Geschichte des Agathon, Teil 1
by
Christoph Martin Wieland

Part 4 out of 5



der grobe Materialismus des plumpen Handwerkers, der rauhe Ungestüm des
Seefahrers, die mechanische Unempfindlichkeit des Soldaten, und die
einfältige Schlauheit des Landvolks; daher endlich, schöne Danae, die
Schwärmerei, welche der weise Hippias deinem Callias vorwirft; diese
Schwärmerei, die ich vielleicht in einem minder erhabnen Licht sehe,
seitdem ich ihre wahre Quelle entdeckt zu haben glaube; aber die ich
nichts desto weniger für diejenige Gemütsbeschaffenheit halte, welche uns,
unter den nötigen Einschränkungen, glücklicher als irgend eine andre
machen kann.

Du begreifest leicht, schöne Danae, daß unter lauter Gegenständen, welche
über die gewöhnliche Natur erhaben, und selbst schon idealisch sind, jenes
phantastische Modell, dessen ich vorhin erwähnte, in einem so
ungewöhnlichen Grade abgezogen und überirdisch werden mußte, daß bei
zunehmendem Alter alles was ich würklich sah, weit unter demjenigen war,
was sich meine Einbildungskraft zu sehen wünschte. In dieser
Gemütsverfassung war ich, als einer von den Priestern zu Delphi aus
Absichten, welche sich erst in der Folg' entwickelten, es übernahm, mich
in den Geheimnissen der Orphischen Philosophie einzuweihen; der einzigen,
die von unsern Priestern hochgeachtet wurde, weil sie die Vernunft selbst
auf ihre Partei zu ziehen, und den Glauben von dessen unbeweglichem
Ansehen das ihrige abhing, einen festern Grund als die Tradition und die
Fabeln der Dichter, zu geben schien.

Nichts, was ich jemals empfunden habe, gleicht der Entzückung, in die ich
hingezogen wurde, als ich in den Händen dieses Egyptiers, der die geheime
Götterlehre seiner Nation zu uns gebracht hat, in das Reich der Geister
eingeführt, und zu einer Zeit, da die erhabensten Gemälde Homers und
Pindars ihren Reiz für mich verloren hatten, mitten in der materiellen
Welt mir eine Neue, mit lauter unsterblichen Schönheiten erfüllt, und von
lauter Göttern bewohnt, eröffnet wurde.

Das Alter, worin ich damals war, ist dasjenige, worin wir, aus dem langen
Traum der Kindheit erwachend, uns selbst zuerst zu finden glauben, die
Welt um uns her mit erstaunten Augen betrachten, und neugierig sind, unsre
eigne Natur und den Schauplatz, worauf wir uns ohn unser Zutun versetzt
sehen, kennen zu lernen. Wie willkommen ist uns in diesem Alter eine
Philosophie, welche den Vorteil unsrer Wissensbegierde mit dieser Neigung
zum Wunderbaren und dieser arbeitscheuen Flüchtigkeit, welche der Jugend
eigen sind, vereiniget, welche alle unsre Fragen beantwortet, alle Rätsel
erklärt, alle Aufgaben auflöset; eine Philosophie, welche destomehr mit
dem warmen und gefühlvollen Herzen der Jugend sympathisiert, weil sie
alles Unempfindliche und Tote aus der Natur verbannet, und jeden Atom der
Schöpfung mit lebenden und geistigen Wesen bevölkert, jeden Punkt der Zeit
mit verborgnen Begebenheiten und großen Szenen befruchtet, welche für
künftige Ewigkeiten heranreifen; ein System, welches die Schöpfung so
unermeßlich macht, als ihr Urheber ist; welches uns in der anscheinenden
Verwirrung der Natur eine majestätische Symmetrie, in der Regierung der
moralischen Welt einen unveränderlichen Plan, in der unzählbaren Menge von
Klassen und Geschlechtern der Wesen einen einzigen Staat, in den
verwickelten Bewegungen aller Dinge einen allgemeinen Richtpunkt, in
unsrer Seele einen künftigen Gott, in der Zerstörung unsers Körpers die
Wiedereinsetzung in unsre ursprüngliche Vollkommenheit, und in dem
nachtvollen Abgrund der Zukunft helle Aussichten in grenzenlose Wonne
zeigt? Ein solches System ist zu schön an sich selbst, zu schmeichelhaft
für unsern Stolz, unsern innersten Wünschen und wesentlichsten Trieben zu
angemessen, als daß wir es in einem Alter, wo alles Große und Rührende so
viel Macht über uns hat, nicht beim ersten Anblick wahr finden sollten.
Vermutungen und Wünsche werden hier zu desto stärkern Beweisen, da wir in
dem bloßen Anschauen der Natur zuviel Majestät, zuviel Geheimnisreiches
und Göttliches zu sehen glauben, um besorgen zu können, daß wir jemals
zugroß von ihr denken möchten. Und, soll ich dirs gestehen, schöne
Danae? Selbst itzt, da mich glückliche Erfahrungen das Schwärmende und
Unzuverlässige dieser Art von Philosophie gelehrt haben, fühle ich mit
einer innerlichen Gewalt, die sich gegen jeden Zweifel empört, daß diese
übereinstimmung mit unsern edelsten Neigungen, welche ihr das Wort redet,
der rechte Stempel der Wahrheit ist, und daß selbst in diesen Träumen,
welche dem materialischen Menschen so ausschweifend scheinen, für unsern
Geist mehr Würklichkeit, mehr Unterhaltung und Aufmunterung, eine reichere
Quelle von ruhiger Freude und ein festerer Grund der Selbstzufriedenheit
liegt, als in allem was die Sinne uns angenehmes und Gutes anzubieten
haben. Doch ich erinnere mich, daß es die Geschichte meiner Seele, und
nicht die Rechtfertigung meiner Denkensart ist, wozu ich mich anheischig
gemacht habe. Es sei also genug, wenn ich sage, daß die Lehrsätze des
Orpheus und des Pythagoras, von den Göttern, von der Natur, von unsrer
Seele, von der Tugend, und von dem was das höchste Gut des Menschen ist,
sich meines Gemüts so gänzlich bemeisterten, daß alle meine Begriffe nach
diesem Urbilde gemodelt, alle meine Reizungen davon beseelt, und mein
ganzes Betragen, so wie alle meine Entwürfe für die Zukunft, mit dem Plan
eines nach diesen Grundsätzen abgemessenen Lebens, dessen Beurteilung mich
unaufhörlich in mir selbst beschäftigte, übereinstimmig waren."




ZWEITES KAPITEL

En animam & mentem cum qua Di nocte loquantur!


"Der Priester, der sich zu meinem Mentor aufgeworfen hatte, schien über
den außerordentlichen Geschmack, den ich an seinen erhabnen Unterweisungen
fand, sehr vergnügt zu sein, und ermangelte nicht, meinen Enthusiasmus bis
auf einen Grad zu erhöhen, welcher mich, seiner Meinung nach, alles zu
glauben und alles zu leiden fähig machen müßte. Ich war zu jung und zu
unschuldig, um das kleinste Mißtrauen in seine Bemühungen zu setzen, bei
welchen die Aufrichtigkeit meines eignen Herzens die edelsten Absichten
voraussetzte. Er hatte die Vorsicht gebraucht, es so einzuleiten, daß ich
endlich aus eigner Bewegung auf die Frage geraten mußte, ob es nicht
möglich sei, schon in diesem Leben mit den höhern Geistern in Gemeinschaft
zu kommen? Dieser Gedanke beschäftigte mich lange bei mir selbst; ich
fand möglich, was ich mit der größesten Lebhaftigkeit wünschte. Die
Geschichte der ersten Zeiten schien meine Hoffnung zu bestätigen. Die
Götter hatten sich den Menschen bald in Träumen, bald in Erscheinungen
entdeckt; verschiedene waren so gar glücklich genug gewesen, Günstlinge
der Götter zu sein. Hier kam mir Ganymed, Endymion und so viele andre zu
statten, welche von Gottheiten geliebt worden waren. Ich gab demjenigen,
was die Dichter davon erzählen, eine Auslegung, welche den erhabenen
Begriffen gemäß war, die ich von den höhern Wesen gefasset hatte; die
Schönheit und Reinigkeit der Seele, die Abgezogenheit von den Gegenständen
der Sinne, die Liebe zu den unsterblichen und ewigen Dingen, schien mir
dasjenige zu sein, was diese Personen den Göttern angenehm, und zu ihrem
Umgang geschickt gemacht hatte. Ich entdeckte endlich dem Theogiton (so
hieß der Priester) meine lange geheim gehaltene Gedanken. Er erklärte
sich auf eine Art darüber, welche meine Neubegierde rege machte, ohne sie
zu befriedigen; er ließ mich merken, daß dieses Geheimnisse seien, welche
er Bedenken trage, meiner Jugend anzuvertrauen: Doch sagte er mir, daß die
Möglichkeit der Sache keinem Zweifel unterworfen sei, und bezauberte mich
ganz mit dem Gemälde, so er mir von der Glückseligkeit derjenigen machte,
welche von den Göttern würdig geachtet würden, zu ihrem geheimen Umgang
zugelassen zu werden. Die geheimnisvolle Miene, die er annahm, so bald
ich nach den Mitteln hiezu zu gelangen fragte, bewog mich, den Vorsatz zu
fassen, zu warten, bis er selbst für gut finden würde, sich deutlicher zu
entdecken. Er tat es nicht; aber er machte so viele Gelegenheiten, meine
erregte Neugierigkeit zu entflammen, daß ich mich nicht lange enthalten
konnte, neue Fragen zu tun. Endlich führte er mich einsmals tief im
geheiligten Hain des Apollo in eine Grotte, welche ein uralter Glaube der
Bewohner des Landes von den Nymphen bewohnt glaubte, deren Bilder, aus
Zypressenholz geschnitzt, in Blinden von Muschelwerk das Innerste der
Höhle zierten.

Hier ließ er mich auf eine bemooste Bank niedersetzen, und fing nach einer
viel versprechenden Vorrede an, mir, wie er sagte, das geheime Heiligtum
der göttlichen Philosophie des Hermes und Orpheus aufzuschließen.
Unzähliche religiöse Waschungen, und eine Menge von Gebeten, Räucherungen
und andre geheimen Anstalten mußten vorhergehen, einen noch in irdische
Glieder gefesselten Geist zum Anschauen der himmlischen Naturen
vorzubereiten. Und auch alsdenn würde unser sterblicher Teil den Glanz
der göttlichen Vollkommenheit nicht ertragen, sondern (wie die Dichter
unter der Geschichte der Semele zu erkennen gegeben) gänzlich davon
verzehrt und vernichtet werden, wenn sie sich nicht mit einer Art von
körperlichem Schleier umhüllen, und durch diese Herablassung uns nach und
nach fähig machen würden, sie endlich selbst, entkörpert und in ihrer
wesentlichen Gestalt anzuschauen. Ich war einfältig genug alle diese
vorgegebene Geheimnisse für echt zu halten; ich hörte dem ernsten
Theogiton mit einem heiligen Schauer zu, und machte mir seine
Unterweisungen so wohl zu Nutze, daß ich Tag und Nacht an nichts anders
dachte als an die außerordentliche Dinge, wovon ich in kurzem die
Erfahrung bekommen würde.

Du kannst dir einbilden, Danae, ob meine Phantasie in dieser Zeit müßig
war. Ich würde nicht fertig werden, wenn ich alles beschreiben wollte,
was damals in ihr vorging, und mit welch einer Zauberei sie mich in meinen
Träumen bald in die glücklichen Inseln, welche Pindar so prächtig
schildert, bald zum Gastmahl der Götter, bald in die Elysischen Täler, der
Wohnung seliger Schatten, versetzte.

So seltsam es klingt, so gewiß ist es doch, daß die Kräfte der Einbildung
dasjenige weit übersteigen, was die Natur unsern Sinnen darstellt: Sie hat
etwas glänzenders als Sonnenglanz, etwas lieblichers als die süßesten
Düfte des Frühlings zu ihren Diensten, unsre innern Sinnen in Entzückung
zu setzen; sie hat neue Gestalten, höhere Farben, vollkommnere Schönheiten,
schnellere Veranstaltungen, eine neue Verknüpfung der Ursachen und
Würkungen, eine andere Zeit--kurz, sie erschafft eine neue Natur, und
versetzt uns in der Tat in fremde Welten, welche nach ganz andern Gesetzen
als die unsrige regiert werden. In unsrer ersten Jugend sind wir noch zu
unbekannt mit den Triebfedern unsers eignen Wesens, um deutlich einzusehen,
wie sehr diese scheinbare Magie der Einbildungskraft in der Tat natürlich
ist. Wenigstens war ich damals leichtgläubig genug, Träume von dieser Art,
übernatürlichen Einflüssen beizumessen, und sie für Vorboten der
Wunderdinge zu halten, welche ich bald auch wachend zu erfahren hoffte.

Einsmals, als ich nach der Vorschrift des Theogitons acht Tage lang mit
geheimen Zeremonien und Weihungen, und in einer unablässigen Anstrengung
mein Gemüt von allen äußerlichen Gegenständen abzuziehen, zugebracht hatte,
und mich nunmehr berechtiget hielt, etwas mehr zu erwarten, als was mir
bisher begegnet war, begab ich mich in später Nacht, da alles schlief, in
die Grotte der Nymphen, und nachdem ich eine Menge von schwülstigen
Liedern und Anrufungsformeln hergesagt hatte, legte ich mich, mit dem
Angesicht gegen den vollen Mond gekehrt, welcher eben damals in die Grotte
schien, auf die Ruhebank zurück, und überließ mich der Vorstellung, wie
mir sein würde, wenn Luna aus ihrer Silbersphäre herabsteigen, und mich zu
ihrem Endymion machen würde. Mitten in diesen ausschweifenden
Vorstellungen, unter denen ich allmählich zu entschlummern anfing, weckte
mich plötzlich ein liebliches Getön, welches in einiger Entfernung über
mir zu schweben schien, und wie ich bald erkannte, aus derjenigen Art von
Saitenspiel erklang, welche man dem Apollo zuzueignen pflegt. Einem
natürlich gestimmten Menschen würde gedeucht haben, er höre ein gutes
Stück von einer geschickten Hand ausgeführt; und so hätte er sich nicht
betrügen können. Aber in der Verfassung, worin ich damals war, hätte ich
vielleicht das Gequäke eines Chors von Fröschen für den Gesang der Musen
gehalten. Die Musik, die ich hörte, rührte, fesselte, entzückte mich; sie
übertraf, meiner eingebildeten Empfindung nach (denn die Phantasie hat
auch ihre Empfindungen,) alles was ich jemals gehört hatte; nur Apollo,
der Vater der Harmonie, dessen Laute die Sphären ihre Götter-vergnügende
Harmonien gelehrt hatte, konnte so überirdische Töne hervorbringen. Meine
Seele schien davon wie aus ihrem Leibe emporgezogen zu werden, und, lauter
Ohr, über den Wolken zu schweben; als diese Musik plötzlich aufhörte, und
mich in einer Verwirrung von Gedanken und Gemütsregungen zurückließ, die
mir diese ganze Nacht kein Auge zu schließen, gestattete.

Des folgenden Tages erzählte ich dem Theogiton, was mir begegnet war. Er
schien nichts sehr besonders daraus zu machen; doch gab er, nachdem er
mich um alle Umstände befragt hatte, zu, daß es Apollo, oder eine von den
Musen gewesen sein könne. Du wirst lächeln, Danae, wenn ich dir gestehe,
daß ich, so jung ich war, und ohne mir selbst recht bewußt zu sein, warum?
doch lieber gesehen hätte, wenn es eine Muse gewesen wäre. Ich unterließ
nun keine Nacht, mich in der Grotte einzufinden, um die vermeinte Muse
wieder zu hören: Aber meine Erwartung betrog mich; es war Apollo selbst.
Nach etlichen Nächten, worin ich mich mit der stummen Gegenwart der
Nymphen von Zypressenholz hatte begnügen müssen, kündigte mir ein heller
Schein, der auf einmal in die Grotte fiel, und durch die allgemeine
Dunkelheit und meinen Wahnwitz zu einem überirdischen Licht erhoben wurde,
irgend eine außerordentliche Begebenheit an. Urteile, wie bestürzt ich
war, als ich mitten in der Nacht, den Gott des Tages, auf einer
hellglänzenden Wolke sitzend, vor mir sah, der sich mir zu lieb den Armen
der schönen Thetis entrissen hatte. Goldgelbe Locken flossen um seine
weißen Schultern; eine Krone von Strahlen schmückte seine Scheitel; das
silberne Gewand, das ihn umfloß, funkelte von tausend Edelsteinen; und
eine goldne Leier lag in seinem linken Arm. Meine Einbildung tat das
übrige hinzu, was zu Vollendung einer idealischen Schönheit nötig war.
Allein Bestürzung und Ehrfurcht erlaubte mir nicht, dem Gott genauer ins
Gesicht zu sehen; ich glaubte geblendet zu sein, und den Glanz von Augen,
welche die ganze Welt erleuchteten, nicht ertragen zu können. Er redete
mich an; er bezeugte mir sein Wohlgefallen an meinem Dienst, und an der
feurigen Begierde, womit ich, mit Verachtung der irdischen Dinge mich den
himmlischen widmete. Er munterte mich auf, in diesem Wege fortzugehen,
und mich den Einflüssen der Unsterblichen leidend zu überlassen; mit der
Versicherung, daß ich bestimmt sei, die Anzahl der Glücklichen zu
vermehren, welche er seiner besondern Gunst gewürdiget habe. Er
verschwand, indem er diese Worte sagte, so plötzlich, daß ich nichts dabei
beobachten konnte; und so voreingenommen als mein Gemüt war, hätte dieser
Apollo seine Rolle viel ungeschickter spielen können, ohne daß mir ein
Zweifel gegen seine Gottheit aufgestiegen wäre. Theogiton, dem ich von
dieser Erscheinung Nachricht gab, wünschte mir Glück dazu, und sagte mir
von den alten Helden unsrer Nation, welche einst Lieblinge der Götter
gewesen, und nun als Halbgötter selbst Altäre und Priester hätten, so viel
herrliche Sachen vor, als er nötig erachten mochte, meine Betörung
vollkommen zu machen. Am Ende vergaß er nicht, mir Anweisung zu geben,
wie ich mich bei einer zweiten Erscheinung gegen den Gott zu verhalten
hätte. Insonderheit ermahnte er mich, mein Urteil über alles
zurückzuhalten, mich durch nichts befremden zu lassen, und der Vorschrift
unsrer Philosophie immer eingedenk zu bleiben, welche eine gänzliche
Untätigkeit von uns fodert, wenn die Götter auf uns würken sollen. Man
mußte so unerfahren sein, als ich war, um keine Schlange unter diesen
Blumen zu merken. Nichts als die Entwicklung dieser heiligen Mummerei
konnte mir die Augen öffnen. Ich konnte unmöglich aus mir selbst auf den
Argwohn geraten, daß die Zuneigung einer Gottheit eigennützig sein könne.
Ich hatte vielmehr gehofft, die größesten Vorteile für meine
Wissens-Begierde von ihr zu ziehen, und mit mehr als menschlichen Vorzügen
begabt zu werden. Die Erklärungen des Apollo befremdeten mich endlich,
und seine Handlungen noch mehr; zuletzt entdeckte ich, was du schon lange
vorher gesehen haben mußt, daß der vermeinte Gott kein andrer als
Theogiton selber war; welcher, sobald er sein Spiel entdeckt sah, auf
einmal die Sprache änderte, und mich bereden wollte, daß er diese Komödie
nur zu dem Ende angestellt habe, um mich von der Eitelkeit der Theosophie,
in die er mich so verliebt gesehen hätte, desto besser überzeugen zu
können. Er zog die Folge daraus: Daß alles, was man von den Göttern
sagte, Erfindungen schlauer Köpfe wären, womit sie Weiber und
leichtgläubige Knaben in ihr Netz zu ziehen suchten; Kurz, er wandte alles
an, was eine unsittliche Leidenschaft einem schamlosen Verächter der
Götter eingeben kann, um die Mühe einer so wohl ausgesonnenen und mit so
vielen Maschinen aufgestützten Verführung nicht umsonst gehabt zu haben.
Ich verwies ihm seine Bosheit mit einem Zorne, der mich stark genug machte,
mich von ihm loszureißen. Des folgenden Tags hatte er die
Unverschämtheit, die priesterlichen Verrichtungen mit eben der
heuchlerischen Andacht fortzusetzen, womit er mich und jeden andern bisher
hintergangen hatte. Er ließ nicht die geringste Veränderung in seinem
Betragen gegen mich merken, und schien sich des Vergangenen eben so wenig
zu erinnern, als ob er den ganzen Lethe ausgetrunken hätte. Diese
Aufführung vermehrte meine Unruhe sehr; ich konnte noch nicht begreifen,
daß es Leute geben könne, welche, mitten in den Ausschweifungen des
Lasters, Ruhe und Heiterkeit, die natürlichen Gefährten der Unschuld,
beizubehalten wissen. Allein in weniger Zeit darauf befreite mich die
Unvorsichtigkeit dieses Betrügers von den Besorgnissen, worin ich seit der
Geschichte in der Grotte geschwebet hatte. Theogiton verschwand aus
Delphi, ohne daß man die eigentliche Ursache davon erfuhr. Aus dem, was
man sich in die Ohren murmelte, erriet ich, daß Apollo endlich überdrüssig
geworden sein möchte, seine Person von einem andern spielen zu lassen.
Einer von unsern Knaben, der ein Verwandter des Ober-Priesters war, hatte
(wie man sagte) den Anlaß dazu gegeben.

Diese Begebenheiten führten mich natürlicher Weise auf viele neue
Betrachtungen; aber meine Neigung zum Wunderbaren und meine
Lieblings-Ideen verloren nichts dabei; sie gewannen vielmehr, indem ich
sie nun in mich selbst verschloß, und die Unsterblichen allein zu Zeugen
desjenigen machte, was in meiner Seele vorging. Ich fuhr fort, die
Verbesserung derselben nach den Grundsätzen der Orphischen Philosophie
mein vornehmstes Geschäfte sein zu lassen. Ich fing nun an zu glauben,
daß keine andre als eine idealische Gemeinschaft zwischen den Höhern Wesen
und den Menschen möglich sei; daß nichts als die Reinigkeit und Schönheit
unsrer Seele vermögend sei, uns zu einem Gegenstande des Wohlgefallens
jenes Unnennbaren, Allgemeinen, Obersten Geistes zu machen, von welchem
alle übrige, wie die Planeten von der Sonne, ihr Licht und die ganze Natur
ihre Schönheit und unwandelbare Ordnung erhalten; und daß endlich in der
übereinstimmung aller unsrer Kräfte, Gedanken und geheimsten Neigungen mit
den großen Absichten und den allgemeinen Gesetzen dieses Beherrschers der
sichtbaren und unsichtbaren Welt, das wahre Geheimnis liege, zu derjenigen
Vereinigung mit demselben zu gelangen, welche ich für die natürliche
Bestimmung und das letzte Ziel aller Wünsche eines unsterblichen Wesens
ansah. Beides, jene geistige Schönheit der Seele und diese erhabene
Richtung ihrer Würksamkeit nach den Absichten des Gesetzgebers der Wesen,
glaubte ich am sichersten durch die Betrachtung der Natur zu erhalten;
welche ich mir als einen Spiegel vorstellte, aus welchem das Wesentliche,
Unvergängliche und Göttliche in unsern Geist zurückstrahle, und ihn nach
und nach eben so durchdringe und erfülle, wie die Sonne einen
angestrahlten Wasser-Tropfen. Ich überredete mich, daß die unverrückte
Beschauung der Weisheit und Güte, welche so wohl aus der besondern Natur
eines jeden Teils der Schöpfung, als aus dem Plan und der allgemeinen
ökonomie des Ganzen hervorleuchte, das unfehlbare Mittel sei, selbst weise
und gut zu werden. Ich brachte alle diese Grundsätze in Ausübung. Jeder
neue Gedanke, der sich in mir entwickelte, wurde zu einer Empfindung
meines Herzens; und so lebte ich in einem stillen und lichtvollen Zustand
des Gemüts, dessen ich mich niemals anders als mit wehmütigem Vergnügen
erinnern werde, etliche glückliche Jahre hin; unwissend (und glücklich
durch diese Unwissenheit) daß dieser Zustand nicht dauern könne; weil die
Leidenschaften des reifenden Alters, und (wenn auch diese nicht wären) die
unvermeidliche Verwicklung in dem Wechsel der menschlichen Dinge jene
Fortdauer von innerlicher Heiterkeit und Ruhe nicht gestatten, welche nur
ein Anteil entkörperter Wesen sein kann."




DRITTES KAPITEL

Die Liebe in verschiedenen Gestalten


"Inzwischen hatte ich das achtzehnte Jahr erreicht, und fing nun an,
mitten unter den angenehmen Empfindungen, von denen meine Denkungs-Art und
meine Beschäftigungen unerschöpfliche Quellen zu sein schienen, ein Leeres
in mir zu fühlen, welches sich durch keine Ideen ausfüllen lassen wollte.
Ich sah die manchfaltigen Szenen der Natur wie mit neuen Augen an; ihre
Schönheiten hatten für mich etwas Herz-rührendes, welches ich sonst nie
auf diese Art empfunden hatte. Der Gesang der Vögel im Haine schien mir
was zu sagen, das er mir nie gesagt hatte, ohne daß ich wußte, was es war;
und die neu belaubten Wälder schienen mich einzuladen, in ihren Schatten
einer wollüstigen Schwermut nachzuhängen, von welcher ich mitten in den
erhabensten Betrachtungen wider meinen Willen überwältiget wurde. Nach
und nach verfiel ich in eine weichliche Untätigkeit: Mich deuchte, ich sei
bisher nur in der Einbildung glücklich gewesen; und mein Herz sehnete sich
nach einem Gegenstand, in welchem ich jene idealische Vollkommenheiten
würklich genießen möchte, an denen ich mich bisher nur wie an einem
geträumten Gastmahle geweidet hatte. Damals zuerst stellten sich mir die
Reizungen der Freundschaft in einer vorher nie empfundenen Lebhaftigkeit
dar: Ein Freund (bildete ich mir ein) ein Freund würde diese geheime
Sehnsucht meines Herzens befriedigen. Meine Phantasie malte sich einen
Pylades aus, und mein verlangendes Herz bekränzte dieses schöne Bild mit
allem, was mir das Liebenswürdigste schien, selbst mit jenen äußerlichen
Annehmlichkeiten, welche in meinem System den natürlichen Schmuck der
Tugend ausmachten. Ich suchte diesen Freund unter der blühenden Jugend,
welche mich umgab. Mehr als einmal betrog mich mein Herz, ihn gefunden zu
haben; aber eine kurze Erfahrung machte mich meines Irrtums bald gewahr
werden. Unter einer so großen Anzahl von auserlesenen Jünglingen, welche
die Liverei des Gottes zu Delphi trugen, war nicht ein einziger, den die
Natur so vollkommen mit mir zusammen gestimmt hatte, als die
Spitzfindigkeit meiner Begriffe es erfoderte.

Um diese Zeit geschah es, daß ich das Unglück hatte, der Ober-Priesterin
eine Neigung einzuflößen, welche mit ihrem geheiligten Stande und mit
ihrem Alter einen gleich starken Absatz machte; sie hatte mich schon seit
geraumer Zeit mit einer vorzüglichen Gütigkeit angesehen, welche ich, so
lang ich konnte, einer mütterlichen Gesinnung beimaß, und mit aller der
Ehrerbietung erwiderte, die ich der Vertrauten des Delphischen Gottes
schuldig war. Stelle dir vor, schöne Danae, was für ein Modell zu einer
Bild-Säule des Erstaunens ich abgegeben hätte, als sich eine so ehrwürdige
Person herabließ, mir zu entdecken, daß alle Vertraulichkeit, die ich
zwischen ihr und dem Apollo voraussetzte, nicht zureiche, sie über die
Schwachheiten der gemeinsten Erden-Töchter hinwegzusetzen. Die gute Dame
war bereits in demjenigen Alter, worin es lächerlich wäre, das Herz eines
Mannes von einiger Erfahrung einer jungen Nebenbuhlerin streitig machen zu
wollen. Allein einem Neuling, wofür sie mich mit gutem Grund ansah, die
ersten Unterweisungen zu geben, dazu konnte sie sich ohne übertriebene
Eitelkeit für reizend genug halten. Sie war zu den Zeiten des Heiligen
Kriegs in der Blüte ihrer Schönheit gewesen; hatte sich aber, wie die
meisten ihres Standes, so gut erhalten, daß sie noch immer Hoffnung haben
konnte, in einer Versammlung herbstlicher Schönheiten vorzüglich bemerkt
zu werden. Setze zu diesen ehrwürdigen überbleibseln einer vormals
berühmten Schönheit eine Figur, wie man die blonde Ceres zu bilden pflegt,
große schwarze Augen, unter deren affektiertem Ernst eine wollüstige Glut
hervorglimmte, und zu allem diesem eine ungemeine Sorgfalt für ihre Person,
und die schlaue Kunst, die Vorteile ihrer Reizungen mit der strengen
Sittsamkeit ihrer priesterlichen Kleidung zu verbinden: so kannst du dir
eine genugsame Vorstellung von dieser Pythia machen, um den Grad der
Gefahr abnehmen zu können, worin sich die Einfalt meiner Jugend bei ihren
Nachstellungen befand.

Es ist leicht zu erachten, wie viel es sie Mühe kosten mußte, die ersten
Schwierigkeiten zu überwinden, welche ein mehr Ehrfurcht als Liebe
einflößendes Frauenzimmer, in den hartnäckigen Vorurteilen eines
achtzehnjährigen Jünglings findet. Ihr Stand erlaubte ihr nicht, sich
deutlich zu erklären; und meine Blödigkeit verstand die Sprache nicht,
deren sie sich zu bedienen genötigt war. Zwar braucht man sonst zu dieser
Sprache keinen andern Lehrmeister als sein Herz; allein unglücklicher
Weise sagte mir mein Herz nichts. Es bedurfte der lange geübten Geduld
einer bejahrten Priesterin, um nicht tausendmal das Vorhaben aufzugeben,
einem Menschen, der aus lauter Ideen zusammengesetzt war, ihre Absichten
begreiflich zu machen. Und dennoch fand sie sich endlich genötigt, sich
des einzigen Kunstgriffs zu bedienen, von dem man in solchen Fällen eine
gewisse Würkung erwarten kann; sie hatte noch Reizungen, welche die
ungewohnten Augen eines Neulings blenden konnten. Die Verwirrung, worein
sie mich durch den ersten Versuch von dieser Art gesetzt sah, schien ihr
von guter Vorbedeutung zu sein; und vielleicht hätte sie sich weniger in
ihrer Erwartung betrogen, wenn nicht ein Umstand, von dem ihr nichts
bekannt war, meinem Herzen eine mehr als gewöhnliche Stärke gegeben hätte.

Unsre Tugend, oder diejenigen Würkungen, welche das Ansehen haben, aus
einer so edeln Quelle zu fließen, haben insgemein geheime Triebfedern, die
uns, wenn sie gesehen würden, wo nicht alles, doch einen großen Teil
unsers Verdienstes dabei entziehen würden. Wie leicht ist es, der
Versuchung einer Leidenschaft zu widerstehen, wenn ihr von einer stärkern
die Waage gehalten wird?

Kurz zuvor, eh die schöne Pythia ihren physikalischen Versuch machte, war
das Fest der Diana eingefallen, welches zu Delphi mit aller der
Feierlichkeit begangen wird, die man der Schwester des Apollo schuldig zu
sein vermeint. Alle Jungfrauen über vierzehn Jahre erschienen dabei in
schneeweißem Gewand, mit aufgelösten fliegenden Haaren, den Kopf und die
Arme mit Blumen-Kränzen umwunden, und sangen Hymnen zum Preis der
jungfräulichen Göttin. Auch alte halb verloschne Augen heiterten sich
beim Anblick einer so zahlreichen Menge junger Schönen auf, deren
geringster Reiz die frischeste Blum der Jugend war. Urteile, schöne Danae,
ob derjenige, den der bunte Schimmer eines blühenden Blumen-Stücks schon
in eine Art von Entzückung setzte, bei einem solchen Auftritt
unempfindlich bleiben konnte? Meine Blicke irrten in einer zärtlichen
Verwirrung unter diesen anmutsvollen Geschöpfen herum; bis sie sich
plötzlich auf einer einzigen sammelten, deren erster Anblick meinem Herzen
keinen Wunsch übrig ließ, etwas anders zu sehen. Vielleicht würde mancher
sie unter so vielen Schönen kaum besonders wahrgenommen haben; denn der
schönste Wuchs, die regelmäßigsten Züge, langes Haar, dessen wallende
Locken bis zu den Knien herunterflossen, und eine Farbe, welche Lilien und
Rosen, wenn sie ihre eigene Schönheit fühlen könnten, beschämt hätte, alle
diese Reizungen waren ihr mit ihren Gespielen gemein; viele übertrafen sie
noch in einem und dem andern Stücke der Schönheit, und wenn ein Maler
unter der ganzen Schar hätte entscheiden sollen, welche die Schönste sei,
so würde sie vielleicht übergangen worden sein; allein mein Herz urteilte
nicht nach den Regeln der Kunst. Ich empfand, oder glaubte zu empfinden,
(und dieses ist in Absicht der Würkung allemal eins) daß nichts
liebenswürdigers als dieses junge Mädchen sein könne, ohne daß ich daran
gedachte, sie mit den übrigen zu vergleichen; sie löschte alles andre aus
meinen Augen aus. So (dacht ich) müßte die Unschuld aussehen, wenn sie,
um sichtbar zu werden, die Gestalt einer Grazie entlehnte; so rührend
würden ihre Gesichts-Züge sein; so still-heiter würden ihre Augen; so
holdselig ihre Wangen lächeln; so würden ihre Blicke, so ihr Gang, so jede
ihrer Bewegungen sein. Dieser Augenblick brachte in meiner Seele eine
Veränderung hervor, welche mir, da ich in der Folge fähig wurde, über
meinen Zustand zu denken, dem übergang in eine neue und vollkommnere Art
des Daseins gleich zu sein schien. Aber damals war ich zu stark gerührt,
zu sehr von Empfindungen verschlungen, um mir meiner selbst recht bewußt
zu sein. Meine Entzückung ging so weit, daß ich nichts mehr von dem Pomp
des Festes bemerkte; und erst, nachdem alles gänzlich aus meinen Augen
verschwunden war, ward ich, wie durch einen plötzlichen Schlag, wieder zu
mir selbst gebracht. Itzt hatte ich Mühe, mich zu überzeugen, daß ich
nicht aus einem von den Träumen erwacht sei, worin meine Phantasie, in
überirdische Sphären verzückt, mir zuweilen ähnliche Gestalten vorgestellt
hatte. Der Schmerz, eines so süßen Anblicks beraubt zu sein, konnte das
vollkommene Vergnügen nicht schwächen, womit das Innerste meines Wesens
erfüllt war. Selbigen ganzen Abend, und den größesten Teil der Nacht,
hatten alle Kräfte meiner Seele keine andere Beschäftigung, als sich
dieses geliebte Bild bis auf die kleinsten Züge mit allen diesen
namenlosen Reizen,--welche vielleicht ich allein an dem Urbilde bemerkt
hatte,--und mit einer Lebhaftigkeit vorzumalen, die ihm immer neue
Schönheiten lehnte; mein Herz schmückte es mit allem, was die Natur
Anmutiges hat, mit allen Vorzügen des Geistes, mit jeder sittlichen
Schönheit, mit allem was nach meiner Denkungs-Art das Vollkommenste und
Beste war, aus--was für ein Gemälde, wozu die Liebe die Farben gibt!--Und
doch glaubte ich immer, zu wenig zu tun; und bearbeitete mich in mir
selbst, noch etwas schöners als das Schönste zu finden, um die Idee, die
ich mir von meiner Unbekannten machte, gänzlich zu vollenden, und
gleichsam in das Urbild selbst zu verwandeln.--Diese liebenswürdige Person
hatte mich zu eben der Zeit, da ich sie erblickte, wahrgenommen; und es
war (wie sie mir in der Folge entdeckte) etwas mit den Regungen meines
Herzens übereinstimmendes in dem ihrigen vorgegangen. Ich erinnerte mich,
(denn wie hätte ich die kleinste Bewegung, die sie gemacht hatte,
vergessen können?) daß unsre Blicke sich mehr als ein mal begegnet waren,
und daß sie sogleich mit einer Scham-Röte, welche ihr ganzes liebliches
Gesicht mit Rosen überzog, die Augen niedergeschlagen hatte. Ich war zu
unerfahren, und in der Tat auch zu bescheiden, aus diesem Umstand etwas
besonderes zu meinem Vorteil zu schließen; aber doch erinnerte ich mich
desselben mit einem so innigen Vergnügen, als ob es mir geahnet hätte, wie
glücklich mich die Folge davon machen würde. Ich hatte die Eitelkeit
nicht, welche uns zu schmeicheln pflegt, daß wir liebenswürdig seien; ich
dachte an nichts weniger, als auf Mittel, wie ich mich lieben machen
wollte. Aber die Schönheit der Seele, die ich in ihrem Gesichte
ausgedrückt gesehen hatte; diese sanfte Heiterkeit, die aus dem
natürlichen Ernst ihrer Züge hervorlächelte, hauchten mir Hoffnung ein,
daß ich geliebet werden würde.--Und welch einen Himmel von Wonne eröffnete
diese Hoffnung vor mir! Was für Aussichten! Welches Entzücken!--Wenn ich
mir vorstellte, daß mein ganzes Leben, daß selbst die Ewigkeiten, in deren
grenzenlosen Tiefen, der Glückliche die Dauer seiner Wonne so gerne sich
verlieren läßt, in ihrem Anschauen und an ihrer Seite dahinfließen würden!


So lebhafte Hoffnungen setzten voraus, daß ich sie wieder finden würde;
und dieser Wunsch brachte die Begierde mit sich, zu wissen wer sie sei.
Aber wen konnt' ich fragen? Ich hatte keinen Freund, dem ich mich
entdecken durfte; von einem jeden andern glaubte ich, daß er bei einer
solchen Frage mein ganzes Geheimnis in meinen Augen lesen würde; und die
Liebe, die ein sehr guter Ratgeber ist, hatte mich schon einsehen gemacht,
wie viel daran gelegen sei, daß der Pythia nicht das Geringste zu Ohren
komme, was ihr den Zustand meines Herzens hätte verraten, oder sie zu
einer mißtrauischen Beobachtung meines Betragens veranlassen können. Ich
verschloß also mein Verlangen in mich selbst, und erwartete mit Ungeduld,
bis irgend ein meiner Liebe günstiger Schutz-Geist mir zu dieser
gewünschten Entdeckung verhelfen würde. Nach einigen Tagen fügte es sich,
daß ich meiner geliebten Unbekannten in einem der Vorhöfe des Tempels
begegnete. Die Furcht, von jemand beobachtet zu werden, hielt mich in
eben dem Augenblick zurück, da ich auf sie zueilen und meine Entzückung
über diesen unverhofften Anblick in Gebärden, und vielleicht in
Ausrufungen, ausbrechen lassen wollte. Sie blieb, indem sie mich
erblickte, einige Augenblicke stehen, und sah mich an. Ich glaubte ein
plötzliches Vergnügen in ihrem schönen Gesicht aufgehen zu sehen; sie
errötete, schlug die Augen wieder nieder, und eilte davon. Ich durft' es
nicht wagen, ihr zu folgen; aber meine Augen folgten ihr, so lang es
möglich war; und ich sahe, daß sie zu einer Tür einging, welche in die
Wohnung der Priesterin führte. Ich begab mich in den Hain, um meinen
Gedanken über diese angenehme Erscheinung ungestörter nachzuhängen. Der
letzte Umstand, den ich bemerkt hatte, und ihre Kleidung, brachte mich auf
die Vermutung, daß sie vielleicht eine von den Aufwärterinnen der Pythia
sei, deren diese Dame eine große Anzahl hatte, die aber (außer bei
besondern Feierlichkeiten) selten sichtbar wurden. Diese Entdeckung
beschäftigte mich noch nach der ganzen Wichtigkeit, die sie für mich hatte,
als ich, in der Tat zur ungelegensten Zeit von der Welt, zu der
zärtlichen Priesterin gerufen wurde.--Die Begierde und die Hoffnung, meine
Geliebte bei dieser Gelegenheit wieder zu sehen, machte mir anfänglich
diese Einladung sehr willkommen; aber meine Freude wurde bald von dem
Gedanken vertrieben, wie schwer es mir sein würde, wenn meine Unbekannte
zugegen wäre, meine Empfindungen für sie den Augen einer Nebenbuhlerin zu
verbergen. Die Künste der Verstellung waren mir zu unbekannt, und meine
Gemüts-Regungen bildeten sich (auch wider meinen Willen) zu schnell und zu
deutlich in meinem äußerlichen ab, als daß ich mich bei allen meinen
Bestrebungen, vorsichtig zu sein, sicher genug halten konnte. Diese
Gedanken gaben mir (wie ich glaube) ein ziemlich verwirrtes Aussehen, als
ich vor die Pythia geführt wurde. Allein, da ich niemand, als eine
kleine Sklavin von neun oder zehen Jahren, bei ihr fand, erholte ich mich
bald wieder; und sie selbst schien mit ihren eigenen Bewegungen zu sehr
beschäftigt, um auf die meinige genau Acht zu geben,--oder (welches
wenigstens eben so wahrscheinlich ist) sie legte die Veränderung, die sie
in meinem Gesichte wahrnehmen mußte, zu Gunsten ihrer Reizungen aus, von
denen sie sich dieses mal desto mehr Würkung versprechen konnte, je mehr
sie vermutlich darauf studiert hatte, sie in dieses reizende
Schatten-Licht zu setzen, welches die Einbildungs-Kraft so lebhaft zum
Vorteil der Sinnen ins Spiel zu ziehen pflegt. Sie saß oder lag (denn
ihre Stellung war ein Mittelding von beiden) auf einem mit Silber und
Perlen reich gestickten Ruhe-Bette; ihr ganzer Putz hatte dieses
Zierlich-Nachlässige, hinter welches die Kunst sich auf eine schlaue Art
versteckt, wenn sie nicht dafür angesehen sein will, daß sie der Natur zu
Hülfe komme; ihr Gewand, dessen bescheidene Farbe ihrer eigenen eben so
sehr als der Anständigkeit ihrer Würde angemessen war, wallte zwar in
vielen Falten um sie her; aber es war schon dafür gesorgt, daß hier und da
der schöne Contour dessen, was damit bedeckt war, deutlich genug wurde, um
die Augen auf sich zu ziehen, und die Neugier lüstern zu machen. Ihre
Arme, die sie sehr schön hatte, waren in weiten und halb auf geschürzten
ärmeln fast ganz zu sehen; und eine Bewegung, welche sie, während unsers
Gesprächs, unwissender Weise gemacht haben wollte, trieb einen Busen aus
seiner Verhüllung hervor, welcher reizend genug war, ihr Gesicht um
zwanzig Jahre jünger zu machen. Sie bemerkte diese kleine
Unregelmäßigkeit endlich; aber das Mittel, wodurch sie die Sachen wieder
in Ordnung zu bringen suchte, war mit der Unbequemlichkeit verbunden, daß
dadurch ein Fuß bis zur Hälfte sichtbar wurde, dessen die schönste
Spartanerin sich hätte rühmen dürfen. Die tiefe Gleichgültigkeit, worin
mich alle diese Reizungen ließen, machte ohne Zweifel, daß ich
Beobachtungen machen konnte, wozu ein gerührter Zuschauer die Freiheit
nicht gehabt hätte. Indes gab mir doch eine Art von Scham, die ich
anstatt der guten Pythia auf meinen Wangen glühen fühlte, ein Ansehen von
Verwirrung, womit die Dame, welche in zweifelhaften Fällen alle mal zu
Gunsten ihrer Eigenliebe urteilte, ziemlich wohl zufrieden schien. Sie
schrieb es vermutlich einer schüchternen Unentschlossenheit oder einem
Streit zwischen Ehrfurcht und Liebe bei, daß ich (ungeachtet des starken
Eindrucks, den sie auf mich machte) ihr keine Gelegenheit gab, die
Delikatesse ihrer Tugend sehen zu lassen. Ich hatte Aufmunterungen nötig,
zu welchen man bei einem geübtern Liebhaber sich nicht herablassen würde.
Die Geschicklichkeit, die man mir in der Kunst, die Dichter zu lesen,
beilegte, diente ihr zum Vorwand, mir einen Zeit-Vertrieb vorzuschlagen,
von dem sie sich einige Beföderung dieser Absicht versprechen konnte. Sie
versicherte mich, daß Homer ihr Lieblings-Autor sei, und bat mich, ihr das
Vergnügen zu machen, sie eine Probe meines gepriesenen Talents hören zu
lassen. Sie nahm einen Homer, der neben ihr lag, und stellte sich,
nachdem sie eine Weile gesucht hatte, als ob es ihr gleichgültig sei,
welcher Gesang es wäre; sie gab mir den ersten den besten in die Hände;
aber zu gutem Glücke war es gerade derjenige, worin Juno, mit dem Gürtel
der Venus geschmückt, den Vater der Götter in eine so lebhafte Erinnerung
der Jugend ihrer ehelichen Liebe setzt.--Von dem dichterischen Feuer,
welches in diesem Gemälde glühet, und dem süßen Wohlklang der Homerischen
Verse entzückt, beobachtete sie nicht, in was für eine verführische
Unordnung ein Teil ihres Putzes durch eine Bewegung der Bewunderung,
welche sie machte, gekommen war. Sie nahm von dieser Stelle Anlaß, die
unumschränkte Gewalt des Liebes-Gottes zum Gegenstande der Unterredung zu
machen. Sie schien der Meinung derjenigen günstig zu sein, welche
behaupten, daß der Gedanke, einer so mächtigen Gottheit widerstehen zu
wollen, nur in einer vermessenen und ruchlosen Seele geboren werden könne.
Ich pflichtete ihr bei, behauptete aber, daß die meisten in den Begriffen,
welche sie sich von diesem Gotte machten, der großen Pflicht, von der
Gottheit nur das Würdigste und Vollkommenste zu denken, sehr zu nahe
träten; und daß die Dichter durch die allzusinnliche Ausbildung ihrer
allegorischen Fabeln in diesem Stücke sich keines geringen Vergehens
schuldig gemacht hätten. Unvermerkt schwatzte ich mich in einen
Enthusiasmus hinein, in welchem ich, nach den Grundsätzen meiner
geheimnisreichen Philosophie, von der intellektualischen Liebe, von der
Liebe welche der Weg zum Anschauen des wesentlichen Schönen ist, von der
Liebe welche die geistigen Flügel der Seele entwickelt, sie mit jeder
Tugend und Vollkommenheit schwellt, und zuletzt durch die Vereinigung mit
dem Urbild und Urquell des Guten in einen Abgrund von Licht, Ruhe und
unveränderlicher Wonne hineinzieht, worin sie gänzlich verschlungen und zu
gleicher Zeit vernichtigt und vergöttert wird--so erhabne, mir selbst
meiner Einbildung nach sehr deutliche, der schönen Priesterin aber so
unverständliche Dinge sagte, daß sie in eben der Proportion, nach welcher
sich meine Einbildungs-Kraft dabei erwärmte, nach und nach davon
eingeschläfert wurde. In der Tat konnte im Prospekt eines so schönen
Busens, als ich vor mir sahe, nichts seltsamere sein, als eine Lob-Rede
auf die intellektualische Liebe; auch gab die betrogne Pythia nach einer
solchen Probe alle Hoffnung auf, mich, diesen Abend wenigstens, zu einer
natürlichen Art zu denken und zu lieben herumzustimmen. Sie entließ mich
alsobald darauf, nachdem sie mir, wiewohl auf eine ziemlich rätselhafte
Art, zu vernehmen gegeben hatte, daß sie besondere Ursachen habe, sich
meiner mehr anzunehmen, als irgend eines andern Kostgängers des Apollo.
Ich verstund aus dem, was sie mir davon sagte, so viel, daß sie eine nahe
Anverwandtin meines mir selbst noch unbekannten Vaters sei; daß es ihr
vielleicht bald erlaubt sein werde, mir das Geheimnis meiner Geburt zu
entdecken; und daß ich es allein diesem nähern Verhältnis zu zuschreiben
habe, wenn sie mich durch eine Freundschaft unterscheide, welche mich,
ohne diesen Umstand, vielleicht hätte befremden können. Diese Eröffnung,
an deren Wahrheit mich ihre Miene nicht zweifeln ließ, hatte die
gedoppelte Würkung--mich zu bereden, daß ich mich in meinen Gedanken von
ihren Gesinnungen betrogen haben könne--und sie auf einmal zu einem
interessanten Gegenstande für mein Herz zu machen. In der Tat fing ich,
von dem Augenblick, da ich hörte, daß sie mit meinem Vater befreundet sei,
an, sie mit ganz andern Augen anzusehen; und vielleicht würde sie von den
Dispositionen, in welche ich dadurch gesetzt wurde, in kurzer Zeit mehr
Vorteil haben ziehen können, als von allen den Kunstgriffen, womit sie
meine Sinnen hatte überraschen wollen. Aber die gute Dame wußte entweder
nicht, wie viel man bei gewissen Leuten gewonnen, wenn man Mittel findet,
ihr Herz auf seine Seite zu ziehen; oder sie war über mein seltsames
Betragen erbittert, und glaubte, ihre verachteten Reizungen nicht besser
rächen zu können, als wenn sie mich in eben dem Augenblick von sich
entfernte, da sie in meinen Augen las, daß ich gerne länger geblieben wäre.
Alles Bitten, daß sie ihre Gütigkeit durch eine deutlichere Entdeckung
des Geheimnisses meiner Geburt vollkommen machen möchte, war umsonst; sie
schickte mich fort, und hatte Grausamkeit genug, eine geraume Zeit vorbei
gehen zu lassen, eh sie mich wieder vor sich kommen ließ. Zu einer andern
Zeit würde das Verlangen, diejenigen zu kennen, denen ich das Leben zu
danken hätte, mir diesen Aufschub zu einer harten Strafe gemacht haben;
aber damals brauchte es nur wenige Minuten, wieder allein zu sein, und
einen Gedanken an meine geliebte Unbekannte, um die Priesterin mit allen
ihren Reizen, und mit allem was sie mir gesagt und nicht gesagt hatte, aus
meinem Gemüte wieder auszulöschen. Es war mir unendlich mal angelegener
zu wissen, wer diese Unbekannte sei, und ob sie würklich (wie ich mir
schmeichelte) für mich empfinde, was ich für sie empfand, als in Absicht
meiner selbst aus einer Unwissenheit gezogen zu werden, gegen welche die
Gewohnheit mich fast ganz gleichgültig gemacht hatte: So lange ich das
nicht wußte, würde ich die Entdeckung, der Erbe eines Königs zu sein, mit
Kaltsinn angesehen haben. Der Blick, den sie diesen Abend auf mich
geheftet hatte, schien mir etwas zu versprechen, das für mein Herz
unendlich mehr Reiz hatte, als alle Vorteile der glänzendsten Geburt.
Mein ganzes Wesen schien von diesem Blicke, wie von einem überirdischen
Lichte, durchstrahlt und verklärt--ich unterschied zwar nicht deutlich,
was in mir vorging--aber so oft ich sie mir wieder in dieser Stellung, mit
diesem Blicke, mit diesem Ausdruck in ihrem lieblichen Gesichte vorstellte,
(und dieses geschah allemal so lebhaft, als ob ich sie würklich mit Augen
sähe) so schien mir mein Herz vor Liebe und Vergnügen in Empfindungen zu
zerfließen, für deren durchdringende Süßigkeit keine Worte erfunden sind.
"--Hier wurde Agathon (dessen Einbildungs-Kraft, von den Erinnerungen
seiner ersten Liebe erhitzt, einen hübschen Schwung, wie man sieht, zu
nehmen anfing,) durch eine ziemlich merkliche Veränderung in dem Gesichte
seiner schönen Zuhörerin, mitten in dem Lauf seiner unzeitigen Schwärmerei
aufgehalten, und aus seinem achtzehnten Jahr, in welches er in dieser
kleinen Ekstase zurückversetzt worden war, auf einmal wieder nach Smyrna,
zu sich selbst und der schönen Danae gegenüber, gebracht.




VIERTES KAPITEL

Fortsetzung des Vorhergehenden


Es ist eine alte Bemerkung, daß man einer schönen Dame die Zeit nur
schlecht vertreibt, wenn man sie von den Eindrücken, die eine andre auf
unser Herz gemacht hat, unterhält. Je mehr Feuer, je mehr Wahrheit, je
mehr Beredsamkeit wir in einem solchen Falle zeigen, je reizender unsre
Schilderungen, je schöner unsre Bilder, je beseelter unser Ausdruck ist,
desto gewisser dürfen wir uns versprechen, unsre Zuhörerin einzuschläfern.
Diese Beobachtung sollten sich besonders diejenigen empfohlen sein
lassen, welche eine würklich im Besitz stehende Geliebte mit der
Geschichte ihrer ehemaligen verliebtet Abenteuer unterhalten. Agathon,
welcher noch weit davon entfernt war, von seiner Einbildungs-Kraft Meister
zu sein, hatte diese Regel gänzlich aus den Augen verloren, da er einmal
auf die Erzählung seiner ersten Liebe gekommen war. Die Lebhaftigkeit
seiner Wiedererinnerungen schien sie in Empfindungen zu verwandeln; er
bedachte nicht, daß es weniger anstößig wäre, eine Geliebte, wie Danae,
mit der ganzen Metaphysik der intellektualischen Liebe, als mit so
enthusiastischen Beschreibungen der Vorzüge einer andern, und der
Empfindungen, welche sie eingeflößt, zu unterhalten. Eine Art von
Mittelding zwischen Gähnen und Seufzen, welches ihr an der Stelle, wo wir
seine Erzählungen abgebrochen haben, entfuhr, und ein gewisser Ausdruck
von langer Weile, der aus einer erzwungnen Miene von vergnügter
Aufmerksamkeit hervorbrach, machte ihn endlich seiner Unbesonnenheit
gewahr werden; er stutzte einen Augenblick, er errötete, und es fehlte
wenig, daß er den Zusammenhang seiner Geschichte darüber verloren hätte.
Doch erholte er sich noch geschwinde genug wieder, um seiner Verwirrung
irgend einen zufälligen Vorwand zu geben, und setzte seine Erzählung fort,
indem er fest bei sich beschloß, genauer auf sich selbst Acht zu geben,
und seine Beschreibungen so sehr abzukürzen, als es nur immer möglich sein
würde; ein Vorsatz, bei welchem unsre Leser sich wenigstens eben so wohl
befinden werden, als die schöne Danae, wenn er anders fähig sein wird,
sich selbst Wort zu halten.

"Die süßen Träume", (fuhr der Held unsrer Geschichte fort) "worin mein
Herz sich so gerne zu wiegen pflegte, hatten nicht würkliches genug,
diesen angenehmen Zustand meines Gemütes lange zu unterhalten. Eine
zärtliche Schwermut, welche jedoch nicht ohne eine Art von Wollust war,
bemächtigte sich meiner so stark, daß ich Mühe hatte, sie vor denjenigen
zu verbergen, mit denen ich einen Teil des Tages zubringen mußte. Ich
suchte die Einsamkeit; und weil ich den Tag über, nur wenige Stunden in
meiner Gewalt hatte, so fing ich wieder an, den größten Teil der Zeit,
worin andere schliefen, in den angenehmen Hainen, die den Tempel umgeben,
mit meinen Gedanken und dem Bilde meiner Unbekannten zu durchwachen. In
einer dieser Nächte begegnete es, daß ich von ungefähr in eine Gegend des
Hains verirrte, welche das Ansehen einer Wildnis, aber der anmutigsten,
die man sich nur einbilden kann, hatte. Mitten darin ließ das Gebüsche,
welches in labyrinthischen Krümmungen mit hohen Zypressen und vielen
selbst gewachsenen Lauben abgesetzt, sich um sich selbst herumwand, einen
offnen Platz, der mit einem halben Circul von wilden Lorbeer-Bäumen, von
denen sich immer eine Reihe über die andere erhub, eingefaßt, auf der
andern Seite aber nur mit niedrigem Myrten-Gesträuch und Rosen-Hecken
leicht umkränzt war. Mitten darin lagen einige Nymphen von weißem Marmor,
von überhangendem Rosen-Gesträuche beschattet, welche auf ihren Urnen zu
schlafen schienen, indes sich aus jeder Urne eine Quelle in ein geräumiges
Becken von poliertem schwarzem Granit-Marmor ergoß, worin die
Frauens-Personen, welche unter dem Schutz des delphischen Apollo stunden,
sich im Sommer zu baden pflegten. Dieser Ort war (einer alten Sage nach)
der Diana heilig; und kein männlicher Fuß durfte, bei Strafe, sich den
Zorn dieser unerbittlichen Göttin zu zuziehen, sich unterstehen, ihrem
geheiligten Ruhe-Platz nahe zu kommen. Vermutlich machte die Göttin eine
Ausnahme zu Gunsten eines unschuldigen Schwärmers, der (ohne den mindesten
Vorsatz, ihre Ruhe zu stören, und ohne einmal zu wissen, wohin er kam),
sich hieher verirrt hatte. Denn anstatt mich ihren Zorn empfinden zu
lassen, begünstigte sie mich vielmehr mit einer Erscheinung, welche mir
angenehmer war, als wenn sie selbst, mich zu ihrem Endymion zu machen, zu
mir herabgestiegen wäre. Weil ich in eben dem Augenblick, da ich diese
Erscheinung hatte, den Ort, wo ich mich befand, für denjenigen erkannte,
der mir öfters, um ihn desto gewisser vermeiden zu können, beschrieben
worden war; so war würklich mein erster Gedanke, daß es die Göttin sei,
welche, von der Jagd ermüdet, unter ihren Nymphen schlummre. Von einem
heiligen Schauer erschüttert, wollte ich schon den Fuß zurückziehn; als
ich beim Glanz des seitwärts einfallenden Mond-Lichts gewahr wurde, daß es
meine Unbekannte war. Ich will es nicht versuchen, zu beschreiben wie mir
in diesem Augenblicke zu Mute war; es war einer von denen, an welche ich
mich nur erinnern darf, um zu glauben, daß ein Wesen, welches einer
solchen Wonne fähig ist, zu nichts geringers als zu der Wonne der Götter
bestimmt sein könne. Itzt konnt' ich natürlicher Weise nicht mehr denken,
mich unbemerkt zurückzuziehen; meine einzige Sorge war, die liebenswürdige
Einsame zu einer Zeit und an einem Orte, wo sie keinen Zeugen, am
allerwenigsten einen männlichen vermuten konnte, durch keine plötzliche
überraschung zu erschrecken. Die Stellung, worin sie an eine der
marmornen Nymphen angelegt lag, gab zu erkennen, daß sie staunte; ich
betrachtete sie eine geraume Weile, ohne daß sie mich gewahr wurde.
Dieser Umstand erlaubte mir meine eigene Stelle zu verändern, und eine
solche zu nehmen, daß sie, so bald sie die Augen aufschlage, mich
unfehlbar erkennen müßte. Diese Vorsicht hatte die verlangte Würkung.
Sie erblickte mich; sie stutzte; aber sie erkannte mich doch zu schnell,
um mich für einen Satyren anzusehen. Meine Erscheinung schien ihr mehr
Vergnügen als Unruhe zu machen. Ein jeder andrer, so gar ein Satyr, würde
irgend ein artig gedrehtes Kompliment in Bereitschaft gehabt haben, um
seine Freude über eine so reizende Erscheinung auszudrücken; die
Gelegenheit konnte nicht schöner sein, sie für eine Göttin, oder
wenigstens für eine der Gespielen Dianens anzusehen, und diesem Irrtum
gemäß zu begrüßen. Aber ich, von neuen, nie gefehlten, unbeschreiblichen
Empfindungen gedrückt, ich konnte gar nichts sagen. Zu ihren Füßen hätte
ich mich werfen mögen; aber die Schüchternheit, welche (zumal in meinem
damaligen Alter) mit der ersten Liebe so unzertrennlich verbunden ist,
hielt mich zurück; ich besorgte, daß sie sich einen nachteiligen Begriff
von der tiefen Ehrerbietung, die ich für sie empfand, aus einer solchen
Freiheit machen möchte. Meine Unbekannte war nicht so schüchtern; sie hub
sich, mit dieser sittsamen Anmut, wodurch sie sich das erste mal, als ich
sie gesehen, in meinen Augen von allen ihren Gespielen unterschieden hatte,
vom Boden auf, und ging ein paar Schritte gegen mich. 'Wie finde ich den
Agathon hier?' sagte sie mit einer Stimme, die ich noch zu hören glaube;
so lieblich, so rührend schien sie unmittelbar in meine Seele sich
einzuschmeicheln. In der süßen Verwirrung, worin ich war, fand ich keine
bessere Antwort, als sie zu versichern, daß ich nicht so verwegen gewesen
wäre, ihre Einsamkeit zu stören, wenn ich vermutet hätte, sie hier zu
finden. Das Kompliment war nicht so artig, als es ein junger Athenienser
bei einer solchen Gelegenheit gemacht hätte; aber Psyche (so erfuhr ich in
der Folge, daß meine Unbekannte genennt werde) war zu unschuldig, um
Komplimente zu erwarten. 'Ich erkenne meine Unvorsichtigkeit, wiewohl zu
spät', versetzte sie: 'Was wird Agathon von mir denken, da er mich an
diesem abgelegenen Ort in einer solchen Stunde allein findet? Und doch'
(setzte sie errötend hinzu) 'ist es glücklich für mich, wenn ich ja einen
Zeugen meiner Unbesonnenheit haben mußte, daß es Agathon war.' Ich
versicherte sie, daß mir nichts natürlicher vorkomme, als der Geschmack,
den sie in der Einsamkeit, in der Stille einer so schönen Nacht, und in
einer so anmutigen Gegend zu finden scheine. Ich setzte noch vieles von
den Annehmlichkeiten des Mondscheins, von der majestätischen Pracht des
sternvollen Himmels, von der Begeistrung, welche die Seele in diesem
feierlichen Schweigen der ganzen Natur erfahre, von dem Einschlummern der
Sinne, und dem Erwachen der innern geheimnisvollen Kräfte unsers
unsterblichen Teils, hinzu--Dinge, welche bei den meisten Schönen, zumal
in einem so anmutigen Myrten-Gebüsche, und in der einladenden Dämmerung
einer so lauen Sommer-Nacht, sehr übel angebracht gewesen wären; aber bei
der gefühlvollen Psyche rührten sie die empfindlichsten Saiten ihres
Herzens. Das Gespräch, worin wir uns unvermerkt verwickelten, entdeckte
eine übereinstimmung in unserm Geschmack und in unsern Neigungen, welche
gar bald ein eben so freundschaftliches und vertrauliches Verständnis
zwischen unsern Seelen hervorbrachte, als ob wir uns schon viele Jahre
geliebet hätten. Mir war, als ob ich alles, was sie sagte, durch eine
unmittelbare Anschauung in ihrer Seele lese; und hinwieder schien das, was
ich sagte, so abgezogen, idealisch und dichterisch, es immer sein mochte,
ein bloßer Widerhall oder die Entwicklung ihrer eigenen Empfindungen und
solcher Ideen zu sein, welche als Embryonen in ihrer Seele lagen, und nur
den erwärmenden Einfluß eines geübtern Geistes nötig hatten, um sich zu
entfalten, und durch ihre naive Schönheit die erhabensten und
sinnreichsten Gedanken der Weisen zu beschämen. Die Zeit wurde uns bei
dieser Unterhaltung so kurz, daß wir kaum eine Stunde bei einander gewesen
zu sein glaubten, als uns die aufgehende Morgenröte erinnerte, daß wir uns
trennen mußten. Ich hatte durch diese Unterredung erfahren, daß meine
Geliebte von ihrer Herkunft eben so wenig wisse, als ich von der meinigen;
daß sie von ihrer Amme, in der Gegend von Corinth bis ins sechste Jahr
erzogen, hernach aber von Räubern entführt, und an die Priesterin zu
Delphi verkauft worden, welche sie in allen weiblichen Künsten, und da sie
eine besondere Neigung zum Lesen an ihr bemerkt, auch in der Kunst die
Dichter recht zu lesen, habe unterrichten lassen, und sie in der Folge zu
ihrer Leserin gemacht habe. Diese Umstände waren für meine Liebe zu der
jungen Psyche nicht sehr schmeichelhaft; allein das Vergnügen der
gegenwärtigen Augenblicke ließ mich gar nicht an das Künftige denken;
unbekümmert, wohin die Empfindungen, von denen ich eingenommen war, in
ihren Folgen endlich führen könnten, überließ ich mich ihnen mit aller
Gutherzigkeit der jugendlichen Unschuld; meine kleine Psyche zu sehen, zu
lieben, es ihr zu sagen, und aus ihrem schönen Munde zu hören, in ihren
seelenvollen Augen zu sehen, daß ich wieder geliebt werde.--Das waren itzt
alle Glückseligkeiten, die ich wünschte, und über welche hinaus ich keine
andere kannte. Ich hatte ihr etwas von den Eindrücken gesagt, die ihr
erster Anblick auf mein Herz gemacht hatte; und sie hatte diese
Eröffnungen mit dem Geständnis der vorzüglichen Meinung, welche ihr das
allgemeine Urteil zu Delphi von mir gegeben hätte, erwidert; aber meine
zärtliche und ehrfurchtsvolle Schüchternheit erlaubte mir nicht, ihr alles
zu sagen, was mein Herz für sie empfand. Meine Ausdrücke waren lebhaft
und feuerig; aber sie hatten mit der gewöhnlichen Sprache der Liebe so
wenig ähnliches, daß ich weniger zu sagen glaubte, indem ich in der Tat
unendlich mal mehr sagte, als ein gewöhnlicher Liebhaber, der mehr von
seinen Begierden beunruhigt, als von dem Werte seiner Geliebten gerührt
ist. Allein da wir uns scheiden mußten, würde mich mein allzuvolles Herz
verraten haben, wenn die unerfahrne Jugend der guten Psyche ihr erlaubt
hätte, einiges Mißtrauen in Empfindungen zu setzen, welche sie nach der
Unschuld ihrer eigenen beurteilte. Ich zerfloß in Tränen, und setzte ihr
auf eine so zärtliche, so bewegliche Art zu, mir zu versprechen, sich in
der folgenden Nacht wieder in dieser Gegend finden zu lassen, daß es ihr
unmöglich war, mich ungetröstet wegzuschicken. Wir setzten also, da uns
alle Gelegenheit, uns bei Tage zu sprechen, abgeschnitten war, diese
nächtliche Zusammenkünfte fort; und unsere Liebe wuchs und verschönerte
sich zusehends, ohne daß wir dachten, daß es Liebe sei. Wir nannten es
Freundschaft; und genossen ihrer reinsten Süßigkeiten, ohne durch einige
Besorgnisse, Bedenklichkeiten oder andre Symptome der Leidenschaft,
beunruhigt zu werden. Psyche hatte sich eine Freundin, wie ich mir einen
Freund, gewünscht; nun glaubten wir beide gefunden zu haben, was wir
wünschten. Unsere Denkungs-Art, und die Güte unserer Herzen, flößte uns
ein vollkommenes und unbegrenztes Zutrauen gegen einander ein.--Meine
Augen, welche schon lange gewöhnt waren, anders zu sehen, als man sonst in
meinen damaligen Jahren zu sehen pflegt, sahen in Psyche kein reizendes
Mädchen, sondern die schönste, die liebenswürdigste der Seelen, deren
geistige Reizungen aus dem durchsichtigen Flor eines irdischen Gewandes
hervorschimmerten; und die wissensbegierige Psyche, welche nie glücklicher
war, als wenn ich ihr die erhabenen Geheimnisse meiner dichterischen
Philosophie entfaltete, glaubte den göttlichen Orpheus oder den Apollo
selbst zu hören, wenn ich sprach. Es ist in der Natur der Liebe (so
zärtlich und unkörperlich sie immer sein mag) so lange zuzunehmen, bis sie
das Ziel erreicht hat, wo die Natur sie zu erwarten scheint. Die unsrige
nahm auch zu, und ging nach und nach durch mehr als eine Verwandlung; aber
sie blieb sich selbst doch immer ähnlich. Nachdem uns der Name der
Freundschaft nicht mehr bedeutend genug schien, dasjenige, was wir für
einander empfanden, auszudrücken, wurden wir eins, daß unter allen
Zuneigungen, derer uns die Natur fähig mache, die Liebe eines Bruders und
einer Schwester zugleich die stärkste und die reineste sei. Die
Vorstellung, die wir uns davon machten, entzückte uns; und nachdem wir oft
bedauert hatten, daß uns die Natur diese Glückseligkeit versagt habe,
wunderten wir uns zuletzt, wie wir nicht bälder eingesehen hätten, daß es
nur von uns abhange, ihre Kargheit in diesem Stücke zu ersetzen.


Wir waren also Bruder und Schwester, und blieben es einige Zeit, ohne daß
die Vertraulichkeit und die unschuldigen Liebkosungen, wozu uns diese
Namen berechtigten, in unsern Augen wenigstens, der Tugend, welcher wir
zugleich mit der Liebe eine ewige Treue geschworen hatten, den geringsten
Abbruch taten. Wir waren enthusiastisch genug, die Vermutung oder
vielmehr die bloße Möglichkeit, einander vielleicht so nahe verwandt zu
sein, als wir wünschten, in den zärtlichen Ergießungen unserer Herzen
zuweilen für die Stimme der Natur zu halten; zumal da eine wirkliche oder
eingebildete besondere ähnlichkeit unserer Gesichts-Züge diesen Wahn zu
rechtfertigen schien. Da wir uns aber die Betrüglichkeit dieser
vermeinten Sprache des Blutes nicht immer verbergen konnten, so fanden wir
desto mehr Vergnügen darin, die Vorstellungen von einer natürlichen
Verschwisterung der Seelen, einem sympathetischen Zug der einen zu der
andern, einer schon in einem vorhergehenden Zustand in bessern Welten
angefangenen Bekanntschaft nachzuhängen, und sie in tausend angenehme
Träume auszubilden. Aber auch bei diesem Grade ließ uns der phantastische
Schwung, den die Liebe unsern Seelen gegeben hatte, nicht stille stehen.
Wir strengten das äußerste Vermögen unserer Einbildungs-Kraft an, um uns
einen Begriff von derjenigen Art zu lieben zu machen, womit in den
überirdischen Sphären die Geister einander liebten. Keine andere schien
uns zu gleicher Zeit der Stärke und der Reinigkeit unserer Empfindungen
genug zu tun, noch für Wesen sich zu schicken, die im Himmel entsprungen,
und dahin wiederzukehren bestimmt wären. Ich gestehe dir, schöne Danae,
daß ich bei der Erinnerung an diese glückselige Schwärmerei meiner ersten
Jugend mich kaum erwehren kann zu wünschen, daß die Bezauberung ewig hätte
dauern können. Und dennoch ist nichts gewissers, als daß sich diese
allzugeistige Empfindungen endlich verzehrt, und die Natur, welche ihre
Rechte nie verliert, uns zuletzt unvermerkt auf eine gewöhnlichere Art zu
lieben geführt haben würde; wenn uns nur die schöne Pythia so viel Zeit,
als dazu erfodert wurde, gelassen hätte. Diese Dame hatte etliche Wochen
verstreichen lassen, ohne (dem Ansehen nach) sich meiner zu erinnern; und
ich hatte sie in dieser Zeit so gänzlich vergessen, daß ich ganz betroffen
war, als ich wieder zu ihr berufen wurde. Ich fand gar bald, daß die
Göttin von Paphos, welche sich vielleicht wegen irgend einer ehemaligen
Beleidigung an ihr zu rächen beschlossen, sie in dieser Zwischen-Zeit
nicht so ruhig gelassen hatte, als es für sie und mich zu wünschen war.
Vermutlich hatte sie (wie die tragische Phädra) allen ihren weiblichen und
priesterlichen Stolz zusammengerafft, um eine Leidenschaft zu unterdrücken,
deren übelstand sie sich selbst unmöglich verbergen konnte; allein eben
so vermutlich mochte sie sich selbst durch die tröstlichen Trug-Schlüsse,
welche Euripides der Amme dieser unglückseligen Prinzessin in den Mund
legt, wieder beruhigt, und endlich den herzhaften Entschluß gefaßt haben,
ihrem Verhängnis nachzugeben. Denn, nachdem sie alle ihre Mühe, mich das,
was sie mir zu sagen hatte, erraten zu lassen, verloren sah, brach sie
endlich ein Stillschweigen, dessen Bedeutung ich eben so wenig verstehen
wollte, und entdeckte mir mit einer Deutlichkeit und mit einem Feuer,
welche mich erröten und erzittern machten, daß sie liebe und wieder
geliebt sein wolle. Der reizende Anzug und die verführische Stellung,
worin sie dieses Geständnis machte, schien ausgewählt zu sein, mich den
Wert des mit angebotenen Glückes mehr als jemals empfinden zu lassen. Ich
muß noch itzt erröten, wenn ich an die Verwirrung denke, worin ich mit
allen meinen erhabenen Begriffen in diesem Augenblick war.--Die
menschliche Natur so erniedrigt--den Namen der Liebe so entweihet zu sehen!
In der Tat, die Pythia selbst konnte von der Art, wie ich ihre
Zumutungen abwies, nicht empfindlicher beschämt und gequält werden, als
ich es durch die Notwendigkeit war, worein ich mich gesetzt sah, ihr so
übel zu begegnen. Ich bestrebte mich, die Härtigkeit meiner Antworten
durch die sanftesten Ausdrücke zu mildern, die ich in der Verwirrung
finden konnte. Aber ich erfuhr bald, daß heftige Leidenschaften sich so
wenig als Sturm-Winde durch Worte beschwören lassen. Die ihrer selbst
nicht mehr mächtige Priesterin nahm für beleidigenden Spott auf, was ich
aus der wohlgemeinten, aber allerdings unzeitigen Absicht, ihrer
versinkenden Tugend zu Hülfe zu kommen, sagte. Sie geriet in eine Wut,
welche mich in die äußerste Verlegenheit setzte; sie brach in
Verwünschungen und Drohungen, und einen Augenblick darauf in einen Strom
von Tränen und in so bewegliche Apostrophen aus, daß ich beinahe schwach
genug gewesen wäre, mit ihr zu weinen, ohne mein Herz geneigter zu finden,
dem ihrigen zu antworten. Ich ergriff endlich das einzige Mittel, das mir
übrig blieb, mich der albernen Rolle, die ich in dieser Szene spielte, zu
erledigen; ich entfloh. In eben dieser Nacht sah ich meine geliebte
Psyche wieder an dem gewöhnlichen Orte; mein Gemüt war von der Geschichte
dieses Abends zu sehr beunruhigt, als daß ich ihr ein Geheimnis davon
hätte machen können. Wir bedaurten die Priesterin, so schwer es uns auch
war, von der Wut und den Qualen einer Liebe, welche mit der unserigen so
wenig ähnliches hatte, uns eine Vorstellung zu machen; aber wir bedaurten
noch vielmehr uns selbst. Die Raserei, worin ich die Pythia verlassen
hatte, hieß uns das ärgste besorgen. Wir zitterten eines für des andern
Sicherheit; und aus Furcht, daß sie unsere Zusammenkünfte entdecken möchte,
beschlossen wir, (so hart uns dieser Entschluß ankam) sie eine Zeitlang
seltner zu machen. Dieses war das erste mal, daß die reinen Vergnügungen
unserer schuldlosen Liebe von Sorgen und Unruhe unterbrochen wurden, und
wir mit schwerem Herzen von einander Abschied nahmen. Es war, als ob es
uns ahnete, daß dieses das letzte mal sei, da wir uns zu Delphi sähen; und
wir sagten uns wohl tausend mal Lebe wohl; ohne uns eines aus des andern
Armen loswinden zu können. Wir redeten mit einander ab, uns erst in der
dritten Nacht wieder zu sehen. Zufälliger Weise fügte sichs, daß ich in
der Zwischen-Zeit mit der Priesterin in Gesellschaft zusammenkam. Es war
natürlich, daß sie in Gegenwart fremder Leute ihrem Betragen gegen mich
den freundschaftlichen Ton der Anverwandtschaft gab, welche zwischen uns
vorausgesetzt wurde, und durch welche sie nötig befunden hatte, ihren
Umgang mit mir gegen die Urteile strenger Sitten-Richter sicher zu stellen.
Allein außer diesem bemerkte ich, daß sie etliche mal, da sie von
niemand beobachtet zu sein glaubte, die zärtlichsten Blicke auf mich
heftete. Ich war zu gutherzig, Verstellung unter diesen Zeichen der
wiederkehrenden Liebe zu argwöhnen; und der Schluß, den ich daraus zog,
beruhigte mich gänzlich über die Besorgnis, daß sie meinen Umgang mit
Psyche entdeckt haben möchte. Ich flog mit ungedultiger Freude zu unserer
abgeredeten Zusammenkunft; ich wartete so lange, daß mich der Tag beinahe
überrascht hätte; ich durchsuchte den ganzen Hain: aber da war keine
Psyche. Eben so ging es in der folgenden und dritten Nacht. Mein Schmerz
und meine Betrachtungen waren unaussprechlich. Damals erfuhr ich zum
ersten mal, daß meine Einbildungs-Kraft, welche bisher nur zu meinem
Vergnügen geschäftig war, in eben dem Maße, wie sie mich glücklich gemacht
hatte, mich elend zu machen fähig sei. Ich zweifelte nun nicht mehr, daß
die Priesterin unsere Liebe entdeckt habe; und die Folgen, welche dieser
Umstand für Psyche haben konnte, stellten sich mir mit allen Schrecknissen
einer sich selbst quälenden Einbildung dar. Ich faßte in der Wut meines
Schmerzens tausend heftige Entschließungen, von denen immer eine die
andere verschlang; ich wollte zu der Priesterin gehen, und meine Psyche
von ihr fodern--ich wollte--das Ausschweifendste, was man in der
Verzweiflung wollen kann; ich glaube, daß ich fähig gewesen wäre, den
Tempel anzuzünden, wenn ich hätte hoffen können, meine Psyche dadurch zu
retten. Und doch hielt mich ein Schatten von Hoffnung, daß sie durch
zufällige Ursachen habe verhindert werden können, ihr Wort zu halten, noch
zurück, einen unbesonnenen Schritt zu tun, welcher ein bloß eingebildetes
übel würklich und unheilbar hätte machen können. Vielleicht (dachte ich)
weiß die Priesterin noch nichts von unserm Geheimnis; und wie unselig wär'
ich in diesem Fall, wenn ich selbst der Verräter davon wäre? Dieser
Gedanke führte mich zum vierten mal in den Ruhe-Platz der Diana. Nachdem
ich wohl zwo Stunden vergebens gewartet hatte, warf ich mich, in einer
Betäubung von Schmerz und Verzweiflung, zu den Füßen einer von den Nymphen
hin. Ich lag eine Weile, ohne meiner selbst mächtig zu sein. Als ich
mich wieder erholt hatte, sah ich einen frischen Blumen-Kranz um den Hals
und die Arme einer von den Nymphen gewunden; ich sprang auf, um genauer zu
erkundigen, was dieses bedeuten möchte, und fand ein Briefchen an den
Kranz geheftet, worin mir Psyche meldete: daß ich sie in der folgenden
Nacht um eine bestimmte Stunde unfehlbar an diesem Platz antreffen würde;
sie versparete es auf diese Besprechung, mir zu sagen, durch was für
Zufälle sie diese Zeit über verhindert worden, mich zu sehen, oder mir
Nachricht von ihr zu geben; ich dürfte aber vollkommen ruhig und gewiß
sein, daß die Priesterin nichts von unserer Bekanntschaft wisse. Die
heftige Begierde, womit ich wünschte, daß dieses Briefchen von Psyche
geschrieben sein möchte, ließ mich nicht daran denken, ein Mißtrauen
darein zu setzen, ungeachtet mir ihre Handschrift unbekannt war. Ich ging
also plötzlich von dem äußersten Grade des Schmerzens zu der äußersten
Freude über. Ich wand den Glück-weissagenden Blumen-Kranz um mich herum,
nachdem ich die unsichtbaren Spuren der geliebten Finger, die ihn gewunden
hatten, auf jeder Blume weggeküßt hatte. Den folgenden Abend wurde mir
jeder Augenblick bis zur bestimmten Zeit ein Jahrhundert. Ich ging eine
halbe Stunde früher, den guten Nymphen zu danken, daß sie unsere Liebe in
ihren Schutz genommen hatten. Endlich glaubte ich, Psyche zwischen den
Myrten-Hecken hervorkommen zu sehen. Die Nacht war nur durch den Schimmer
der Sterne beleuchtet; aber ich erkannte die gewöhnliche Kleidung der
Psyche, und war von dem ersten Rauschen ihrer Annäherung schon zu sehr
entzückt, um gewahr zu werden, daß die Gestalt, die sich mir näherte, mehr
von dem üppigen Contour einer Bacchantin als von der jungfräulichen
Geschmeidigkeit meiner Freundin hatte. Wir flogen einander mit gleichem
Verlangen in die Arme. Die sprachlose Trunkenheit des ersten Augenblicks
verstattet nicht, Bemerkungen zu machen; aber es währte doch nicht lange,
bis ich notwendig fühlen mußte, daß ich mit einer Heftigkeit, welche mit
der unschuldigen Zärtlichkeit einer Psyche den stärksten Absatz machte, an
einen kaum verhüllten und ungestüm klopfenden Busen gedrückt wurde.--Das
konnte nicht Psyche sein.--Ich wollte mich aus ihren Armen loswinden; aber
sie verdoppelte die Stärke, womit sie mich umschlang, zugleich mit ihren
wollüstigen Liebkosungen; und da ich nun auf einmal mit einem Entsetzen,
welches mir alle Sehnen lähmte, meinen Irrtum erkannte; so machte die
Gewalt, die ich anwenden wollte, mich von der rasenden Priesterin
loszureißen, daß wir mit einander zu Boden sanken. Ich wünschte aus
Hochschätzung des Geschlechts, welches in meinen Augen der
liebenswürdigste Teil der Schöpfung ist, daß ich diese Szene aus meinem
Gedächtnis auslöschen könnte.--Die Bestrebungen dieser Unglückseligen
empörten endlich alle meine Geister zu einem Grimm, der mich ihrer eigenen
Wut überlegen machte. Ich hatte alle meine Vernunft nötig, um nicht alle
Achtung, die ich wenigstens ihrem Geschlecht schuldig war, aus den Augen
zu setzen. Aber ich zweifle nicht, daß eine jede Frauens-Person, welche
noch einen Funken von sittlichem Gefühl übrig hätte, lieber den Tod, als
die Vorwürfe und die Verwünschungen, womit sie überströmt wurde, ausstehen
wollte. Sie krümmete sich, in Tränen berstend zu meinen Füßen.--Dieser
Anblick war mir unerträglich--ich wollte entfliehen; sie verfolgte mich,
sie hing sich an, und bat mich, ihr den Tod zu geben. Ich verlangte mit
Heftigkeit, daß sie mir meine Psyche wieder geben sollte. Diese Worte
schienen sie unsinnig zu machen. Sie erklärte mir, daß das Leben dieser
Sklavin in ihrer Gewalt sei, und von dem Entschluß, den ich nehmen würde,
abhange. Sie sah die Veränderung, die diese Drohung auf einmal in meinem
ganzen Wesen machte; wir verstummten beide eine Weile. Endlich nahm sie
einen sanftern, aber nicht weniger entschlossenen Ton an, um mir ihre
vorige Erklärung zu bekräftigen. Die Eifersucht machte sie so vieles
sagen, daß ich Zeit bekam mich zu fassen, und eine Drohung weniger
fürchterlich zu finden, zu deren Ausführung ich sie, wenigstens aus Liebe
zu sich selbst, unfähig glaubte. Ich antwortete ihr also mit einem kalten
Blute, welches sie stutzen machte: daß sie auf ihre eigene Gefahr über das
Leben meiner jungen Freundin disponieren könne. Doch ersuchte ich sie,
sich zu erinnern, daß sie selbst mich zum Meister über das Ihrige, und
über das, was ihr noch lieber als das Leben sein sollte, gemacht habe.
Das meinige (setzte ich lebhafter hinzu) hört mit dem Augenblick auf, da
Psyche für mich verloren ist; denn bei dem Gott, dessen Gegenwart dieses
heilige Land erfüllt, keine menschliche Gewalt soll mich aufhalten, ihrem
geliebten Geist in eine bessere Welt zu folgen, wohin uns das Laster nicht
folgen kann, unsere geheiligte Liebe zu beunruhigen!--Meine
Standhaftigkeit schien, den Mut der Priesterin niederzuschlagen. Sie
sagte mir endlich: Sie merkte sehr wohl, daß ich trotzig darauf sei, daß
ich in meiner Gewalt habe, sie zu Grunde zu richten--ich könnte tun, was
ich wollte; nur sollte ich versichert sein, daß ihr Psyche für jeden
Schritt antworten sollte, den ich machen würde. Mit diesen Worten
entfernte sie sich, und ließ mich in einem Zustande, dessen
Abscheulichkeit, nach der Empfindung die ich davon hatte, abgemessen, über
allen Ausdruck ging. Ich wußte nun, daß die Priesterin Mittel gefunden
haben müsse, unser Geheimnis zu entdecken, und daß der Blumen-Kranz ein
Kunstgriff von ihrer Erfindung gewesen war. Nach dieser
Niederträchtigkeit war keine Bosheit so ungeheuer, deren ich diese Elende
nicht fähig gehalten hätte. Ich besorgte nichts für mich selbst, aber
alles für die arme Psyche, welche ich der Gewalt einer Nebenbuhlerin
überlassen mußte, ohne daß mir alle meine Zärtlichkeit für sie das
Vermögen geben konnte, sie davon zu befreien."




FÜNFTES KAPITEL

Agathon entfliehet von Delphi, und findet seinen Vater


"Nachdem ich etliche Tage in der grausamen Ungewißheit, was aus meiner
Geliebten geworden sein möchte, zugebracht hatte, erfuhr ich endlich von
einer Sklavin der Pythia, welche ihre Freundin gewesen war, daß sie nicht
mehr in Delphi sei. Dieses war alle Nachricht, die ich von ihr ziehen
konnte; aber es war genug, mir den Aufenthalt von Delphi unerträglich zu
machen. Nunmehr bedacht' ich mich keinen Augenblick, was ich tun wollte.
Ich stahl mich in der nächsten Nacht hinweg, ohne um die Folgen eines so
unbesonnenen Schrittes bekümmert zu sein; oder richtiger zu sagen, in
einem Gemüts-Zustande, worin ich unfähig war, einige vernünftige
überlegung zu machen. Ich irrte eine Zeitlang an allen Orten herum, wo
ich eine Spur von meiner Freundin zu entdecken hoffte; töricht genug mir
einzubilden, daß sie mich, wo sie auch sein möchte, durch die magische
Gewalt der Sympathie unsrer Seelen nach sich ziehen werde. Aber meine
Hoffnung betrog mich; niemand konnte mir die geringste Nachricht von ihr
geben. Unempfindlich gegen alles Elend, welches ich auf dieser unsinnigen
Wanderschaft erfahren mußte, fühlte ich keinen andern Schmerz als die
Trennung von meiner Geliebten und die Ungewißheit, was ihr Schicksal sei;
ich würde die Versicherung, daß es ihr wohl gehe, gerne mit meinem Leben
bezahlt haben. Endlich führte mich der Zufall oder eine mitleidige
Gottheit nach Corinth. Die Sonne war eben untergegangen, als ich von den
Beschwerlichkeiten der Reise, und einer Diät, deren ich nicht gewohnt war,
äußerst abgemattet, vor dem Hofe eines von den prächtigen Landgütern ankam,
welche die Küsten des Corinthischen Meeres verschönern. Ich warf mich
unter eine hohe Zypresse nieder, und verlor mich in den Vorstellungen der
natürlichen, und dennoch in der Hitze der Leidenschaft nicht
vorhergesehenen Folgen meiner Flucht von Delphi. In der Tat war meine
Situation fähig, den herzhaftesten Mut niederzuschlagen. In eine Welt
ausgestoßen, worin mir alles fremd war, ohne Freunde, unwissend wie ich
ein Leben werde erhalten können, dessen Urheber mir nicht einmal bekannt
war--warf ich traurige Blicke um mich her--die ganze Natur schien mich
verlassen zu haben--auf dem weiten Umfang der mütterlichen Erde sah ich
nichts, worauf ich einen Anspruch machen konnte als ein Grab, wenn mich
die Last des Elends endlich aufgerieben haben würde; und selbst dieses
konnte ich nur von der Frömmigkeit irgend eines mitleidigen Wanderers
hoffen. Diese melancholischen Gedanken wurden durch die Erinnerung meiner
vergangnen Glückseligkeit, und durch das Bewußtsein, daß ich mein Elend
durch keine Bosheit des Herzens oder irgend eine entehrende übeltat
verdient hätte, noch empfindlicher gemacht. Ich sah mit tränenvollen
Augen um mich her, als ob ich ein Wesen in der Natur suchen wollte, dem
mein Zustand zu Herzen ginge. In diesem Augenblick erfuhr ich den
wohltätigen Einfluß dieser glückseligen Schwärmerei, welche die Natur dem
empfindlichsten Teil der Sterblichen, zu einem Gegenmittel gegen die übel,
denen sie durch die Schwäche ihres Herzens ausgesetzt sind, gegeben zu
haben scheint. Ich wandte mich an die Unsterblichen, mit denen meine
Seele schon so lange in einer Art von unsichtbarer Gemeinschaft gestanden
war. Der Gedanke daß sie die Zeugen meines Lebens, meiner Gedanken,
meiner geheimsten Neigungen gewesen seien, goß lindernden Trost in mein
verwundetes Herz. Ich sahe meine geliebte Psyche unter ihre Flügel
gesichert. 'Nein', rief ich aus, 'die Unschuld kann nicht unglücklich
sein, noch das Laster seine Absichten ganz erhalten! In diesem
majestätischen All, worin Sphären und Atomen sich mit gleicher
Unterwürfigkeit nach den Winken einer weisen und wohltätigen Macht bewegen,
wär es Unsinn und Gottlosigkeit, sich einer entnervenden Kleinmut zu
überlassen.--Mein Dasein ist der Beweis, daß ich eine Bestimmung habe.
--Hab' ich nicht eine Seele welche denken kann, und Gliedmaßen, welche ihr
als Sklaven zur Ausrichtung ihrer Gedanken zugegeben sind?--Bin ich nicht
ein Grieche? Und wenn mich mein Vaterland nicht erkennen will, bin ich
nicht ein Mensch? Ist nicht die Erde mein Vaterland? Und gibt mir nicht
die Natur ein unverlierbares Recht an Erhaltung und jedes wesentliche
Stück der Glückseligkeit, sobald ich meine Kräfte anwende die Pflichten zu
erfüllen, die mich mit der Welt verbinden?'--Diese Gedanken beschämten
meine Tränen, und richteten mein Herz wieder auf. Ich fing an, die Mittel
zu überlegen, die ich in meiner Gewalt hatte, mich in bessere Umstände zu
setzen; als ich einen Mann von mittlerm Alter gegen mich herkommen sah,
dessen Ansehen und Miene mir beim ersten Anblick Zutrauen und Ehrerbietung
einflößten. Ich raffte mich sogleich vom Boden auf, und beschloß mit mir
selbst, ihn anzureden, ihm meine Umstände zu entdecken, und mir seinen Rat
auszubitten. Er kam mir zuvor.--'Du scheinest vom Weg ermüdet zu sein,
junger Fremdling', sagte er zu mir, mit einem Ton, der ihm sogleich mein
Herz entgegen wallen machte; 'und da ich dich unter dem wirtschaftlichen
Schatten meines Baumes gefunden habe, so hoffe ich, du werdest mir das
Vergnügen nicht versagen, dich diese Nacht in meinem Hause zu beherbergen.
' Dieser Mann, den ich hieraus für den Herrn des Hauses, welches ich vor
mir sah, erkannte, betrachtete mich mit einer sonderbaren Aufmerksamkeit,
indem ich ihm für seine Leutseligkeit dankte, und mit einer
Offenherzigkeit, welche von meiner wenigen Kenntnis der Welt zeugte,
bekannte; daß ich im Begriff gewesen sei, ihn um dasjenige zu ersuchen,
was er mir auf eine so edle Art anbiete; nachdem ich durch einen Zufall in
diese Gegenden, wo ich niemand kenne, geraten sei. Ich weiß nicht, was
ihn zu meinem Vorteil einzunehmen schien; mein Aufzug wenigstens konnte es
nicht sein; denn ich hatte, aus Sorge entdeckt zu werden, meine Delphische
Kleidung gegen eine schlechtere vertauscht, welche auf meiner Wanderschaft
ziemlich abgenutzt worden war. Er wiederholte mir wie angenehm es ihm sei,
daß mich der Zufall vielmehr ihm als einem seiner Nachbarn zugeführt habe;
und so folgte ich ihm in sein Haus, dessen Weitläufigkeit, Bauart und
Pracht einen Besitzer von großem Reichtum und vielem Geschmack ankündigte.
Der Saal in dem wir zuerst abtraten, war mit Gemälden von den
berühmtesten Meistern, und mit einigen Bild-Säulen und Brust-Bildern vom
Phidias und Alcamenes ausgeziert. Ich liebe wie dir bekannt ist, die
Werke der schönen Künste bis zur Schwärmerei, und mein langer Aufenthalt
in Delphi hatte mir einige Kenntnis davon gegeben. Ich bewunderte einige
Stücke, setzte an andern dieses oder jenes aus, nannte die Künstler, deren
Hand oder Manier ich erkannte, und nahm Gelegenheit von andern
Meisterstücken zu reden, die mir von ihnen bekannt waren. Ich bemerkte,
daß mein Wirt mich mit Verwunderung von neuem betrachtete, und so aussah,
als ob er betroffen wäre, einen jungen Menschen, den er in einem so wenig
versprechenden Aufzug unter einem Baum liegend gefunden, mit so vieler
Kenntnis von Künsten sprechen zu hören, von denen gemeiniglich nur Leute
von Stand und Vermögen im Ton der Kenner zu reden pflegen. Nach einer
kleinen Weile wurde gemeldet, daß das Abend-Essen aufgetragen sei. Er
führte mich hierauf in einen kleinen Saal, dessen Mauern von einem der
besten Schüler des Parrhasius mit Wasser-Farben niedlich übermalt waren.
Wir speiseten ganz allein. Die Tafel, das Geräte, die Aufwärter, alles
stimmte mit dem Begriff überein, den ich mir bereits von dem Geschmack und
dem Stande des Haus-Herrn gemacht hatte. Unter dem Essen trat ein junger
Mensch von feinem Ansehen und zierlich gekleidet, auf, und rezitierte ein
Stuck aus der Odyssee mit vieler Geschicklichkeit. Mein Wirt sagte mir,
daß er bei Tische diese Art von Gemüts-Ergötzung den Tänzerinnen und
Flötenspielerinnen vorzöge, womit man sonst bei den Tafeln der Griechen
sich zu unterhalten pflege. Das Lob das ich seinem Leser beilegte, gab zu
einem Gespräch über die beste Art zu rezitieren, und über die Griechischen
Dichter Anlaß, wobei ich meinem Wirte abermal Gelegenheit gab, zu stutzen,
und mich immer aufmerksamer, und wie mich deuchte, mit einer Art von
zärtlicher Gemüts-Bewegung anzusehen. Er sah daß ich es gewahr wurde,
und sagte mir hierauf, daß mich die Verwunderung womit er mich von Zeit zu
Zeit betrachtete, weniger befremden würde, wenn ich die außerordentliche
ähnlichkeit meiner Gesichts-Bildung und Miene mit einer Person, welche er
ehmals gekannt habe, wißte; 'doch du sollst selbst hievon urteilen',
setzte er hinzu, und hierauf fing er an von andern Dingen zu reden, bis
der Wein und die Früchte aufgestellt wurden. Bald darauf stunden wir auf,
und nachdem wir eine Weile in einer langen Galerie, die auf einer
doppelten Reihe Corinthischer Säulen von buntem Marmor ruhte, und prächtig
erleuchtet war, auf und abgegangen waren, führte er mich in ein Cabinet,
worin ein Schreibtisch, ein Büchergestell, einige Polster, und ein Gemälde
in Lebensgröße auf welches ich nicht gleich acht gab, alle Möbeln und
Zierraten ausmachten. Er hieß mich niedersetzen, und nachdem er das
Bildnis, welches ihm gegenüber hing, eine ziemliche Weile mit Bewegung
angesehen hatte, redete er mich also an: 'Deine Jugend, liebenswürdiger
Fremdling, die Art wie sich unsere Bekanntschaft angefangen, die
Eigenschaften die ich in dieser kurzen Zeit an dir entdeckt, und die
Zuneigung die ich in meinem Herzen für dich finde, rechtfertigen mein
Verlangen, von deinem Namen, und von den Umständen benachrichtiget zu sein,
welche dich in einem solchen Alter von deiner Heimat entfernt und in
diese fremde Gegenden geführt haben können. Es ist sonst meine
Gewohnheit nicht, mich beim ersten Anblick für jemand einzunehmen. Aber
bei deiner Erblickung hab ich einem geheimen Reiz, der mich gegen dich zog
nicht widerstehen können; und du hast in diesen wenigen Stunden meine
voreilige Neigung so sehr gerechtfertiget, daß ich mir selbst Glück
wünsche, ihr Gehör gegeben zu haben. Befriedige also mein Verlangen, und
sei versichert, daß die Hoffnung, dir vielleicht nützlich sein zu können,
weit mehr Anteil daran hat, als ein unbescheidener Vorwitz. Du siehest
einen Freund in mir, dem du dich, ungeachtet der kurzen Dauer unsrer
Bekanntschaft, mit allem Zutrauen eines langwierigen und bewährten Umgangs
entdecken darfst.' Ich wurde durch diese Anrede so sehr gerührt, daß sich
meine Augen mit Tränen füllten--ich glaube, daß er darin lesen konnte was
ihm mein Herz antwortete, ob ich gleich eine Weile keine Worte finden
konnte. Endlich sagte ich ihm, daß ich von Delphi käme; daß ich daselbst
erzogen worden; daß man mich Agathon genennt hätte; daß ich niemalen habe
entdecken können, wem ich das Leben zu danken habe; und daß alles was ich
davon wisse, dieses sei, daß ich in einem Alter von vier oder fünf Jahren
in den Tempel gebracht, mit andern Knaben, welche man dem Dienst des
Gottes zu Delphi gewidmet, erzogen, und nachdem ich zu mehrern Jahren
gekommen, von den Priestern mit einer vorzüglichen Achtung angesehen, und
in allem was zur Erziehung eines freigebornen Griechen erfordert werde,
geübet worden sei. Stratonicus (so wurde mein Wirt genannt) hatte während
daß ich dieses sagte, Mühe sich ruhig zu halten; sein Gesicht veränderte
sich; er wollte anfangen zu reden, schien sich aber wieder anders zu
bedenken, und ersuchte mich nur, ihm zu sagen, warum ich Delphi verlassen
hätte. So natürlich die Aufrichtigkeit sonst meinem Herzen war, so konnte
ich doch dieses mal unmöglich über die Bedenklichkeiten hinaus kommen,
welche mir über meine Liebe zu Psyche den Mund verschlossen. Einem
Freunde von meinen Jahren, für den ich mein Herz eben so eingenommen
gefunden hätte, als für den Stratonicus, würde ich das Innerste meines
Herzens ohne Bedenken aufgeschlossen haben, so bald ich hätte vermuten
können, daß er meine Empfindungen zu verstehen fähig sei: Aber hier hielt
mich etwas zurück, davon ich mir selbst die Ursache nicht recht angeben
konnte. Ich schob also die ganze Schuld meiner Entweichung von Delphi auf
die Pythia, indem ich ihm so ausführlich, als es meine jugendliche
Schamhaftigkeit gestatten wollte, von den Versuchungen, in welche sie
meine Tugend geführt hatte, Nachricht gab. Er schien sehr wohl mit meiner
Aufführung zufrieden, und nachdem ich meine Erzählung bis auf den
Augenblick, wo ich ihn zuerst erblickt, und dasjenige was ich sogleich für
ihn empfunden, fortgeführt; stund er mit einer lebhaften Bewegung auf,
warf seine Arme um meinen Hals, und sagte mit Tränen der Freude und
Zärtlichkeit in seinen Augen:--'Mein liebster Agathon, siehe deinen
Vater--hier', setzte er hinzu, indem er mich sanft umwendete, und auf das
Gemälde wies, welchem ich bisher den Rücken zugekehrt hatte,--'hier, in
diesem Bilde, erkenne die Mutter, deren geliebte Züge mich beim ersten
Anblick in deiner Gesichts-Bildung gerührt, und diese Bewegung erregt
haben, die ich nun für die Stimme der Natur erkenne.'


Du kennest mich zu gut, liebenswürdige Danae, um dir meine Empfindungen in
diesem Augenblicke nicht lebhafter einzubilden, als ich sie beschreiben
könnte. Solche Augenblicke sind keiner Beschreibung fähig; für solche
Freuden hat die Sprache keine Namen, die Natur keine Bilder, und die
Phantasie selbst keine Farben.--Das Beste ist, zu schweigen, und den
Zuhörer seinem eigenen Herzen zu überlassen. Mein Vater schien durch
meine Entzückung, welche sich lange Zeit nur durch Tränen und sprachlose
Umarmungen und abgebrochene Töne der zärtlichsten Regungen, deren die
Natur fähig ist, ausdrücken konnte, doppelt glücklich zu sein. Das
Vergnügen, womit er mich für seinen Sohn erkannte, schien ihn selbst
wieder in die glücklichsten Augenblicke seiner Jugend zu versetzen, und
Erinnerungen wieder aufzuwecken, denen mein Anblick ein neues Leben gab.
Da er natürlicher Weise voraussetzen konnte, daß ich begierig sein werde,
die Ursachen zu wissen, welche meinen Vater, der mich mit so vielem
Vergnügen für seinen Sohn erkannte, hatten bewegen können, mich so viele
Jahre von sich verbannt zu halten; so gab er mir hierüber alle
Erläuterungen, die ich nur wünschen konnte, durch eine umständliche
Erzählung der Geschichte seiner Liebe zu meiner Mutter. Seine
Bekanntschaft mit ihr hatte sich zufälliger Weise in einem Alter
angefangen, worin er noch gänzlich unter der väterlichen Gewalt stund.
Sein Vater war das Haupt eines von den edelsten Geschlechtern in Athen.
Meine Mutter war sehr jung, sehr schön, und eben so tugendhaft als schön,
unter der Aufsicht einer alten Frau, die sich ihre Mutter nannte, dahin
gekommen. Die strenge Eingezogenheit, worin sie sehr kümmerlich von ihrer
Hand-Arbeit lebte, verwahrte die junge Musarion vor den Augen und vor den
Nachstellungen der mäßigen reichen Jünglinge, welche gewohnt sind, junge
Mädchen, die keinen andern Schutz als ihre Unschuld, und keinen andern
Reichtum als ihre Reizungen haben, für ihre natürliche Beute anzusehen.
Dem ungeachtet konnte sie nicht verhintern, durch einen Zufall, den ich
übergehen will, meinem Vater bekannt zu werden, welcher sich durch seine
gesittete und bescheidene Lebens-Art von den meisten jungen Atheniensern
seiner Zeit unterschied. Sein tugendhafter Charakter konnte ihn nicht
verwahren, von den Reizungen der jungen Musarion gerührt zu werden; aber
er machte, daß seine Liebe die Eigenschaft seines Charakters annahm. Sie
war tugendhaft, bescheiden, und eben dadurch stärker und dauerhafter.
Sein Stand, sein guter Ruf und sein zurückhaltendes Betragen gegen den
unschuldigen Gegenstand seiner Liebe gaben zusammengenommen einen
Beweg-Grund ab, der die Nachsicht entschuldigen konnte, womit die Alte
seine geheime Besuche duldete, ob sie gleich immer häufiger wurden.
Nichts kann natürlicher sein, als dasjenige, was man liebt, dem Mangel
nicht ausgesetzt sehen zu können; aber nichts ist auch in den Augen der
Welt zweideutiger, als die Freigebigkeit eines jungen Menschen gegen eine
junge Person, welche das Unglück hat, durch ihre Annehmlichkeiten den Neid,
und durch ihre Armut die Verachtung des großen Haufens zu erregen. Man
kann sich nicht bereden, daß in einem solchen Fall derjenige, welcher gibt,
nicht eigennützige Absichten habe; oder diejenige, welche annimmt, ihre
Dankbarkeit nicht auf Unkosten ihrer Unschuld beweise. Stratonicus
gebrauchte deswegen die äußerste Vorsichtigkeit, um die Wohltaten, womit
er diese kleine Familie von Zeit zu Zeit unterstützte, vor aller Welt und
vor ihnen selbst zu verbergen. Allein sie entdeckten doch zuletzt ihren
unbekannten Wohltäter; und diese neue Proben seiner edelmütigen Sinnes-Art
vollendeten den Eindruck, den er schon lange auf das unerfahrne Herz der
zärtlichen Musarion gemacht hatte, und gewannen es ihm gänzlich. Niemals
würde die Liebe von der zärtlichsten Gegenliebe erwidert, zwei Herzen
glücklicher gemacht haben, wenn die Umstände der jungen Schönen einer
gesetzmäßigen Vereinigung nicht Schwierigkeiten in den Weg gelegt hätten,
welche ein jeder anderer als ein Liebhaber für unüberwindlich gehalten
hätte. Endlich war Stratonicus so glücklich, zu entdecken, daß seine
Geliebte würklich eine Atheniensische Bürgerin sei, die Tochter eines zwar
armen, aber rechtschaffenen Mannes, welcher im Pelopponesischen Kriege
sein Leben auf eine rühmliche Art verloren hatte. Nunmehr wagte er es,
seinem Vater das Geheimnis seiner Liebe zu entdecken; er wandte alles an,
seine Einwilligung zu erhalten; aber der Alte, welcher alle Reizungen und
alle Tugenden der jungen Musarion für keinen genugsamen Ersatz des
Reichtums, der ihr fehlte, ansah, blieb unerbittlich. Stratonicus liebte
zu inbrünstig, um dem Befehl, nicht weiter an seine Geliebte zu denken,
gehorsam zu sein; er würde sich selbst für den Unwürdigsten unter den
Menschen gehalten haben, wenn er fähig gewesen wäre, ihr nur das Wenigste
von seinen Empfindungen zu entziehen. Die Widerwärtigkeiten und
Hinternisse, womit seine Liebe kämpfen mußte, taten vielmehr die Würkung,
welche sie in einem solchen Falle bei edeln und wahrhaftig eingenommenen
Gemütern allemal tun werden; sie konzentrierten das Feuer ihrer
gegenseitigem Zuneigung, und bliesen eine Flamme, welche, so lange sie von
Hoffnung genährt wurde, drei Jahre lang sanft und rein fortgebrannt hatte,
zu der heftigsten Leidenschaft an. Das Herz ermüdet endlich durch den
langen Kampf mit seinen süßesten Regungen; es verliert die Kraft zu
widerstehen; und je länger es unter den Qualen einer zugleich verfolgten
und unbefriedigten Liebe geseufzet hat, je heftiger sehnet es sich nach
einer Glückseligkeit, wovon ein einziger Augenblick genugsam ist, das
Andenken aller ausgestandenen Leiden auszulöschen, das Gefühl der
gegenwärtigen zu ersticken, und die Augen, von der süßen Trunkenheit der
glücklichen Liebe benebelt, gegen alle künftige Not blind zu machen.
Außer diesem hatte Musarion noch den Beweg-Grund einer Dankbarkeit, von
deren drückender Last ihr Herz sich zu erleichtern suchte. Kurz: Sie
schwuren einander eine ewige Treue, überließen sich dem sympathetischen
Verlangen ihres Herzens, und bedienten sich der Gewalt, die ihnen die
Liebe gab, einander glücklich zu machen. Die Glückseligkeit, welche eines
dem andern zu danken hatte, unterhielt und befestigte die zärtliche
Vereinigung ihrer Herzen, anstatt sie zu schwächen oder gar aufzulösen;
denn noch niemals ist der Genuß das Grab der wahren Zärtlichkeit gewesen.
Ich, schöne Danae, war die erste Frucht ihrer Liebe. Glücklicher Weise
fiel meinem Vater eben damals durch den letzten Willen eines Oheims ein
kleines Vorwerk auf einer von den Insuln zu, welche unter der Botmäßigkeit
der Athenienser stehen. Dieses mußte meiner Mutter zur Zuflucht dienen;
ich wurde daselbst geboren, und genoß drei Jahre lang ihrer eigenen Pflege;
bis sie mir durch eine Schwester entzogen wurde, deren Leben der
liebenswürdigen Musarion das ihrige kostete. Stratonicus hatte inzwischen
manchen Versuch gemacht, das Herz seines Vaters zu erweichen; aber allemal
vergebens. Es blieb ihm also nichts übrig, als seine Verbindung mit
meiner Mutter und die Folgen derselben geheim zu halten. Ihr frühzeitiger
Tod vernichtete die Entwürfe von Glückseligkeit, die er für die Zukunft
gemacht hatte, ohne die zärtliche Treue, die er ihrem Andenken widmete, zu
schwächen. Die Sorge für das, was ihm von ihr übrig geblieben war, hielt
ihn zurück, sich einer Traurigkeit völlig zu überlassen, welche ihn lange
Zeit gegen alle Freuden des Lebens gleichgültig, und zu allen
Beschäftigungen desselben verdrossen machte. Der Tempel zu Delphi schien
ihm der tauglichste Ort zu sein, mich zu gleicher Zeit zu verbergen, und
einer guten Erziehung teilhaft zu machen. Er hatte Freunde daselbst,
denen ich besonders empfohlen wurde, mit dem gemessensten Auftrag, mich in
einer gänzlichen Unwissenheit über meinen Ursprung zu lassen. Sein
Vorsatz war, so bald der Tod seines Vaters ihn zum Meister über sich
selbst und seine Güter gemacht haben würde, mich von Delphi abzuholen, und
nach Athen zu bringen, wo er so dann seine Verbindung mit meiner Mutter
bekannt machen, und mich öffentlich für seinen Sohn und Erben erklären
wollte. Aber dieser Zufall erfolgte erst wenige Monate vor meiner Flucht,
und seit demselben hatten ihn dringendere Geschäfte genötigt, meine
Abholung aufzuschieben.

Nachdem mein Vater diese Erzählung geendigt hatte, ließ er einen alten
Freigelassenen zu sich rufen, und fragte ihn: Ob er den kleinen Agathon
kenne, den er vor vierzehn Jahren dem Schutz des Delphischen Apollo
überliefert habe? Der gute Alte, dessen Züge mir selbst nicht unbekannt
waren, erkannte mich desto leichter, da er binnen dieser Zeit von meinem
Vater etliche male nach Delphi abgeschickt worden war, sich meines
Wohlbefindens zu erkundigen. Nunmehr wurde in wenigen Augenblicken das
ganze Haus mit allgemeiner Freude erfüllt; die Zufriedenheit meines Vaters
über mich, und das Vergnügen, womit alle seine Haus-Genossen mich, als den
einzigen Sohn ihres Herrn, bewillkommten, machte die Freude vollkommen,
die ich bei einem so unverhofften und plötzlichen übergang von dem Elend
eines sich selbst unbekannten, nackten und allen Zufällen des Schicksals
preis gegebenen Flüchtlings zu einem so blendenden Glücks-Stand notwendig
empfinden mußte. Blendend hätte er wenigstens für manchen andern sein
können, der durch die Art seiner Erziehung weniger als ich vorbereitet
gewesen wäre, einen solchen Wechsel mit Bescheidenheit zu ertragen.
Inzwischen bin ich mir selbst die Gerechtigkeit schuldig, zu sagen, daß
die Versicherung, ein Bürger von Athen, und durch meine Geburt und die
Tugend meiner Voreltern zu Verdiensten und schönen Taten berufen zu sein,
mir ungleich mehr Vergnügen machte, als der Anblick der Reichtümer, welche
die Gütigkeit meines Vaters mit mir zu teilen so begierig war, und welche
in meinen Augen nur dadurch einen Wert erhielten, weil sie mir das
Vermögen zu Leben schienen, desto freier und vollkommener nach den
Grund-Sätzen, die ich eingezogen hatte, leben zu können. Ich unterhielt
mich nun mit einer neuen Art von Träumen, welche durch ihre Beziehung auf
meine neu entdeckten Verhältnisse für mich so wichtig, als durch ihre
Ausführung eben so viele Wohltaten für das menschliche Geschlecht zu sein
schienen. Ich machte Entwürfe, wie die erhabenen Lehr-Sätze meiner
idealischen Sitten-Lehre auf die Einrichtung und Verwaltung eines gemeinen
Wesens angewendet werden könnten. Diese Betrachtungen, welche einen guten
Teil meiner Nächte wegnahmen, erfüllten mich mit dem lebhaftesten Eifer
für ein Vaterland, welches ich nur aus Geschichtschreibern kannte; ich
zeichnete mir selbst, auf den Fußstapfen der Solons und Aristiden, einen
Weg aus, bei welchem ich an keine andere Hinternisse dachte, als solche,
die durch Mut und Tugend zu überwinden sind. Dann setzte ich mich in
meinen patriotischen Entzückungen an das Ende meiner Laufbahn, und sah in
Athen, nichts geringers als die Hauptstadt der Welt, die Gesetzgeberin der
Nationen, die Mutter der Wissenschaften und Künste, die Königin des Meers,
den Mittelpunkt der Vereinigung des ganzen menschlichen Geschlechts.--Kurz,
ich machte ungefähr eben so schimärische, und eben so ungeheure Projekte,
als Alcibiades; aber mit dem wesentlichen Unterscheid, daß ein von Güte
und allgemeiner Wohltätigkeit beseeltes Herz die Quelle der meinigen war.
Sie hatten noch dieses Besondere, daß ihre Ausführung, (die moralische
Möglichkeit derselben vorausgesetzt,) keiner Mutter eine Träne, und keinem
Menschen in der Welt mehr, als die Aufopferung seiner Vorurteile, und
solcher Leidenschaften, welche die Ursachen alles Privat-Elends sind,
gekostet hätten. Ihre Ausführung schien mir, weil ich mir die Hinternisse
nur einzeln, und nicht in ihrem Zusammenhang und vereinigtem Gewichte
vorstellte, so leicht zu sein, daß ich nur allein darüber verwundert war,
daß ein Perikles unter den kleinfügigen Bemühungen Athen zur Meisterin von
Griechenland zu machen, habe übersehen können, wie viel leichter es sei,
es zum Tempel eines ewigen Friedens und der allgemeinen Glückseligkeit der
Welt zu machen. Diese schönen Spekulationen gaben etliche mal den Stoff
zu den Unterredungen ab, womit ich meinem Vater des Abends die Zeit zu
verkürzen pflegte. Die Lebhaftigkeit meiner Einbildungskraft schien ihn
eben so sehr zu belustigen, als sein Herz, dessen Ebenbild er in dem
meinigen erkannte, sich an den tugendhaften Gesinnungen vergnügte, welche
er, wie ich selbst, (vielleicht beide ein wenig zu parteiisch) für die
Triebfedern meiner politischen Träume hielt. Alles, was er mir von den
Schwierigkeiten ihrer Ausführung, die er mit der Quadratur des Zirkels in
eine Klasse setzte, sagen konnte, überzeugte mich so wenig, als einen
Verliebten die Einwendungen eines Freundes, der bei kaltem Blut ist,
überzeugen werden. Ich hatte eine Antwort für alle; und dieser neue
Schwung, den mein Enthusiasmus bekommen hatte, wurde bald so stark, daß
ich es kaum erwarten konnte, mich in Athen, und in Umständen zu sehen, wo
ich die erste Hand an dieses große Werk, wozu ich gewidmet zu sein glaubte,
legen könnte."




SECHSTES KAPITEL

Agathon kommt nach Athen, und widmet sich der Republik. Eine Probe der
besondern Natur desjenigen Windes, welcher vom Horaz aura popularis
genennet wird


"Mein Vater hielt sich nur so lange zu Corinth auf, als es seine Geschäfte
erfoderten, und eilte selbst, mich so bald es nur möglich war, in dieses
Athen zu versetzen, welches sich meiner verschönernden Einbildung in einem
so herrlichen Lichte darstellte. Ich gestehe dir, Danae, (und hoffe, die
fromme Pflicht gegen meine Vaterstadt nicht dadurch zu beleidigen) daß der
erste Anblick mit dem was ich erwartete einen starken Absatz machte. Mein
Geschmack war zu sehr verwöhnt, um das Mittelmäßige, worin es auch sein
möchte, erträglich zu finden; er wollte gleichsam alles in diese feine
Linie eingeschlossen sehen, in welcher das Erhabene mit dem Schönen
zusammenfließt; und wenn er diese Vollkommenheit an einzelnen Teilen
gewahr wurde, so wollte er, daß alle zusammenstimmen, und ein sich selbst
durchaus ähnliches, symmetrisches Ganzes ausmachen sollten. Von diesem
Grade der Schönheit war Athen, so wie vielleicht eine jede andere Stadt in
der Welt, noch weit entfernt; indessen hatte sie doch der gute Geschmack
und die Verschwendung des Pericles, mit Hülfe der Phidias, der Alcamenen,
und andrer großer Meister, in einen solchen Stand gestellt, daß sie mit
den prächtigsten Städten des politesten Teils der Welt um den Vorzug
streiten konnte; und ich hielt mit Recht davor, daß die Ergänzung und
Vollendung dessen, was ihr von dieser Seite noch abging, der leichteste
Teil meiner Entwürfe, und eine natürliche Folge derjenigen Veranstaltungen
sein werde, welche sie, meiner Einbildung nach, zum Mittelpunkt der Stärke,
und der Reichtümer des ganzen Erdbodens machen sollten.

Sobald wir in Athen angekommen waren, ließ mein Vater seine erste Sorge
sein, mich auf eine gesetzmäßige und öffentliche Art für seinen Sohn
erkennen, und unter die Atheniensischen Bürger aufnehmen zu lassen.
Dieses machte mich eine Zeit lang zu einem Gegenstand der allgemeinen
Aufmerksamkeit. Die Athenienser sind, wie dir nicht unbekannt ist, mehr
als irgend ein anders Volk in der Welt geneigt, sich plötzlich mit der
äußersten Lebhaftigkeit für oder wider etwas einnehmen zu lassen. Ich
hatte das Glück, ihnen beim ersten Anblick zu gefallen; die Begierde mich
zu sehen, und Bekanntschaft mit mir zu machen, wurde eine Art von
epidemischer Leidenschaft unter Jungen und Alten; jene machten in kurzem
einen glänzenden Hof um mich, und diese faßten Hoffnungen von mir, welche
mich, ohne es an mir selbst gewahr zu werden, mit einem geheimen Stolz
erfüllten, und die allzuhochfliegende Meinung, die ich ohnehin geneigt war,
von meiner Bestimmung zu fassen, bestätigten. Dieser subtile Stolz, der
sich hinter meinen besten Neigungen und tugendhaftesten Gesinnungen
verbarg, und dadurch meinem Bewußtsein sich entzog, benahm mir nichts von
einer Bescheidenheit, wodurch ich vor den meisten jungen Leuten meiner
Gattung mich zu unterscheiden schien; und ich gewann dadurch, nebst der
allgemeinen Achtung des geringern Teils des Volkes, den Vorteil, daß die
Vornehmsten, die Weisesten und Erfahrensten mich gerne um sich haben
mochten, und mir durch ihren Umgang eine Menge besondere Kenntnisse
mitteilten, welche mir bei meinem frühzeitigen Auftritt in der Republik
sehr wohl zu statten kamen. Die Reinigkeit meiner Sitten, der gute
Gebrauch, den ich von meiner Zeit machte, der Eifer, womit ich mich zum
künftigen Dienst meines Vaterlandes vorbereitete, die fleißige Besuchung
der Gymnasien, und der Preis, den ich in den übungen von den mehresten
meines Alters davon trug: Alles dieses vereinigte sich, das günstige
Vorurteil zu unterhalten, welches man einmal für mich gefaßt hatte; und da
mir noch die Verdienste meines Vaters, und einer langen Reihe von
Voreltern den Weg zur Republik bahnten; so ist es nicht zu verwundern, daß
ich in einem Alter, worin die meisten Jünglinge nur mit ihren Vergnügungen
beschäftiget sind, den Mut hatte, in den öffentlichen Versammlungen
aufzutreten, und das Glück, mit einem Beifall aufgenommen zu werden,
welcher mich in Gefahr setzte, eben so schnell, als ich empor gehoben
wurde, so wohl durch meine eigene Vermessenheit, als durch den Neid meiner
Nebenbuhler wieder gestürzt zu werden.

Die Beredsamkeit ist in Athen, und in allen Freistaaten, wo das Volk
Anteil an der öffentlichen Verwaltung hat, der nächste Weg zu Ehrenstellen,
und das gewisseste Mittel sich auch ohne dieselben Ansehen und Einfluß zu
verschaffen. Ich ließ es mir also sehr angelegen sein, die Geheimnisse
einer Kunst zu studieren, von deren Ausübung und dem Grade der
Geschicklichkeit, den ich mir darin erwerben würde, die glückliche
Ausführung aller meiner Entwürfe abzuhängen schien. Denn wenn ich
bedachte, wozu Perikles und Alcibiades die Athenienser zu bereden gewußt
hatten: So zweifelte ich keinen Augenblick, daß ich sie mit einer gleichen
Geschicklichkeit zu Maßnehmungen würde überreden können, welche, außerdem,
daß sie an sich selbst edler waren, zu weit glänzendern Vorteilen führten,
ohne so ungewiß und gefährlich zu sein. In dieser Absicht besuchte ich
die Schule des Platons, welcher damals zu Athen in seinem größesten
Ansehen stund, und indem er die Weisheit des Socrates mit der Beredsamkeit
eines Gorgias und Prodicus vereinigte, nach dem Urteil meiner alten
Freunde, weit geschickter, als diese Wortkünstler, war, einen Redner zu
bilden, der vielmehr durch die Stärke der Wahrheit, als durch die
Blendwerke und Kunstgriffe einer hinterlistigen Dialektik sich die Gemüter
seiner Zuhörer unterwerfen wollte. Der vertrautere Zutritt, den mir
dieser berühmte Weise vergönnte, entdeckte eine übereinstimmung meiner
Denkungsart mit seinen Grundsätzen, welche die Freundschaft, die ich für
ihn faßte, in eine fast schwärmerische Leidenschaft verwandelte. Sie
würde mir schädlich gewesen sein, wenn man damals schon so von ihm gedacht
hätte, wie man dachte, nachdem er, durch die Bekanntmachung seiner
metaphysischen Dialogen, bei den Staatsleuten, und selbst bei vielen,
welche seine Bewundrer gewesen waren, den Vorwurf, welchen Aristophanes
ehemals (wiewohl höchst unbillig) dem weisen Socrates gemacht, sich mit
besserm Grund oder mehr Scheinbarkeit zugezogen hatte. Aber damals hatte
Plato weder seinen 'Timäus' noch seine 'Republik' geschrieben. Indessen
existierte diese letztere doch bereits in seinem Gehirne; sie gab sehr oft
den Stoff zu unsern Gesprächen in den Spaziergängen der Akademie ab; und
er bemühete sich desto eifriger, mir seine Begriffe von der besten Art,
die menschliche Gesellschaft einzurichten, und zu regieren, eigen zu
machen, da er das Vergnügen zu haben hoffte, sie wenigstens in so fern es
die Umstände zulassen würden, durch mich realisiert zu sehen. Sein Eifer
in diesem Stücke mag so groß gewesen sein, als er will, so war er doch
gewiß nicht größer, als meine Begierde, dasjenige auszuüben, was er
spekulierte. Allein, da meine Vorstellung von der Wichtigkeit der
Pflichten, welche derjenige auf sich nimmt, der sich in die öffentlichen
Angelegenheiten mischet, der Lauterkeit und innerlichen Güte meiner
Absichten proportioniert war, und ich desto weiter von Ehrsucht, und
andern eigennützigen Leidenschaften entfernt zu sein glaubte, je gewisser
ich mir bewußt war, daß ich (wenn ich es für erlaubt gehalten hätte, mich
in der Wahl einer Lebensart bloß meiner Privatneigung zu überlassen,) eine
von dem Städtischen Getümmel entfernte Muße, und den Umgang mit den Musen,
die ich alle zugleich liebte, der Ehre, eine ganze Welt zu beherrschen,
vorgezogen hätte: So glaubte ich mich nicht genug vorbereiten zu können,
eh ich auf einem Theater erschiene, wo der erste Auftritt gemeiniglich das
Glück des ganzen Schauspiels entscheidet. Ich widerstund bei etlichen
Gelegenheiten, welche mich aufzufodern schienen, so wohl dem Zudringen
meiner Freunde, als meiner eigenen Neigung, ob es gleich, seit dem
Alcibiades mit so gutem Erfolg den Anfang gemacht hatte, nicht an jungen
Leuten fehlte, welche, ohne sich durch andre Talente, als die
Geschicklichkeit ein Gastmahl anzuordnen, sich zierlich zu kleiden, zu
tanzen, und die Cithar zu spielen, bekannt gemacht zu haben, vermessen
genug waren, nach einer durchgeschwärmten Nacht aus den Armen einer
Buhlerin in die Versammlung des Volks zu hüpfen, und von Salben triefend
mit einer tändelhaften Geschwätzigkeit von den Gebrechen des Staats, und
den Fehlern der öffentlichen Verwaltung zu plaudern.

Endlich ereignete sich ein Fall, wo das Interesse eines Freundes, den ich
vorzüglich liebte, alle meine Bedenklichkeiten überwog. Eine mächtige
Kabale hatte seinen Untergang geschworen; er war unschuldig; aber die
Anscheinungen waren gegen ihn; die Gemüter waren wider ihn eingenommen;
und die Furcht, sich den Unwillen seiner Feinde zu zuziehen, hielt die
wenigen, welche besser von ihm dachten, zurück, sich seiner öffentlich
anzunehmen. In diesen Umständen stellte ich mich als sein Verteidiger
dar. Da ich von seiner Unschuld überzeugt war, so würkten alle diese
Betrachtungen, wodurch sich seine übrigen Freunde abschrecken ließen, bei
mir gerade das Widerspiel. Ganz Athen wurde aufmerksam, da es bekannt
wurde, daß Agathon, des Stratonicus Sohn, auftreten würde, die Sache des
schon zum voraus verurteilten Lysias zu führen. Die Zuneigung, welche das
Volk zu mir trug, veränderte auf einmal die Meinung, die man von dieser
Sache gefaßt hatte; die Athenienser fanden eine Schönheit, von der sie
ganz bezaubert waren, in der Großmut und Herzhaftigkeit, womit ich (wie
sie sagten) mich für einen Freund erklärte, den alle Welt verlassen und
der Wut und übermacht seiner Feinde preis gegeben hatte. Man tat nun die
eifrigsten Gelübde, daß ich den Sieg davon tragen möchte, und der
Enthusiasmus, womit einer den andern ansteckte, wurde so groß, daß die
Gegenpartei sich genötigt sah, den Tag der Entscheidung so weit
hinauszusetzen, als sie für nötig hielten, um die erhitzten Gemüter sich
wieder abkühlen zu lassen. Sie sparten inzwischen keine Kunstgriffe,
wodurch sie sich des Ausgangs zu versichern glaubten; allein der Erfolg
vereitelte alle ihre Maßnehmungen. Die Zujauchzungen, womit ich von einem
großen Teil des Volkes empfangen wurde, munterten mich auf; ich sprach mit
einem gesetztern Mut, als man sonst von einem jungen Menschen erwarten
konnte, der zum ersten mal vor einer so zahlreichen Versammlung redete;
und vor einer Versammlung, wo der geringste Handwerksmann sich für einen
Kenner und rechtmäßigen Richter der Beredsamkeit hielt. Die Wahrheit tat
auch hier die Würkung, die sie alle mal tut, wenn sie in ihrem eigenen
Lichte und mit derjenigen Lebhaftigkeit, welche die eigene überzeugung des
Redners gibt, vorgetragen wird; sie überwältigte alle Gemüter. Lysias
wurde losgesprochen, und Agathon, der nunmehr der Held der Athenienser war,
im Triumph nach Hause begleitet. Von dieser Zeit erschien ich öfters in
den öffentlichen Versammlungen; die Leidenschaft, welche das Volk für mich
gefaßt hatte, und der Beifall, der mir, wenn ich redete, entgegen flog,
machten mir Mut, nun auch an den allgemeinen Angelegenheiten Teil zu
nehmen; und da das Glück beschlossen zu haben schien, mich nicht eher zu
verlassen, bis es mich auf den Gipfel der Republikanischen Größe erhoben
haben würde; so machte ich auch in dieser neuen Lauf-Bahn so schnelle
Schritte, daß in kurzem die Gunst, worin ich bei dem Volk stund, das
Ansehen der Mächtigsten zu Athen im Gleichgewicht erhielt; und daß meine
heimlichen Feinde selbst, um dem Volk angenehm zu sein, genötigt waren,
öffentlich die Zahl meiner Bewunderer zu vermehren. Der Tod meines Vaters,
der um diese Zeit erfolgte, beraubte mich eines Freundes und Führers,
dessen Klugheit mir in dem gefahrvollen Ozean des politischen Lebens
unentbehrlich war. Ich wurde dadurch in den Besitz der großen Reichtümer
gesetzt, mit denen er nur dadurch dem Neid entgangen war, weil er sie mit
großer Bescheidenheit gebrauchte. Ich war nicht so vorsichtig. Der
Gebrauch, den ich davon machte, war zwar an sich selbst edel und löblich;
ich verschwendete sie, um Gutes zu tun; ich unterstützte alle Arten von
Bürgern, welche ohne ihre Schuld in Unglück geraten waren; mein Haus war
der Sammel-Platz der Gelehrten, der Künstler und der Fremden; mein
Vermögen stund jedem zu Diensten, der es benötigt war: aber eben dieses
war es, was in der Folge meinen Fall beförderte. Man würde mir eher zu
gut gehalten haben, wenn ich es mit Gastmählern, mit Buhlerinnen und mit
einer immerwährenden Abwechslung prächtiger und ausschweifender
Lustbarkeiten durchgebracht hätte. Indes stund es eine geraume Zeit an,
bis die Eifersucht, welche ich durch eine solche Lebens-Art in den
Gemütern der Angesehensten unter den Edeln zu Athen erregte, es wagen
durfte, in sichtbare Würkungen auszubrechen. Das Volk, welches mich
vorhin geliebet hatte, fing nun an, mich zu vergöttern. Der Ausdruck, den
ich hier gebrauche, ist nicht zu stark; denn da ein gewisser Dichter, der
sich meines Tisches zu bedienen pflegte, sich einst einfallen ließ, in
einem großen und elenden Gedicht mir den Apollo zum Vater zu geben, so
fand diese mir selbst lächerliche Schmeichelei bei dem Pöbel (dem ohnehin
das Wunderbare allemal besser als das Natürliche einleuchtet) so großen
Beifall, daß sich nach und nach eine Art von Sage unter dem Volk
befestigte, welche meiner Mutter die Ehre beilegte, den Gott zu Delphi für
ihre Reizungen empfindlich gemacht zu haben. So ausschweifend dieser Wahn
war, so wahrscheinlich schien er meinen Gönnern aus der untersten Klasse;
dadurch allein glaubten sie die mehr als menschliche Vollkommenheiten, die
sie mir zuschrieben, erklären, und die ungereimten Hoffnungen, welche sie
sich von mir machten, rechtfertigen zu können. Denn das Vorurteil des
großen Haufens ging weit genug, daß viele öffentlich sagten, Athen könne
durch mich allein zur Gebieterin des ganzen Erdbodens gemacht werden, und
man könne nicht genug eilen, mir eine einzelne und unumschränkte Gewalt zu
übertragen, von welcher sie sich nichts geringers als die Wiederkehr der
göldenen Zeit, die gänzliche Aufhebung des verhaßten Unterscheids zwischen
Armen und Reichen, und einen seligen Müßiggang mitten unter allen
Wollüsten und Ergötzlichkeiten des Lebens versprachen.


Bei diesen Gesinnungen, womit in größerm oder kleinerm Grade der
Schwärmerei das ganze Volk zu Athen für mich eingenommen war, brauchte es
nur eine Gelegenheit, um sie dahin zu bringen, die Gesetze selbst zu
Gunsten ihres Lieblings zu überspringen. Diese zeigte sich, da Euböa und
einige andre Insuln sich des ziemlich harten Joches, welches ihnen die
Athenienser aufgelegt hatten, zu entledigen, einen Aufstand erregten,
worin sie von den Spartanern heimlich unterstützt wurden. Man konnte
(diejenige Theorie, welche man zu Hause erwerben kann, ausgenommen) des
Kriegs-Wesens nicht unerfahrner sein, als ich es war. Ich hatte das Alter
noch nicht erreicht, welches die Gesetze zu Bekleidung eines öffentlichen
Amts erfoderten; wir hatten keinen Mangel an geschickten und geübten
Kriegs-Leuten; ich selbst wandte alles Ansehen, das ich hatte, an, um
einen davon, den ich, seines moralischen Charakters wegen, vorzüglich hoch
schätzte, zum Feld-Herrn gegen die Empörten erwählen zu machen; aber das
alles half nichts gegen die warme Einbildungs-Kraft des lebhaftesten und
leichtsinnigsten Volks in der Welt. Agathon, welchem man alle Talente
zutraute, und von welchem man sich berechtigt hielt, Wunder zu erwarten,
war allein tauglich, die Ehre des Atheniensischen Namens zu behaupten, und
die hochfliegenden Träume der politischen Müßiggänger zu Athen, welche bei
diesem Anlaß in die Wette eiferten, wer die lächerlichsten Projekte machen
könne, in die Würklichkeit zu setzen. Diese Art von Leuten war so
geschäftig, daß es ihnen gelang, den größesten Teil ihrer Mitbürger mit
ihrer Torheit anzustecken. Jede Nachricht, daß sich wieder eine andere
Insul aufzulehnen anfange, verursachte eine allgemeine Freude; man würde
es gerne gesehen haben, wenn das ganze Griechenland an dieser Sache Anteil
genommen hätte; auch fehlte es nicht an Zeitungen, welche das Feuer größer
machten, als es war, und endlich so gar den König von Persien in den
Aufstand von Euböa verwickelten, um dem Agathon einen desto größern
Schau-Platz zu geben, die Athenienser durch Heldentaten zu belustigen und
durch Eroberungen zu bereichern. Ich wurde also (so sehr ich mich
entgegensträubte) mit unumschränkter Gewalt über die Armee, über die
Flotten, und über die Schatz-Kammer, zum Feld-Herrn gegen die abtrünnigen
Insuln ernannt; und da ich nun einmal genötigt war, dem Eigensinn meiner
Mitbürger nachzugeben, so entschloß ich mich, es mit einer guten Art zu
tun, und die Sache von derjenigen Seite anzusehen, welche mir eine
erwünschte Gelegenheit zu geben schien, den Anfang zur Ausführung meiner
eigenen Entwürfe zu machen. Da ich wußte, daß die Insulaner gerechte
Klagen gegen Athen zu führen hatten, und eine Regierung nicht lieben
konnten, von der sie unterdrückt, ausgezogen, und mit Füßen getreten
wurden; so gründete ich meinen ganzen Plan ihrer Beruhigung und
Wiederbringung auf den Weg der Güte, auf Abstellung der Mißbräuche,
wodurch sie erbittert worden waren, auf eine billige Mäßigung der Abgaben,
welche man gegen ihre Freiheiten und über ihr Vermögen, von ihnen erpreßt
hatte; und auf ihre Wiedereinsetzung in alle Rechte und Vorteile, deren
sie sich als Griechen und als Bunds-Genossen, vermöge vieler besondern
Verträge, zu erfreuen haben sollten. Allein ehe ich von Athen abreisen
konnte, war es um so nötiger, die Gemüter vorzubereiten und auf einen Ton
zu stimmen, der mit meinen Grund-Sätzen und Absichten übereinkäme, da ich
sahe, wie lebhaft die ausschweifenden Projekte, womit die Eitelkeit des
Alcibiades sie ehemals bezaubert hatte, bei dieser Gelegenheit wieder
aufgewacht waren. Ich versammelte also das Volk, und wandte alle Kräfte
der Rede-Kunst, welche bei keinem Volk der Welt so viel vermag, als bei
den Atheniensern, dazu an, sie von der Gründlichkeit meiner Entwürfe zu
überzeugen, von welchen ich sie so viel sehen ließ, als zu Erreichung
meiner Absicht nötig war. Nachdem ich ihnen die Größe und den Flor, wozu
die Republik, vermöge ihrer natürlichen Vorteile und innerlichen Stärke,
gelangen könne, mit den reizendesten Farben abgemalt hatte; bemühte ich
mich zu beweisen, daß weitläufige Eroberungen, außer der Gefahr, womit sie
durch die Unbeständigkeit des Kriegs-Glücks verbunden seien, den Staat
endlich notwendiger Weise unter der Last ihrer eigenen Größe erdrücken
müßten; daß es einen weit sichern und kürzern Weg gebe, Athen zur Königin
des Erdbodens zu machen, indem etwas unleugbares sei, daß allezeit
diejenige Nation den übrigen Gesetze vorschreiben werde, welche zu
gleicher Zeit die klügste und die reichste sei; daß der Reichtum allezeit
Macht gebe, so wie die Klugheit den rechten Gebrauch der Macht lehre; daß
Athen in beidem allen andern Völkern überlegen sein werde, wenn sie auf
der einen Seite fortfahre, die Pfleg-Mutter der Wissenschaften und aller
nützlichen und schönen Künste zu sein; auf der andern aber alle ihre
Gedanken darauf richte, sich in der Herrschaft über das Meer fest zu
setzen; nicht in der Absicht Eroberungen zu machen, sondern sich in eine
solche Achtung bei den Auswärtigen zu setzen, daß jedermann ihre
Freundschaft suche, und niemand es wagen dürfe, ihren Unwillen zu reizen;
daß für einen am Meer gelegenen Frei-Staat ein gutes Vernehmen mit allen
übrigen Völkern, und eine so weit als nur möglich ausgebreitete Handlung,
der natürliche und unfehlbare Weg sei, nach und nach zu einer Größe zu
gelangen, deren Ziel nicht abzusehen sei; daß aber hiezu die Erhaltung
seiner eigenen Freiheit, und zu dieser die Freiheit aller übrigen,
sonderheitlich der benachbarten, oder wenigstens ihre Erhaltung bei ihrer
alten und natürlichen Form und Verfassung, nötig sei; daß Bündnisse mit
seinen Nachbarn, und eine solche Freundschaft, wobei der andere eben so
wohl seinen Vorteil finde, als wir den unsrigen, einem solchen Staat weit
mehr Macht, Ansehen und Einfluß auf die allgemeine Verfassung des
politischen Systems der Welt geben müßten, als die Unterwerfung derselben,
weil ein Freund allezeit mehr wert sei, als ein Sklave; daß die
Gerechtigkeit der einzige Grund der Macht und Dauer eines Staats, so wie
das einzige Band der Gesellschaft zwischen einzelnen Menschen und ganzen
Nationen, sei; daß diese Gerechtigkeit fodre, eine jede politische
Gesellschaft (sie möge groß oder klein sein) als unsers gleichen anzusehen,
und ihr eben die Rechte zu zugestehen, welche wir für uns selbst foderten;
daß ein nach diesen Grund-Sätzen eingerichtetes Betragen das gewisseste
Mittel sei, sich ein allgemeines Zutrauen zu erwerben, und anstatt einer
gewaltsamen, und mit allen Gefahren der Tyrannie verknüpften
Oberherrschaft eine freiwillig eingestandene Autorität zu behaupten,
welche in der Tat von allen Vorteilen der erstern begleitet sei, ohne die
verhaßte Gestalt und schlimmen Folgen derselben zu haben. Nachdem ich
alle diese Wahrheiten in ihrer besondern Anwendung auf Griechenland und
Athen, in das stärkste Licht gesetzt, und bei dieser Gelegenheit die
Torheit der Projekte des Alcibiades und andrer ehrsüchtiger Schwindelköpfe
ausführlich erwiesen hatte: Bemühte ich mich darzutun, daß der Aufstand
der Inseln, welche bisher unter dem Schutz der Athenienser gestanden, in
neuerlichen Zeiten aber durch Schuld einiger böser Ratgeber der Republik,
als unterworfene Sklaven behandelt worden seien, die glücklichste
Gelegenheit anbiete, auf der einen Seite das ganze Griechenland von der
gerechten und edelmütigen Denkungsart der Athenienser zu überzeugen, auf
der andern durch eine ansehnliche Vermehrung der Seemacht, wovon die
Unkosten durch die größere Sicherheit und Erweiterung der Handelschaft
reichlich ersetzt würden, sich in ein solches Ansehen zu setzen, daß
niemand jenes gelinde und großmütige Verfahren, mit dem mindesten Schein,
einem Mangel an Vermögen sich Genugtuung zu verschaffen, werde beimessen
können. Ich unterstützte diese Vorschläge mit allen den Gründen, welche
auf die lebhafte Einbildungskraft meiner Zuhörer den stärksten Eindruck
machen konnten, und hatte das Vergnügen, daß meine Rede mit einem Beifall,
der meine Erwartung weit übertraf, aufgenommen wurde. Außerdem, daß die
Athenienser, ihrer Gemütsart nach, sich von Wahrheit und gesunden
Grundsätzen eben so leicht einnehmen ließen, als von den Blendwerken einer
falschen Staatskunst, wenn ihnen jene nur in einem eben so reizenden Licht,
und mit eben so lebhaften Farben vorgetragen wurden, als sie verwöhnt
worden waren, von einem jeden, der zu den öffentlichen Angelegenheiten
redete, zu fodern; so waren sie gleichgültig, durch was für Mittel Athen
zu derjenigen Größe gelangen möge, welche das Ziel aller ihrer Wünsche war;
und ein großer Teil der Bürger, denen der Friede mehr Vorteile brachte,
als der Krieg, ließen sichs vielmehr wohlgefallen, daß dieses Ziel ihrer
Eitelkeit auf eine mit ihrem Privatnutzen übereinstimmigere Art erhalten
werde. Meine heimlichen Feinde, welche nicht zweifelten, daß diese
Expedition auf eine oder andere Art Gelegenheit zu meinem Fall geben würde,
waren weit entfernt, meinen Maßnehmungen öffentlich zu widerstehen; aber
(wie ich in der Folge erfuhr) unter der Hand desto geschäftiger, ihren
Erfolg zu hemmen, Schwierigkeiten aus Schwierigkeiten hervor zu spinnen,
und die mißvergnügten Insulaner selbst durch geheime Aufstiftungen
übermütig, und zu billigen Bedingungen abgeneigt zu machen. Die
Verachtung, womit man anfangs diesen Aufstand zu Athen angesehen hatte;
das ansteckende Beispiel, und die Ränke andrer Griechischen Städte, welche
die Obermacht der Athenienser mit eifersüchtigen Augen ansahen, hatten zu
wege gebracht, daß indessen auch die Attischen Kolonien, und der größeste
Teil der Bundesgenossen kühn genug worden waren, sich einer
Unabhänglichkeit anzumaßen, deren schädliche Folgen sie sich selbst unter
dem reizenden Namen der Freiheit verbargen; es war die höchste Zeit, einer
allgemeinen Empörung und Zusammenverschwörung gegen Athen zuvorzukommen;
und meine Landsleute, welche bei Annäherung einer Gefahr, die ihnen in der
Ferne nur Stoff zu witzigen Einfällen und Gassenliedern gegeben hatte,
sehr schnell von der leichtsinnigsten Gleichgültigkeit zu einer eben so
übermäßigen Kleinmütigkeit übergingen, vergrößerten sich selbst das übel
so sehr, daß ich genötiget wurde unter Segel zu gehen, ehe die Zurüstungen
noch zur Hälfte fertig waren. Ich hatte die Vorsichtigkeit gebraucht,
meinen Freund, über welchen mir die Gunst des Volks einen so unbilligen
Vorzug gegeben hatte, als meinen Unterbefehlshaber mitzunehmen; die
Bescheidenheit, womit ich mich des Ansehens, welches mir meine Kommission
über ihn gab, bediente, kam einer Eifersucht zuvor, die den Erfolg unsrer
Unternehmung hätte vereiteln können; wir handelten aufrichtig, und ohne
Nebenabsichten, nach einem gemeinschaftlich abgeredeten Plan, und das
Glück begünstigte uns so sehr, daß in einer einzigen Expedition alle
Inseln, Kolonien und Schutzverwandte der Athenienser nicht nur beruhiget,
und wieder in die alte Schranken gesetzt, sondern durch die Abstellung
alles dessen, wodurch sie unbilliger Weise beschweret worden waren, und
durch die Bestätigung ihrer Freiheiten, die ich ihnen bewilligte, mehr als
jemals geneigt gemacht wurden, die Freundschaft der Athenienser allen
andern Verbindungen, die ihnen angetragen worden waren, vorzuziehen. In
allem diesem folgte ich, ohne besondere Verhaltungsbefehle einzuholen,
meiner eignen Denkungsart mit desto größter Zuversicht, da ich den
ehemaligen Mißvergnügten nichts zugestanden hatte, was sie nicht so wohl
nach dem Naturrecht als in Kraft älterer Verträge zu fodern vollkommen
berechtiget waren, hingegen durch diese Nachgiebigkeit neue und sehr
beträchtliche Vorteile für die Athenienser erkaufte; Vorteile, welche dem
ganzen gemeinen Wesen zuflossen, da hingegen aller Nutzen der
Unterdrückung, worunter sie geseufzet hatten, lediglich in die Kassen
einiger Privatleute und ehmaligen Günstlinge des Volks geleitet worden war.


Ich kehrete also mit dem Vergnügen, Gutes getan zu haben, mit dem Beifall
und der lebhaftesten Zuneigung der sämtlichen Kolonien und Bundesgenossen,
und mit der vollen Zuversicht, daß ich die Belohnung, die ich verdient zu
haben glaubte, in der Zufriedenheit meiner Mitbürger einernten würde, an
der Spitze einer dreimal stärkern Flotte, als womit ich ausgelaufen war,
nach Athen zurück. Ich schmeichelte mir, daß ich mir durch eine so
schleunige Beilegung einer Unruhe, welche so weitaussehend und gefährlich
geschienen, einiges Verdienst um mein Vaterland erworben hätte. Ich hatte
aus unsern Feinden, Freunde, und aus unsichern Untertanen, zuverlässige
Bundesgenossen gemacht, deren Treu desto weniger zweifelhaft sein mußte,
da ich ihre Sicherheit und ihren Wohlstand durch unzertrennliche Bande mit
dem Interesse von Athen verknüpft hatte; ich hatte, des gemeinen Schatzes
zu schonen, mein eignes Vermögen zugesetzt, und durch mehr als hundert
ausgerüstete Galeeren, die ich von dem guten Willen der wieder beruhigten
Insulaner erhalten, unsrer Seemacht eine ansehnliche Verstärkung gegeben;
ich hatte das Ansehen der Athenienser befestiget, ihre Neider abgeschreckt,
und ihrer Handlung einen Ruhestand verschafft, dessen Fortdauer nunmehr,
wenigstens auf lange Zeiten, von ihrem eigenen Betragen abhing. Das
Vergnügen, welches sich über mein Gemüt ausbreitete, wenn ich alle diese
Vorteile meiner Verrichtung überdachte, war so lebhaft, daß ich über alle
andere Belohnungen, außer dem Beifall und Zutrauen meiner Mitbürger, weit
hinaus sah: Aber die Athenienser waren, in dem ersten Anstoß ihrer
Erkenntlichkeit, keine Leute, welche Maß halten konnten. Ich wurde im
Triumph eingeholt, und mit allen Arten der Ehrenbezeugungen in die Wette
überhäuft; die Bildhauer mußten sich Tag und Nacht an meinen Statuen müde
arbeiten; alle Tempel, alle öffentlichen Plätze und Hallen wurden mit
Denkmälern meines Ruhms ausgeziert; und diejenige, welche in der Folge mit
der größesten Heftigkeit an meinem Verderben arbeiteten, waren itzt die
eifrigsten, übermäßige und zuvor nie erhörte Belohnungen vorzuschlagen,
welche das Volk in dem Feuer seiner schwärmerischen Zuneigung gutherziger
Weise bewilligte, ohne daran zu denken, daß mir diese Ausschweifungen
seiner Hochachtung in kurzem von ihm selbst zu eben so vielen Verbrechen
gemacht werden würden.

Da ich sahe, daß alle meine Bescheidenheit nicht zureichend war, dem
überfließenden Strom der popularen Dankbarkeit Einhalt zu tun; so glaubte
ich am besten zu tun, wenn ich mich eine Zeitlang von Athen entfernte, und
bis die Atheniensische Lebhaftigkeit durch irgend eine neue Komödie, einen
fremden Gaukler, oder eine frisch angekommene Tänzerin einen andern
Schwung bekommen haben würde, auf meinem Landgut zu Corinth in
Gesellschaft der Musen und Grazien einer Muße zu genießen, welche ich
durch die Arbeiten eines ganzen Jahres verdient zu haben glaubte. Ich
dachte wenig daran, daß ich in einer Stadt, deren Liebling ich zu sein
schien, Feinde habe, die indessen, daß ich mich mit aller Sorglosigkeit
der Unschuld den Vergnügungen des Landlebens, und der geselligen Freiheit
überließ, einen eben so boshaften als wohlausgesonnenen Plan zu meinem
Untergang anzulegen beschäftiget seien.

Alles, womit ich mir bei der schärfsten Prüfung meines öffentlichen und
Privatlebens in Athen, bewußt bin, mein Unglück, wo nicht verdient, doch
befödert zu haben, ist Unvorsichtigkeit, oder der Mangel an einer gewissen
Republikanischen Klugheit, welche nur die Erfahrung geben kann. Ich lebte
nach meinem Geschmack, und nach meinem Herzen, weil ich gewiß wußte, daß
beide gut waren, ohne daran zu denken, daß man mir andre Absichten bei
meinen Handlungen andichten könne, als ich wirklich hatte. Ich lebte mit
einer gewissen Pracht, weil ich das Schöne liebte, und Vermögen hatte; ich
tat jedermann gutes, weil ich meinem Herzen dadurch ein Vergnügen
verschaffte, welches ich allen andern Freuden vorzog; ich beschäftigte
mich mit dem gemeinen Besten der Republik, weil ich dazu geboren war, weil
ich eine Tüchtigkeit dazu in mir fühlte, und weil ich durch die Zuneigung
meiner Mitbürger in den Stand gesetzt zu werden hoffte, meinem Vaterland
und der Welt nützlich zu sein. Ich hatte keine andere Absichten, und
würde mir eher haben träumen lassen, daß man mich beschuldigen werde, nach
der Krone des Königs von Persien, als nach der Unterdrückung meines
Vaterlands zu streben. Da ich mir bewußt war niemands Haß verdient zu
haben, so hielt ich einen jeden für meinen Freund, der sich dafür ausgab,
um so mehr, als kaum jemand in Athen war, dem ich nicht Dienste geleistet
hatte. Aus eben diesem Grunde dachte ich gleich wenig daran, wie ich mir
einen Anhang mache, als wie ich die geheimen Anschläge von Feinden, welche
mir unsichtbar waren, vereiteln wolle. Denn ich glaubte nicht, daß die
Freimütigkeit, womit ich, ohne Galle oder übermut, meine Meinung bei jeder
Gelegenheit sagte, eine Ursache sein könne, mir Feinde zu machen. Mit
einem Wort, ich wußte noch nicht, daß Tugend, Verdienste und Wohltaten
gerade dasjenige sind, wodurch man gewisse Leute zu dem tödlichsten Haß
erbittern kann. Eine traurige Erfahrung konnte mir allein zu dieser
Einsicht verhelfen; und es ist billig, daß ich sie wert halte, da sie mir
nicht weniger, als mein Vaterland, die Liebe meiner Mitbürger, meine
schönsten Hoffnungen, und das glückselige Vermögen, vielen Gutes zu tun,
und von niemand abzuhängen, gekostet hat."




SIEBENTES KAPITEL

Agathon wird von Athen verbannt


"Der Zeitpunkt meines Lebens, auf den ich nunmehr gekommen bin, führt
allzuunangenehme Erinnerungen mit sich, als daß ich nicht entschuldiget
sein sollte, wenn ich so schnell davon wegeile, als es die Gerechtigkeit
zulassen wird, die ich mir selbst schuldig bin. Es mag sein, daß einige
von meinen Feinden aus Beweggründen eines republikanischen Eifers gegen
mich aufgestanden sind, und sich durch meinen Sturz eben so verdient um
ihr Vaterland zu machen geglaubt haben, als Harmodius und Aristogiton
durch die Ermordung der Pisistratiden. Aber es ist doch gewiß, daß
diejenige, welche die Sache mit der größesten Wut betrieben, keinen andern
Beweggrund hatten, als die Eifersucht über das Ansehen, welches mir die
allgemeine Gunst des Volkes gab, und welches sie, nicht ohne Ursache, für
ein Hinternis ihrer ehrgeizigen und gewinnsüchtigen Absichten hielten.
Die meisten glaubten auch, daß sie Privatbeleidigungen zu rächen hätten.
Einige nährten noch den alten Groll, den sie bei meinem ersten Auftritt in
der Republik gegen mich faßten, da ich meinen rechtschaffenen Freund, den
Wirkungen ihrer Bosheit entriß; andere schmerzte es, daß ich ihnen bei der
Wahl eines Befehlshabers gegen die Empörten Inseln vorgezogen worden war;
viele waren durch den Verlust des Vorteils, welchen sie von den
ungerechten Bedrückungen derselben gezogen hatten, beleidiget worden. Bei
diesen allen half mir nichts, daß ich keine Absicht gehabt hatte sie zu
beleidigen, und daß es nur zufälliger Weise dadurch geschehen war, daß ich
meiner überzeugung und meinen Pflichten gemäß gehandelt hatte. Sie
beurteilten meine Handlungen aus einem ganz andern Gesichtspunkte, und es
war bei ihnen ein ausgemachter Grundsatz, daß derjenige kein ehrlicher
Mann sein könne, der ihren Privatabsichten Schranken setzte. Zum Unglück
für mich, machten diese Leute einen großen Teil von den Edelsten und
Reichesten in Athen aus. Hiezu kam noch, daß ich meiner immer
fortdauernden Liebe zu Psyche, die vorteilhaftesten Verbindungen, welche
mir angeboten worden waren, aufgeopfert, und mich dadurch der
Unterstützung und des Schutzes beraubet hatte, den ich mir von der
Verschwägerung mit einem mächtigen Geschlechte hätte versprechen können.
Ich hatte nichts, was ich den Ränken und der vereinigten Gewalt so vieler
Feinde entgegen setzen konnte, als meine Unschuld, einige Verdienste, und
die Zuneigung des Volks; schwache Brustwehren, welche noch nie gegen die
Angriffe des Neides, der Arglist und der Gewalttätigkeit ausgehalten haben.
Die Unschuld kann verdächtig gemacht, und Verdiensten selbst durch ein
falsches Licht das Ansehen von Verbrechen gegeben werden; und was ist die
Gunst eines enthusiastischen Volkes, dessen Bewegungen immer seinen
überlegungen zuvorkommen; welches mit gleichem übermaß liebet und hasset,
und wenn es einmal in eine fiebrische Hitze gesetzt ist, gleich geneigt
ist, dieser oder einer entgegengesetzten Direktion, je nachdem es gestoßen
wird, zu folgen? Was konnte ich mir von der Gunst eines Volkes
versprechen, welches den großen Beschützer der griechischen Freiheit im
Gefängnis hatte verschmachten lassen? Welches den tugendhaften Aristides,
bloß darum, weil er den Beinamen des Gerechten verdiente, verbannet, und
in einer von seinen gewöhnlichen Launen so gar den Socrates zum
Gift-Becher verurteilt hatte, weil er der weiseste und tugendhafteste Mann
seines Jahrhunderts war. Diese Beispiele sagten mir sogleich bei der
ersten Nachricht, die ich von dem über mir sich zusammenziehenden
Ungewitter erhielt, zuverlässig vorher, was ich von den Atheniensern zu
erwarten hätte; sie machten, daß ich ihnen nicht mehr zutraute, als sie
leisteten; und trugen nicht wenig dazu bei, mich ein Unglück mit
Standhaftigkeit ertragen zu machen, in welchem ich so vortreffliche Männer
zu Vorgängern gehabt hatte.

Derjenige, den meine Feinde zu meinem Ankläger auserkoren hatten, war
einer von diesen witzigen Schwätzern, deren feiles Talent gleich fertig
ist, Recht oder Unrecht zu verfechten. Er hatte in der Schule des
berüchtigten Gorgias gelernt, durch die Zaubergriffe der Rede-Kunst den
Verstand seiner Zuhörer zu blenden, und sie zu bereden, daß sie sähen, was
sie nicht sahen. Er bekümmerte sich wenig darum, dasjenige zu beweisen,
was er mit der größesten Dreistigkeit behauptete; aber er wußte ihm einen
so lebhaften Schein zu geben, und durch eine zwar willkürliche, aber desto
künstlichere Verbindung seiner Sätze die Schwäche eines jeden, wenn er an
sich und allein betrachtet würde, so geschickt zu verbergen, daß man, so
gar mit einer gründlichen Beurteilungs-Kraft, auf seiner Hut sein mußte,
um nicht von ihm überrascht zu werden. Der hauptsächlichste Vorwurf
seiner Anklage sollte, seinem Vorgeben nach, die schlimme Verwaltung sein,
deren ich mich als Ober-Befehlshaber in der Angelegenheit der empörten


 


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