Geschichte des Agathon, Teil 1
by
Christoph Martin Wieland

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Schutz-Verwandten schuldig gemacht haben sollte; denn er bewies mit großem
Wort-Gepränge, daß ich in dieser ganzen Expedition nichts getan hätte, das
der Rede wert wäre; daß ich vielmehr, anstatt die Empörten zu züchtigen
und zum Gehorsam zu bringen, ihren Sachwalter vorgestellt; sie für ihren
Aufruhr belohnt; ihnen noch mehr, als sie selbst zu fodern die
Verwegenheit gehabt, zugestanden; und durch diese unbegreifliche Art zu
verfahren, ihnen Mut und Kräfte gegeben hätte, bei der ersten Gelegenheit
sich von Athen gänzlich unabhängig zu machen; er bewies (sage ich) alles
dieses nach den Grund-Sätzen einer Politik, welche das Widerspiel von der
meinigen war, aber den Leidenschaften der Athenienser und eines jeden
andern Volks allzusehr schmeichelte, um nicht Eingang zu finden. Er hatte
noch die Bosheit, nicht entscheiden zu wollen, ob ich aus Unverstand oder
geflissentlich so gehandelt habe; doch erhub er auf der einen Seite meine
Fähigkeiten so sehr, und legte so viel Wahrscheinlichkeiten in die andere
Waag-Schale, daß sich der Ausschlag von selbst geben mußte. Dieses führte
ihn zu dem zweiten Teil seiner Anklage, welcher in der Tat (ob er es
gleich nicht gestehen wollte) das Hauptwerk davon ausmachte. Und hier
wurden Beschuldigungen auf Beschuldigungen gehäuft, um mich dem Volk als
einen Ehrsüchtigen abzumalen, der sich einen Plan gemacht habe, sein
Vaterland zu unterdrücken, und unter dem Schein der Großmut, der
Freigebigkeit und der Popularität, sich zum unumschränkten Herrn desselben
aufzuwerfen. Eine jede meiner Tugenden war die Maske eines Lasters,
welches im Verborgenen am Untergang der Freiheit und Glückseligkeit der
Athenienser arbeitete. In der Tat hatte die Beredsamkeit meines Anklägers
hier ein schönes Feld, sich zu ihrem Vorteil zu zeigen, und seinen
Zuhörern das republikanische Vergnügen zu machen, eine Tugend, welche mir
zu große Vorzüge vor meinen Mitbürgern zu geben schien, heruntergesetzt zu
sehen. Indessen, ob er gleich keinen Teil meines Privat-Lebens (so
untadelhaft es ehemals meinen Gönnern geschienen hatte) unbeschmutzt ließ;
so mochte er doch besorgen, daß die Kunstgriffe, deren er sich dazu
bedienen mußte, zu stark in die Augen fallen möchten. Er raffte also
alles zusammen, was nur immer fähig sein konnte, mich in ein verhaßtes
Licht zu stellen; und da es ihm an Verbrechen, die er mir mit einiger
Wahrscheinlichkeit hätte aufbürden können, mangelte, so legte er mir
fremde Torheiten, und selbst die ausschweifenden Ehren-Bezeugungen zur
Last, welche mir in der Flut meines Glückes und meiner Gunst bei dem Volk
aufgedrungen worden waren. Ich mußte itzt so gar für die elenden Verse
Rechenschaft geben, womit einige Dichter, denen ich aus einem vielleicht
zu weit getriebenen Mitleiden erlaubte, mir täglich um die Essens-Zeit
ihren Besuch abzustatten, mir die Dankbarkeit ihres Magens, auf Unkosten
ihres Ruhms und des meinigen, zu beweisen gesucht hatten. Man
beschuldigte mich in ganzem Ernst, daß ich übermütig und gottlos genug
gewesen sei, mich für einen Sohn des delphischen Apollo auszugeben; und
mein Ankläger ließ diese Gelegenheit nicht entgehen, über meine wahre
Geburt Zweifel zu erregen, und, unter vielen scherzhaften Wendungen, die
Meinung derjenigen wahrscheinlich zu finden, welche (wie er sagte)
benachrichtigt zu sein glaubten, daß ich mein Dasein den verstohlenen
Liebes-Händeln irgend eines delphischen Priesters zu danken hätte. In
dieser ganzen Rede ersetzte ein von Bosheit beseelter Witz den Abgang
gründlicher Beweise; aber die Athenienser waren schon lange gewohnt, sich
Witz für Wahrheit verkaufen zu lassen, und sich einzubilden, daß sie
überzeugt würden, wenn ihr Geschmack belustigt und ihre Ohren gekitzelt
wurden. Sie machte also allen den Eindruck, und vielleicht noch mehr, als
meine Feinde sich davon versprochen hatten. Die Eifersucht, welche sie in
den Gemütern anblies, verwandelte die übermäßige Zuneigung, deren
Gegenstand ich zwei Jahre lang gewesen war, in einer Zeit von zwo Stunden
in den bittersten Haß. Die Athenienser erschraken vor dem Abgrund, an
dessen Rand sie sich, durch ihre Verblendung für mich, unvermerkt
hingezogen sahen.--Sie erstaunten, daß sie meine Unfähigkeit zur
Staats-Verwaltung, meine Begierde nach einer unumschränkten Gewalt, meine
weit aussehenden Absichten, und mein heimliches Verständnis mit ihren
Feinden nicht eher wahrgenommen hätten; und da es nicht natürlich gewesen
wäre, die Schuld davon auf sich selbst zu nehmen, so schrieben sie es
lieber einer Bezauberung zu, wodurch ich ihre Augen eine Zeitlang zu
verschließen gewußt hätte. Ein jeder glaubte nun, durch die verderblichen
Anschläge, welche ich gegen die Republik gefaßt habe, von der Dankbarkeit
vollkommen losgezählt zu sein, die er mir für Dienste oder Wohltaten
schuldig sein mochte; welche nun als die Lockspeise angesehen wurden,
womit ich die Freiheit, und mit ihr das Eigentum meiner Mitbürger,
wegzuangeln getrachtet. Kurz: Eben dieses Volk, welches vor wenigen
Monaten mehr als menschliche Vollkommenheiten an mir bewunderte, war itzt
unbillig genug, mir nicht das geringste Verdienst übrig zu lassen; und
eben diejenigen, welche auf den ersten Wink bereit gewesen wären, mir die
Oberherrschaft in einem allgemeinen Zusammenlauf aufzudrängen, waren itzt
begierig, mich einen Anschlag, den ich nie gefaßt, gegen eine Freiheit,
deren sie sich in diesem Augenblicke selbst begaben, mit meinem Blute
büßen zu sehen. Mein Urteil war zu eben der Zeit, da mir die gewöhnliche
Frist zur Verantwortung gegeben wurde, durch die Mehrheit der Stimmen
schon gefällt; und das Vergnügen, womit ich von einer unzählbaren Menge
Volks ins Gefängnis begleitet wurde, würde vollkommen gewesen sein, wenn
die Gesetze gestattet hätten, mich, anstatt dahin, ohne weitere
Prozeß-Förmlichkeiten, zum Richt-Platz zu führen.

So glücklich meinen Feinden ihr Anschlag von statten gegangen war, so
glaubten sie doch, sich meines Untergangs noch nicht genugsam versichert
zu haben; sie fürchteten die Unbeständigkeit eines Volks, von welchem sie
allzuwohl wußten, wie leicht es in entgegengesetzte Bewegungen zu setzen
war. Es blieb möglich, daß ich mit einer bloßen Verbannung auf einige
Jahre durchwischen konnte; und diese ließ eine Veränderung der Szene
besorgen, bei welcher weder ihr Haß gegen mich, noch ihre Sicherheit, ihre
Rechnung fanden. Man mußte also noch eine andere Mine springen lassen,
durch die mir, wenn ich einmal aus Athen vertrieben wäre, alle Hoffnung,
jemals wieder zurückzukommen, abgeschnitten würde. Man mußte beweisen,
daß ich kein Bürger von Athen sei; daß meine Mutter keine Bürgerin, und
Stratonicus nicht mein Vater gewesen; daß er mich, in Ermanglung eines
Erben von seinem eigenen Blute, aus Haß gegen denjenigen, der es, den
Gesetzen nach, gewesen wäre, angenommen und unterschoben habe; und daß
also die Gesetze mir kein Recht an seine Erbschaft zugestanden. Da es zu
Athen an Leuten niemal fehlt, welche gegen eine proportionierte Belohnung
alles gesehen und gehört haben, was man will; und da alle diejenigen
gestorben waren, welche der Wahrheit das beste Zeugnis hätten geben können:
so war es meinen Gegnern ein Leichtes, alles dieses eben so gut zu
beweisen, als sie meine Staats-Verbrechen bewiesen hatten. Es wurde also
eine neue Klage angestellt. Derjenige, der sich zum Kläger wider mich
aufwarf, war ein Neffe von meinem Vater, durch nichts als durch die
lüderlichste Lebens-Art bekannt, wodurch er sein Erb-Gut schon vor einigen
Jahren verprasset hatte. Seine Unverbesserlichkeit hatte ihn endlich der
Freundschaft meines Vaters, so wie der Achtung aller rechtschaffenen Leute,
beraubt; und dieses Umstands bediente er sich nun, mich um eine Erbschaft
zu bringen, die er, als der nächste Erbe, eh mich Stratonicus für seinen
Sohn erklärte, in seinen Gedanken schon verschlungen hatte. Die
Geschicklichkeit des Redners, dessen Dienste er zu Ausführung seines
Bubenstücks erkaufte, der mächtige Beistand meiner Feinde, die Umstände
selbst, in denen er mich unvermutet überfiel, und vornehmlich die
Gefälligkeit seiner Zeugen, alle die Unwahrheiten zu beschwören, welche er
zu seiner Absicht nötig hatte: Alles dieses zusammen genommen, versicherte
ihn des glücklichen Ausgangs seiner Verräterei; und die Reichtümer, die
ihm dadurch zufielen, waren in den Augen eines gefühllosen, Elenden, wie
er war, wichtig genug, um mit Verbrechen, die ihn so wenig kosteten,
erkauft zu werden.

Dieser letzte Streich, der vollständigste Beweis, auf was für einen Grad
die Wut meiner Feinde gestiegen war, und wie gewiß sie sich des Erfolgs
hielten, ließ mir keine Hoffnung übrig, die ihrige zu Schanden zu machen.
Denn alle meine vermeinten Freunde, bis auf wenige, deren guter Wille ohne
Vermögen war, hatten, so bald sie mich vom Glück verlassen sahen, mich
auch verlassen; andere, welche zwar von dem Unrecht, das mir angetan wurde,
überzeugt waren, hatten den Mut nicht, sich für eine Sache, welche sie
nicht unmittelbar anging, in Gefahr zu setzen; und der einzige, dessen
Charakter, Ansehen und Freundschaft mir vielleicht hätte zu statten kommen
können, befand sich seit einiger Zeit am Hofe des jungen Dionysius zu
Syracus. Ich gestehe, daß ich, so lange die ersten Bewegungen dauerten,
mein Unglück in seinem ganzen Umfang fühlte. Für ein redliches, und
dabei noch wenig erfahrnes Gemüt ist es entsetzlich zu empfinden, daß man
sich in seiner guten Meinung von den Menschen betrogen habe, und sich zu
der abscheulichen Wahl genötiget zu sehen, entweder in einer beständigen
Unsicherheit vor der Schwachheit der einen, und vor der Bosheit der andern
zu leben, oder sich gänzlich aus ihrer Gesellschaft zu verbannen. Aber
die Kleinmütigkeit, welche eine Folge meiner ersten melancholischen
Betrachtungen war, dauerte nicht lange. Die Erfahrungen, die ich seit
meiner Versetzung auf den Schauplatz einer größern Welt, in so kurzer Zeit
gemacht hatte, weckten die Erinnerungen meiner glücklichen Jugend in
Delphi mit einer Lebhaftigkeit wieder auf, worin sie sich mir unter dem
Getümmel des Städtischen und politischen Lebens niemals dargestellt hatten.
Die Bewegung meines Gemüts, die Wehmut, wovon es durchdrungen war, die
Gewißheit, daß ich in wenigen Tagen von allen den Gunstbezeugungen, womit
mich das Glück so schnell, und mit solchem übermaß überschüttet hatte,
nichts, als die Erinnerung, die uns von einem Traum übrig bleibt, und von
allem, was ich mein genannt hatte, nichts als das Bewußtsein meiner
Redlichkeit, aus Athen mit mir nehmen würde; setzten mich auf einmal
wieder in diesen glückseligen Enthusiasmus, worin wir fähig sind, dem
äußersten, was die vereinigte Gewalt des Glücks und der menschlichen
Bosheit gegen uns vermag, ein standhaftes Herz und ein heiters Gesicht
entgegen zu stellen. Der unmittelbare Trost, den meine Grundsätze über
mein Gemüt ergossen, die Wärme und neubeseelte Stärke die sie meiner Seele
gaben, überzeugten mich von neuem von ihrer Wahrheit. Ich verwies es der
Tugend nicht, daß sie mir den Haß und die Verfolgungen der Bösen zugezogen
hatte; ich fühlte, daß sie sich selbst belohnt. Das Unglück schien mich
nur desto stärker mit ihr zu verbinden; so wie uns eine geliebte Person
desto teurer wird, je mehr wir um ihrentwillen leiden. Die Betrachtungen,
auf welche mich diese Gesinnungen leiteten, lehrten mich, wie geringhaltig
auf der Waage der Weisheit, alle diese schimmernden Güter sind, welche ich
im Begriff war, dem Glück wieder zurückzugeben, und wie wichtig diejenige
seien, welche mir keine republikanische Kabale, kein Dekret des Volks zu
Athen, keine Macht in der Welt nehmen konnte. Ich verglich meinen Zustand
in der höchsten Flut meines Glückes zu Athen mit der seligen Ruhe des
kontemplativen Lebens, worin ich in einer glücklichen Unwissenheit des
glänzenden Elends und der wahren Beschwerden einer beneideten Größe, meine
schuldlose Jugend hinweggelebt; worin ich meines Daseins, und der innern
Reichtümer meines Geistes, meiner Gedanken, meiner Empfindungen, der
eigentümlichen und von aller äußerlichen Gewalt unabhängigen Wirksamkeit
meiner Seele froh geworden war,--und glaubte bei dieser Vergleichung,
alles gewonnen zu haben, wenn ich mich, mit freiwilliger Hingabe der
Vorteile, die mir indessen zugefallen waren, wieder in einen Zustand
zurückkaufen könnte, den mir meine Einbildungskraft mit ihren schönsten
Farben, und in diesem überirdischen Lichte, worin er dem Zustande der
himmlischen Wesen ähnlich schien, vormalte. Der Gedanke, daß diese
Seligkeit nicht an die Haine von Delphi gebunden sei, daß die Quellen
davon in mir selbst lägen, und daß eben diese vermeintlichen Güter, welche
mir mitten in ihrem Genuß so viel Unruhe zugezogen, und mich in einem
immerwährenden Wirbel von mir selbst hinweggerissen hatten, die einzigen
Hinternisse meines wahren Glücks gewesen seien.--Dieser Gedanke setzte
mich in eine Entzückung, die mich, zum Erstaunen meiner wenigen noch
übriggebliebenen Freunde, gegen alle Bitterkeiten meines widrigen
Schicksals unempfindlich machte; und dieses ging zuletzt so weit, daß ich
nach dem Tage meiner Verurteilung ganz ungeduldig wurde.


Allein eben diese Denkart, welche mir so viel Gleichgültigkeit gegen den
Verlust meines Ansehens und Vermögens gab, machte, daß ich das Betragen
der Athenienser in einem moralischen Gesichtspunkt ansah, aus welchem es
mir Abscheu und Ekel erweckte. Meine Feinde schienen mir durch die
Leidenschaften, von denen sie getrieben wurden, einigermaßen entschuldiget
zu sein: Aber das Volk, welches bei meinem Umsturz nichts gewann, welches
so viele Ursachen hatte, mich zu lieben, welches mich wirklich so sehr
geliebt hatte, und itzt durch eine bloße Folge seiner Unbeständigkeit und
Schwachheit, ohne selbst recht zu wissen, warum, sich dummer Weise zum
Werkzeug fremder Leidenschaften und Absichten machen ließ; dieses Volk
wurde mir so verächtlich, daß ich kein Vergnügen mehr an den Gedanken fand,
ihm Gutes getan zu haben. Diese Athenienser, die auf ihre Vorzüge vor
allen andern Nationen der Welt so eitel waren, stellten sich meiner
beleidigten Eigenliebe, als ein abschätziger Haufen blöder Toren dar, die
sich von einer kleinen Rotte verschmitzter Spitzbuben bereden ließen, weiß
für schwarz anzusehen; die bei aller Feinheit ihres Geschmacks, wenn es
darauf ankam, über die Versifikation eines Trinklieds, oder die Füße einer
Tänzerin zu urteilen, weder Kenntnis noch Empfindung von Tugend und wahrem
Verdienst hatten; die bei der heftigsten Eifersucht über ihre Freiheit,
niemals größere Sklaven waren, als wenn sie ihr schimärisches Palladium am
tapfersten behauptet haben; die sich jederzeit der Führung ihrer
übelgesinntesten Schmeichler mit dem blindesten Vertrauen überlassen, und
nur in ihre tugendhaftesten Mitbürger, in ihre zuverlässigsten Freunde,
das größeste Mißtrauen gesetzt hatten. Sie verdienen es, sagte ich zu mir
selbst, daß sie betrogen werden; aber diesen Triumph sollen sie nicht
haben, zu erleben, daß Agathon sich vor ihnen demütige. Sie sollen fühlen,
was für ein Unterschied zwischen ihm und ihnen ist; sie sollen fühlen,
daß er nur desto größer ist, wenn sie ihm alle diese kindischen Zieraten
von Flittergold, womit sie ihn, wie Kinder, eine auf kurze Zeit geliebte
Puppe, umhängt haben wieder abnehmen; und eine zu späte Reue soll sie
vielleicht in kurzem lehren, daß Agathon ihrer leichter, als sie des
Agathons entbehren können. Du siehest, schöne Danae, daß ich mich nicht
scheue, dir auch meine Schwachheiten zu gestehen. Dieser Stolz, der zu
einer desto riesenmäßigern Gestalt aufschwoll, je mehr mich die
Athenienser zu Boden drücken wollten, hatte ohne Zweifel einen guten Teil
von eben der Eitelkeit in sich, welche ich ihnen zum Verbrechen machte;
aber vielleicht gehört er auch unter die Triebfedern, womit die Natur edle
Gemüter versehen hat, um dem Druck widerwärtiger Zufälle mit gleich
starker Reaktion zu widerstehen, und sich dadurch in ihrer eigenen Gestalt
und Größe zu erhalten. Die Athenienser rühmten ehmals meine
Bescheidenheit und Mäßigung zu einer Zeit, da sie alles taten, was mich
diese Tugenden verlieren machen konnte; diese Bescheidenheit hatte mit dem
Stolz, der ihnen itzt so anstößig an mir war, daß er vielleicht mehr, als
alle Bemühungen meiner Feinde zu meinem Fall beitrug, einerlei Quelle; ich
war mir eben so wohl bewußt, daß ich ihre Mißhandlungen nicht verdiente,
wie ich ehmals fühlte, daß die Achtung übertrieben war, die sie mir
bewiesen; desto bescheidener, je mehr sie mich erhuben; desto stolzer und
trotziger, je mehr sie mich herunter setzen wollten.

Meine Freunde hatten sich inzwischen in der Stille so eifrig zu meinem
Besten verwendet, daß sie mir Hoffnung machten, alles könne noch gut gehen,
wenn ich mich entschließen könne, meine Apologie nach dem Geschmack, und
der Erwartung des Volks einzurichten. Ich sollte mich zwar von Punkt zu
Punkt so vollständig rechtfertigen, als es immer möglich wäre; aber am
Ende sollte ich mich doch den Atheniensern auf Gnade oder Ungnade zu Füßen
werfen; meinen Feinden dürfte ich nach aller Schärfe des
Selbstverteidigungs--und Wiedervergeltungsrechts begegnen; aber den
Atheniensern sollte ich schmeicheln, und anstatt ihre Eigenliebe durch den
mindesten Vorwurf zu beleidigen, sollte ich bloß ihr Mitleiden zu erregen
suchen. Es ist zu vermuten, daß der Erfolg diesen Rat meiner Freunde, der
sich auf die Kenntnis des Charakters eines freien Volks gründete,
gerechtfertiget hätte: Wenigstens ist gewiß, daß die erste Bewegungen
dieser Unbeständigen bereits angefangen hatten, dem Mitleiden und den
Regungen ihrer vormaligen Liebe zu weichen. Ich lase es, da ich das
Gerüste bestieg, von welchem ich zu dem Volk redete, in vieler Augen, wie
sie nur darauf warteten, daß ich ihnen einen Weg zeigen möchte, mit guter
Art, und ohne etwas von ihrer demokratischen Majestät zu vergeben, wieder
zurück zu kommen. Aber sie fanden sich in ihrer Erwartung sehr betrogen.
Die Verachtung, womit mein Gemüt beim Anblick dieses Volkes erfüllt wurde,
welches mich vor wenigen Tagen mit so ausschweifender Freude ins
Gefängnis begleitet hatte, und das Gefühl meines eigenen Wertes, waren
beide zu lebhaft; die Begierde, ihnen gutes zu tun, welche die Seele aller
meiner Handlungen und Entwürfe gewesen war, hatte aufgehört; ich würdigte
sie nicht, eine Apologie zu machen, die ich für eine Beschimpfung meines
Charakters und Lebens gehalten hätte; aber ich wollte ihnen zum letztenmal
die Wahrheit sagen: Ehmals, wenn es darum zu tun gewesen war, sie von
ihren eignen wahren Vorteilen zu überzeugen, hatte ich aller meiner
Beredsamkeit aufgeboten; aber itzo, da die Rede bloß von mir selbst war,
verschmähte ich den Beistand einer Kunst, worin der Ruf mir einige
Geschicklichkeit zuschrieb. In diesem Stücke blieb ich meinem gefaßten
Vorsatz getreu; aber nicht der Kürze und Gelassenheit, die ich mir
vorgeschrieben hatte; der Affekt, in den ich unvermerkt geriet, machte
mich weitläufig und etlichemal bitter.

Meine Rede enthielt eine zusammengezogene Erzählung meines ganzen
Lebenslaufs in Athen; der Grundsätze, welchen ich in der Republik gefolgt
war; und meiner Gedanken von dem wahren Interesse der Athenienser. Ich
ging bei dieser Gelegenheit ein wenig strenge mit ihren Urteilen und
Lieblingsprojekten um; und sagte ihnen, daß ich in der Sache der
Schutzverwandten eine Probe gegeben hätte, nach was für Maximen ich
jederzeit in Verwaltung des Staats gehandelt haben würde; und da diese
Maximen so weit von ihrer Gemütsbeschaffenheit und Denkart entfernt wären:
So würden sie sehr weislich handeln, einen Menschen aus ihrem Mittel zu
verbannen, welcher nicht gesonnen sei, der Wahrheit und den Pflichten
eines allgemeinen Freunds der Menschen zu entsagen, um ein guter Bürger
von Athen zu sein.

Der Schluß meiner Rede liegt mir noch so lebhaft im Gedächtnis, daß ich
ihn, zu einer Probe des Ganzen, wiederholen will. 'Die Götter', (sagte
ich) 'haben mich zu einer Zeit, da ich es am wenigsten hoffte, meinen
Vater finden lassen: Sein Ansehen und seine Reichtümer gaben mir viel
weniger Freude, als die Entdeckung, daß ich mein Leben einem
rechtschaffenen Mann zu danken hatte. Athen wurde durch ihn mein
Vaterland. Ich sah es als den Platz an, den mir die Götter angewiesen, um
das Beste der Menschen zu befödern. Das Interesse dieser einzelnen Stadt,
war in meinen Augen ein zu kleiner Gegenstand, um dem allgemeinen Besten
der Menschheit vorgesetzt zu werden; aber ich sah beides so genau mit
einander verknüpft, daß ich nur alsdenn gewiß sein konnte, jenes wirklich
zu erhalten, wenn ich dieses beföderte. Nach diesen Grundsätzen habe ich
in meinem öffentlichen Leben gehandelt, und diese Handlungen, deren sich
selbst belohnendes Bewußtsein mir in eine bessere Welt, den
unvergänglichen Wohnplatz der tugendhaften Seelen, folgen wird; diese
Handlungen haben mir euern Unwillen zugezogen. Die Athenienser wollen
auf Unkosten des menschlichen Geschlechts groß sein; und das werden sie so
lange sein wollen, bis sie in Ketten, welche sie sich selbst schmieden,
und deren sie würdig sind, sobald sie über Sklaven gebieten wollen, allen
ihren Ehrgeiz auf den rühmlichen Vorzug einschränken werden, die besten
Sprachlehrer, und die gelenkigsten Pantomimen in der Welt zu sein. Aber
Agathon ist nicht dazu gemacht, euern Lauf auf diesem Wege, den die
Gefälligkeit eurer Redner mit Blumen bestreut, beschleunigen zu helfen.
Mein Privatleben hat euch bewiesen, daß die Grundsätze, nach welchen ich
eure öffentlichen Handlungen zu leiten gewünscht hätte, die Maßregeln
meines eigenen Verhaltens sind. Mein Vermögen hat mehr zum Gebrauch eines
jeden unter euch, als zu meinem eigenen gedienet. Ich habe mir Undankbare
verbindlich gemacht, und diese Erfahrung lehrt mich, Güter mit
Gleichgültigkeit zurückzulassen, welche ich übel anwendete, da ich sie am
besten anzuwenden glaubte. Dieses, ihr Athenienser, ist alles, was ich zu
meiner Verteidigung zu sagen habe. Ihr seid nun, weil euch die Menge
eurer Arme zu meinen Herren macht, Meister über meine Umstände, und wenn
ihr wollt, über mein Leben. Verlangt ihr meinen Tod, so meldet mir nur,
was ich in euerm Namen, dem weisen und guten Socrates sagen soll, zu dem
ihr mich schicken werdet. Begnügt ihr euch aber, mich aus euern Augen zu
verbannen, so werde ich mit dem letzten Blicke nach einem einst geliebten
Vaterland, eine Träne auf das Grab eurer Glückseligkeit fallen lassen; und,
indem ich aufhöre ein Athenienser zu sein, in der Welt, die mir offen
steht, in einem jeden Winkel, wo es der Tugend erlaubt ist, sich zu
verbergen, ein besseres Vaterland finden.'

Es ist leicht zu vermuten, schöne Danae, daß eine Apologie aus diesem Ton
nicht geschickt war, mir ein günstiges Urteil auszuwirken. Die
Erbitterung, die dadurch in den Gemütern der meisten erregt wurde, welche
das angenehme Schauspiel, mich vor ihnen gedemütiget zu sehen, zu genießen
erwartet hatten, war auf ihren Gesichtern ausgedrückt. Dem ungeachtet sah
ich niemal eine größere Stille unter dem Volk, als da ich aufgehört hatte
zu reden. Sie fühlten, wie es schien, wider ihren Willen, daß die Tugend
auch ihren Hässern Ehrfurcht einpräget; aber eben dadurch wurde sie ihnen
nur desto verhaßter, je stärker sie den Vorzug fühlten, den sie dem
beklagten, verlassenen und von allen Auszierungen des Glücks entblößtem
Agathon über die Herren seines Schicksals gab. Ich weiß selbst nicht, wie
es zuging, daß mir mein guter Genius aus dieser Gefahr heraushalf: Aber,
wie die Stimmen gesammelt wurden, so fand sich, daß die Richter, gegen die
Hoffnung meiner Ankläger sich begnügten, mich auf ewig aus Griechenland zu
verbannen, die Hälfte meiner Güter zum gemeinen Wesen zu ziehen, und die
andre Hälfte meinen Verwandten zuzusprechen. Die Gleichgültigkeit, womit
ich mich diesem Urteil unterwarf, wurde in diesem fatalen Augenblick, der
alle meine Handlungen in ein falsches Licht setzte, für einen Trotz
aufgenommen, welcher mich alles Mitleidens unwürdig machte; doch erlaubte
man meinen Freunden, sich um mich zu versammeln, mir ihre Dienste
anzubieten, und mich aus Athen zu begleiten: welches ich, ungeachtet mir
eine längere Frist gegeben worden war, noch in eben der Stunde, mit so
leichtem Herzen verließ, als wie ein Gefangener den Kerker verläßt, aus
dem er unverhofft in Freiheit gesetzt wird. Die Tränen der wenigen,
welche mein Fall nicht von mir verscheucht hatte, und meiner guten
Hausgenossen, waren das einzige, was bei einem Abschiede, den wir auf ewig
von einander nahmen, mein Herz erweichte; und ihre guten Wünsche alles,
was ich von den Wirkungen ihrer mitleidigen und dankbaren Sorgfalt annahm.

Ich befand mich nun wieder ungefähr in eben den Umständen, worin ich vor
einigen Jahren unter dem Zypressenbaum im Vorhofe meines noch unbekannten
Vaters zu Corinth gelegen war. Die großen Veränderungen, die
manchfaltigen Szenen von Reichtum, Ansehen, Gewalt und äußerlichem
Schimmer, durch welche mich das Glück in dieser kurzen Zwischenzeit
herumgedreht hatte, waren nun wie ein Traum vorüber; aber die wesentlichen
Vorteile, die von allen diesen Begegnissen in meinem Geist und Herzen
zurückgeblieben waren, überzeugten mich, daß ich nicht geträumt hatte.
Ich fand mich um eine Menge nützlicher und angenehmer Kenntnisse, um die
Entwicklung meiner Fähigkeiten, um das Bewußtsein vieler guten Handlungen,
und um eine Reihe wichtiger Erfahrungen, reicher als zuvor. Ich hatte den
Geist der Republiken, den Charakter des Volks, und die Eigenschaften und
Wirkungen vieler mir vorher unbekannten Leidenschaften kennen gelernt, und
Gelegenheiten genug gehabt, vieler irrigen Einbildungen los zuwerden,
welche man sich von der Welt zu machen pflegt, wenn man sie nur von Ferne,
und ohne selbst in ihre Geschäfte eingeflochten zu sein, betrachtet. Zu
Delphi hatte man mich (zum Exempel) gelehrt, daß sich das ganze Gebäude
der Republikanischen Verfassung auf die Tugend gründe; die Athenienser
lehrten mich hingegen, daß die Tugend an sich selbst nirgends weniger
geschätzt wird, als in einer Republik; den Fall ausgenommen, da man ihrer
vonnöten hat; und in diesem Fall wird sie unter einem jeden Tyrannen eben
so hoch geschätzt, und oft besser belohnt. überhaupt hatte mein
Aufenthalt in Athen, die erhabene Theorie von der Vortrefflichkeit und
Würde der menschlichen Natur, wovon ich eingenommen war, sehr schlecht
bestätiget; aber ich fand mich nichts desto geneigter von ihr
zurückzukommen. Ich legte alle Schuld auf die Contagion allzugroßer
Gesellschaften, auf die Mängel der Gesetzgebung, auf das Privatinteresse,
welches bei allen policierten Völkern, durch ein unbegreifliches Versehen
ihrer Gesetzgeber, in einem beständigen Streit mit dem gemeinen Besten
liegt. Kurz, ich dachte darum nicht schlimmer von der Menschheit, weil
sich die Athenienser unbeständig, ungerecht und undankbar gegen mich
bewiesen hatten; aber ich faßte einen desto stärkern Widerwillen gegen
eine jede andere Gesellschaft, als eine solche, welche sich auf
übereinstimmende Grundsätze, Tugend und Bestrebung nach moralischer
Vollkommenheit gründete. Der Verlust meiner Güter, und die Verbannung
aus Athen schien mir die wohltätige Veranstaltung einer für mich besorgten
Gottheit zu sein, welche mich dadurch meiner wahren Bestimmung habe
wiedergeben wollen. Es ist sehr vermutlich, daß ich durch Anwendung
gehöriger Mittel, durch das Ansehen meiner auswärtigen Freunde, und selbst
durch die Unterstützung der Feinde der Athenienser, welche mir gleich
anfangs meines Prozesses, heimlich angeboten worden war, vielleicht in
kurzem wieder Wege gefunden haben könnte, meine Gegner in dem Genuß der
Früchte ihrer Bosheit zu stören, und im Triumphe wieder nach Athen zurück
zu kehren. Allein solche Anschläge, und solche Mittel schickten sich nur
für einen Ehrgeizigen, welcher regieren will, um seine Leidenschaften zu
befriedigen. Mir fiel es nicht ein, die Athenienser zwingen zu wollen,
daß sie sich von mir gutes tun lassen sollten. Ich glaubte durch einen
Versuch, der mir durch ihre eigene Schuld mißlungen war, meiner Pflicht
gegen die bürgerliche Gesellschaft ein Genüge getan zu haben, und nun
vollkommen berechtiget zu sein, die natürliche Freiheit, welche mir meine
Verbannung wieder gab, zum Vorteil meiner eigenen Glückseligkeit
anzuwenden. Ich beschloß also den Vorsatz, welchen ich zu Delphi schon
gefaßt hatte, nunmehr ins Werk zu setzen, und die Quellen der
morgenländischen Weisheit, die Magier, und die Gymnosophisten in Indien zu
besuchen, in deren geheiligten Einöden ich die wahren Gottheiten meiner
Seele, die Weisheit und die Tugend, von denen, wie ich glaubte, nur
unwesentliche Phantomen unter den übrigen Menschen herumschwärmten, zu
finden hoffte.

Aber eh ich auf die Zufälle komme, durch welche ich an der Ausführung
dieses Vorhabens gehintert, und in Gestalt eines Sklaven nach Smyrna
gebracht wurde; muß ich mich meiner jungen Freundin wieder erinnern, die
wir seit meiner Versetzung nach Athen aus dem Gesichte verloren haben."




ACHTES KAPITEL

Agathon endigt seine Erzählung


"Die Veränderung, welche mit mir vorging, da ich aus den Hainen von Delphi
auf den Schauplatz der geschäftigen Welt, in das Getümmel einer
volkreichen Stadt, in die unruhige Bewegungen einer zwischen der
Demokratie und Aristokratie hin und her treibenden Republik, und in das
moralische Chaos der bürgerlichen Gesellschaft, worin Leidenschaften mit
Leidenschaften, Absichten mit Absichten, in einem allgemeinen und ewigen
Streit gegen einander rennen, und unter dem unharmonischen Zusammenstoß
unförmlicher Mißgestalten, nichts beständiges, noch gewisses ist, nichts
das ist, was es scheint, noch die Gestalt behält die es hat.--Diese
Veränderung war so groß, daß ich ihre Wirkung, auf mein Gemüt durch nichts
anders zu bezeichnen weiß, als durch die Vergleichung mit der Betäubung,
worin nach meinem Freunde, Plato, unsre Seele eine Zeit lang, von sich
selbst entfremdet, liegen bleibt, nachdem sie aus dem Ozean des reinen
ursprünglichen Lichts, der die überhimmlischen Räume erfüllet, plötzlich
in den Schlamm des groben irdischen Stoffes heruntergestürzt worden ist.
Die Menge der neuen Gegenstände, welche von allen Seiten auf mich eindrang,
verschlang die Erinnerung derjenigen, welche mich so viele Jahre umgeben
hatten; und zuletzt hatte ich fast Mühe, mich selbst zu überreden, daß ich
eben derjenige sei, der im Tempel zu Delphi den Fremden die
Merkwürdigkeiten desselben gewiesen und erklärt hatte. So gar das
Andenken meiner geliebten Psyche wurde eine Zeit lang von diesem Nebel,
der meine Seele umzog, verdunkelt; allein dieses dauerte nur so lange, bis
ich des neuen Elements, worin ich itzt lebte, gewohnt worden war; denn da
vermißte ich ihre Gegenwart desto lebhafter wieder, je größer das Leere
war, welches die Beschäftigungen und selbst die Ergötzungen meiner neuen
Lebensart in meinem Herzen ließen. Die Schauspiele, die Gastmähler, die
Tänze, die Musikübungen, konnten mir jene seligen Nächte nicht ersetzen,
die ich in den Entzückungen einer zauberischen Schwärmerei, an ihrer Seite
zugebracht hatte. Aber, so groß auch meine Sehnsucht nach diesen
verlornen Freuden war, so beunruhigte mich doch die Vorstellung des
unglücklichen Zustands noch weit mehr, worein die rachbegierige Eifersucht
der Pythia sie vermutlich versetzt hatte. Den Ort ihres Aufenthalts
ausfindig zu machen, schien beinahe eine Unmöglichkeit; denn entweder
hatte die Priesterin sie (fern genug von Delphi, um uns alle Hoffnung des
Wiedersehens zu benehmen,) verkaufen, oder gar an irgend einer entlegnen
barbarischen Küste aussetzen und dem Zufall Preis geben lassen. Allein da
der Liebe nichts unmöglich ist, so gab ich auch die Hoffnung nicht auf,
meine Psyche wieder zu bekommen. Ich belud alle meine Freunde, alle
Fremden, die nach Athen kamen, alle Kaufleute, Reisende und Seefahrer mit
dem Auftrag, sich allenthalben, wohin sie kämen, nach ihr zu erkundigen;
und damit sie weniger verfehlt werden könnte, ließ ich eine unzählige
Menge Kopeien ihres Bildnisses machen, das ich selbst, oder vielmehr der
Gott der Liebe mit meiner Hand, in der vollkommensten ähnlichkeit, nach
dem gegenwärtigen Original, gezeichnet hatte, da wir noch in Delphi waren;
und diese Kopeien teilte ich unter alle diejenigen aus, welche ich durch
Verheißung großer Belohnungen, anzureizen suchte, sich für ihre Entdeckung
Mühe zu geben. Ich gestehe dir so gar, daß das Verlangen meine Psyche
wieder zu finden, (anfänglich wenigstens) der hauptsächlichste Beweg-Grund
war, warum ich mich in der Republik hervorzutun suchte. Denn, nachdem mir
alle andre Mittel fehlgeschlagen hatten, schien mir kein andres übrig zu
bleiben, als meinen Namen so bekannt zu machen, daß er ihr zu Ohren kommen
müßte; sie möchte auch sein, wo sie wollte. Dieser Weg war in der Tat
etwas weitläufig; und ich hätte zwanzig Jahre in einem fort größere Taten
tun können, als Hercules und Theseus, ohne daß die Hyrcanier, die
Massageten, die Hibernier, oder die Lästrigonen, in deren Hände sie
inzwischen hätte geraten können, mehr von mir gewußt hätten, als die
Einwohner des Mondes. Zu gutem Glück fand der Schutz-Geist unsrer Liebe
einen kürzern Weg, uns zusammenzubringen; aber in der Tat nur, um uns
Gelegenheit zu geben, auf ewig von einander Abscheid zu nehmen."-Hier fuhr
Agathon fort, der schönen Danae die Begebenheiten zu erzählen, die ihm auf
seiner Wanderschaft bis auf die Stunde, da er mit ihr bekannt wurde,
zugestoßen, und wovon wir dem geneigten Leser bereits im ersten und
zweiten Buche dieser Geschichte Rechenschaft gegeben haben; und nachdem er
sich auf Unkosten des weisen Hippias ein wenig lustig gemacht, entdeckte
er seiner schönen Freundin (welche seine ganze Erzählung nirgends weniger
langweilig fand, als an dieser Stelle,) alles, was von dem ersten
Augenblick an, da er sie gesehen, in seinem Herzen vorgegangen war. Er
überredete sie mit eben der Aufrichtigkeit, womit er es zu empfinden
glaubte, daß sie allein dazu gemacht gewesen sei, seine Begriffe von
idealischen Vollkommenheiten und einem überirdischen Grade von
Glückseligkeit zu realisieren; daß er, seit dem er sie liebe, und von ihr
geliebet sei, ohne seiner ehemaligen Denkungs-Art ungetreu zu werden, von
dem, was darin übertrieben und schimärisch gewesen, bloß dadurch
zurückgekommen sei, weil er bei ihr alles dasjenige gefunden, wovon er
sich vorher, nur in der höchsten Begeisterung einer Einbildungs-Kraft
einige unvollkommene Schatten-Begriffe habe machen können; und weil es
natürlich sei, daß die Einbildungs-Kraft, als der Sitz der Schwärmerei, zu
würken aufhöre, so bald der Seele nichts zu tun übrig, als anzuschauen und
zu genießen. Mit einem Wort: Agathon hatte vielleicht in seinem Leben nie
so sehr geschwärmt, als itzt, da er sich in dem höchsten Grade der
verliebten Betörung einbildete, daß er alles das, was er der
leichtgläubigen Danae vorsagte, eben so gewiß und unmittelbar sehe und
fühle, als er ihre schönen, von dem ganzen Geist der Liebe und von aller
seiner berauschenden Wollust trunknen Augen auf ihn geheftet sah, oder das
Klopfen ihres Herzens unter seinen verirrenden Lippen fühlte. Er endigte
damit, daß er ihr aus seiner ganzen Erzählung begreiflich gemacht zu haben
glaube, warum es, nachdem er schon so oft bald von den Menschen, bald vom
Glücke, bald von seinen eigenen Einbildungen betrogen worden, entsetzlich
für ihn sein würde, wenn er jemals sich in der Hoffnung betrogen fände, so
vollkommen und beständig von ihr geliebt zu werden, als es zu seiner
Glückseligkeit nötig sei. Er gestund ihr mit einer Offenherzigkeit,
welche vielleicht nur eine Danae ertragen konnte, daß eine lebhafte
Erinnerung an die Zeiten seiner ersten Liebe, zugleich mit der Vorstellung
aller der seltsamen Zufälle, Veränderungen und Katastrophen, die er in
einem Alter von fünf und zwanzig Jahren bereits erfahren habe, ihn auf
eine Reihe melancholischer Gedanken gebracht, worin er Mühe gehabt habe,
seine gegenwärtige Glückseligkeit für etwas wirkliches, und nicht für ein
abermaliges Blendwerk seiner Phantasie, zu halten. "Eben das übermaß
derselben", sagte er, "eben dies ist es, was mich besorgen machte, jemals
aus einem so schönen Traum aufzuwachen.--Kannst du mich verdenken,
liebenswürdige Danae, o du, die durch die Reizungen deines Geistes, auch
ohne diese Liebe-atmende Gestalt, ohne diese Schönheit, deren Anschauen
himmlische Wesen dir gegenüber anzufesseln vermögend wäre, durch die bloße
Schönheit deiner Seele, und den magischen Reiz eines Geistes, der alle
Vorzüge, alle Gaben, alle Grazien in sich vereinigt, meinen Geist aus dem
Himmel selbst zu dir herunterziehen würdest.--Könntest du mich verdenken,
daß ich, vor dem Gedanken, deine Liebe jemals verlieren zu können, wie vor
der Vernichtung meines ganzen Wesens, erzittre?--Laß mich, laß mich die
Gewißheit, daß es nie geschehen werde, daß es unmöglich sei, immer in
deinen Augen lesen, immer von deinen Lippen hören, und in deinen Armen
fühlen; und wenn diese vergötternde Bezauberung jemals aufhören soll, so
nimm, im letzten Augenblick, alle deine Macht zusammen, und laß mich vor
Entzückung und Liebe zu deinen Füßen sterben."-Von der Antwort, womit
Danae diese Ergießungen einer glühenden Zärtlichkeit erwiderte, läßt sich
das Wenigste mit Worten ausdrücken; und dieses kann sich, nach allem, was
wir bereits von ihren Gesinnungen für unsern Helden gesagt haben, der
kaltsinnigste von unsern Lesern so gut vorstellen, als wir es ihm sagen
könnten--oder sich's auch nicht vorstellen, wenn es ihm beliebt. Daß sie
ihm übrigens sehr höflich für die Erzählung seiner Geschichte gedankt, und
eine ungemeine Freude darüber empfunden habe, in diesem Sklaven, der die
Alcibiaden und den liebenswürdigen Cyrus selbst aus ihrem Herzen
ausgelöscht hatte, den ruhmvollen Agathon, den Mann, den das Gerüchte zum
Wunder seiner Zeit gemacht hatte, zu finden; und daß sie ihm hierüber viel
schönes gesagt haben werde--verstehst sich von selbst. Dieses und alles,
was eine jede andere, die keine Danae gewesen wäre, in den vorliegenden
Umständen auch gesagt hätte, wollen wir, nebst allen den feinen
Anmerkungen und Scherzen, wodurch sie in gewissen Stellen seine Erzählung
unterbrochen hatte, überhüpfen, um zu andern Dingen, die in ihrem Gemüte
vorgingen, zu kommen, welche der größeste Teil unserer Leserinnen (wir
besorgen es, oder hoffen es vielmehr,) nicht aus sich selbst erraten hätte,
und welche wichtig genug sind, ein eigenes Kapitel zu verdienen.




NEUNTES KAPITEL

Ein starker Schritt zur Entzauberung unsers Helden


Die vertrauliche Erzählung, welche Agathon seiner zärtlichen Freundin von
seinem ganzen Lebens-Lauf gemacht; die Offenherzigkeit, womit er ihr die
innersten Triebfedern seiner Seele aufgedeckt; und die vollständige
Kenntnis, welche sie dadurch von einem Liebhaber erhalten hatte, an dessen
Erhaltung ihr so viel gelegen war; ließen sie gar bald einsehen, daß sie
vielleicht mehr Ursache habe, über die Beständigkeit seiner Liebe
beunruhigt zu sein, als er über die Dauer der ihrigen. So schmeichelhaft
es für ihre Eitelkeit war, von einem Agathon geliebt zu sein; so hätte sie
doch für die Ruhe ihres Herzens lieber gewollt, daß er keine so
schimmernde Rolle in der Welt gespielt hätte. Sie besorgte nicht unbillig,
daß es schwer sein würde, einen jungen Helden, der durch so seltene
Talente und Tugenden zu den edelsten Auftritten des geschäftigen Lebens
bestimmt schien, immer in den Blumen-Fesseln der Liebe und eines
wollüstigen Müßiggangs gefangen zu halten. Nun schien zwar die Art seiner
Erziehung, der sonderbare Schwung, den seine Einbildungs-Kraft dadurch
erhalten, seine herrschende Neigung zur Unabhängigkeit und Ruhe des
spekulativen Lebens, welche durch die Streiche, die ihm das Glück in einer
so großen Jugend bereits gespielt, eine neue Stärke bekommen hatte; und
der Hang zum Vergnügen, welcher, im Gleichmaß mit der außerordentlichen
Empfindlichkeit seines Herzens, die Ruhm-Begierde und die Ambition bei ihm
nur zu subalternen Leidenschaften machte--alles dieses schien ihr zwar in
dem Vorhaben, ihn der Welt zu rauben, und für sich selbst zu behalten,
nicht wenig beförderlich zu sein; aber eben diese schwärmerische
Einbildungs-Kraft, eben diese Lebhaftigkeit der Empfindungen schienen ihr,
auf einer andern Seite betrachtet, mit einer gewissen natürlichen
Unbeständigkeit verbunden zu sein, von welcher sie alles zu befürchten
hätte. Konnte sie, mit aller Eitelkeit, wozu sie das Bewußtsein ihrer
selbst und der allgemeine Beifall berechtigte, sich selbst bereden, daß
sie diese idealische Vollkommenheit würklich besitze, welche die
bezauberten Augen ihres enthusiastischen Liebhabers an ihr sahen? Und da
nicht sie selbst, sondern diese idealische Vollkommenheit der eigentliche
Gegenstand seiner Liebe war, auf was für einen unsichern Grund beruhete
also eine Hoffnung, welche voraussetzte, daß die Bezauberung immer dauern
werde? Diese letzte Betrachtung machte sie zittern;--denn sie fühlte mit
einer immer zunehmenden Stärke, daß Agathon zu ihrer Glückseligkeit
unentbehrlich geworden war.--Aber (so ist die betrügliche Natur des
menschlichen Herzens!) eben darum, weil der Verlust ihres Liebhabers sie
elend gemacht haben würde, hatten alle Vorstellungen, welche ihr mit
seinem beständigen Besitz schmeichelten, doppelte Kraft ein Herz zu
überreden, welches nichts anders suchte, als getäuscht zu sein. Sie
bildete sich also ein, daß der Hang zu demjenigen, was man die Wollust der
Seele nennen kann, den wesentlichsten Zug von der Gemüts-Beschaffenheit
unsers Helden ausmache. Seine Philosophie selbst schien ihr diese Meinung
zu bestätigen, und, bei aller ihrer Erhabenheit über den groben
Materialismus des größten Haufens der Sterblichen, in der Tat mit den
Grundsätzen des Aristippus, welche vormals ihre eigenen gewesen waren, in
dem nämlichen Punkt zusammenzulaufen. Der ganze Unterscheid schien ihr
darin zu liegen, daß dieser die Wollust, welche er zum letzten Ziel der
Weisheit machte, mehr in der angenehmen Bewegung der Sinnen, den
Befriedigungen eines geläuterten Geschmacks, und den Ergötzlichkeiten
eines von allen unruhigen Leidenschaften befreiten geselligen
Lebens--Agathon hingegen, diese feinere Wollust, von welcher er in den
stillen Hainen des Delphischen Tempels sich ein so liebenswürdiges Phantom
in den Kopf gesetzt hatte, mehr in den Vergnügen der Einbildungs-Kraft und
des Herzens suchte; eine Philosophie, bei welcher er (nach der
scharfsinnigen Beobachtung unsrer Schönen) so gar von Seiten der
sinnlichen Lust mehr gewann, als verlor; indem diese von den
verschönernden Einflüssen einer begeisterten Einbildung und den zärtlichen
Rührungen und Ergießungen eines gefühlvollen Herzens ihren mächtigsten
Reiz erhält. Dieses als gewiß vorausgesetzt, glaubte sie von der
Unbeständigkeit, welche sie, nicht ohne Grund, als eine Eigenschaft einer
allzuwürksamen und hoch gespannten Einbildungs-Kraft ansah, nichts zu
besorgen zu haben; so lange es ihr nicht an Mitteln fehlen würde, seinen
Geist und sein Herz zugleich und, mit einer solchen Abwechslung und
Mannigfaltigkeit zu vergnügen, daß eine weit längere Zeit, als die Natur
dem Menschen zum Genießen angewiesen hat, nicht lange genug wäre, ihn
eines so angenehmen Zustandes überdrüssig zu machen. Sie hatte Ursache,
dieses um so mehr zu glauben, da sie aus Erfahrung wußte, daß die
Würksamkeit der Einbildungs-Kraft desto mehr abnimmt, je weniger leeres
der Genuß wirklicher Vergnügungen im Herzen zurückläßt, und je weniger ihm
Zeit gelassen wird, etwas angenehmers als das Gegenwärtige zu wünschen.

Es ist dermalen noch nicht Zeit, daß wir über diese Grundsätze der schönen
Danae unsere eigenen Gedanken sagen. Sie mochten, von einer Seite
betrachtet, richtig genug sein; aber wir besorgen sehr, daß sie sich in
dem Gebrauch der Mittel, wodurch sie ihren Zweck zu erhalten hoffte, von
der Liebe betrogen finden werde. In der Tat liebte sie zu aufrichtig und
zu heftig, um gute Schlüsse zu machen; und ihr Herz führte sie nach und
nach, ohne daß sie es gewahr wurde, weit über die Grenzen der Mäßigung weg,
bei welcher sie sich anfangs so wohl befunden hatte. Vielleicht mochte
auch eine geheime Eifersucht über die gute Psyche (so wenig sie gleich,
aller Wahrscheinlichkeit nach, zu befürchten hatte, daß sie jemals
persönlich auftreten, und das Herz ihres Liebhabers von ihr zurückfodern
werde) sich mit ins Spiel gemischt, und sie begierig gemacht haben, so gar
die Erinnerung an die Freuden seiner ersten Liebe, welche ihr vielleicht
noch allzulebhaft zu sein schien, aus seinem Gedächtnis auszulöschen. So
viel ist gewiß, daß sie (vor lauter Begierde, unsern Helden mit
Glückseligkeiten zu überschütten,) ihm eine grenzenlose Liebe zu zeigen,
und ihn einen solchen Grad von Wonne, über welchem dem Herzen nichts zu
wünschen, und der Phantasie nichts zu denken übrig bliebe, erfahren zu
machen,--einen Weg einschlug, auf welchen sie ihres Zwecks fast notwendig
verfehlen mußte. Der vortreffliche Brief des liebenswürdigsten Moralisten
der neuern Zeiten, des Saint Evremond, in den Briefen der Ninon Lenclos an
den Marquis von Sevigne, überhebt uns der Mühe, dem unerfahrnen Teil
unserer schönen Leserinnen zu erklären, wie es zugehe, daß die Liebe von
allzuvieler Nahrung abzehrt; und daß ein unvorsichtiges übermaß von
Zärtlichkeit gerade das gewisseste Mittel ist, einen Ungetreuen zu machen.
Wir wollen sie also auf die bemeldete Unterweisung eines der besten
Kenner des menschlichen Herzens verwiesen haben, und uns begnügen, ihnen
zu sagen, daß Agathon, nachdem er (dem neuen Plan seiner mehr zärtlichen
als behutsamen Geliebten zufolge) etliche Wochen lang von allem, was die
Liebe süßes und entzückendes hat, mehr erfahren hatte, als selbst die
glühende Einbildungs-Kraft des Marino fähig war, seinen Adon in den Armen
der Liebes-Göttin genießen zu lassen, unvermerkt in eine gewisse
Mattigkeit der Seele verfiel, welche wir nicht kürzer zu beschreiben
wissen, als wenn wir sagen, daß sie vollkommen das Widerspiel von der
Begeisterung war, worin wir ihn bisher gesehen haben. Man würde sich
vermutlich sehr irren, wenn man diese Entgeisterung einer so unedeln
Ursache beimessen wollte, als diejenige war, welche den verachtenswürdigen
Helden des Petronius nötigte, seine Zuflucht zu den Beschwörungen und
Brenn-Nesseln der alten Enothea zu nehmen. Nach allem, was wir von unserm
Helden wissen, kann kein Verdacht von dieser Art auf ihn fallen. Wir
finden weit wahrscheinlicher, daß die wahre Ursache davon in seiner Seele
lag, und aus einer überfüllung mit Vergnügen, auf welche notwendig eine
Art von Betäubung folgen mußte, ihren Ursprung nahm. Unsere Seele (mit
Erlaubnis derjenigen Philosophen, welche von der grenzenlosen Kapazität
und Unersättlichkeit ihrer Begierden so viel schönes zu sagen wissen,) ist
doch nur eines gewissen Maßes von Vergnügen fähig, und kann einen
anhaltenden Zustand von Entzückung eben so wenig ertragen, als eine lange
Dauer des äußersten Schmerzens. Beides spannt endlich ihre Nerven ab, und
bringt sie zu einer Art von Ohnmacht, in welcher sie gar nichts mehr zu
empfinden fähig ist. Was indessen auch die Ursache einer für die
Absichten der Danae so nachteiligen Veränderung gewesen sein mag; so ist
gewiß, daß die Würkungen derselben in kurzer Zeit so sehr überhand nahmen,
daß Agathon selbst Mühe hatte, sich in sich selbst zu erkennen, oder zu
begreifen, wie es mit dieser seltsamen Verwandlung der Szene zugegangen
sei. Ein magischer Nebel schien vor seinen erstaunten Augen wegzufallen;
die ganze Natur zeigte sich ihm in einer andern Gestalt, verlor diesen
reizenden Firnis, den ihr der Geist der Liebe gegeben hatte; diese Gärten,
vor wenigen Tagen der geliebte Aufenthalt aller Freuden und Liebes-Götter,
diese elysischen Haine, diese mäandrischen Rosen-Gebüsche, worin die
lauschende Wollust sich so gerne verborgen hatte, um das Vergnügen zu
haben, sich erhaschen zu lassen--erweckten itzt durch ihren Anblick nichts
mehr, als jeder andre schattichte Platz, jedes andre Gebüsche; die Luft,
die er atmete, war nicht mehr dieser süße Atem der Liebe, von dem jeder
Hauch die Flammen seines Herzens stärker aufzuwehen schien; Danae war
bereits von der idealischen Vollkommenheit zu dem gewöhnlichen Wert einer
jeden andern schönen Frau herabgesunken; und er selbst, der vor kurzem
sich an Wonne den Göttern gleich geschätzet hatte, fing an, sehr starke
Zweifel zu bekommen: Ob er in dieser weibischen Gestalt, worein ihn die
Liebe verkleidet hatte, den Namen eines Mannes verdiene? Man wird nicht
zweifeln, daß in diesem Zustand die Erinnerungen dessen, was er ehemals
gewesen war--der wundervolle Traum, den er je länger je mehr für die
Würkung irgend eines wohltätigen Geistes, und vielleicht des
abgeschiedenen Schattens seiner geliebten Psyche selbst, zu halten bewogen
war--die Stimme der Tugend, die er einst angebetet, und welcher er alles
aufgeopfert hatte--und die Vorwürfe, die sie ihm schon vor einiger Zeit
über ein in müßiger Wollust unrühmlich dahinschmelzendes Leben zu machen
angefangen,--gute Gelegenheit hatten, sein Herz, dessen beste Neigungen
selbst auf ihrer Seite waren, mit vereinigter Stärke wieder anzugreifen.
Sie hatten es fast gänzlich wieder eingenommen, als er erst deutlich
gewahr wurde, wohin ihn die Betrachtungen, denen er sich überließ,
notwendig führen mußten. Er erschrak, da er sah, daß ihm nichts als die
Flucht von dieser allzureizenden Zauberin seine vorige Gestalt wieder
geben könne. Sich von Danae zu trennen! auf ewig zu trennen!--Dieser
Gedanke benahm seiner Seele auf einmal alle die Stärke wieder, welche sie
wieder in sich zu fühlen anfing, und weckte alle Erinnerungen, alle
Empfindungen seiner entschlummerten Leidenschaft wieder auf. Sie, die
ihn so inbrünstig liebte,--sie, die ihn so glücklich gemacht hatte--zu
verlassen--für alle ihre Liebe, für alles was sie für ihn getan hatte, und
auf eine so verbindliche, so edle Art getan hatte, den Qualen einer mit
Undank belohnten Liebe preis zu geben -: Nein, zu einer so
niederträchtigen, so häßlichen Tat, (wie diese in seinen Augen war) konnte
sich sein Herz nicht entschließen. Die Tugend selbst, welcher er seine
eigene Befriedigung aufzuopfern bereit war, konnte ein so undankbares und
grausames Verfahren nicht gut heißen--Wir überlassen es der Entscheidung
kalter Sitten-Lehrer: ob die Tugend das konnte, oder nicht; aber unser
Held war von dem letztern so lebhaft überzeugt, daß er, anstatt auf Gründe
zu denken, womit er die Sophistereien der Liebe hätte vernichten können,
in vollem Ernst auf Mittel bedacht war, das Interesse seines Herzens und
die Tugend, welche ihm nicht unverträglich zu sein schienen, auf immer mit
einander zu vereinigen.

Die zärtliche Danae hatte inzwischen, wie leicht zu erachten ist, die
Veränderung, welche in der Seele unsers Helden vorgegangen war, im ersten
Augenblick, da sie merklich wurde, wahrgenommen. Allein die gute Danae
war weit entfernt, seinem Herzen die Schuld davon zu geben; sie betrog
sich selbst über die wahre Ursache, und glaubte, daß die Veränderung des
Orts, und vielleicht eine kleine Entfernung, ihm in kurzem alle die
Lebhaftigkeit der Empfindung wieder geben würde, die er verloren zu haben
schien. Die Wiederkehr in die Stadt, wo sie einander nicht immer sehen
würden, wo ihre Liebe sich zu verbergen genötigt sein, und dadurch den
Reiz eines geheimen Verständnisses erhalten würde, die Zerstreuungen des
Stadt-Lebens, die Gesellschaft, die Lustbarkeiten, würden ihn (glaubte
sie) bald genug wieder so feuerig als jemals wieder in ihre Arme führen.
Sie überredete ihn also, mit ihr nach Smyrna zurückzugehen, obgleich die
schöne Jahrs-Zeit noch nicht ganz zu Ende war. Hier wußte sie, (ohne daß
es schien, daß sie Hand dabei habe,) eine Menge Gelegenheiten zu
veranstalten, wodurch sie einander seltner wurden; wenn sie sich wieder
allein befanden, flog sie ihm zwar eben so zärtlich in die Arme, als
ehemals; aber sie vermied alles, was zu jener allzuwollüstigen Berauschung
(in welche sie ihn, wenn sie wollte, durch einen einzigen Blick setzen
konnte) geführt hätte, und tat es mit einer so guten Art, daß er keinen
besondern Vorsatz dabei gewahr werden konnte: Kurz, sie wußte die
feurigste Liebe unvermerkt so geschickt in die zärtlichste Freundschaft zu
verwandeln, daß Agathon, welcher weder Kunst noch Absicht unter ihrem
Betragen argwohnte, ganz treuherzig in die Schlinge fiel, und in kurzem
wieder so zärtlich und dringend wurde, als ob er erst anfangen müßte, sich
um ihr Herz zu bewerben. Zwar war es nicht in ihrer Gewalt, ihm diese
Begeisterung mit allem ihrem zauberischen Gefolge wieder zu geben, welche,
wenn sie einmal verschwunden ist, nicht wieder zu kommen pflegt; aber die
Lebhaftigkeit, womit ihre Reizungen auf seine Sinnen, und die Empfindungen
der Dankbarkeit und Freundschaft auf sein Herz würkten, brachten doch
ungefähr die nämliche Phänomena hervor; und da man gewohnt ist, gleiche
Würkungen gleichen Ursachen zu zuschreiben, so ist es nicht unbegreiflich,
wie beide sich eine Zeitlang hierin betrügen konnten, ohne nur zu vermuten,
daß sie betrogen würden.

Es ist sehr zu vermuten, daß es bei dieser schlauen Mäßigung, wodurch die
schöne Danae die Folgen ihrer vorigen Unvorsichtigkeit wieder gut zu
machen wußte, um unsern Helden geschehen gewesen wäre; und daß seine
Tugend unter diesem zweifelhaften Streit mit seiner Leidenschaft, bei
welchem wechselsweise bald die eine, bald die andere die Oberhand behielt,
endlich gefällig genug worden wäre, sich mit ihrer schönen Feindin in
einen vielleicht nicht allzurühmlichen Vergleich einzulassen, und die
Glückseligkeit der liebenswürdigen Danae dadurch auf immer sicher zu
stellen; wenn nicht der unglücklichste Zufall, der ihr mit einem so
sonderbaren Mann, als Agathon war, nur immer begegnen konnte, sie auf
einmal mit seiner Hochachtung alles dessen beraubt hätte, was sie noch im
Besitz seines Herzens erhalten hatte. Eine einst geliebte Person behält
(auch wenn das Fieber der Liebe vorbei ist) noch immer eine große Gewalt
über unser Herz, so lange sie unsere Hochachtung nicht verloren hat.
Agathon war zu edelmütig, die schöne Danae für die Schwachheit, welche sie
gegen ihn gehabt hatte, (das einzige, was die Hochachtung hätte vermindern
können, welche sie durch so viele schöne Eigenschaften des Geistes und des
Herzens verdiente,) dadurch zu bestrafen, daß er ihr deswegen nur das
mindeste von der seinigen entzogen hätte. Aber so bald es dahin gekommen
war, daß er sich in seiner Meinung von ihrem Charakter und moralischen
Werte betrogen zu haben glaubte; so bald er sich gezwungen sah, sie zu
verachten; hörte sie auf, Danae für ihn zu sein; und durch eine ganz
natürliche Folge wurde er in dem nämlichen Augenblick wieder Agathon.







 


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