen, und ihr Atem der ganzen Natur den Geist der
Liebe einzuhauchen: Was musste denn aus ihm werden, da sie zu Vollendung
ihres Sieges alles anwendete, was auch den unempfindlichsten unter allen
Menschen zu ihren Fuessen haette legen koennen? Agathon wusste noch nicht, dass
sie die Laute spielte, und in der Musik eine eben so grosse Virtuosin als
in der Tanzkunst war. Die Feste und Lustbarkeiten, in deren Erfindung er
unerschoepflich war, um ihr den laendlichen Aufenthalt angenehmer zu machen,
gaben ihr Anlass, ihn durch Entdeckung dieser neuen Reizungen in Erstaunung
zu setzen. "Es ist billig", sagte sie zu ihm, "dass ich deine Bemuehungen,
mir Vergnuegen zu machen, durch eine Erfindung von meiner Art erwidre.
Diesen Abend will ich dir den Wettstreit der Sirenen und der Musen geben,
ein Stueck des beruehmten Damons, das ich noch aus Aspasiens Zeiten uebrig
habe, und das von den Kennern fuer das Meisterstueck der Tonkunst erklaert
wurde. Die Anstalten sind schon dazu gemacht, und du allein sollst der
Zuhoerer und Richter dieses Wettgesangs sein." Niemals hatte den Agathon
eine Zeit laenger gedaucht, als die wenigen Stunden, die er in Erwartung
dieses versprochenen Vergnuegens zubrachte. Danae hatte ihn verlassen, um
durch ein erfrischendes Bad ihrer Schoenheit einen neuen Glanz zu geben,
indessen dass er die verschwindenden Strahlen der untergehenden Sonne einen
nach dem andern zu zaehlen schien. Endlich kam die angesetzte Stunde.
Der schoenste Tag hatte der anmutigsten Nacht Platz gemacht, und eine suesse
Daemmerung hatte schon die ganze schlummernde Natur eingeschleiert; als
ploetzlich ein neuer zauberischer Tag, den eine unendliche Menge kuenstlich
versteckter Lampen verursachte, den reizenden Schauplatz sichtbar machte,
welchen die Fee dieses Orts zu diesem Lustspiel hatte zubereiten lassen.
Eine mit Lorbeerbaeumen beschattete Anhoehe erhob sich aus einem
spiegelhellen See, der mit Marmor gepflastert, und ringsum mit Myrten und
Rosenhecken eingefasst war. Kleine Quellen schlaengelten den Lorbeerhain
herab, und rieselten mit sanftem Murmeln oder laechelndem Klatschen in den
See, an dessen Ufer hier und da kleine Grotten, mit Korallenmuscheln und
andern Seegewaechsen ausgeschmueckt hervorragten, und die Wohnung der
Nymphen dieses Wassers zu sein schienen. Ein kleiner Nachen in Gestalt
einer Perlenmuschel, der von einem marmornen Triton emporgehalten wurde,
stund der Anhoehe gegen ueber am Ufer, und war der Sitz, auf welchem Agathon
als Richter den Wettgesang hoeren sollte.




SIEBENTES KAPITEL

Magische Kraft der Musik


Agathon hatte seinen Platz kaum eingenommen, als man in dem Wasser ein
wuehlendes Plaetschern, und aus der Ferne, wie es liess, eine sanft
zerflossene Harmonie hoerte, ohne jemand zu sehen, von dem sie herkaeme.
Unser Liebhaber, den dieser Anfang in ein stilles Entzuecken setzte, wurde,
ungeachtet er zu diesem Spiele vorbereitet war, zu glauben versucht, dass
er die Harmonie der Sphaeren hoere, von deren Wuerklichkeit ihn die
Pythagorischen Weisen beredet hatten; allein, waehrend dass sie immer naeher
kam und deutlicher wurde, sah er zu gleicher Zeit die Musen aus dem
kleinen Lorbeerwaeldchen und die Sirenen aus ihren Grotten hervorkommen.
Danae hatte die juengsten und schoensten aus ihren Aufwaerterinnen ausgelesen,
diese Meernymphen vorzustellen, die, nur von einem wallenden Streif von
himmelblauem Byssus umflattert, mit Cithern und Floeten in der Hand sich
ueber die Wellen erhuben, und mit jugendlichem Stolz untadeliche
Schoenheiten vor den Augen ihrer eifersuechtigen Gespielen entdeckten.
Allein kleine Tritonen, bliesen, um sie her schwimmend, aus krummen
Hoernern, und neckten sie durch mutwillige Spiele; indes dass Danae mitten
unter den Musen, an den Rand der kleinen Halbinsel herabstieg, und, wie
Venus unter den Grazien, oder Diana unter ihren Nymphen hervorglaenzend,
dem Auge keine Freiheit liess, auf einem andern Gegenstande zu verweilen.
Ein langes schneeweisses Gewand floss, unter dem halbentbloessten Busen mit
einem goldnen Guertel umfasst, in kleinen wallenden Falten zu ihren Fuessen
herab; ein Kranz von Rosen wand sich um ihre Locken, wovon ein Teil in
kunstloser Anmut um ihren Nacken schwebte; ihr rechter Arm, auf dessen
Weisse die Homerische Juno eifersuechtig haette sein duerfen, umfasste eine
Laute von Elfenbein. Die uebrigen Musen, mit verschiednen
Saiteninstrumenten versehen, lagerten sich zu ihren Fuessen; sie allein
blieb in einer unnachahmlich reizenden Stellung stehen, und hoerte laechelnd
der Aufforderung zu, welche die uebermuetigen Syrenen ihr entgegensangen.
Man muss ohne Zweifel gestehen, dass das Gemaelde, welches sich in diesem
Augenblick unserm Helden darstellte, nicht sehr geschickt war, weder sein
Herz noch seine Sinnen in Ruhe zu lassen; allein die Absicht der Danae war
nur, ihn durch die Augen zu den Vergnuegungen eines andern Sinnes
vorzubereiten, und ihr Stolz verlangte keinen geringern Triumph, als ein
so reizendes Gemaelde durch die Zaubergewalt ihrer Stimme und ihrer Saiten
in seiner Seele auszuloeschen. Sie schmeichelte sich nicht zu viel. Die
Sirenen hoerten auf zu singen, und die Musen antworteten ihrer Ausforderung
durch eine Symphonie, welche auszudrucken schien, wie gewiss sie sich des
Sieges hielten. Nach und nach verlor sich die Munterkeit, die in dieser
Symphonie herrschte; ein feierlicher Ernst nahm ihren Platz ein, das Getoen
wurde immer einfoermiger, bis es nach und nach in ein dunkles gedaempftes
Murmeln und zuletzt in eine gaenzliche Stille erstarb. Ein allgemeines
Erwarten schien dem Erfolg dieser vorbereitenden Stille entgegen zu
horchen, als es auf einmal durch eine liebliche Harmonie unterbrochen
wurde, welche die gefluegelten und seelenvollen Finger der schoenen Danae
aus ihrer Laute lockten. Eine Stimme, welche faehig schien, die Seelen
ihren Leibern zu entfuehren, und Tote wieder zu beseelen (wenn wir einen
Ausdruck des Liebhabers der schoenen Laura entlehnen duerfen) eine so
bezaubernde Stimme beseelte diese reizende Anrede. Der Inhalt des
Wettgesangs war ueber den Vorzug der Liebe, die sich auf die Empfindung,
oder derjenigen, die sich auf die blosse Begierde gruendet. Nichts koennte
ruehrender sein, als das Gemaelde, welches Danae von der ersten Art der
Liebe machte; "in solchen Toenen", dacht Agathon, "ganz gewiss in keinen
andern, druecken die Unsterblichen einander aus, was sie empfinden; nur
eine solche Sprache ist der Goetter wuerdig." Die ganze Zeit da dieser
Gesang dauerte, deuchte ihn ein Augenblick, und er wurde ganz unwillig,
als Danae auf einmal aufhoerte, und eine der Sirenen, von den Floeten ihrer
Schwestern begleitet, kuehn genug war, es mit seiner Goettin aufzunehmen.
Allein er wurde bald gezwungen anders Sinnes zu werden, als er sie hoerte;
alle seine Vorurteile fuer die Muse konnten ihn nicht verhindern, sich
selbst zu gestehen, dass eine fast unwiderstehliche Verfuehrung in ihren
Toenen atmete. Ihre Stimme, die an Weichheit und Biegsamkeit nicht
uebertroffen werden konnte, schien alle Grade der Entzueckungen auszudruecken,
deren die sinnliche Liebe faehig ist; und das weiche Getoen der Floeten
erhoehte die Lebhaftigkeit dieses Ausdrucks auf einen Grad, der kaum einen
Unterschied zwischen der Nachahmung und der Wahrheit uebrig liess. "Wenn
die Sirenen, bei denen der kluge Ulysses vorbeifahren musste, so gesungen
haben", (dachte Agathon) "so hatte er wohl Ursache, sich an Haenden und
Fuessen an den Mastbaum binden zu lassen." Kaum hatten die Sirenen diesen
Gesang geendiget, so erhub sich ein frohlockendes Klatschen aus dem Wasser,
und die kleinen Tritonen stiessen in ihre Hoerner, den Sieg anzudeuten, den
sie ueber die Musen erhalten zu haben glaubten. Allein diese hatten den
Mut nicht verloren: Sie ermunterten sich bald wieder, und fingen eine
Symphonie an, wovon der Anfang eine spottende Nachahmung des Gesanges der
Sirenen zu sein schien. Nach einer Weile wechselten sie die Tonart und
den Rhythmus durch ein Andante, welches in wenigen Takten nicht die
mindeste Spur von den Eindruecken uebrig liess, die der Syrenen Gesang auf
das Gemuete der Hoerenden gemacht haben konnte. Eine suesse Schwermut
bemaechtigte sich Agathons; er sank in ein angenehmes Staunen,
unfreiwillige Seufzer entflohen seiner Brust, und wolluestige Traenen
rollten ueber seine Wangen herab. Mitten aus dieser ruehrenden Harmonie
erhob sich der Gesang der schoenen Danae, welche durch die eifersuechtigen
Bestrebungen ihrer Nebenbuhlerin aufgefordert war, die ganze
Vollkommenheit ihrer Stimme, und alle Zauberkraefte der Kunst anzuwenden,
um den Sieg gaenzlich auf die Seite der Musen zu entscheiden. Ihr Gesang
schilderte die ruehrenden Schmerzen einer wahren Liebe, die in ihrem
Schmerzen selbst ein melancholisches Vergnuegen findet; ihre standhafte
Treue und die Belohnung, die sie zuletzt von der zaertlichsten Gegenliebe
erhaelt. Die Art wie sie dieses ausfuehrte, oder vielmehr die Eindruecke,
die sie dadurch auf ihren Liebhaber machte, uebertrafen alles was man sich
davon vorstellen kann. Sein ganzes Wesen war Ohr, und seine ganze Seele
zerfloss in die Empfindungen, die in ihrem Gesange herrscheten. Er war
nicht so weit entfernt, dass Danae nicht bemerkt haette, wie sehr er ausser
sich selbst war, und wie viel Muehe er hatte, um sich zu halten, aus seinem
Sitz sich in das Wasser herabzustuerzen, zu ihr hinueber zu schwimmen, und
seine in Entzueckung und Liebe zerschmolzene Seele zu ihren Fuessen
auszuhauchen. Sie wurde durch diesen Anblick selbst so geruehrt, dass sie
genoetiget war, die Augen von ihm abzuwenden, um ihren Gesang vollenden zu
koennen: Allein sie beschloss bei sich selbst, die Belohnung nicht laenger
aufzuschieben, welche sie einer so vollkommenen Liebe schuldig zu sein
glaubte. Endlich endigte sich ihr Lied; die begleitende Symphonie hoerte
auf; die beschaemten Sirenen flohen in ihre Grotten; die Musen verschwanden;
und der staunende Agathon blieb in trauriger Entzueckung allein.




ACHTES KAPITEL

Eine Abschweifung, wodurch der Leser zum Folgenden vorbereitet wird


Wir koennen die Verlegenheit nicht verbergen, in welche wir uns durch die
Umstaende gesetzt finden, worin wir unsern Helden zu Ende des vorigen
Kapitels verlassen haben. Sie drohen dem erhabnen Charakter, den er
bisher mit einer so ruehmlichen Standhaftigkeit behauptet, und wodurch er
sich zweifelsohne in eine nicht gemeine Hochachtung bei unsern Lesern
gesetzt hat, einen Abfall, der denenjenigen, welche von einem Helden eine
vollkommene Tugend fordern, eben so anstoessig sein wird, als ob sie, nach
allem was bereits mit ihm vorgegangen, natuerlicher Weise etwas bessers
haetten erwarten koennen.

Wie gross ist in diesem Stuecke der Vorteil eines Romanendichters vor
demjenigen, welcher sich anheischig gemacht hat, ohne Vorurteil oder
Parteilichkeit, mit Verleugnung des Ruhms, den er vielleicht durch
Verschoenerung seiner Charakter, und durch Erhebung des Natuerlichen ins
Wunderbare sich haette erwerben koennen, der Natur und Wahrheit in
gewissenhafter Aufrichtigkeit durchaus getreu zu bleiben! Wenn jener die
ganze grenzenlose Welt des Moeglichen zu freiem Gebrauch vor sich
ausgebreitet sieht; wenn seine Dichtungen durch den maechtigen Reiz des
Erhabnen und Erstaunlichen schon sicher genug sind, unsre Einbildungskraft
und unsre Eitelkeit auf seine Seite zu bringen; wenn schon der kleinste
Schein von uebereinstimmung mit der Natur hinlaenglich ist, die Freunde des
Wunderbaren, welche immer die groesseste Zahl ausmachen, von ihrer
Moeglichkeit zu ueberzeugen; ja, wenn er volle Freiheit hat, die Natur
selbst umzuschaffen, und, als ein andrer Prometheus, den geschmeidigen Ton,
aus welchem er seine Halbgoetter und Halbgoettinnen bildet, zu gestalten
wie es ihm beliebt, oder wie es die Absicht, die er auf uns haben mag,
erheischet: So sieht sich hingegen der arme Geschichtschreiber genoetiget,
auf einem engen Pfade, Schritt vor Schritt in die Fussstapfen der vor ihm
hergehenden Wahrheit einzutreten, jeden Gegenstand so gross oder so klein,
so schoen oder so haesslich, wie er ihn wuerklich findet, abzumalen; die
Wuerkungen so anzugeben, wie sie vermoege der unveraenderlichen Gesetze der
Natur aus ihren Ursachen herfliessen; und wenn er seiner Pflicht ein
voelliges Genuegen getan hat, sich gefallen zu lassen, dass man seinen Helden
am Ende um wenig oder nichts schaetzbarer findet, als der schlechteste
unter seinen Lesern sich ohngefaehr selbst zu schaetzen pflegt.

Vielleicht ist kein unfehlbarers Mittel mit dem wenigsten Aufwand von
Genie, Wissenschaft und Erfahrenheit ein gepriesener Schriftsteller zu
werden, als wenn man sich damit abgibt, Menschen (denn Menschen sollen es
doch sein) ohne Leidenschaften, ohne Schwachheit, ohne allen Mangel und
Gebrechen, durch etliche Baende voll wunderreicher Abenteure, in der
einfoermigsten Gleichheit mit sich selbst, herumzufuehren. Eh ihr es euch
verseht, ist ein Buch fertig, das durch den erbaulichen Ton einer strengen
Sittenlehre, durch blendende Sentenzen, durch Charaktere und Handlungen,
die eben so viele Muster sind, den Beifall aller der gutherzigen Leute
ueberraschet, welche jedes Buch, das die Tugend anpreist, vortrefflich
finden. Und was fuer einen Beifall kann sich ein solches Werk erst alsdenn
versprechen, wenn der Verfasser die Kunst oder die natuerliche Gabe besitzt,
seine Schreibart auf den Ton der Begeisterung zu stimmen, und, verliebt
in die schoenen Geschoepfe seiner erhitzten Einbildungskraft, die Meinung
von sich zu erwecken, dass ers in die Tugend selber sei. Umsonst mag dann
ein verdaechtiger Kunstrichter sich heiser schreien, dass ein solches Werk
eben so wenig fuer die Talente seines Urhebers beweise, als es der Welt
Nutzen schaffe; umsonst mag er vorstellen, wie leicht es sei, die
Definitionen eines Auszugs der Sittenlehre in Personen, und die Maximen
des Epictets in Handlungen zu verwandeln; umsonst mag er beweisen, dass die
unfruchtbare Bewunderung einer schimaerischen Vollkommenheit, welche man
nachzuahmen eben so wenig wahren Vorsatz als Vermoegen hat, das aeusserste
sei, was diese wackere Leute von ihren hochfliegenden Bemuehungen zum
Besten einer ungelehrigen Welt erwarten koennen: Der weisere Tadler heisst
ihnen ein Zoilus, und hat von Glueck zu sagen, wenn das Urteil das er von
einem so moralischen Werke des Witzes faellt, nicht auf seinen eignen
sittlichen Charakter zurueckprallt, und die gesundere Beschaffenheit seines
Gehirns nicht zu einem Beweise seines schlimmen Herzens gemacht wird.
Und wie sollte es auch anders sein koennen? Unsre Eitelkeit ist zusehr
dabei interessiert, als dass wir uns derjenigen nicht annehmen sollten,
welche unsre Natur, wiewohl eignen Gewalts, zu einer so grossen Hoheit und
Wuerdigkeit erhalten. Es schmeichelt unserm Stolze, der sich ungern durch
so viele Zeichen von Vorzuegen des Stands, des Ansehens, der Macht und des
aeusserlichen Glanzes unter andre erniedriget sieht, die Mittel (wenigstens
so lange das angenehme Blendwerk daurt) in seiner Gewalt zu sehen, sich
ueber die Gegenstaende seines Neides hinauf schwingen, und sie tief im
Staube unter sich zuruecklassen zu koennen. Und wenn gleich die
unverhehlbare Schwaeche unsrer Natur uns auf der einen Seite, zu grossem
Vorteil unsrer Traegheit, von der Ausuebung heroischer Tugenden loszaehlt; so
ergoetzt sich doch inzwischen unsre Eigenliebe an dem suessen Wahne, dass wir
eben so wundertaetige Helden gewesen sein wuerden, wenn uns das Schicksal an
ihren Platz gesetzt haette.

Wir muessen uns gefallen lassen, wie diese gewagten Gedanken, so natuerlich
und wahr sie uns scheinen, von den verschiednen Klassen unsrer Leser
aufgenommen werden moegen: Und wenn wir auch gleich Gefahr laufen sollten,
uns unguenstige Vorurteile zuzuziehen; so koennen wir doch nicht umhin,
diese angefangene Betrachtung um so mehr fortzusetzen, je groesser die
Beziehung ist, welche sie auf den ganzen Inhalt der vorliegenden
Geschichte hat.

Unter allen den uebernatuerlichen Charaktern, welche die mehrbelobten
romanhaften Sittenlehrer in einen gewissen Schwung von Hochachtung
gebracht haben, sind sie mit keinem gluecklicher gewesen, als mit dem
Heldentum in der Grossmut, in der Tapferkeit und in der verliebten Treue.
Daher finden wir die Liebensgeschichten, Ritterbuecher und Romanen, von den
Zeiten des guten Bischofs Heliodorus bis zu den unsrigen, von Freunden,
die einander alles, sogar die Forderungen ihrer staerksten Leidenschaften,
und das angelegenste Interesse ihres Herzens aufopfern; von Rittern,
welche immer bereit sind, der ersten Infantin, die ihnen begegnet, zu
gefallen, sich mit allen Riesen und Ungeheuern der Welt herumzuhauen; und
(bis Crebillon eine bequemere Mode unter unsre Nachbarn jenseits des
Rheins aufgebracht hat) beinahe von lauter Liebhabern angefuellt, welche
nichts angelegners haben, als in der Welt herumzuziehen, um die Namen
ihrer Geliebten in die Baeume zu schneiden, ohne dass die reizendesten
Versuchungen, denen sie von Zeit zu Zeit ausgesetzt sind, vermoegend waeren,
ihre Treue nur einen Augenblick zu erschuettern. Man muesste wohl sehr
eingenommen sein, wenn man nicht sehen sollte, warum diese vermeinten
Heldentugenden in eine so grosse Hochachtung gekommen sind. Von je her
haben die Schoenen sich berechtiget gehalten, eine Liebe, welche ihnen
alles aufopfert, und eine Bestaendigkeit, die gegen alle andre Reizungen
unempfindlich ist, zu erwarten. Sie gleichen in diesem Stuecke den grossen
Herren, welche verlangen, dass unserm Eifer nichts unmoeglich sein solle,
und die sich sehr wenig darum bekuemmern, ob uns dasjenige, was sie von uns
fordern, gelegen, oder ob es ueberhaupt recht und billig sei, oder nicht.
Eben so ist es fuer unsre Beherrscherinnen schon genug, dass der Vorteil
ihrer Eitelkeit und ihrer uebrigen Leidenschaften sich bei diesen
vorgeblichen Tugenden am besten befindet, um einen Artabanus oder einen
Grafen von Comminges zu einem groessern Mann in ihren Augen zu machen, als
alle Helden des Plutarchs zusammengenommen. Und ist die unedle
Eigennuetzigkeit oder der feige Kleinmut, womit wir (zumal bei jenen
Voelkern, wo der Tod aus sittlichen Ursachen mehr als natuerlich ist,
gefuerchtet wird) den groessesten Teil der buergerlichen Gesellschaft
angesteckt sehen, vielleicht weniger interessiert, eine sich selbst ganz
vergessende Grossmut und eine Tapferkeit, die von nichts erzittert, zu
vergoettern? Je vollkommener andre sind, desto weniger haben wir noetig es
zu sein; und je hoeher sie ihre Tugend treiben, desto weniger haben wir bei
unsern Lastern zu besorgen.

Der Himmel verhuete, dass unsre Absicht jemals sei, in schoenen Seelen diese
liebenswuerdige Schwaermerei fuer die Tugend abzuschrecken, welche ihnen so
natuerlich und oefters die Quelle der lobenswuerdigsten Handlungen ist.
Alles was wir mit diesen Bemerkungen abzielen, ist allein, dass die
romanhaften Helden, von denen die Rede ist, noch weniger in dem Bezirke
der Natur zu suchen seien als die gefluegelten Loewen und die Fische mit
Maedchenleibern; dass es moralische Grotesken seien, welche eine muessige
Einbildungskraft ausbruetet, und ein verdorbner moralischer Sinn, nach Art
gewisser Indianer, destomehr vergoettert, je weiter ihre verhaeltniswuerdige
Missgestalt von der menschlichen Natur sich entfernet, welche doch, mit
allen ihren Maengeln, das beste, liebenswuerdigste und vollkommenste Wesen
ist, das wir wuerklich kennen--und dass also der Held unsrer Geschichte,
durch die Veraenderungen und Schwachheiten, denen wir ihn unterworfen sehen,
zwar allerdings, wir gestehen es, weniger ein Held, aber destomehr ein
Mensch, und also desto geschickter sei, uns durch seine Erfahrungen, und
selbst durch seine Fehler zu belehren.

Wir koennen indes nicht bergen, dass wir aus verschiednen Gruenden in
Versuchung geraten sind, der historischen Wahrheit dieses einzige mal
Gewalt anzutun, und unsern Agathon, wenn es auch durch irgend einen Deum
ex Machina haette geschehen muessen, so unversehrt aus der Gefahr, worin er
sich wuerklich befindet, herauszuwickeln, als es fuer die Ehre des
Platonismus, die er bisher so schoen behauptet hat, allerdings zu wuenschen
gewesen waere. Allein da wir in Erwaegung zogen, dass diese einzige
poetische Freiheit uns noetigen wuerde, in der Folge seiner Begebenheiten so
viele andre Veraenderungen vorzunehmen, dass die Geschichte Agathons
wuerklich die Natur einer Geschichte verloren haette, und zur Legende irgend
eines moralischen Don Esplandians geworden waere: So haben wir uns
aufgemuntert, ueber alle die ekeln Bedenklichkeiten hinauszugehen, die uns
anfaenglich stutzen gemacht hatten, und uns zu ueberreden, dass der Nutzen,
den unsre verstaendigen Leser sogar von den Schwachheiten unsers Helden in
der Folge zu ziehen Gelegenheit bekommen koennten, ungleich groesser sein
duerfte, als der zweideutige Vorteil, den die Tugend dadurch erhalten haette,
wenn wir, durch eine unwahrscheinlichere Dichtung als man im ganzen
"Orlando" unsers Freunds Ariost finden wird, die schoene Danae in die
Notwendigkeit gesetzt haetten, in der Stille von ihm zu denken, was die
beruehmte Phryne bei einer gewissen Gelegenheit von dem weisen Xenocrates
oeffentlich gesagt haben soll.

So wisset dann, schoene Leserinnen, (und huetet euch, stolz auf diesen Sieg
eurer Zaubermacht zu sein,) dass Agathon, nachdem er eine ziemliche Weile
in einem Gemuetszustand, dessen Abschilderung den Pinsel eines Thomsons
oder Gessners erfoderte, allein zurueckgeblieben war, wir wissen nicht ob
aus eigner Bewegung oder durch den geheimen Antrieb irgend eines
antiplatonischen Genius den Weg gegen einen Pavillion genommen, der auf
der Morgenseite des Gartens in einem kleinen Hain von Zitronen-,
Granaten--und Myrtenbaeumen auf jonischen Saeulen von Jaspis ruhte; dass er,
weil er ihn erleuchtet gefunden, hineingegangen, und nachdem er einen Saal,
dessen herrliche Auszierung ihn nicht einen Augenblick aufhalten konnte,
und zwei oder drei kleinere Zimmer durchgeeilet, in einem Cabinet, welches
fuer die Ruhe der Liebesgoettin bestimmt schien, die schoene Danae auf einem
Sofa von nelkenfarbem Atlas schlafend angetroffen; dass er, nachdem er sie
eine lange Zeit in unbeweglicher Entzueckung und mit einer Zaertlichkeit,
deren innerliches Gefuehl alle koerperliche Wollust an Suessigkeit uebertrifft,
betrachtet hatte, endlich--von der Gewalt der allmaechtigen Liebe bezwungen,
sich nicht laenger zu enthalten vermocht, zu ihren Fuessen kniend, eine von
ihren nachlaessig ausgestreckten schoenen Haenden mit einer Inbrunst, wovon
wenige Liebhaber sich eine Vorstellung zu machen jemals verliebt genug
gewesen sind, zu kuessen, ohne dass sie daran erwacht waere; dass er hierauf
noch weniger als zuvor sich entschliessen koennen, so unbemerkt als er
gekommen, sich wieder hinwegzuschleichen; und kurz, dass die kleine Psyche,
die Taenzerin, welche seit der Pantomime, man weiss nicht warum, gar nicht
seine Freundin war, mit ihren Augen gesehen haben wollte, dass er eine
ziemliche Weile nach Anbruch des Tages, allein, und mit einer Miene, aus
welcher sich sehr vieles habe schliessen lassen, aus dem Pavillion hinter
die Myrtenhecken sich weggestohlen habe.




NEUNTES KAPITEL

Nachrichten zu Verhuetung eines besorglichen Missverstandes



Die Tugend (pflegt man dem Horaz nachzusagen) ist die Mittelstrasse
zwischen zween Abwegen, welche beide gleich sorgfaeltig zu vermeiden sind.
Es ist ohne Zweifel wohl getan, wenn ein Schriftsteller, der sich einen
wichtigern Zweck als die blosse Ergoetzung seiner Leser vorgesetzt hat, bei
gewissen Anlaessen, anstatt des zaumlosen Mutwillens vieler von den neuern
Franzosen, lieber die bescheidne Zurueckhaltung des jungfraeulichen Virgils
nachahmet, welcher bei einer Gelegenheit, wo die Angola's und Versorand's
alle ihre Malerkunst verschwendet, und sonst nichts besorget haetten, als
dass sie nicht lebhaft und deutlich genug sein moechten, sich begnuegt uns zu
sagen:

"Dass Dido und der Held in Eine Hoehle kamen."


Allein wenn diese Zurueckhaltung so weit ginge, dass die Dunkelheit, welche
man ueber einen schluepfrigen Gegenstand ausbreitete, zu Missverstand und
Irrtum Anlass geben koennte: So wuerde sie, deucht uns, in eine falsche Scham
ausarten; und in solchen Faellen scheint uns ratsamer zu sein, den Vorhang
ein wenig wegzuziehen, als aus uebertriebener Bedenklichkeit Gefahr zu
laufen, vielleicht die Unschuld selbst ungegruendeten Vermutungen
auszusetzen. So aergerlich also gewissen Leserinnen, deren strenge Tugend
bei dem blossen Namen der Liebe Dampf und Flammen speit, der Anblick eines
schoenen Juenglings zu den Fuessen einer selbst im Schlummer lauter Liebe und
Wollust atmenden Danae billig sein mag; so koennen wir doch nicht
vorbeigehen, uns noch etliche Augenblicke bei diesem anstoessigen
Gegenstande aufzuhalten. Man ist so geneigt, in solchen Faellen der
Einbildungskraft den Zuegel schiessen zu lassen, dass wir uns laecherlich
machen wuerden, wenn wir behaupten wollten, dass unser Held die ganze Zeit,
die er (nach dem Vorgeben der kleinen Taenzerin) in dem Pavillion
zugebracht haben soll, sich immer in der ehrfurchtsvollen Stellung
gehalten habe, worin man ihn zu Ende des vorigen Kapitels gesehen hat.
Wir muessen vielmehr besorgen, dass Leute, welche nichts dafuer koennen, dass
sie keine Agathons sind, vielleicht so weit gehen moechten, ihn im Verdacht
zu haben, dass er sich den tiefen Schlaf, worin Danae zu liegen schien, auf
eine Art zu Nutze gemacht haben koennte, welche sich ordentlicher Weise nur
fuer einen Faunen schickt, und welche unser Freund Johann Jacob Rousseau
selbst nicht schlechterdings gebilliget haette, so scharfsinnig er auch (in
einer Stelle seines Schreibens an Herrn Dalembert) dasjenige zu
rechtfertigen weiss, was er "eine stillschweigende Einwilligung abnoetigen"
nennet. Um nun unsern Agathon gegen alle solche unverschuldete
Mutmassungen sicher zu stellen, muessen wir zur Steuer der Wahrheit melden,
dass selbst die reizende Lage der schoenen Schlaeferin, und die guenstige
Leichtigkeit ihres Anzugs, welche ihn einzuladen schien, seinen Augen
alles zu erlauben, seine Bescheidenheit schwerlich ueberrascht haben wuerden,
wenn es ihm moeglich gewesen waere, der zauberischen Gewalt der Empfindung,
in welche alle Kraefte seines Wesens zerflossen schienen, Widerstand zu tun.
Wir wagen nicht zuviel, wenn wir einen solchen Widerstand in seinen
Umstaenden fuer unmoeglich erklaeren, nachdem er einem Agathon unmoeglich
gewesen ist. Er ueberliess also endlich seine Seele der vollkommensten
Wonne ihres edelsten Sinnes, dem Anschauen einer Schoenheit, welche selbst
seine idealische Einbildungskraft weit hinter sich zuruecke liess; und (was
nur diejenigen begreifen werden, welche die wahre Liebe kennen,) dieses
Anschauen erfuellte sein Herz mit einer so reinen, vollkommnen,
unbeschreiblichen Befriedigung, dass er alle Wuensche, alle Ahnungen einer
noch groessern Glueckseligkeit darueber vergessen zu haben schien. Vermutlich
(denn gewiss koennen wir hierueber nichts entscheiden) wuerde die Schoenheit
des Gegenstands allein, so ausserordentlich sie war, diese sonderbare
Wuerkung nicht getan haben; allein dieser Gegenstand war seine Geliebte,
und dieser Umstand verstaerkte die Bewundrung, womit auch die
Kaltsinnigsten die Schoenheit ansehen muessen, mit einer Empfindung, welche
noch kein Dichter zu beschreiben faehig gewesen ist, so sehr sich auch
vermuten laesst, dass sie den mehresten aus Erfahrung bekannt gewesen sein
koenne. Diese namenlose Empfindung ist es allein, was den wahren Liebhaber
von einem Satyren unterscheidet, und was eine Art von sittlichen Grazien
sogar ueber dasjenige ausbreitet, was bei diesem nur das Werk des Instinkts,
oder eines animalischen Hungers ist. Welcher Satyr wuerde in solchen
Augenblicken faehig gewesen sein, wie Agathon zu handeln?--Behutsam und mit
der leichten Hand eines Sylphen zog er das seidene Gewand, welches Amor
verraeterisch aufgedeckt hatte, wieder ueber die schoene Schlafende her, warf
sich wieder zu den Fuessen ihres Ruhebettes, und begnuegte sich, ihre
nachlaessig ausgestreckte Hand, aber mit einer Zaertlichkeit, mit einer
Entzueckung und Sehnsucht an seinen Mund zu druecken, dass eine Bildsaeule
davon haette erweckt werden moegen. Sie musste also endlich erwachen. Und
wie haette sie auch sich dessen laenger erwehren koennen, da ihr bisheriger
Schlummer wuerklich nur erdichtet gewesen war? Sie hatte aus einer
Neugierigkeit, die in ihrer Verfassung natuerlich scheinen kann, sehen
wollen, wie ein Agathon bei einer so schluepfrigen Gelegenheit sich
betragen wuerde; und dieser letzte Beweis einer vollkommnen Liebe, welche,
ungeachtet ihrer Erfahrenheit, alle Annehmlichkeiten der Neuheit fuer sie
hatte, ruehrte sie so sehr, dass sie, von einer ungewohnten und
unwiderstehlichen Empfindung ueberwunden, in einem Augenblick, wo sie zum
erstenmal zu lieben und geliebt zu werden glaubte, nicht mehr Meisterin
von ihren Bewegungen war. Sie schlug ihre schoenen Augen auf, Augen die in
den wolluestigen Traenen der Liebe schwammen, und dem entzueckten Agathon
sein ganzes Glueck auf eine unendlich vollkommnere Art entdeckten, als es
das beredteste Liebesgestaendnis haette tun koennen. "O Callias!" (rief sie
endlich mit einem Ton der Stimme, der alle Saiten seines Herzens
widerhallen machte, indem sie, ihre schoenen Arme um ihn windend, den
Glueckseligsten aller Liebhaber an ihren Busen drueckte,) "--was fuer ein
neues Wesen gibst du mir? Geniesse, o! geniesse, du Liebenswuerdigster
unter den Sterblichen, der ganzen unbegrenzten Zaertlichkeit, die du mir
einfloessest." Und hier, ohne den Leser unnoetiger Weise damit aufzuhalten,
was sie ferner sagte, und was er antwortete, ueberlassen wir den Pinsel
einem Correggio, und schleichen uns davon.

Aber wir fangen an, zu merken, wiewohl zu spaete, dass wir unsern Freund
Agathon auf Unkosten seiner schoenen Freundin gerechtfertiget haben. Es
ist leicht vorauszusehen, wie wenig Gnade sie vor dem ehrwuerdigen und
gluecklichen Teil unsrer Leserinnen finden werde, welche sich bereden (und
vermutlich Ursache dazu haben) dass sie in aehnlichen Umstaenden sich ganz
anders als Danae betragen haben wuerden. Auch sind wir weit davon entfernt,
diese allzuzaertliche Nymphe entschuldigen zu wollen, so scheinbar auch
immer die Liebe ihre Vergehungen zu bemaenteln weiss. Indessen bitten wir
doch die vorbelobten Lukretien um Erlaubnis, dieses Kapitel mit einer
kleinen Nutzanwendung, auf die sie sich vielleicht nicht gefasst gemacht
haben, schliessen zu duerfen. Diese Damen (mit aller Ehrfurcht die wir
ihnen schuldig sind, sei es gesagt) wuerden sich sehr betruegen, wenn sie
glaubten, dass wir die Schwachheiten einer so liebenswuerdigen Kreatur, als
die schoene Danae ist, nur darum verraten haetten, damit sie Gelegenheit
bekaemen, ihre Eigenliebe daran zu kitzeln. Wir sind in der Tat nicht so
sehr Neulinge in der Welt, dass wir uns ueberreden lassen sollten, dass eine
jede, welche sich ueber das Betragen unsrer Danae aergern wird, an ihrer
Stelle weiser gewesen waere. Wir wissen sehr wohl, dass nicht alles, was
das Gepraege der Tugend fuehrt, wuerklich echte und vollhaltige Tugend ist;
und dass sechszig Jahre, oder eine Figur, die einen Satyren entwaffnen
koennte, kein oder sehr wenig Recht geben, sich viel auf eine Tugend zu gut
zu tun, welche vielleicht niemand jemals versucht gewesen ist, auf die
Probe zu stellen. Wir zweifeln mit gutem Grunde sehr daran, dass
diejenigen, welche von einer Danae am unbarmherzigsten urteilen, an ihrem
Platz einem viel weniger gefaehrlichen Versucher als Agathon war, die Augen
auskratzen wuerden: Und wenn sie es auch taeten, so wuerden wir vielleicht
anstehen, ihrer Tugend beizumessen, was eben sowohl die mechanische
Wuerkung unreizbarer Sinnen, und eines unzaertlichen Herzens, haette gewesen
sein koennen. Unser Augenmerk ist bloss auf euch gerichtet, ihr
liebreizenden Geschoepfe, denen die Natur die schoenste ihrer Gaben, die
Gabe zu gefallen, geschenkt--ihr, welche sie bestimmt hat, uns gluecklich
zu machen; aber, welche eine einzige kleine Unvorsichtigkeit in Erfuellung
dieser schoenen Bestimmung so leicht in Gefahr setzen kann, durch die
schaetzbarste eurer Eigenschaften, durch das was die Anlage zu jeder Tugend
ist, durch die Zaertlichkeit eures Herzens selbst, ungluecklich zu werden:
Euch allein wuenschten wir ueberreden zu koennen, wie gefaehrlich jene
Einbildung ist, womit euch das Bewusstsein eurer Unschuld schmeichelt, dass
es allezeit in eurer Macht stehe, der Liebe und ihren Forderungen Grenzen
zu setzen. Moechten die Unsterblichen (wenn anders, wie wir hoffen, die
Unschuld und die Guete des Herzens himmlische Beschuetzer hat,) moechten sie
ueber die eurige wachen! Moechten sie euch zu rechter Zeit warnen, euch
einer Zaertlichkeit nicht zu vertrauen, welche, bezaubert von dem
grossmuetigen Vergnuegen, den Gegenstand ihrer Liebe gluecklich zu machen, so
leicht sich selbst vergessen kann! Moechten sie endlich in jenen
Augenblicken, wo das Anschauen der Entzueckungen, in die ihr zu setzen
faehig seid, eure Klugheit ueberraschen koennte, euch in die Ohren fluestern:
Dass selbst ein Agathon, weder Verdienst noch Liebe genug hat, um wert zu
sein, dass die Befriedigung seiner Wuensche euch die Ruhe eures Herzens
koste.




ZEHENTES KAPITEL

Welches alle unsre verheiratete Leser, wofern sie nicht sehr gluecklich
oder vollkommne Stoiker sind, ueberschlagen koennen


Die schoene Danae war keine von denen, welche das, was sie tun, nur zur
Haelfte tun. Nachdem sie einmal beschlossen hatte, ihren Freund gluecklich
zu machen, so vollfuehrte sie es auf eine Art, welche alles was er bisher
Vergnuegen und Wonne genannt hatte, in Schatten und Wolkenbilder
verwandelte. Man erinnert sich vermutlich noch, dass eine Art von Vorwitz
oder vielmehr ein launischer Einfall, die Macht ihrer Reizungen an unserm
Helden zu probieren, anfangs die einzige Triebfeder der Anschlaege war,
welche sie auf sein Herz gemacht hatte. Die persoenliche Bekanntschaft
belebte dieses Vorhaben durch den Geschmack, den sie an ihm fand; und der
taegliche Umgang, die Vorzuege Agathons, und, was in den meisten Faellen die
Niederlage der weiblichen Tugend wo nicht allein verursacht, doch sehr
befoerdert, die ansteckende Kraft, das Sympathetische der verliebten
Begeisterung, welcher der goettliche Plato mit Recht die wundertaetigsten
Kraefte zuschreibt; alles dieses zusammen genommen, verwandelte zuletzt
diesen Geschmack in Liebe, aber in die wahreste, zaertlichste und heftigste,
welche jemals gewesen ist. Unserm Helden allein war die Ehre aufbehalten
(wenn es eine war) ihr eine Art von Liebe einzufloessen, worin sie,
ungeachtet alles dessen, was uns von ihrer Geschichte schon entdeckt
worden ist, noch so sehr ein Neuling war, als es eine Vestalin in jeder
Art von Liebe sein soll. Kurz, er, und er allein, war darzu gemacht, den
Widerwillen zu ueberwinden, den ihr die gemeinen Liebhaber, die schoenen
Hyacinthe, diese taendelnden Gecken, an denen (um uns ihres eigenen
Ausdrucks zu bedienen) die Haelfte ihrer Reizungen verloren ging; gegen
alles was die Miene der Liebe trug, einzufloessen angefangen hatten.

Die meisten von derjenigen Klasse der Naturkuendiger, welche mit dem Herrn
von Bueffon davorhalten, dass das Physikalische der Liebe das beste davon
sei, werden ohne Bedenken eingestehen, dass der Besitz, oder (um unsern
Ausdruck genauer nach ihren Ideen zu bestimmen) der Genuss einer so schoenen
Frau als Danae war, an sich selbst betrachtet die vollkommenste Art von
Vergnuegungen in sich schliesse, deren unsre Sinnen faehig sind; eine
Wahrheit, welche, ungeachtet einer Art von stillschweigender uebereinkunft,
dass man sie nicht laut gestehen wolle, von allen Voelkern und zu allen
Zeiten so allgemein anerkannt worden ist, dass Carneades, Sextus, Cornelius
Agrippa, und Bayle selbst sich nicht getrauet haben, sie in Zweifel zu
ziehen. Ob wir nun gleich nicht Mut genug besitzen, gegen einen so
ehrwuerdigen Beweis als das einhellige Gefuehl des ganzen menschlichen
Geschlechts abgibt, oeffentlich zu behaupten, dass diejenigen Vergnuegungen
der Liebe, welche der Seele eigen sind, den Vorzug vor jenen haben: So
werden doch nicht wenige mit uns einstimmig sein, dass ein Liebhaber, der
selbst eine Seele hat, im Besitz der schoensten Statue von Fleisch und Blut,
die man nur immer finden kann, selbst jene von den neuern Epicuraeern so
hoch gepriesene Wollust nur in einem sehr unvollkommnen Grade erfahren
wuerde; und dass diese allein von der Empfindung des Herzens jenen
wunderbaren Reiz erhalte, welcher immer fuer unaussprechlich gehalten
worden ist, bis Rousseau, der Stoiker, sich herabgelassen, sie in dem fuenf
und vierzigsten der Briefe der neuen Heloise, in einer Vollkommenheit zu
schildern, welche sehr deutlich beweist, was fuer eine begeisternde Kraft
die blosse halberloschene Erinnerung an die Erfahrungen seiner gluecklichen
Jugend ueber die Seele des Helvetischen Epictets ausgeuebt haben muesse.
Ohne Zweifel sind es Liebhaber von dieser Art, Saint Preux und Agathons,
welchen es zukoemmt, ueber die beruehrte Streitfrage einen entscheidenden
Ausspruch zu tun; sie, welche durch die Feinheit und Lebhaftigkeit ihres
Gefuehls eben so geschickt gemacht werden, von den physikalischen, als
durch die Zaertlichkeit ihres Herzens, oder durch ihren innerlichen Sinn
fuer das sittliche Schoene, von den moralischen Vergnuegungen der Liebe zu
urteilen. Und wie wahr, wie natuerlich werden nicht diese jene Stelle
finden, die den Verehrern der animalischen Liebe unverstaendlicher ist als
eine Hetruscische Aufschrift den Gelehrten,--"O, entziehe mir immer diese
berauschenden Entzueckungen, fuer die ich tausend Leben gaebe!--Gib mir nur
das alles wieder was nicht sie, aber tausendmal suesser ist als sie"-Die
schoene Danae war so sinnreich, so unerschoepflich in der Kunst (wenn man
anders dasjenige so nennen kann, was Natur und Liebe allein, und keine
ohne die andre geben kann) ihre Gunstbezeugungen zu vervielfaeltigen, den
innerlichen Wert derselben durch die Annehmlichkeiten der Verzierung zu
erhoehen, ihnen immer die frische Bluete der Neuheit zu erhalten, und alles
Eintoenige, alles was die Bezauberung haette aufloesen, und dem ueberdruss den
Zugang oeffnen koennen, klueglich zu entfernen; dass sie oder eine andre ihres
gleichen den Herrn von Bueffon selbst dahin gebracht haette, seine Gedanken
von der Liebe zu aendern, welches vielleicht alle Marquisinnen von Paris
zusammengenommen nicht von ihm erhalten wuerden. Diese glueckseligen
Liebenden, brauchten, um ihrer Empfindung nach, den Goettern an Wonne
gleich zu sein, nichts als ihre Liebe: Sie verschmaehten itzt alle diese
Lustbarkeiten, an denen sie vorher so viel Geschmack gefunden hatten; ihre
Liebe machte alle ihre Beschaeftigungen und alle ihre Ergoetzungen aus: Sie
empfanden nichts anders, sie dachten an nichts anders, sie unterhielten
sich mit nichts anderm; und doch schienen sie sich immer zum erstenmal zu
sehen, zum erstenmal zu umarmen, zum erstenmal einander zu sagen, dass sie
sich liebten; und wenn sie von einer Morgenroete zur andern nichts anders
getan hatten, so beklagten sie sich doch ueber die Kargheit der Zeit,
welche zu einem Leben, das sie zum Besten ihrer Liebe unsterblich
gewuenscht haetten, ihnen Augenblicke fuer Tage anrechne. "Welch ein Zustand,
wenn er dauern koennte!"--ruft hier der griechische Autor aus.




EILFTES KAPITEL

Eine bemerkenswuerdige Wuerkung der Liebe, oder von der Seelenmischung


Ein alter Schriftsteller, den gewiss niemand beschuldigen wird, dass er die
Liebe zu metaphysisch behandelt habe, und den wir nur zu nennen brauchen,
um allen Verdacht dessen, was materielle Seelen fuer Platonische Grillen
erklaeren, von ihm zu entfernen; mit einem Worte, Petronius, bedient sich
irgendwo eines Ausdrucks, welcher ganz deutlich zu erkennen gibt, dass er
eine verliebte Vermischung der Seelen nicht nur fuer moeglich, sondern fuer
einen solchen Umstand gehalten habe, der die Geheimnisse der Liebesgoettin
natuerlicher Weise zu begleiten pflege. Jam alligata mutuo ambitu corpora
animarum quoque mixturam fecerant, sagt dieser Oberaufseher der
Ergoetzlichkeiten des Kaisers Nero; um vermutlich eben dasselbe zu
bezeichnen, was er an einem andern Ort ungleich schoener also ausdrueckt:

Et transfudimus hinc & hinc labellis Errantes animas- Ob er selbst die
ganze Staerke dieses Ausdrucks eingesehen, oder ihm so viel Bedeutung
beigelegt habe, als wir; ist eine Frage, die uns (nach Gewohnheit der
meisten Ausleger) sehr wenig bekuemmert. Genug, dass wir diese Stellen
einer Hypothese guenstig finden, ohne welche sich, unsrer Meinung nach,
verschiedene Phaenomena der Liebe nicht wohl erklaeren lassen, und vermoege
welcher wir annehmen, dass bei wahren Liebenden, in gewissen Umstaenden,
nicht (wie einer unsrer tugendhaftesten Dichter meint) ein Tausch, sondern
eine wirkliche Mischung der Seelen vorgehe. Wie dieses moeglich sei zu
untersuchen, ueberlassen wir billig den weisen und tiefsinnigen Leuten,
welche sich, in stolzer Musse und seliger Abgeschiedenheit von dem Getuemmel
dieser sublunarischen Welt, mit der nuetzlichen Spekulation beschaeftigen,
die Art und Weise ausfindig zu machen, wie dasjenige was wuerklich ist,
ohne Nachteil ihrer Meinungen und Lehrgebaeude, moeglich sein koenne. Fuer
uns ist genug, dass eine durch unzaehliche Beispiele bestaetigte Erfahrung
ausser allen Zweifel setzt, dass diejenige Gattung von Liebe, welche
Shaftesbury mit bestem Recht zu einer Art des Enthusiasmus macht, und
gegen welche Lucrez aus eben diesem Grunde sich mit so vielem Eifer
erklaert, solche Wuerkungen hervorbringe, welche nicht besser als durch
jenen Petronischen Ausdruck abgemalt werden koennen.

Agathon und Danae, die uns zu dieser Anmerkung Anlass gegeben haben, hatten
kaum vierzehn Tage, welche freilich nach dem Kalender der Liebe nur
vierzehn Augenblicke waren, in diesem glueckseligen Zustande, worin wir sie
im vorigen Kapitel verlassen haben, zugebracht: als diese Seelenmischung
sich in einem solchen Grade bei ihnen aeusserte, dass sie nur von einer
einzigen gemeinschaftlichen Seele belebt und begeistert zu werden schienen.
Wuerklich war die Veraenderung und der Absatz ihrer gegenwaertigen Art zu
sein, mit ihrer vorigen so gross, dass weder Alcibiades seine Danae, noch
die Priesterin zu Delphi den sproeden und unkoerperlichen Agathon wieder
erkannt haben wuerden. Dass dieser aus einem spekulativen Platoniker ein
praktischer Aristipp geworden; dass er eine Philosophie, welche die reinste
Glueckseligkeit in Beschauung unsichtbarer Schoenheiten setzt, gegen eine
Philosophie, welche sie in angenehmen Empfindungen, und die angenehmen
Empfindungen in ihren naechsten Quellen, in der Natur, in unsern Sinnen und
in unsern Herzen sucht, vertauschte; dass er von den Goettern und
Halbgoettern, mit denen er vorher umgegangen war, nur die Grazien und
Liebesgoetter beibehielt; dass dieser Agathon, der ehmals von seinen Minuten,
von seinen Augenblicken der Weisheit Rechenschaft geben konnte, itzt
faehig war (wir schaemen uns es zu sagen) ganze Stunden, ganze Tage in
zaertlicher Trunkenheit wegzutaendeln--Alles dieses, so stark der Abfall
auch ist, wird dennoch den meisten begreiflich scheinen. Aber dass Danae,
welche die Schoensten und Edelsten von Asien, welche Fuersten und Satrapen
zu ihren Fuessen gesehen hatte, welche gewohnt war, in den schimmerndsten
Versammlungen am meisten zu glaenzen, einen Hof von allem, was durch
Vorzuege der Geburt, des Geistes, des Reichtums und der Talente wuerdig war,
nach ihrem Beifall zu streben, um sich her zu sehen: Dass diese Danae itzt
veraechtliche Blicke in die grosse Welt zurueckwarf, und nichts angenehmers
fand als die laendliche Einfalt, nichts schoeners als in Hainen herumzuirren,
Blumenkraenze fuer ihren Schaefer zu winden, an einer murmelnden Quelle in
seinem Arm einzuschlummern, von der Welt vergessen zu sein, und die Welt
zu vergessen--dass sie, fuer welche die Liebe der Empfindung sonst ein
unerschoepflicher Gegenstand von witzigen Spoettereien gewesen war, itzt von
den zaertlichen Klagen der Nachtigall in stillheitern Naechten bis zu Traenen
geruehrt werden--oder wenn sie ihren Geliebten unter einer schattichten
Laube schlafend fand, ganze Stunden, unbeweglich, in zaertliches Staunen
und in den Genuss ihrer Empfindungen versenkt, neben ihm sitzen konnte,
ohne daran zu denken, ihn durch einen eigennuetzigen Kuss aufzuwecken,--dass
diese Schuelerin des Hippias, welche gewohnt gewesen war, nichts
laecherlichers zu finden, als die Hoffnung der Unsterblichkeit, und diese
suessen Traeume von bessern Welten, in welche sich empfindliche Seelen so
gerne zu wiegen pflegen--dass sie itzt, beim daemmernden Schein des Monds,
an Agathons Seite auf Blumen hingegossen, schon entkoerpert zu sein, schon
in den seligen Taelern des Elysiums zu schweben glaubte--mitten aus den
berauschenden Freuden der Liebe sich zu Gedanken von Graebern und Urnen
verlieren, dann ihren Geliebten zaertlicher an ihre Brust drueckend den
gestirnten Himmel anschauen, und ganze Stunden von der Wonne der
Unsterblichen, von unvergaenglichen Schoenheiten und himmlischen Welten
phantasieren konnte, und, von den Wuenschen ihrer grenzenlosen Liebe
getaeuscht, in der Hoffnung einer immerwaehrenden Dauer itzt so wenig
Ausschweifendes fand, dass ihr kein Gedanke natuerlicher, keine Hoffnung
gewisser schien; dieses waren in der Tat Wunderwerke der Liebe, und
Wunderwerke, welche nur die Liebe eines Agathons, nur jene Vermischung der
Seelen, durch welche ihrer beider Denkungsart, Ideen, Geschmack und
Neigungen in einander zerflossen, zuwege bringen konnte. Welches von
beiden bei dieser Vermischung gewonnen oder verloren habe, wollen wir
unsern Lesern zu entscheiden ueberlassen, von denen der zaertlichere Teil
vielleicht der schoenen Danae den Vorteil zuerkennen wird: Aber dieses,
deucht uns, wird niemand so roh oder so stoisch sein zu leugnen, dass sie
gluecklich waren--felices errore suo--gluecklich in dieser suessen Betoerung,
welcher, um dasjenige zu sein, was die Weisen schon so lange gesucht und
nie gefunden haben, nichts abgeht, als dass sie (wie der griechische Autor
hier abermal mit Bedauern ausruft) nicht immer waehren kann.




SECHSTES BUCH




ERSTES KAPITEL

Ein Besuch des Hippias


Zufaellige Ursachen hatten es so gefueget, dass Hippias sich auf einiche
Wochen von Smirna hatte entfernen muessen, und dass die Zeit seiner
Abwesenheit gerade in diejenige Zeit fiel, worin die Liebe unsers Helden
und der schoenen Danae den aeussersten Punkt ihrer Hoehe erreichte. Dieser
Umstand hatte sie gaenzlich Meister von einer Zeit gelassen, welche sie zum
Vorteil der Liebe und des Vergnuegens so wohl anzuwenden wussten. Keiner
von Danaes ehemaligen Verehrern hatte sich erkuehnt, ihre Einsamkeit zu
stoeren; und die Freundinnen, mit denen sie ehmals in Gesellschaft
gestanden war, hatten zu gutem Glueck alle mit ihren eignen Angelegenheiten
so viel zu tun, dass sie keine Zeit behielten, sich um Fremde zu bekuemmern.
Zudem war ihr Aufenthalt auf dem Lande nichts ungewoehnliches, und der
allgemeine Genius der Stadt Smirna war der Freiheit in der Wahl der
Vergnuegungen allzuguenstig, als dass eine Danae (von der man ohnehin keine
vestalische Tugend foderte) ueber die ihrigen, wenn sie auch bekannt
gewesen waeren, sehr strenge Urteile zu besorgen gehabt haette.

Allein Hippias war kaum von seiner Reise zurueckgekommen, so liess er eine
seiner ersten Sorgen sein, sich in eigner Person nach dem Fortgang des
Entwurfs zu erkundigen, den er mit ihr zu Bekehrung des allzuplatonischen
Callias gemeinschaftlich angelegt hatte. Die besondere Vertraulichkeit,
worin er seit mehr als zehn Jahren mit ihr gelebt hatte, gab ihm das
vorzuegliche Recht, sie auch alsdann zu ueberraschen, wenn sie sonst fuer
niemand sichtbar war. Er eilte also, so bald er nur konnte, nach ihrem
Landgute; und hier brauchte er nur einen Blick auf unsre Liebende zu
werfen, um zu sehen, wie viel in seiner Abwesenheit mit ihnen vorgegangen
war. Ein gewisser Zwang, eine gewisse Zurueckhaltung, eine Art von
schamhafter Schuechternheit, welche ihm besonders an der Pflegtochter
Aspasiens fast laecherlich vorkam, war das erste, was ihm an beiden in die
Augen fiel. Wahre Liebe (wie man laengst beobachtet hat) ist eben so
sorgfaeltig ihre Glueckseligkeit zu verbergen, als jene frostige Liebe,
welche Coquetterie oder Langeweile zur Mutter hat, begierig ist, ihre
Siege auszuposaunen. Allein dieses war weder die einzige noch die
vornehmste Ursache einer Zurueckhaltung, welche unsre Liebenden, aller
angewandten Muehe ungeachtet, einem so scharfsichtigen Beobachter nicht
entziehen konnten. Das Bewusstsein der Verwandlung, welche sie erlitten
hatten; die Furcht vor dem komischen Ansehen, welches sie ihnen in den
Augen des Sophisten geben moechte; die Furcht von einem Spott, vor dem sie
die mutwilligen Ergiessungen bei jedem Blicke, bei jedem Laecheln erwarteten;
dieses war es, was sie in Verlegenheit setzte, und was den artigsten
Gesichtern in ganz Jonien etwas Verdriessliches gab, welches von einem
jeden andern als Hippias fuer ein Zeichen, dass seine Gegenwart unangenehm
sei, haette aufgenommen werden muessen. Allein dieser nahm es fuer das auf,
was es in der Tat war; und da niemand besser zu leben wusste, so schien er
so wenig zu bemerken, was in ihnen vorging, machte den Unachtsamen und
Sorglosen so natuerlich, hatte so viel von seiner Reise und tausend
gleichgueltigen Dingen zu schwatzen, und wusste dem Gespraech einen so freien
Schwung von Munterkeit zu geben, dass sie alle erforderliche Zeit gewannen,
sich wieder zu erholen, und sich in eine ungezwungene Verfassung zu setzen.
Wenn Agathon hiedurch so sehr beruhigst wurde, dass er wuerklich hoffte,
sich in seinen ersten Besorgnissen betrogen zu haben, so war die feinere
Danae weit davon entfernt, sich durch die Kunstgriffe des Sophisten ein
Blendwerk vormachen zu lassen. Sie kannte ihn zu gut, um nicht in seiner
Seele zu lesen; sie sah wohl, dass es zu einer Eroerterung mit ihm kommen
muesse, und war nur darueber unruhig, wie sie sich entschuldigen wollte, dass
sie, ueber der Bemuehung den Charakter des Agathons umzubilden, ihren eignen
oder doch einen guten Teil davon verloren hatte. Mit diesen Gedanken
hatte sie sich in den Stunden der gewoehnlichen Mittagsruhe beschaeftiget,
und war noch nicht recht mit sich selbst einig, wie weit sie sich dem
Sophisten vertrauen wolle; als er in ihr Zimmer trat, und mit der
vertraulichen Freimuetigkeit eines alten Freundes ihr entdeckte, dass es die
Neugier ueber den Fortgang ihres geheimen Anschlags sei, was ihn so bald
nach seiner Wiederkunft zu ihr gezogen habe. "Die Glueckseligkeit des
Callias" (setzte er hinzu) "schimmert zu lebhaft aus seinen Augen und aus
seinem ganzen Betragen hervor, schoene Danae, als dass ich durch
ueberfluessige Fragstuecke das reizende Inkarnat dieser liebenswuerdigen
Wangen zu erhoehen suchen sollte. Und findest du ihn also der Muehe wuerdig,
die du auf seine Bekehrung ohne Zweifel verwenden musstest?" "Der Muehe?"
sagte Danae laechelnd; "ich schwoere dir, dass mir in meinem Leben keine Muehe
so leicht geworden ist, als mich von dem liebenswuerdigsten Sterblichen,
den ich jemals gekannt habe, lieben zu lassen. Denn das war doch alle
Muehe -" "Nicht ganz und gar", (unterbrach sie Hippias) "wenn du so
aufrichtig sein willt, als es unsrer Freundschaft gemaess ist. Ich bin
gewiss, dass er an keine Verstellung dachte, da er noch in meinem Hause war;
und die Veraenderung, die ich an ihm wahrnehme ist so gross, verbreitet sich
so sehr ueber seine ganze Person, hat ihn so unkenntlich gemacht, dass Danae
selbst, auf deren Lippen die ueberredung wohnt, mich nicht ueberreden soll,
dass eine solche Seelenwandlung im Schlafe vorgehen koenne. Keine
Zurueckhaltungen, schoene Danae, die Wuerkungen zeugen von ihren Ursachen;
ein grosses Werk setzt grosse Anstalten voraus; wenn ein Callias dahin
gebracht wird, dass er wie ein Liebling der Venus herausgeputzt ist, dass er
mit einer Sybaritischen Zunge von der Niedlichkeit der Speisen und dem
Geschmack der Weine urteilt; dass er die wolluestigsten Laeufe eines in Liebe
schmelzenden Liedes mit entzuecktem Haendeklatschen wiederholen heisst, und
sich die Trinkschale von einer jungen Circasserin mit unverhuelltem Busen
eben so gleichgueltig reichen laesst, als er sich in die weichen Polster
eines Persischen Ruhebettes hineinsenkt--wahrhaftig, schoene Danae, das
nenn ich eine Verwandlung, welche in so kurzer Zeit zu bewerkstelligen,
ich keiner von allen unsterblichen Goettinnen zugetraut haette." "Ich weiss
nicht, was du damit sagen willst", erwiderte Danae mit einer angenommenen
Zerstreuung; "mich deucht nichts natuerlichers, als alles, worueber du dich
so verwundert stellst; und gesetzt, dass du dich in deinem Urteil von
Callias betrogen haettest, ist es seine Schuld? Wenn ich dir die Wahrheit
sagen soll, so kann nichts unaehnlichers sein, als wie du ihn mir
abgeschildert und wie ich ihn gefunden habe. Du machtest mich einen
Pedantischen Toren, den Gegenstand einer Komoedie erwarten, und ich
wiederhole es, du magst ueber mich lachen so lange du willt, Alcibiades
selbst im Fruehling seiner Jahre und Reizungen war nicht liebenswuerdiger
als derjenige, den du mir fuer ein komisches Mittelding von einem
Phantasten und von einer Bildsaeule gegeben hast. Wenn eine
Verschiedenheit zwischen Agathon und den Besten ist, fuer welche ich ehmals
aus Dankbarkeit, Geschmack oder Laune, Gefaelligkeiten gehabt habe, so ist
sie gaenzlich zu seinem Vorteil; so ist es, dass er edler, aufrichtiger,
zaertlicher ist, dass er mich liebet, da jene nur sich selbst in mir liebten;
dass ihn mein Vergnuegen gluecklicher macht als sein eignes; dass er das
grossmuetigste und erkenntlichste Herz mit den glaenzendesten Vorzuegen des
Geistes, mit allem was den Umgang reizend macht, vereinigt besitzt.
"--"Welch ein Strom von Beredsamkeit", rief Hippias mit dem Laecheln eines
Fauns aus; "du sprichst nicht anders als ob du seine Apologie gegen mich
machen muesstest; und wenn habe ich denn was anders gesagt? Beschrieb ich
ihn nicht als liebenswuerdig? Sagt' ich dir nicht, dass er dir die Hyacinthe,
und alle diese artigen gaukelnden Sommervoegel unertraeglich machen wuerde?
Aber wir wollen uns nicht zanken, schoene Danae. Ich sehe, dass Amor hier
mehr Arbeit gemacht als ihm aufgetragen war; er sollte dir nur helfen, den
Agathon zu unterwerfen; aber der uebermuetige kleine Bube hat es fuer eine
groessere Ehre gehalten, dich selbst zu besiegen; diese Danae, welche bisher
mit seinen Pfeilen nur gescherzt hatte. Bekenne, Danae -" "Ja", (fiel sie
ihm lebhaft ein) "ich bekenne, dass ich liebe wie ich nie geliebt habe; dass
alles was ich sonst Glueckseligkeit nannte, kaum den Namen des Daseins
verdient hat; ich bekenne es, Hippias, und bin stolz darauf, dass ich faehig
waere, alles was ich besitze, alle Ergoetzlichkeiten von Smirna, alle
Ansprueche an Beifall, alle Befriedigungen der Eitelkeit, und eine ganze
Welt voll Liebhaber wie eine Nussschale hinzuwerfen, um mit Callias in
einer mit Stroh bedeckten Huette zu leben, und mit diesen Haenden, welche
nicht zu weiss und zaertlich dazu sein sollten, die Milch zuzubereiten, die
ihm, vom Felde wiederkommend, weil ich sie ihm reichte, lieblicher
schmecken wuerde, als Nektar aus den Haenden der Liebesgoettin."

"O, das ist was anders", rief Hippias, der sich nun nicht laenger halten
konnte, in ein lautes Gelaechter auszubrechen; "wenn Danae aus diesem Tone
spricht, so hat Hippias nichts mehr zu sagen. Aber", fuhr er fort,
nachdem er sich die Augen gewischt und den Mund in Falten gelegt hatte;
"in der Tat, schoene Freundin, ich lache zur Unzeit; die Sache ist
ernsthafter als ich beim ersten Anblick dachte, und ich besorge nun in
ganzem Ernste, dass Callias, so sehr er dich anzubeten scheint, nicht Liebe
genug haben moechte, die deinige zu erwidern." "Ich erlasse dem Hippias
diese Sorge", sagte Danae mit einem spoettischen Laecheln, welches ihr sehr
reizend liess; "das soll meine Sorge sein; und mich deucht, Hippias,
welcher ein so grosser Meister ist, von den Wuerkungen auf die Ursachen zu
schliessen, sollte ganz ruhig darueber sein koennen, dass sich Danae nicht wie
ein vierzehnjaehriges Maedchen fangen laesst." "Die Goetter der Liebe und
Freude verhueten, dass meine Worte einen uebelweissagenden Sinn in sich
fassen", erwiderte Hippias! "Du liebest, schoene Danae; du wirst geliebt;
kein wuerdigers Paar gluecklich zu sein, kein geschickteres sich gluecklich
zu machen, hat Amor nie vereiniget. Erschoepfet alles, was die Liebe
reizendes hat! Trinket immer neue Entzueckungen aus ihrem nektarischen
Becher; und moege die neidenswerte Bezauberung so lang als euer Leben
dauern!"




ZWEITES KAPITEL

Eine Probe von den Talenten eines Liebhabers


In einem so freundschaftlichen und schwaermerischen Ton stimmte der
gefaellige Sophist seine Sprache um, als Agathon hereintrat, und ihnen
einen Spaziergang in die Gaerten vorschlug, worin er sich das Vergnuegen
machen wollte, sie mit einer in geheim veranstalteten Ergoetzung zu
ueberraschen. Man liess sich den Vorschlag gefallen, und nachdem Hippias
eine Reihe von neuen Gemaelden, womit die Galerie vermehrt worden war,
gesehen hatte, begab man sich in den Garten, in welchem, nach Persischem
Geschmack, grosse Blumenstuecke, Spaziergaenge von hohen Baeumen, kleine
Weiher, kuenstliche Wildnisse, Lauben und Grotten in anmutiger Unordnung
unter einander geworfen schienen. Das Gespraech ward itzt wieder
gleichgueltig, und Hippias wusste es so zu lenken, dass Agathon unvermerkt
veranlasst wurde, die neue Wendung, welche seine Einbildungskraft bekommen
hatte, auf hundertfaeltige Art zu verraten. Inzwischen neigte sich die
Sonne, als sie beim Eintritt in einen kleinen Wald von Myrten--und
Zitronenbaeumen, an welchen die Kunst keine Hand angelegt zu haben schien,
von einem versteckten Konzert, welches alle Arten von Singvoegel nachahmte,
empfangen wurden. Aus jedem Zweig, aus jedem Blatte schien eine besondere
Stimme hervorzugehen; so volltoenig war diese Musik, in welcher die
Nachahmung der kunstlosen Natur in der scheinbaren Unregelmaessigkeit
phantasierender Toene, die lieblichste Harmonie hervorbrachte, die man
jemals gehoert hatte. Die Daemmerung des heitersten Abends, und die eigne
Anmut des Orts vereinigten sich damit, um diesem Lusthain die Gestalt der
Bezauberung zu geben. Danae, welche seit wenigen Wochen eine ganz neue
Empfindlichkeit fuer das Schoene der Natur und die Vergnuegungen der
Einbildungskraft bekommen hatte, sahe ihren sich ganz unwissend stellenden
Liebling mit Augen an, welche ihm sagten, dass nur die Gegenwart des
Hippias sie verhindere, ihre schoenen Arme um seinen Hals zu werfen: als
unversehens eine Anzahl von kleinen Liebesgoettern und Faunen aus dem Hain
hervorhuepfte; jene von flatterndem Silberflor, der mit nachgeahmten Rosen
durchwuerkt war, leicht bedeckt; diese nackend, ausser dass ein Efeukranz,
mit gelben Rosen durchflochten, ihre milchweissen Hueften schuetzten, und um
die kleinen verguldeten Hoerner sich schlangen, die aus ihren schwarzen
kurzlockichten Haaren hervorstachen. Alle diese kleine Genii streuten
aus zierlichen Koerbchen von Silberdraht die schoensten Blumen vor Danae her,
und fuehrten sie tanzend in die Mitte des Waeldchens, wo Gebuesche von
Jasminen, Rosen und Acacia eine Art von halbzirkelndem Amphitheater
machten, unter welchem ein zierlicher Thron von Laubwerk und Blumenkraenzen
fuer die schoene Danae bereitet stand. Nachdem sie sich hier gesetzt hatte,
breiteten die Liebesgoetter einen Persischen Teppich vor ihr aus, indem von
den kleinen Faunen einige beschaeftigt waren, den Boden mit goldnen und
kristallenen Trinkschalen von allerlei niedlichen Formen zu besetzen,
andre unter der Last voller Schlaeuche mit possierlichen Gebaerden
herbeigekrochen kamen, und im Vorbeigehen den weisen Hippias durch hundert
mutwillige Spiele neckten. Auf einmal schlupften die Grazien hinter einer
Myrtenhecke hervor, drei jugendliche Schwestern, deren halbaufgebluehte
Schoenheit ein leichtes Gewoelk von Gase mehr zu entwickeln als zu verhuellen
eifersuechtig schien. Sie umgaben ihre Gebieterin, und indem die erste
einen frischen Blumenkranz um ihre schoene Stirne wand, reichten ihr die
beiden andern kniend in goldnen Schalen die auserlesensten Fruechte und
Erfrischungen dar; indes die Faunen den Hippias mit Efeu kraenzten, und
wohlriechende Salben ueber seine Glatze und seinen halbgrauen Bart
heruntergossen. Beide bezeugten ihr Vergnuegen ueber dieses kleine
Schauspiel, welches das lachendste Gemaelde von der Welt machte; als eine
zaertliche Symphonie von Floeten aus der Luft, wie es schien, herabtoenend,
die Augen zu einer neuen Erscheinung aufmerksam machte. Die Liebesgoetter,
die Faunen und die Grazien waren indes verschwunden, und es oeffnete sich
der Danae gegenueber die waldichte Szene, um den Liebesgott darzustellen,
auf einem goldnen Gewoelke sitzend, welches ueber den Rosenbueschen von
Zephyren emporgehalten wurde. Ein schalkhaftes Laecheln, das sein
liebliches Gesicht umscherzte, schien die Herzen zu warnen, sich von der
taendelnden Unschuld dieses schoenen Goetterknabens nicht sorglos machen zu
lassen. Er sang mit lieblicher Stimme, und der Inhalt seines Gesangs
drueckte seine Freude aus, dass er endlich eine bequeme Gelegenheit gefunden
habe, sich an der schoenen Danae zu raechen. "Gleich der Liebesgoettin,
meiner Mutter" (sang er) "herrscht sie unumschraenkt ueber die Herzen, und
haucht allgemeine Liebe umher: Von ihren Blicken beseelt, wendet ihr die
Natur, als ihrer Goettin, sich zu; verschoenert, wenn sie laechelt, traurig
und welkend, wenn sie sich von ihr kehrt: Verlassen stehn die Altaere zu
Paphos, die Seufzer der Liebenden wallen nur ihr entgegen; und indem ihre
siegreichen Augen ringsum sie her jedes Herz verwunden und entzuecken,
lacht sie, die Stolze, meiner Pfeile, und trotzt mit unbezwungner Brust
der Macht, vor welcher Goetter zittern: Aber nicht laenger soll sie trotzen;
hier ist der schaerfste Pfeil, scharf genug einen Busen von Marmor zu
spalten, und die kaelteste Seele in Liebesflammen hinwegzuschmelzen.
Zittre, ungewahrsame Schoene! dieser Augenblick soll Amorn und seine Mutter
raechen! Tiefseufzend sollst du auffahren, wie ein junges Reh auffaehrt,
das unter Rosen schlummernd den gefluegelten Pfeil des Jaegers fuehlt;
schmerzenvoll und trostlos sollst du in einsamen Hainen irren, und auf
oeden Felsen sitzend den schleichenden Bach mit deinen Traenen mehren."

So sang er und spannte boshaft-laechelnd den Bogen; schon war der Pfeil
angelegt, schon zielte er nach ihrem leichtbedeckten Busen: als er
ploetzlich mit einem lauten Schrei zurueckfuhr, seinen Pfeil zerbrach, den
Bogen von sich warf, und mit zaertlich schuechterner Gebaerde auf die schoene
Danae zuflatterte. "O Goettin, vergib", (sang er, indem er bittend ihre
Knie umfasste) "vergib, vergib, schoene Mutter, dem Irrtum meiner Augen!
wie leicht war es zu irren? Ich sahe dich fuer Danae an."

In dem naemlichen Augenblick, da er dieses gesungen hatte, erschienen die
Grazien, die Liebesgoetter und die kleinen Faunen wieder, und endigten
diese Szene mit Taenzen und Gesaengen, zum Preis derjenigen, welche auf eine
so schmeichelhafte Art zur Goettin der Schoenheit und der Liebe erklaert
worden war. Dieses ueberraschende Kompliment, welches damals noch den Reiz
der Neuheit hatte, weil es noch nicht an die Daphnen und Chloen so vieler
neuern Poeten verschwendet worden war, schien ihr Vergnuegen zu machen; und
der doppelt belustigte Hippias gestand, dass sein junger Freund einen sehr
guten Gebrauch von seiner Einbildungskraft zu machen gelernt habe.
"Dachte ich nicht, Callias", sagte er leise zu ihm, indem er ihn auf die
Schultern klopfte, "dass ein Monat unter den Augen der schoenen Danae dich
von den Vorurteilen heilen wuerde, womit du gegen Grundsaetze eingenommen
warest, die du bereits so meisterhaft auszuueben gelernt hast."

Der uebrige Teil des Abends wurde auf eine eben so angenehme Weise
zugebracht, bis endlich Hippias, welcher den folgenden Morgen wieder in
Smirna sein musste, in einem Zustande, worin er mehr dem Vater Silen als
einem Weisen glich, von den kleinen Faunen zu Bette gebracht wurde.

Agathon hatte nun nichts dringenders als von Danae zu erfahren, was der
Gegenstand ihrer einzelnen Unterredung mit dem Hippias gewesen sei. Man
wird es dieser Dame zu gut halten koennen, dass sie die Aufrichtigkeit ihres
Berichts nicht so weit trieb, ihm das Complot einzugestehen, worein sie
sich von dem Sophisten anfangs hatte ziehen lassen; und dessen Ausgang so
weit von der Anlage des ersten Plans entfernt gewesen war. Die
zaertlichste und vertrauteste Liebe verhindert nicht, dass man sich nicht
kleine Geheimnisse vorbehalten sollte, bei deren Entdeckung die Eigenliebe
ihre Rechnung nicht finden wuerde. Sie begnuegte sich also ihm zu sagen,
dass Hippias viel Gutes von ihm gesprochen, und sie versichert habe, dass er
ihn weit aufgeweckter und artiger finde als er vorher gewesen; es haette
sie beduenkt, dass er mehr damit sagen wollen, als seine Worte an sich
selbst gesagt haetten; sie haette aber eben so wenig daran gedacht ihn zum
Vertrauten ihrer Liebe zu machen, als sie Ursache haette, eine Achtung zu
verbergen, welche man den persoenlichen Verdiensten des Callias nicht
versagen koenne; im uebrigen haette sie seine Munterkeit auf die Rechnung der
Zeit, welche das Andenken seiner Ungluecksfaelle schwaeche, und der
vollkommnern Freiheit geschrieben, die er in ihrem Hause haette. Agathon
liess sich durch diese Erzaehlung nicht nur beruhigen; sondern, wie seine
Einbildungskraft gewohnt war, ihn immer weiter zu fuehren, als er im Sinne
hatte zu gehen, so fuehlte er sich, nachdem sie eine Zeitlang von dieser
Materie gesprochen hatten, so mutig, dass er sich vornahm den Scherzen des
Hippias, wofern es demselben je einfallen sollte ueber seine Freundschaft
mit Danae zu scherzen, in gleichem Ton zu antworten; eine Entschliessung,
welche (ob er es gleich nicht gewahr wurde) in der Tat mehr
Unverschaemtheit voraussetzte, als selbst ein langwieriger Fortgang auf den
Abwegen, auf die er verirrt war, einem Agathon jemals geben konnte.




DRITTES KAPITEL

Konvulsivische Bewegungen der wiederauflebenden Tugend


Wenige Tage waren seit dem Besuch des Hippias verflossen; als ein Fest,
welches er alle Jahre seinen Freunden zu geben pflegte, Gelegenheit machte,
der schoenen Danae und ihrem Freunde eine Einladung zuzusenden. Weil sie
keinen guten Vorwand zu geben hatten, ihr Ausbleiben zu entschuldigen, so
erschienen sie auf den bestimmten Tag, und Agathon brachte eine
Lebhaftigkeit mit, welche ihm selbst Hoffnung machte, dass er sich so gut
halten wuerde, als es die Anfaelle, die er von der Schalkhaftigkeit des
Sophisten erwartete, nur immer erfordern koennten. Hippias hatte nichts
vergessen, was die Pracht seines Fests vermehren konnte; und nach
demjenigen, was im zweiten Buch von den Grundsaetzen, der Lebensart und den
Reichtuemern dieses Mannes gemeldet worden, koennen unsre Leser sich so viel
davon einbilden als sie wollen, ohne zu besorgen, dass wir sie durch
ueberfluessige Beschreibungen von den wichtigern Gegenstaenden, die wir vor
uns haben, aufhalten wuerden.

Agathon hatte ueber der Tafel die Rolle eines witzigen Kopfs so gut
gespielt; er hatte so fein und so lebhaft gescherzt, und bei Gelegenheiten
die Ideen, wovon seine Seele damals beherrscht wurde, so deutlich verraten;
dass Hippias sich nicht enthalten konnte, ihm in einem Augenblick, wo sie
allein waren, seine ganze Freude darueber auszudruecken. "Ich bin erfreut,
Callias" (sagte er zu ihm) "dass du, wie ich sehe, einer von den Unsrigen
worden bist. Du rechtfertigest die gute Meinung vollkommen, die ich beim
ersten Anblick von dir fasste; ich sagte immer, dass einer so feurigen Seele
wie die deinige, nur wirkliche Gegenstaende mangelten, um ohne Muehe von den
Schimaeren zurueckzukommen, woran du vor einigen Wochen noch so stark zu
haengen schienest." Zum Glueck fuer den guten Agathon rettete ihn die
Darzwischenkunft einiger Personen von der Gesellschaft, mitten in der
Antwort, die er zu stottern angefangen hatte; aber aus der Unruhe, welche
diese wenige Worte des Sophisten in sein Gemuet geworfen hatten, konnte ihn
nichts retten.

Alle Muehe, die er anstrengte, alle Zeitkuerzungen, wovon er sich umgeben
sah, waren zu schwach ihn wieder aus einer Verwirrung herauszuziehen,
welche sogar durch den Anblick der schoenen Danae vermehrt wurde. Er musste
einen Anstoss von uebelkeit vorschuetzen, um sich eine Zeitlang aus der
Gesellschaft wegzubegeben, um in einem entlegnen Cabinet den Gedanken
nachzuhaengen, deren auf einmal daherstuermende Menge ihm eine Weile alles
Vermoegen benahm, einen von dem andern zu unterscheiden. Endlich fasste er
sich doch so weit, dass er seinem beklemmten Herzen durch dieses oft
abgebrochene Selbstgespraech Luft machen konnte: "Wie?--'Ich bin erfreut,
dass du einer von den Unsrigen geworden?'--Ists moeglich? Einer von den
Seinigen?--Dem Hippias aehnlich?--Ihm, dessen Grundsaetze, dessen Leben,
dessen vermeinte Weisheit mir vor kurzem noch so viel Abscheu
einfloessten?--Und die Verwandlung ist so gross, dass sie ihm keinen Zweifel
uebrig laesst? Guetige Goetter! Wo ist euer Agathon?--Ach! es ist mehr als zu
gewiss, dass ich nicht mehr ich selbst bin!--Wie? sind mir nicht alle
Gegenstaende dieses Hauses, von denen meine Seele sich ehmals mit Ekel und
Grauen wegwandte, gleichgueltig oder gar angenehm worden? Diese ueppigen
Gemaelde--diese schluepfrigen Nymphen--diese Gespraeche, worin alles, was dem
Menschen gross und ehrwuerdig sein soll, in ein komisches Licht gestellt
wird--diese Verschwendung der Zeit--diese muehsam ausgesonnenen und ueber
die Forderung der Natur getriebenen Ergoetzungen--Himmel! wo bin ich? An
was fuer einem jaehen Abhang find ich mich selbst--welch einen Abgrund unter
mir--O Danae, Danae!--"hier hielt er inn, um den trostvollen Einfluessen
Raum zu lassen, welche dieser Name und die zauberischen Bilder, so er mit
sich brachte, ueber seine sich selbst quaelende Seele ausbreiteten. Mit
einem schleunigen uebergang von Schwermut zu Entzueckung, durchflog sie itzt
alle diese Szenen von Liebe und Glueckseligkeit, welche ihr die
letztverflossnen Tage zu Augenblicken gemacht hatten; und von diesen
Erinnerungen mit einer innigen Wollust durchstroemt, konnte sie oder wollte
sie vielmehr den Gedanken nicht ertragen, dass sie in einem so
beneidenswuerdigen Zustand unter sich selbst heruntergesunken sein koenne.
"Goettliche Danae", rief der arme Kranke in einem verdoppelten Anstoss des
wiederkehrenden Taumels aus; "wie? Kann es ein Verbrechen sein, das
Vollkommenste unter allen Geschoepfen zu lieben? Ist es ein Verbrechen
gluecklich zu sein?"--In diesem Ton fuhr Amor, (welchen Plato sehr richtig
den groessten unter allen Sophisten nennt) desto ungehinderter fort ihm
zuzureden, da ihm die Eigenliebe zu Hilfe kam, und seine Sache zu der
ihrigen machte. Denn was ist unangenehmers, als sich selbst zugleich
anklagen und verurteilen muessen? Und wie gerne hoeren wir die Stimme der
sich selbst verteidigenden Leidenschaft? Wie gruendlich finden wir jedes
Blendwerk, womit sie die richterliche Vernunft zu einem falschen Ausspruch
zu verleiten sucht? Agathon hoerte diese betriegliche Apologistin so gerne,
dass es ihr gelang, sein Gemuete wieder zu besaenftigen. Er schmeichelte
sich, dass ungeachtet einer Veraenderung seiner Denkungsart, die er sich
selbst fuer eine Verbesserung zu geben suchte, der Unterscheid zwischen ihm
und Hippias noch so gross, so wesentlich sei als jemals. Er verbarg seine
schwache Seite hinter die Tugenden, deren er sich bewusst zu sein glaubte;
und beruhigte sich endlich voellig mit einem idealischen Entwurf eines
seinen eignen Grundsaetzen gemaessen Lebens, zu welchem er seine geliebte
Danae schon genug vorbereitet glaubte, um ihr selbigen ohne laengern
Aufschub vorzulegen. Er kehrte nunmehr, nachdem er ungefaehr eine Stunde
allein gewesen war, mit einem so aufgeheiterten Gesicht zur Gesellschaft,
welche sich in einem Saale des Gartens versammelt hatte, zurueck, dass Danae
und Hippias selbst sich bereden liessen, seinen vorigen Anstoss einer
voruebergehenden uebelkeit zuzuschreiben. Ergoetzlichkeiten folgten itzt
auf Ergoetzlichkeiten so dicht aneinander, und so mannigfaltig, dass die
ueberladene Seele keine Zeit behielt sich Rechenschaft von ihren
Empfindungen zu geben; und nach Gewohnheit des Landes wurde die ganze
Nacht bis zum Anbruch der Morgenroete in brausenden Vergnuegungen
hingebracht. Die Gegenwart der liebenswuerdigen Danae wuerkte mit ihrer
ganzen magischen Kraft auf unsern Helden, ohne verhindern zu koennen, dass
er von Zeit zu Zeit in eine Zerstreuung fiel, aus welcher sie ihn, sobald
sie es gewahr wurde, zu ziehen bemueht war. Die Gegenstaende, welche seinen
sittlichen Geschmack ehmals beleidigst hatten, waren hier zu haeufig, als
dass nicht mitten unter den fluechtigen Vergnuegungen, womit sie gleichsam
ueber die Oberflaeche seiner Seele hinglitscheten, ein geheimes Gefuehl
seiner Erniedrigung seine Wangen mit Schamroete vor sich selbst, dem
Vorboten der wiederkehrenden Tugend, haette ueberziehen sollen.

Dieses begegnete insonderheit bei einem pantomimischen Tanze, womit
Hippias seine groesstenteils vom Bacchus gluehenden Gaeste noch eine geraume
Zeit nach Mitternacht vom Einschlummern abzuhalten suchte. Die Taenzerin,
ein schoenes Maedchen, welches ungeachtet seiner Jugend, schon lange in den
Geheimnissen von Cythere eingeweiht war, tanzte die Fabel der Leda.
Dieses beruechtigte Meisterstueck der eben so vollkommnen als ueppigen
Tanzkunst der Alten, von dessen Wuerkungen Juvenal in einer von seinen
Satyren ein so zuegelloses Gemaelde macht. Hippias und die meisten seiner
Gaeste bezeugten ein unmaessiges Vergnuegen ueber die Art, wie seine Taenzerin
diese schluepfrige Geschichte nach der wolluestigen Modulation zwoer Floeten,
allein durch die stumme Sprache der Bewegung, von Szene zu Szene bis zur
Entwicklung fortzuwinden wusste.--Zeuxes, und Homer selbst, riefen sie,
konnte nicht besser, nicht deutlicher mit Farben oder Worten, als die
Taenzerin durch ihre Bewegungen malen. Die Damen glaubten genug getan zu
haben, dass sie auf dieses Schauspiel nicht Acht zu geben schienen; aber
Agathon konnte den widrigen Eindruck, den es auf ihn machte, und den
innerlichen Grauen, womit sein Gemuet dabei erfuellt wurde, kaum in sich
selbst verschliessen. Er wollte wuerklich etwas sagen, welches allerdings
in der Gesellschaft, worin er war, uebel angebracht gewesen waere; als ein
beschaemter Blick auf sich selbst, und vielleicht die Furcht belacht zu
werden, und den ausgelassenen Hippias zu einer allzuscharfen Rache zu
reizen, seine Rede auf seinen Lippen erstickte; und weil doch die ersten
Worte nun einmal gesagt waren, den vorgehabten Tadel in einen gezwungenen
Beifall verwandelten. Er hatte nun keine Ruhe, bis er die schoene Danae
bewogen hatte, sich mit einer von ihren Freundinnen aus einer Gesellschaft
wegzuschleichen, aus welcher die Grazien schamrot wegzufliehen anfingen;
und sein Unwille ergoss sich waehrend dass sie nach Hause fuhren, in eine
scharfe Verurteilung des verdorbenen Geschmacks des Sophisten, welche so
lange dauerte, bis sie bei Anbruche des Tages wieder auf dem Landhause der
Danae anlangten, um die von Ergoetzungen abgemattete Natur zu derjenigen
Zeit, welche zu den Geschaeften des Lebens bestimmt ist, durch Ruhe und
Schlummer wiederherzustellen.




VIERTES KAPITEL

Dass Traeume nicht allemal Schaeume sind


Die Stoiker, dieser strenge moralische Orden, dessen Abgang der
vortreffliche Praesident von Montesquieu als einen Verlust fuer das
menschliche Geschlecht ansieht, hatten unter andern Sonderlichkeiten, eine
grosse Meinung von der Natur und Bestimmung der Traeume. Sie trieben es so
weit, dass sie sich die Muehe gaben, eben so grosse Buecher ueber diese Materie
zu schreiben, als diejenigen, womit die gelehrte Welt noch in unsern Tagen,
von einigen weisen Moenchen ueber die erhabne Kunst, die Gespenster zu
pruefen und zu bannen, beschenkt worden ist. Sie teilten die Traeume in
mancherlei Gattungen und Arten ein, wiesen ihnen ihre geheime Bedeutungen
an, gaben den Schluessel dazu, und trugen kein Bedenken, einige Arten
derselben ganz zuversichtlich dem Einfluss derjenigen Geister zuzuschreiben,
womit sie alle Teile der Natur reichlich bevoelkert hatten. In der Tat
scheinen sie sich in diesem Stueck lediglich nach einem allgemeinen Glauben,
der sich von je her unter allen Voelkern und Zeiten erhalten hat,
gerichtet, und dasjenige in die Form einer schlussfoermigen Theorie gebracht
zu haben, was bei ihren Grossmuettern ein sehr unsichers Gemische von
Tradition, Einbildung und Bloedigkeit des Geistes gewesen sein moechte. Dem
sei nun wie ihm wolle, so ist gewiss, dass wir zuweilen Traeume haben, in
denen so viel Zusammenhang, so viel Beziehung auf unsre vergangne und
gegenwaertige Umstaende, wiewohl allezeit mit einem kleinen Zusatz von
Wunderbarem und Unbegreiflichem, anzutreffen ist; dass wir uns um jener
Merkmale der Wahrheit willen geneigt finden, in diesem letztern etwas
geheimnisvolles und vorbedeutendes zu suchen. Traeume von dieser Art den
Geistern ausser uns, oder, wie die Pythagoraeer taten, einer gewissen
prophetischen Kraft und Divination unsrer Seele beizumessen, welche unter
dem tiefen Schlummer der Sinne bessere Freiheit habe, sich zu entwickeln:
So sinnreiche Aufloesungen ueberlassen wir denjenigen, welche zum Besitz
jener von Lucrez so enthusiastisch gepriesenen Glueckseligkeit, die
Ursachen der Dinge einzusehen, in einem vollern Masse gelangt sind als wir.
Indessen haben wir uns doch zum Gesetz gemacht, den guten Rat unsrer Amme
nicht zu verachten, welche uns, da wir noch das Glueck ihrer
einsichtsvollen Erziehung genossen, unter Anfuehrung einer langen Reihe von
Familienbeispielen, ernstlich zu vermahnen pflegte, die Warnungen und
Fingerzeige der Traeume ja nicht fuer gleichgueltig anzusehen.

Agathon hatte diesen Morgen, nachdem er in einer Verwirrung von uneinigen
Gedanken und Gemuetsbewegungen endlich eingeschlummert war, einen Traum,
den wir mit einigem Recht zu den kleinen Ursachen zaehlen koennen, durch
welche grosse Begebenheiten hervorgebracht worden sind. Wir wollen ihn
erzaehlen, wie wir ihn in unsrer Urkunde finden, und dem Leser ueberlassen,
was er davon urteilen will. Ihn deuchte also, dass er in einer
Gesellschaft von Nymphen und Liebesgoettern auf einer anmutigen Ebne sich
erlustige. Danae war unter ihnen. Mit zauberischem Laecheln reichte sie
ihm, wie Ariadne ihrem Bacchus, eine Schale voll Nektars, welchen er an
ihren Blicken hangend mit wolluestigen Zuegen hinunterschluerfte. Auf einmal
fing alles um ihn her zu tanzen an; er tanzte mit; ein Nebel von suessen
Dueften schien rings um ihn her die wahre Gestalt der Dinge zu verbergen,
und tausend liebliche Gestalten gaukelten vor seiner Stirne, welche wie
Seifenblasen eben so schnell zerflossen als entstunden. In diesem Taumel
tanzte und huepfte er eine Zeit lang fort, bis auf einmal der Nebel und
seine ganze froehliche Gesellschaft verschwand: Ihm war als ob er aus einem
tiefen Schlaf erwachte; und da er die Augen aufschlug, sah er sich an der
Spitze eines jaehen Felsens, unter welchem ein reissender Strom seine
sprudelnden Wellen fortwaelzte. Gegen ihm ueber, auf dem andern Ufer des
Flusses, stand Psyche; ein schneeweisses Gewand floss zu ihren Fuessen herab;
ganz einsam und traurig stand sie, und heftete Blicke auf ihn, die ihm das
Herz durchbohrten. Ohne sich einen Augenblick zu besinnen, stuerzte er
sich in den Fluss hinab, arbeitete sich ans andre Ufer hinueber, und eilte,
sich seiner Psyche zu Fuessen zu werfen. Aber sie entschluepfte wie ein
Schatten vor ihm her, ohne dass sie aufhoerte, sichtbar zu sein; ihr Gesicht
war traurig, und ihre rechte Hand wies in die Ferne, wo er die goldnen
Tuerme und die heiligen Haine des delphischen Tempels ganz deutlich zu
unterscheiden glaubte. Traenen liefen bei diesem Anblick ueber seine Wangen
herab; er streckte seine Arme, flehend, und von unaussprechlichen
Empfindungen beklemmt, nach der geliebten Psyche aus; aber sie floh
eilends von ihm weg, einer Bildsaeule der Tugend zu, welche unter den
Truemmern eines verfallnen Tempels, einsam und unversehrt, in
majestaetischer Ruhe auf einem unbeweglichen Cubus stand. Psyche umarmte
diese Bildsaeule, warf noch einen tiefsinnigen Blick auf ihn und verschwand.
Verzweifelnd wollte er ihr nacheilen, als er sich ploetzlich in einem
tiefen Schlamme versenket sah; und die Bestrebung, die er anwendete, sich
herauszuarbeiten, war so heftig, dass er daran erwachte.

Ein Strom von Traenen, in welchen sein berstendes Herz ausbrach, war die
erste Wuerkung des tiefen Eindruckes, den dieser sonderbare Traum in seiner
erwachten aber noch ganz von ihren Gesichten umgebnen Seele zurueckliess.
Er weinte so lange und so heftig, dass sein Hauptkuessen ganz davon
durchnetzt wurde. "Ach Psyche! Psyche!" rief er von Zeit zu Zeit aus,
indem er seine gerungenen Arme wie nach ihrem Bilde ausstreckte; und dann
brach eine neue Flut aus seinen schwellenden Augen. "Wo bin ich", rief er
wiederum aus, und sah sich um, als ob er bestuerzt waere, sich in einem mit
Persischen Tapeten behangnen, und von tausend Kostbarkeiten schimmernden
Zimmer auf dem weichsten Ruhebette liegend zu finden--"O Psyche--was ist
aus deinem Agathon worden?--O ungluecklicher Tag, an dem mich die verhassten
Raeuber deinem Arm entrissen!"--Unter solchen Vorstellungen und Ausrufungen
stund er auf; ging in heftiger Bewegung auf und nieder, warf sich abermal
auf das Ruhbette, und blieb eine lange Zeit stumm, und mit zu Boden
starrenden Blicken unbeweglich, wie in Gedanken verloren, sitzen. Endlich
raffte er sich wieder auf, kleidete sich an, und stieg in die Gaerten herab,
um in dem einsamsten Teil des Hains die Ruhe zu suchen, welche er noetig
hatte, ueber seinen Traum, seinen gegenwaertigen Zustand und die
Entschliessungen, die er zu fassen habe, nachdenken zu koennen. Unter allen
Bildern, welche der Traum in seinem Gemuete zurueckgelassen hatte, ruehrte
ihn keines lebhafter als die Vorstellung der Psyche, wie sie mit ernstem
Gesicht auf den Tempel und die Haine von Delphi wies--die geheiligten
oerter, wo sie einander zuerst gesehen, wo sie so oft sich eine ewige Liebe
geschworen, wo sie so rein, so tugendhaft sich geliebt hatten, wie sich im
hohen Olymp die Unverkoerperten lieben.

Diese Bilder hatten etwas so ruehrendes, und der Schmerz, womit sie ihn
durchdrangen, wurde durch die lebhaftesten Erinnerungen seiner ehmaligen
Glueckseligkeit so sanft gemildert, dass er eine Art von Wollust darin
empfand, sich der zaertlichen Wehmut zu ueberlassen, wovon seine Seele dabei
eingenommen wurde. Er verglich seinen itzigen Zustand mit jener seligen
Stille des Herzens, mit jener immer laechelnden Heiterkeit der Seele, mit
jenen sanften und unschuldsvollen Freuden, zu welchen, seiner Einbildung
nach, unsterbliche Zuschauer ihren Beifall gegeben hatten: Und indem er
unvermerkt, anstatt die Vergleichung unparteiisch fortzusetzen, sich dem
schleichenden Lauf seiner erregten Einbildungskraft ueberliess; deuchte ihn
nicht anders, als ob seine Seele nach jener elysischen Ruhe, wie nach
ihrem angebornen Elemente, sich zuruecksehne. "Wenn es auch Schwaermereien
waren", rief er seufzend aus, "wenn es auch blosse Traeume waren, in die
mein halbabgeschiedner, halbvergoetterter Geist sich wiegte--welch eine
selige Schwaermerei! Und wie viel gluecklicher machten mich diese Traeume,
als alle die rauschenden Freuden, welche die Sinnen in einem Wirbel von
Wollust dahinreissen, und wenn sie vorueber sind, nichts als Beschaemung und
Reue, und ein schwermuetiges Leeres im unbefriedigten Geist zuruecklassen!"

Vielleicht werden unsre Leser aus demjenigen, was damals in dem Gemuete
unsers Helden vorging, sich viel Gutes fuer seine Wiederkehr zur Tugend
weissagen. Aber mit Bedauern muessen wir gestehen, dass sich eine andre
Seele in seinem Inwendigen erhob, welche die Wuerkung dieser guten Regungen
in kurzem wieder unkraeftig machte; es sei nun, dass es die Stimme der Natur
oder der Leidenschaft war, oder dass beide sich vereinigten, ihn ohne
Abbruch seiner Eigenliebe wieder mit sich selbst und dem Gegenwaertigen
auszusoehnen.

In der Tat war es bei der Lebhaftigkeit, welche alle Ideen und
Gemuetsbewegungen dieses sonderbaren Menschens charakterisierte, kaum
moeglich, dass der ueberspannte Affekt, worin wir ihn gesehen haben, von
langer Dauer haette sein koennen. Die Staerke seiner Empfindungen rieb sich
an sich selbst ab; seine Einbildungskraft pflegte in solchen Faellen so
lange in geradem Lauf fortzuschiessen, bis sie sich genoetiget fand, wieder
umzukehren. Er fing nun an, sich zu ueberreden, dass mehr Schwaermerei als
Wahrheit und Vernunft in seiner Betruebnis sei; er glaubte bei naeherer
Vergleichung zu finden, dass seine Leidenschaft fuer Danae durch die
Vollkommenheit des Gegenstands gaenzlich gerechtfertiget wuerde, und so
vorzueglich ihm kurz zuvor die Glueckseligkeit seines delphischen Lebens,
und die unschuldigen Freuden der ersten noch unerfahrnen Liebe geschienen
hatten; so unwesentlich fand er sie itzt in Vergleichung mit demjenigen,
was ihn die schoene Danae in ihren Armen hatte erfahren lassen. Das blosse
Andenken daran setzte sein Blut in Feuer, und seine Seele in Entzueckung;
seine angestrengteste Einbildung erlag unter der Bestrebung eine
vollkommnere Wonne zu erfinden.

Psyche schien ihm itzt, so liebenswuerdig sie immer sein mochte, zu nichts
anderm bestimmt gewesen zu sein, als die Empfindlichkeit seines Herzens zu
entwickeln, um ihn faehig zu machen, die Vorzuege der unvergleichlichen
Danae zu empfinden. Er schrieb es einem Rueckfall in seine ehmalige
Schwaermerei zu, dass er sich durch einen Traum, welchen er mit aller seiner
sonderbaren Beschaffenheit, doch fuer nichts mehr als ein Spiel der
Phantasie halten konnte, in so heftige Bewegungen haette setzen lassen.
Das einzige, was ihn noch beunruhigte, war der Vorwurf der Untreue gegen
seine einst so zaertlich geliebte und so zaertlich wieder liebende Psyche.
Allein die Unmoeglichkeit von der unwiderstehlichen Danae nicht ueberwunden
zu werden; (ein Punkt, wovon er so vollkommen als von seinem eignen Dasein
ueberzeugt zu sein glaubte.) Der Verlust aller Hoffnung, Psyche jemals
wieder zu finden, (welchen er, ohne genauere Untersuchung, fuer ausgemacht
annahm;) beides schien ihm gegen diesen Vorwurf von grossem Gewicht zu sein;
und um sich desselben gaenzlich zu entledigen, geriet er endlich gar auf
den Gedanken, dass seine Verbindung mit Psyche mehr die Liebe eines Bruders
zu einer Schwester, eine blosse Liebe der Seelen, als dasjenige gewesen sei,
was im eigentlichen Sinn Liebe genennt werden sollte; eine Entdeckung,
die ihm bei Vergleichung der Symptomen dieser beiden Arten von Liebe,
unwidersprechlich zu sein deuchte. Diese Vorstellungen stiegen nach und
nach, zumal an einem Orte, wo jede schattichte Laube, jede Blumenbank,
jede Grotte, ein Zeuge genossner Glueckseligkeiten war, zu einer solchen
Lebhaftigkeit, dass sie eine Art von Ruhe in seinem Gemuete wieder
herstellten; wenn anders die Verblendung eines Kranken, der in der Hitze
seines Fiebers gesund zu sein waehnt, diesen Namen verdienen kann. Doch
verhinderten sie nicht, dass, diesen ganzen Tag ueber, ein Eindruck von
Schwermut und Traurigkeit in seinem Gemuete zurueckblieb; die Bilder der
Psyche und der Tugend, welche er so lange gewohnt gewesen war zu vermengen,
stellten sich immer wieder vor seine Augen; umsonst suchte er sie durch
Zerstreuungen zu entfernen; sie ueberraschten ihn in seinen Arbeiten, und
beunruhigten ihn in seinen Ergoetzungen; er suchte ihnen auszuweichen, der
Unglueckliche! und wurde nicht gewahr, dass eben dieses ein vollstaendiger
Beweis sei, dass es nicht so richtig mit ihm stehe, als er sich selbst zu
ueberreden suchte.




FUeNFTES KAPITEL

Ein starker Schritt zu einer Katastrophe


Danae liebte zu zaertlich, als dass ihr der stille Kummer, der eine wiewohl
anmutige Duesternheit ueber das schoene Gesicht unsers Helden ausbreitete,
haette unbemerkt bleiben koennen; aber aus eben diesem Grunde war sie zu
schuechtern, ihn voreilig um die Ursache einer so unerwarteten Veraenderung
zu befragen. Es war leicht zu sehen, dass sein Herz leiden muesse; aber mit
aller Scharfsichtigkeit, welche den Augen der Liebe eigen ist, konnte sie
doch nicht mit sich selbst einig werden, was die Ursache davon sein koenne.
Ihr erster Gedanke war, dass ihm vielleicht ein zu weit getriebner Scherz
des boshaften Hippias anstoessig gewesen sein moechte. Allein was auch
Hippias gesagt haben konnte, schien ihr nicht genugsam, eine so tiefe
Wunde zu machen, als sie in seinem Herzen zu sehen glaubte. Das Interesse
ihres eignen brachte sie bald auf einen andern Gedanken, dessen sie
vermutlich nicht faehig gewesen waere, wenn ihre Liebe nicht die Eitelkeit
ueberwogen haette, welche bei den meisten Schoenen die wahre Quelle dessen
ist, was sie uns fuer Liebe geben wollen. "Wie, wenn seine Liebe zu
erkalten anfinge"; sagte sie zu sich selbst--"erkalten? Himmel! wenn das
moeglich ist, so werde ich bald gar nicht mehr geliebt sein."--Dieser
Gedanke war zu entsetzlich fuer ein so voellig eingenommenes Herz, als dass
sie ihn sogleich haette verbannen koennen--wie bescheiden macht die wahre
Liebe!--Sie, welche gewohnt gewesen war, in allen Augen die Wuerkungen
ihres alles besiegenden Reizes zu sehen; sie, welche unter den
Vollkommensten ihres Geschlechts nicht Eine kannte, von der sie jemals in
dem suessen Bewusstsein ihrer Vorzueglichkeit nur einen Augenblick gestoert
worden waere--mit einem Wort--Danae--fing an mit Zittern sich selbst zu
fragen: ob sie auch liebenswuerdig genug sei, das Herz eines so
ausserordentlichen Mannes in ihren Fesseln zu behalten? Und wenn gleich
die Eigenliebe sie von Seiten ihres persoenlichen Wertes hierueber beruhigte;
so war sie doch nicht ohne Sorgen, dass in ihrem Betragen etwas gewesen
sein moechte, wodurch das Sonderbare in seiner Denkungsart, oder die edle
Zaertlichkeit seiner Empfindungen haette beleidiget werden koennen. Hatte
sie ihm nicht zuviel Beweise von ihrer Liebe gegeben? Haette sie ihm
seinen Sieg nicht schwerer machen sollen? War es sicher, ihn die ganze
Staerke ihrer Leidenschaft sehen zu lassen, und sich wegen der Erhaltung
seines Herzens allein auf die gaenzliche Dahingebung des Ihrigen zu
verlassen?--Diese Fragen waren weder spitzfindig noch so leicht zu
beantworten, als manches gute Ding sich einbildet, dem man eine ewige
Liebe geschworen hat, und dessen geringster Kummer nun ist, ob man ihr
werde Wort halten koennen. Die schoene Danae kannte die Wichtigkeit
derselben in ihrem ganzen Umfange; und alles was sie sich selbst darueber
sagen konnte, stellte sie doch nicht so zufrieden, dass sie nicht fuer noetig
befunden haette, einen gelegnen Augenblick zu belauschen, um sich ueber alle
ihre Zweifel ins Klare zu setzen; im uebrigen sehr ueberzeugt, dass es ihr
nicht an Mitteln fehlen werde, dem entdeckten uebel zu helfen, es moechte
nun auch bestehen, worin es immer wollte. Agathon ermangelte nicht, ihr
noch an dem naemlichen Tag Gelegenheit dazu zu geben.

Schwermut und Traurigkeit machen die Seele nach und nach schlaff, und
eroeffnen sie allen weichen und zaertlichen Regungen. Dieser Satz ist so
wahr, dass tausend Liebesverbindungen in der Welt keinen andern Ursprung
haben. Ein Liebhaber verliert einen Gegenstand, den er anbetet; er
ergiesst seine Klagen in den Busen einer Freundin, fuer deren Reizungen er
bisher vollkommen gleichgueltig gewesen war--Sie bedauert ihn; er findet
sich dadurch erleichtert, dass er sich frei und ungehindert beklagen kann;
und die Schoene ist erfreut, dass sie Gelegenheit hat, ihr gutes Herz zu
zeigen: Ihr Mitleiden ruehrt ihn, und erregt seine Aufmerksamkeit: Sobald
eine Frauensperson zu interessieren anfaengt, sobald entdeckt man Reizungen
an ihr: Die Regungen, worin beide sich befinden, sind der Liebe guenstig;
sie verschoenern die Freundin, und blenden die Augen des Freundes: ueberdem
sucht der Schmerz natuerlicher Weise eine Zerstreuung, und ist geneigt sich
an alles zu haengen, was ihm Trost und Linderung verspricht: Eine dunkle
Ahnung neuer Vergnuegungen; der Anblick eines Gegenstands, der solche geben
kann; die guenstige Gemuetsstellung, worin man denselben sieht, auf der
Einen--die Eitelkeit, diese grosse Treibfeder des weiblichen Herzens; das
Vergnuegen, so zu sagen, einen Sieg ueber eine Nebenbuhlerin davon zu tragen,
indem man liebenswuerdig genug ist, ihren Verlust zu ersetzen; die
Begierde, selbst ihr Andenken auszuloeschen; vielleicht, auch die
Gutherzigkeit der menschlichen Natur, und das Vergnuegen gluecklich zu
machen, auf der andern Seite--wie viel Umstaende, welche sich vereinigen,
unvermerkt den Freund in einen Liebhaber, und die Vertraute in die
Hauptperson eines neuen Romans zu verwandeln.

In einer Gemuetsverfassung von dieser Art befand sich Agathon, als Danae,
welche vernommen hatte, dass er den ganzen Abend in der einsamsten Gegend
des Gartens zugebracht, sich nicht mehr zurueckhalten konnte ihn
aufzusuchen. Sie fand ihn mit halbem Leib auf einer gruenen Bank liegen,
das Haupt unterstuetzt, und so zerstreut, dass sie eine Weile vor ihm stand,
ehe er sie gewahr wurde. "Du bist traurig, Callias", sagte sie endlich
mit einer geruehrten Stimme, indem sie Augen voll mitleidender Liebe auf
ihn heftete. "Kann ich traurig sein, wenn ich dich sehe?" erwiderte
Agathon, mit einem Seufzer, welcher seine Frage zu beantworten schien.
Auch gab ihm Danae keine Antwort auf ein so verbindliches Kompliment,
sondern fuhr fort, ihn stillschweigend, aber mit einem Gesicht voll Seele,
und Augen die voller Wasser standen, anzusehen. Er richtete sich auf, und
sahe sie eine Weile an, als ob er bis in den Grund ihrer Seele schauen
wollte. Ihre Herzen schienen durch ihre Blicke in einander zu zerfliessen.
"Liebest du mich, Danae?" fragte endlich Agathon mit einer von
Zaertlichkeit und Wehmut halberstickten Stimme, indem er einen Arm um sie
schlang, und fortfuhr sie mit waessrichten Augen anzusehen. Sie schwieg
eine Zeit lang. "Ob ich dich liebe? -" War alles was sie sagen konnte;
aber der Ausdruck, der Ton, womit sie es sagte, haette durch alle
Beredsamkeit des Demosthenes nicht ersetzt werden koennen. "Ach Danae!"
(erwidert Agathon) "ich frage nicht, weil ich zweifle--Kann ich eine
Versichrung, von welcher das ganze Glueck meines Lebens abhaengt, zu oft von
diesen geliebten Lippen empfangen? Wenn du mich nicht liebtest--wenn du
aufhoeren koenntest mich zu lieben -" "Was fuer Gedanken, mein liebster
Callias?" unterbrach sie ihn: "Wie elend waer ich, wenn du sie in deinem
Herzen faendest--wenn dieses dir sagte, dass eine Liebe wie die unsrige
aufhoeren koenne?"--Ein uebelverhehlter Seufzer war alles was er antworten
konnte. "Du bist traurig, Callias", fuhr sie fort; "ein geheimer Kummer
bricht aus allen deinen Zuegen hervor--Du begreifst nicht, nein, du
begreifst nicht, was ich leide, dich traurig zu sehen, ohne die Ursache
davon zu wissen. Wenn mein Vermoegen, wenn meine Liebe, wenn mein Leben
selbst hinlaenglich ist, sie von dir zu entfernen, mein Geliebter, o! so
verzoegre keinen Augenblick, dein Innerstes mir aufzuschliessen -" Der
Ausdruck, die Blicke, der Ton der Stimme, womit sie dieses sagte, ruehrte
den gefuehlvollen Agathon bis zu sprachloser Entzueckung. Er wand seine
Arme um sie, druckte sein Gesicht auf ihre klopfende Brust, und konnte
lange nur durch die Traenen reden, womit er sie benetzte.

Nichts ist ansteckenders als der Affekt einer in Empfindung zerfliessenden
Seele. Danae, ohne die Ursach aller dieser Bewegungen zu wissen, wurde so
sehr von dem Zustand geruehrt, worin sie ihren Liebhaber sah, dass sie eben
so sprachlos als er selbst, sympathetische Traenen mit den Seinigen
vermischte. Diese Szene, welche fuer den gleichgueltigen Leser nicht so
interessant sein kann, als sie es fuer unsre Verliebten war, dauerte eine
ziemliche Weile. Endlich fasste sich Agathon, und sagte in einer von
diesen zaertlichen Ergiessungen der Seele, an welchen die ueberlegung keinen
Anteil hat, und worin man keine andre Absicht hat als ein volles Herz zu
erleichtern: "Ich liebe dich zu sehr, unvergleichliche Danae, und fuehle zu
sehr, dass ich dich nicht genug lieben kann, um dir laenger zu verhehlen,
wer dieser Callias ist, den du, ohne ihn zu kennen, deines Herzens wuerdig
geachtet hast. Ich will dir das Geheimnis meines Namens und die ganze
Geschichte meines Lebens, so weit ich in selbiges zurueckzusehen vermag,
entdecken; und wenn du alles wissen wirst--ich weiss es, dass ich einer so
grossen Seele, wie die deinige, alles entdecken darf--Denn wirst du
vielleicht natuerlich finden, dass der fluechtigste Zweifel, ob es moeglich
sein koenne deine Liebe zu verlieren, hinlaenglich ist, mich elend zu machen."
Danae stutzte, wie man sich vorstellen kann, bei einer so unerwarteten
Vorrede; sie sah unsern Helden so aufmerksam an, als ob sie ihn noch nie
gesehen haette, und verwunderte sich itzt ueber sich selbst, dass ihr nicht
laengst in die Augen gefallen war, dass weit mehr unter ihrem Liebhaber
verborgen sei, als die Nachrichten des Hippias, und die Umstaende, worin
sich ihre Bekanntschaft angefangen, vermuten liessen. Sie dankte ihm auf
die zaertlichste Art fuer die Probe eines vollkommnen Zutrauens, welche er
ihr geben wolle, und nach einigen vorbereitenden Liebkosungen, womit sie
ihre Dankbarkeit bestaetigte, fing Agathon die folgende Erzaehlung an:




SIEBENTES BUCH




ERSTES KAPITEL

Die erste Jugend des Agathons


"Ich war schon achtzehn Jahre alt, eh ich denjenigen kannte, dem ich mein
Dasein zu danken habe. Von der ersten Kindheit an, in den Hallen des
delphischen Tempels erzogen, war ich gewoehnt, die Priester des Apollo mit
diesen kindlichen Empfindungen anzusehen, welche das erste Alter ueber alle,
die fuer unsre Erhaltung Sorge tragen, zu ergiessen pflegt. Ich war noch
ein kleiner Knabe, als ich schon mit dem geheiligten Gewand, welches die
jungen Diener des Gottes von den Sklaven der Priester unterschied,
bekleidet, und zum Dienst des Tempels, wozu ich gewidmet war, zubereitet
wurde.

Wer Delphi gesehen hat, wird sich nicht verwundern, dass ein Knabe von
gefuehlvoller Art, der beinahe von der Wiegen an daselbst erzogen worden,
unvermerkt eine Gemuetsbildung bekommen muss, welche ihn von den
gewoehnlichen Menschen unterscheidet. Ausser der besondern Heiligkeit,
welche ein uraltes Vorurteil und die geglaubte Gegenwart des Pythischen
Gottes der ganzen delphischen Landschaft beigelegt hat, war in den
Bezirken des Tempels selbst kein Platz, der nicht von irgend einem
ehrwuerdigen oder glaenzenden Gegenstand erfuellt, oder durch das Andenken
irgend eines Wunders verherrlichet war. Wie nun der Anblick so vieler
wundervoller Dinge das erste war, woran meine Augen gewoehnt wurden: So war
die Erzaehlung wunderbarer Begebenheiten die erste muendliche Unterweisung,
die ich von meinen Vorgesetzten erhielt; eine Art von Unterricht, den ich
noetig hatte, weil es ein Teil meines Berufs sein sollte, den Fremden, von
welchen der Tempel immer angefuellt war, die Gemaelde, die Schnitzwerke und
Bilder, und den unsaeglichen Reichtum von Geschenken, wovon die Hallen und
Gewoelbe desselben schimmerten, zu erklaeren.

Fuer ungewohnte Augen ist vielleicht nichts blendenders als der Anblick
eines von so vielen Koenigen, Staedten und reichen Partikularen in ganzen
Jahrhunderten zusammengehaeuften Schatzes von Gold, Silber, Edelsteinen,
Perlen, Elfenbein und andern Kostbarkeiten: Fuer mich, der dieses Anblicks
gewohnt war, hatte die bescheidne Bildsaeule eines Solon mehr Reiz, als
alle diese schimmernde Trophaeen einer aberglaeubischen Andacht, welche ich
gar bald mit eben der verachtenden Gleichgueltigkeit ansahe, womit ein
Knabe die Puppen und Spielwerke seiner Kindheit anzusehen pflegt. Noch
unfaehig, von den Verdiensten und dem wahren Wert der vergoetterten Helden
mir einen echten Begriff zu machen, stand ich oft vor ihren Bildern, und
fuehlte, indem ich sie betrachtete, mein Herz mit geheimen Empfindungen
ihrer Groesse und mit einer Bewundrung erfuellt, wovon ich keine andre
Ursache als mein innres Gefuehl haette angeben koennen. Einen noch staerkern
Eindruck machte auf mich die grosse Menge von Bildern der verschiednen
Gottheiten, unter welchen unsre Voreltern die erhaltenden Kraefte der Natur,
die manchfaltigen Vollkommenheiten des menschlichen Geistes und die
Tugenden des geselligen Lebens personifiziert haben, und wovon ich im
Tempel und in den Hainen von Delphi mich allenthalben umgeben fand. Meine
damalige Erfahrung, schoene Danae, hat mich seitdem oftmals auf die
Betrachtung geleitet, wie gross der Beitrag sei, welchen die schoenen Kuenste
zu Bildung des sittlichen Menschen tun koennen; und wie weislich die
Priester der Griechen gehandelt, da sie die Musen und Grazien, deren
Lieblinge ihnen so grosse Dienste getan, selbst unter die Zahl der
Gottheiten aufgenommen haben. Der wahre Vorteil der Religion, in so fern
sie eine besondere Angelegenheit des priesterlichen Ordens ist, scheinet
von der Staerke der Eindruecke abzuhaengen, die wir in denjenigen Jahren
empfangen, worin wir noch unfaehig sind, Untersuchungen anzustellen.
Wuerden unsre Seelen in Absicht der Goetter und ihres Dienstes von der
Kindheit an leere Tafeln gelassen, und anstatt der unsichern und
verworrenen aber desto lebhaftern Begriffe, welche wir durch Fabeln und
Wunder-Geschichte, und in etwas zunehmendem Alter durch die Musik und die
abbildenden Kuenste von den uebernatuerlichen Gegenstaenden bekommen, allein
mit den unverfaelschten Eindruecken der Natur und den Grundsaetzen der
Vernunft ueberschrieben; so ist sehr zu vermuten, dass der Aberglaube noch
groessere Muehe haben wuerde, die Vernunft--als, in dem Falle, worin die
meisten sich befinden, die Vernunft Muehe hat, den Aberglauben von der
einmal eingenommenen Herrschaft zu verdraengen. Der groesste Vorteil, den
dieser ueber jene hat, hanget davon ab, dass er ihr zuvorkommt. Aber wie
leicht wird es ihm alsdenn sich einer noch unmuendigen Seele zu bemeistern,
wenn alle diese zauberische Kuenste, welche die Natur im Nachahmen selbst
zu uebertreffen scheinen, ihre Kraefte vereinigen, die entzueckten Sinnen zu
ueberraschen? Wie natuerlich muss es demjenigen werden die Gottheit des
Apollo zu glauben, ja endlich sich zu bereden, dass er ihre Gegenwart und
Einfluesse fuehle, der in einem Tempel aufgewachsen ist, dessen erster
Anblick das Werk und die Wohnung eines Gottes ankuendet? Demjenigen, der
gewohnt ist den Apollo eines Phidias vor sich zu sehen, und das mehr als
menschliche, welches die Kenner so sehr bewundern, der Natur des
Gegenstands, nicht dem schoepferischen Geiste des Kuenstlers zuzuschreiben?

So viel ich die Natur unsrer Seele kenne, deucht mich, dass sich in einer
jeden, die zu einem gewissen Grade von Entwicklung gelangt, nach und nach
ein gewisses idealisches Schoene bilde, welches (auch ohne dass man sich's
bewusst ist) unsern Geschmack und unsre sittliche Urteile bestimmt, und das
Modell abgibt, wornach unsre Einbildungskraft die besondern Bilder dessen
was wir gross, schoen und vortrefflich nennen, zu entwerfen scheint. Dieses
idealische Modell formiert sich (wie mich itzo wenigstens deucht, nachdem
neue Erfahrungen mich auf neue oder erweiterte Betrachtungen geleitet
haben) aus der Beschaffenheit und dem Zusammenhang der Gegenstaende, worin
wir zu leben anfangen.

Daher (wie die Erfahrung zu bestaetigen scheint) so viele besondere
Denk--und Sinnesarten als man verschiedene Erziehungen und Staende in der
menschlichen Gesellschaft antrifft. Daher der Spartanische Heldenmut, die
Attische Urbanitaet, und der aufgedunsene Stolz der Asiaten; daher die
Verachtung des Geometers fuer den Dichter, oder des spekulierenden
Kaufmanns gegen die Spekulationen des Gelehrten, die ihm unfruchtbar
scheinen, weil sie sich in keine Darici verwandeln wie die seinigen; daher


 


Back to Full Books