Mein Leben und Streben
by
Karl May

Part 3 out of 6



Hauptsache war, dass ich mich raechen sollte, raechen an
dem Eigentuemer jener Uhr, der mich angezeigt hatte, nur
um mich aus seiner Wohnung loszuwerden, raechen an
der Polizei, raechen an dem Richter, raechen am Staate,
an der Menschheit, ueberhaupt an jedermann! Ich war
ein Mustermensch, weiss, rein und unschuldig wie ein
Lamm. Die Welt hatte mich betrogen um meine Zukunft,
um mein Lebensglueck. Wodurch? Dadurch, dass
ich das blieb, wozu sie mich gemacht hatte, naemlich ein
Verbrecher.

Das war es, was die Versucher in meinem Innern
von mir forderten. Ich wehrte mich, so viel ich konnte,
so weit meine Kraefte reichten. Ich gab allem, was ich
damals schrieb, besonders meinen Dorfgeschichten, eine
ethische, eine streng gesetzliche, eine koenigstreue Tendenz.
Das tat ich, nicht nur andern sondern auch mir selbst
zur Stuetze. Aber wie schwer, wie unendlich schwer ist
mir das geworden! Wenn ich nicht tat, was diese lauten
Stimmen in mir verlangten, wurde ich von ihnen mit
Hohngelaechter, mit Fluechen und Verwuenschungen
ueberschuettet, nicht nur stundenlang, sondern halbe Tage und
ganze Naechte lang. Ich bin, um diesen Stimmen zu
entgehen, aus dem Bett gesprungen und hinaus in den Regen
und das Schneegestoeber gelaufen. Es hat mich
fortgetrieben, wie weit, wie weit! Ich bin aus der Heimat
fort, um mich zu retten, kein Mensch wusste, wohin, doch
es zog mich wieder und immer wieder zurueck. Niemand
erfuhr, was in mir vorging und wie un- oder gar
uebermenschlich ich kaempfte, weder Vater noch Mutter noch
Grossmutter noch eine der Schwestern. Und noch viel
weniger ein anderer, ein fremder Mensch; man haette mich
ja doch nicht verstanden, sondern mich einfach fuer
uebergeschnappt erklaert. Ob irgend Jemand an meiner Stelle
das ausgehalten haette, dass weiss ich nicht, ich glaube es
aber kaum. Ich war sowohl koerperlich als auch geistig
ein kraeftiger, sogar ein sehr kraeftiger Mensch, aber ich
wurde dennoch mueder und mueder. Es kamen zunaechst
Tage, dann aber ganze Wochen, in denen es vollstaendig
dunkel in mir wurde; da wusste ich kaum oder oft auch
gar nicht, was ich tat. In solchen Zeiten war die lichte
Gestalt in mir vollstaendig verschwunden. Das dunkle
Wesen fuehrte mich an der Hand. Es ging immerfort
am Abgrund hin. Bald sollte ich dies, bald jenes tun,
was doch verboten war. Ich wehrte mich zuletzt nur
noch wie im Traum. Haette ich den Eltern oder doch
wenigstens Grossmutter gesagt, wie es um mich stand, so
waere der tiefe Sturz, dem ich entgegentrieb, gewisslich
unterblieben. Und er kam, nicht daheim in der Heimat,
sondern in Leipzig, wohin mich eine Theaterangelegenheit
fuehrte. Dort habe ich, der ich gar nichts derartiges brauchte,
Rauchwaren gekauft und bin mit ihnen verschwunden, ohne
zu bezahlen. Wie ich es angefangen habe, dies fertig zu
bringen, das kann ich nicht mehr sagen; ich habe es
wahrscheinlich auch schon damals nicht gewusst. Denn fuer mich
ist es sicher und gewiss, dass ich ganz unmoeglich bei klarem
Bewusstsein gehandelt haben kann. Ich weiss von der
darauf folgenden Gerichtsverhandlung gar nichts mehr,
weder im Einzelnen noch im Ganzen. Ich kann mich
auch nicht auf den Wortlaut des Urteils besinnen. Ich
habe bis jetzt geglaubt, dass die Strafe vier Jahre
Gefaengnis betragen habe; nach dem aber, was jetzt hierueber
in den Zeitungen steht, ist es noch ein Monat darueber
gewesen. Doch das ist Nebensache. Hauptsache ist, dass
der Abgrund nicht vergeblich fuer mich offengestanden hatte.
Ich war hinabgestuerzt; ich wurde in das Landesgefaengnis
Zwickau eingeliefert.

Ehe ich mich ueber diese meine Detentien verbreite,
habe ich mich gegen einige Vorurteile und falsche
Anschauungen zu wenden, die sich gegen Alles, was mit dem
Strafvollzug zusammenhaengt, richten und mit denen nun
doch endlich einmal aufgeraeumt werden sollte. Ich habe
manchen gebildeten Mitgefangenen in begreiflicher, aber
unberechtigter Erbitterung drohen hoeren, dass er nach seiner
Entlassung ein Buch ueber seine Gefangenschaft schreiben
werde, um die ebenso schweren wie unzaehligen Maengel
unserer Rechtspflege und unseres Strafvollzuges aufzudecken.
Ein verstaendiger Mann laechelt ueber solche Drohungen,
die zwar ausgesprochen, aber nur hoechst selten ausgefuehrt
werden. Jeder entlassene Gefangene, der Ehrgefuehl
besitzt, ist froh, die Zeit der Strafe hinter sich zu
haben. Es faellt ihm nicht ein, das, was bisher doch nur
wenige wussten, nun, da es ueberstanden ist, an die volle
Oeffentlichkeit zu bringen. Er schweigt also. Und das
ist gut, weil sein Buch, wenn er es schriebe, gewiss
beweisen wuerde, dass unter tausend Gefangenen kaum einer
ist, der ueber sich und seine Bestrafung unbefangen und
sachgemaess zu urteilen vermag. Ich aber glaube, mich
zu dieser Sachlichkeit und Unbefangenheit emporgearbeitet
zu haben; ich halte mein Urteil fuer wohlerwogen und
richtig und fuehle mich verpflichtet, hier folgende Punkte
festzustellen:

Die Zeiten, in denen die Gefaengnisse als "Verbrecherschulen"
bezeichnet werden durften, sind laengst vorueber.
In unseren Strafanstalten geht es nicht weniger moralisch
und nicht weniger human als in der Freiheit zu.

Das, was man einst als "Verbrecherwelt" brandmarkte,
gibt es nicht mehr. Die Bewohnerschaft der
heutigen Strafhaeuser rekrutiert sich aus allen Staenden
des Volkes. Sie setzt sich in Beziehung auf Beruf und
Intelligenz aus denselben Prozentsaetzen zusammen wie die
der "Unbestraften".

An der Tat des Einzelnen ist auch die Gesamtheit schuld.
Sie hat ihn um ihrer selbst willen zu "ent"-schuldigen.

Der deutsche Richterstand ist sich der Wahrheit dieses
Satzes wohlbewusst. Ich habe keinen einzigen Richter
kennen gelernt, auch unter denen, welche gegen mich
entschieden, dem ich einen Vorwurf machen koennte. Die
zahlreichen Prozesse, zu denen meine Gegner mich foermlich
zwingen, geben mir reichlich Gelegenheit, Erfahrungen
zu machen, und ich muss sagen, dass ich alle diese
Herren, sowohl Straf- als auch Zivilrichter, nur
hochachten kann. Ich habe sogar den Fall erlebt, dass ein
Dresdener Richter mir recht gab, obwohl alle seine
Verwandten und Bekannten gegen mich waren und ihn in
diesem Sinne zu beeinflussen suchten. Welche Genugtuung
und welch ein Vertrauen zu dem ganzen Richterstand
dies erweckt, das weiss nur der, der Gleiches wie
ich erlebte.

In Beziehung auf den Strafvollzug habe ich dasselbe
auszusprechen. Ich habe waehrend meiner Gefangenschaft
nicht einen einzigen Oberbeamten oder Aufseher
kennen gelernt, der mir in Beziehung auf Gerechtigkeit
und Humanitaet Grund zu irgend einem Tadel gegeben
haette. Ich behaupte sogar, dass die Aufseher die Strenge
des Dienstes viel staerker empfinden als der Gefangene
selbst. Ich habe Hunderte von Malen eine Guete, eine
Geduld und Langmut bewundert, welche mir unmoeglich
gewesen waere. Das Gefaengnis ist kein Konzerthaus und
kein Tanzsalon, sondern eine sehr, sehr ernste Staette, in
welcher der Mensch zur Erkenntnis seiner selbst zu kommen
hat. Derjenige Detinierte, der so verstaendig ist, sich dies
zu sagen, wird niemals Grund zur Klage, sondern alle
moegliche Hilfe finden, das, was ihm vorzuwerfen war,
vergessen zu machen. Es gab Beamte, die ich herzlich
lieb gewann, und ich bin vollstaendig ueberzeugt, dass ihre
Erwiderung dieser meiner Zuneigung nicht etwa nur
vorgetaeuscht, sondern ehrlich und aufrichtig war.

Wenn die Erfolge unserer Rechtsprechung und unseres
Strafvollzuges trotzdem nicht solche sind, wie wir sie uns
wuenschen, so tragen wahrlich nicht die Richter und auch
nicht die Strafanstaltsbeamten die Schuld, sondern die
Ursachen sind ganz anderswo zu suchen, naemlich in der
Mangelhaftigkeit der Gesetzgebung, in der toerichten
Selbstgerechtigkeit des lieben Naechsten, in gewissen, allzu tief
eingefressenen Vorurteilen und nicht zum geringsten auch
in unserer sogenannten, hochgepriesenen "Kriminalpsychologie",
an welche nur gewisse Fachleute glauben, nicht
aber der wirkliche Menschenkenner und noch viel weniger
der, um den es sich hier eigentlich handelt, naemlich der
sogenannte -- -- -- Verbrecher.

Dies sind die Quellen, aus denen immer wieder neue
Straftaten und neue Rueckfaelle fliessen, obgleich doch sonst
alles moegliche geschieht, diese trueben Wasser einzudaemmen
und nach und nach zum Versiegen zu bringen. Soll ich
sie mit Beispielen belegen und damit sogleich bei der
letzten, der "Kriminalpsychologie", beginnen, so liegen vor
mir mehrere Werke dieses hochinteressanten, aeusserst
strittigen Faches aufgeschlagen, deren Inhalt von Beweisen
dessen, was ich behaupte, geradezu wimmelt. Einer der
Herren Verfasser, ein bekannter Staatsanwalt, zeichnet
sich durch seine zahlreichen Versuche aus, die Gesetzgebung
und den Strafvollzug in mildere, humanere Bahnen zu
lenken. Er hat sich dadurch einen Namen gemacht. Er
wird, wann und wo es sich um diese Humanisierung
handelt, oft genannt und wuerde ein Segen auf diesem
Gebiete sein, wenn er nicht als Kriminalpsychologe das
wieder zerstoerte, was er als Vorkaempfer der Humanitaet
aufzubauen strebt. Ich nenne auch hier keinen Namen,
denn es kommt mir nicht auf die Person, sondern auf die
Sache an. Als Menschenfreund im hoechsten Grade
beachtenswert, kann er als "Seelenforscher" in fast noch
hoeherem Grade unbedachtsam und grausam sein. Indem
er seine oeffentlichen Behauptungen mit Beweisen zu belegen
versucht, laesst er sich so weit hinreissen, Personen,
die vor dreissig und noch mehr Jahren bestraft worden
sind, nun aber sich in muehsam errungener, oeffentlicher
Stellung befinden, mit in seine "psychiatrischen"
Betrachtungen zu ziehen und sie in seinen Schriften derart
kenntlich zu machen, dass jedermann weiss, wen er meint.
Von einem Rechtsanwalt hierueber zur Rede gestellt,
antwortete er, dass er als Wissenschaftler hierzu berechtigt
sei; es gebe einen Paragraphen, der ihm das erlaube.
Ich unterlasse es, kritische Bemerkungen hieran zu knuepfen.
Aber selbst wenn es wahr waere, dass es einen solchen
Paragraphen gibt, wer zwingt den Herrn Staatsanwalt,
einen derartigen Paragraphen zuliebe gegen seine eigene,
sonstige Humanitaet zu handeln und Menschen, die ihm
nie etwas zuleid taten und deren Schutz ihm als dem
Vertreter des Staates obzuliegen hatte, bei lebendigem
Leibe mit dem Messer zu zerschneiden? Falls dieser
Paragraph in Wirklichkeit vorhanden ist, so wird es fuer
den Reichstag hoechste Zeit, ihn einer ernsten Pruefung zu
unterwerfen. Wenn jeder einstige Strafgefangene, mag
er sich noch so hoch emporgearbeitet haben, durch das
Gesetz gezwungen ist, es sich gefallen zu lassen, dass die
Herren Kriminalpsychologen ihn oeffentlich an den
wissenschaftlichen Pranger stellen, so darf man sich gewiss nicht
darueber wundern, dass die Kriminalistik keine Neigung
zur Besserung zeigt. Ich werde im Verlaufe meiner
Darstellungen auf diesen Punkt zurueckkommen muessen.

Was die Mangelhaftigkeit der Gesetzgebung betrifft,
so brauche ich hier nur auf die voellige Schutzlosigkeit der
Vorbestraften gewissen Rechtsanwaelten gegenueber
hinzuweisen. Der groesste Schurke kann durch seinen Anwalt
in den Besitz der diskreten Akten dessen gelangen, den er
verderben will; das wird dann veroeffentlicht, und der
arme Teufel ist verloren! A. ist ein Schuft; B. ist ein
Ehrenmann, aber leider vorbestraft. A. hat die Absicht,
den B. zu vernichten. Er braucht ihn bloss zu beleidigen
und sich von ihm verklagen zu lassen. Er verlangt dann
als Beschuldigter, dass die Strafakten des Klaegers vorgelegt
werden. Das geschieht. Sie werden in oeffentlicher
Verhandlung vorgelesen. A. bekommt zehn Mark
Beleidigungsstrafe; B. aber ist in die fruehere Verachtung
und in das fruehere Elend zurueckgeworfen und wird nun
darauf schwoeren, dass fuer den einmal Bestraften alle Vorsaetze,
sich zu "bessern", nutzlos sind. Wenn er nun rueckfaellig
wird, ist es gewiss kein Wunder. Es gibt leider
nicht wenige Rechtsanwaelte, welche ganz ohne Bedenken
zu dem hoechst unfairen Mittel greifen, die Prozesse, die
in sachlicher Weise nicht zu gewinnen sind, in persoenlich
gehaessiger, ruecksichtsloser Weise zu fuehren. Auch ich selbst
habe es mit solchen Gegnern zu tun gehabt, aber immer
gesehen, dass unsere Richter sich durch derartigen Schmutz
niemals beeinflussen lassen. Ich bin ueberzeugt, dass gerade
diese Herren es mit Freuden begruessen wuerden, wenn
endlich jene gesetzlichen Bestimmungen in Wegfall kaemen,
durch welche es, wie bereits gesagt, jedem Schurken
ermoeglicht ist, laengst Vergangenes und laengst Gesuehntes
wieder aufzudecken. Dann wuerde die bedeutende Zahl der
sogenannten Erbitterungsrueckfaelle wohl bald in Wegfall
kommen.

Dass ich die toerichte Selbstgerechtigkeit des "lieben
Naechsten" anfuehrte, geschah mit vollstem Rechte. Sie ist
und bleibt die Hauptursache der Missstaende, die hier zu
besprechen sind. Ich will keineswegs behaupten, dass dies
auf einem ethischen Mangel beruht. Ich meine vielmehr,
es liegen alte Vorurteile vor, die sich so tief eingefressen
haben, dass man sie gar nicht mehr als Vorurteile
erkennt, sondern fuer Wahrheiten haelt, an denen niemand
zu ruetteln vermag. Der "Verbrecher" war einst vogelfrei;
er ist es auch noch heute. Ein jeder hackt auf ihn ein;
ist es nicht offen, so geschieht es doch heimlich. Er suche
Arbeit, er suche Hilfe, er suche Recht, so wird er jedem
andern nachgesetzt. Es gibt im Leben hundert und
aberhundert Punkte, von denen aus er als minderwertiger
Mensch betrachtet und behandelt wird, und es bedarf von
seiner Seite einer ungewoehnlichen Seelenruhe und einer
seltenen Willenskraft, dies immer wieder und immer
weiter zu ertragen, ohne sich auf die alte Bahn zurueckwerfen
zu lassen. Die groesste Gefahr fuer ihn liegt darin,
dass ihm von dem lieben Naechsten das Ehrgefuehl nach
und nach abgestumpft oder gar getoetet wird. Laesst er es
so weit kommen, so ist er verloren, und die Kriminalistik
gibt ihr entweder erbittertes oder vollstaendig gleichgueltig
gewordenes Opfer nie wieder her. Dies wird und kann
gar nicht anders werden, so lange an dem alten, ebenso
unsinnigen wie grausamen Vorurteil festgehalten wird,
dass jeder bestrafte Mensch fuer die ganze Zeit seines
Lebens als "Verbrecher" zu betrachten sei. Kuerzlich kam
in Charlottenburg der Fall vor, dass jemand, der vor
ueber vierzig Jahren bestraft worden war, sich seitdem
aber gut gefuehrt hatte, von einem uebelwollenden Menschen
als "geborener Verbrecher" bezeichnet wurde. Der
Beleidigte verklagte den Beleidiger, doch dieser wurde
freigesprochen. Heisst das nicht, einen armen Menschen, der
sich mit aeusserster Willenskraft aus dem Abgrund
emporgearbeitet und vierzig Jahre lang oben bewaehrt hat, mit
brutaler Gewalt wieder hinunterwerfen? -- --

Da unten lag auch ich. Indem ich hierueber weiter
berichte, ist es keineswegs meine Absicht, dies in der
Weise zu tun, wie aufregungsbeduerftige, sensationsluesterne
Leser es wuenschen. Es ist mehr als genug, wenn man
solche Dinge nur einmal erlebt. Ist man gezwungen, sie
zum zweitenmale zu erleben, indem man sie fuer andere
niederschreibt, so besitzt man gewiss die Berechtigung, sich
so kurz wie moeglich zu fassen. Von dieser Berechtigung
mache ich hiermit Gebrauch.

Ich fand bei meiner Einlieferung in die Strafanstalt
eine ernste, aber keineswegs verletzende Aufnahme. Wer
hoeflich ist, sich den Hausgesetzen fuegt und nicht dummer
Weise immerfort seine Unschuld beteuert, wird nie ueber
Haerte zu klagen haben. Was die Beschaeftigung betrifft,
die man fuer mich auswaehlte, so wurde ich der Schreibstube
zugeteilt. Man kann hieraus ersehen, wie fuersorglich
die Verhaeltnisse der Gefangenen von der Direktion
beruecksichtigt werden. Leider aber hatte diese Fuersoge in
meinem Falle nicht den erwarteten Erfolg. Naemlich ich
versagte als Schreiber so vollstaendig, dass ich als
unbrauchbar erfunden wurde. Ich hatte als Neueingetretener
das Leichteste zu tun, was es gab; aber auch das brachte
ich nicht fertig. Das fiel auf. Man sagte sich, dass es
mit mir eine ganz besondere Bewandtnis haben muesse,
denn schreiben musste ich doch koennen! Ich wurde Gegenstand
besonderer Beachtung. Man gab mir andere Arbeit,
und zwar die anstaendigste Handarbeit, die man hatte.
Ich kam in den Saal der Portefeuillearbeiter und wurde
Mitglied einer Riege, in welcher feine Geld- und
Zigarrentaschen gefertigt wurden. Diese Riege bestand mit mir
aus vier Personen, naemlich einem Kaufmann aus Prag,
einem Lehrer aus Leipzig, und was der vierte war, das
konnte ich nicht erfahren; er sprach niemals davon. Diese
drei Mitarbeiter waren liebe, gute Menschen. Sie arbeiteten
schon seit laengerer Zeit zusammen, standen bei den
Vorgesetzten in gutem Ansehen und gaben sich alle
moegliche Muehe, mir die Lehrzeit und ueberhaupt die schwere
Zeit so leicht wie moeglich zu machen. Nie ist ein
unschoenes oder gar verbotenes Wort zwischen uns gefallen.
Unser Arbeitssaal fasste siebzig bis achtzig Menschen. Ich
habe unter ihnen nicht einen einzigen bemerkt, dessen
Verhalten an die Behauptung erinnert haette, dass das
Gefaengnis die hohe Schule der Verbrecher sei. Im
Gegenteil! Jeder einzelne war unausgesetzt bemueht, einen
moeglichst guten Eindruck auf seine Vorgesetzten und
Mitgefangenen zu machen. Vom Schmieden schlimmer Plaene
fuer die Zukunft habe ich waehrend meiner ganzen
Gefangenschaft niemals etwas gehoert. Haette irgend einer
gewagt, so etwas zu verlautbaren, so waere er, wenn nicht
angezeigt, so doch auf das energischste zurueckgewiesen
worden.

Der Aufseher dieses Saales oder, wie es dort genannt
wurde, dieser Visitation hiess Goehler. Ich nenne
seinen Namen mit grosser, aufrichtiger Dankbarkeit. Er
hatte mich zu beobachten und kam, obwohl er von Psychologie
nicht das geringste verstand, nur infolge seiner
Humanitaet und seiner reichen Erfahrung meinem inneren
Wesen derart auf die Spur, dass seine Berichte ueber mich,
wie sich spaeter herausstellte, die Wahrheit fast erreichten.
Er hatte, wie wohl alle diese Aufseher, frueher beim
Militaer gestanden, und zwar bei der Kapelle, als erster
Pistonblaeser. Darum war ihm das Musik- und Blaeserkorps
der Gefangenen anvertraut. Er gab des Sonntags
in den Visitationen und Gefaengnishoefen Konzerte,
die er sehr gut dirigierte. Auch hatte er bei Kirchenmusik
die Saenger mit seiner Instrumentalmusik zu begleiten.
Leider aber besass weder er noch der Katechet,
dem das Kirchenkorps unterstand, die noetigen theoretischen
Kenntnisse, die Stuecke, welche gegeben werden sollten, fuer
die vorhandenen Kraefte umzuarbeiten oder, wie der
fachmaennische Ausdruck heisst, zu arrangieren. Darum hatten
beide Herren schon laengst nach einem Gefangenen gesucht,
der diese Luecke auszufuellen vermochte; es war aber keiner
vorhanden gewesen.

Jetzt nun kam der Aufseher Goehler infolge seiner
Beobachtung meines seelischen Zustandes auf die Idee, mich
in sein Blaeserkorps aufzunehmen, um zu sehen, ob das
vielleicht von guter Wirkung auf mich sei. Er fragte bei
der Direktion an und bekam die Erlaubnis. Dann fragte
er mich, und ich sagte ganz selbstverstaendlich auch nicht
nein. Ich trat in die Kapelle ein. Es war gerade nur
das Althorn frei. Ich hatte noch nie ein Althorn in den
Haenden gehabt, blies aber schon bald ganz wacker mit.
Der Aufseher freute sich darueber. Er freute sich noch
mehr, als er erfuhr, dass ich Kompositionslehre getrieben
habe und Musikstuecke arrangieren koenne. Er meldete das
sofort dem Katecheten, und dieser nahm mich unter die
Kirchensaenger auf. Nun war ich also Mitglied sowohl
des Blaeser- als auch des Kirchenkorps und beschaeftigte
mich damit, die vorhandenen Musikstuecke durchzusehen und
neue zu arrangieren. Die Konzerte und Kirchenauffuehrungen
bekamen von jetzt an ein ganz anderes Gepraege.

Ich muss erwaehnen, dass diese musikalischen Arbeiten
nur Nebenarbeiten waren. Ich wurde durch sie keineswegs
von dem Arbeitspensum entbunden, welches jeder
Gefangene pro Tag zu liefern hat, wenn er vermeiden
will, sich Unannehmlichkeiten auszusetzen. Dieses Pensum
ist nicht zu hoch gestellt; ein jeder Arbeitswillige kann es
liefern. Wer geschickt ist, der liefert es sogar in wenigen
Stunden. Darum blieb mir reichlich genug Zeit fuer
meine kompositionelle Beschaeftigung uebrig, die ich nicht
aufgab, auch als ich aus der Visitation der
Portefeuillearbeiter versetzt worden war. Es wurde mir naemlich
mein inniger Wusch erfuellt, isoliert zu werden.

Ich hatte gleich bei meiner Einlieferung gebeten, eine
Zelle fuer mich allein zu bekommen; die Erfuellung dieses
Wunsches war aber nicht angaengig gewesen. Erst nun,
da man ueber mich zu einem psychologisch abgeschlossenen
Resultate kam, wurde ich in das Isolierhaus versetzt und
unmittelbar neben dem Arbeitsraume des Inspektors
desselben einquartiert. Er war ein hochgebildeter, sehr
pflichtbewusster und humaner Herr, dessen besonderer Schreiber
ich wurde. Das war eine Stelle, die es bis dahin noch
nicht gegeben hatte. Ich mache hier auf den psychologisch
bedeutungsvollen Umstand aufmerksam, dass ich zur Zeit
meiner Einlieferung vollstaendig unfaehig gewesen war,
Schreiber zu sein, nun aber fuer faehig gehalten wurde,
eine Schreiberstelle zu bekleiden, welche grosse geistige Um-
und Einsicht erforderte und die hoechste Vertrauensstelle
war, die es in der ganzen Anstalt gab. Mein Inspektor
war naemlich neben seiner Direktion des Isolierhauses
noch beruflich schriftstellerisch taetig. Diese seine Taetigkeit
bezog sich auf die besondere Statistik unserer Anstalt und
auf das Wesen und die Aufgaben des Strafvollzuges
ueberhaupt. Er schrieb die hierauf bezueglichen Berichte
und stand mit allen hervorragenden Maennern des
Strafvollzuges in lebhafter Korrespondenz. Meine Aufgabe
war, die statistischen Ziffern zu ermitteln, sie auf ihre
Zuverlaessigkeit zu untersuchen, sie zusammenzustellen, zu
vergleichen und dann die Resultate aus ihnen zu ziehen.
Das war an und fuer sich eine sehr schwere, anstrengende
und scheinbar langweilige Beschaeftigung mit leblosem
Ziffernwerk; aber diese Ziffern zu Gestalten zusammenzusetzen
und diesen Gestalten Leben und Seele einzuhauchen,
ihnen Sprache zu verleihen, das war im hoechsten Grade
interessant, und ich darf wohl sagen, dass ich da viel, sehr
viel gelernt habe und dass mich diese Arbeiten in stiller,
einsamer Zelle in Beziehung auf Menschheitspsychologie
viel weiter vorwaerts gebracht haben, als ich ohne
diese Gefangenschaft jemals gekommen waere. Dass mir
hierzu nur die besten und zuverlaessigsten Unterlagen zu
Gebote standen, versteht sich ganz von selbst. Es sind mir
da ganz eigenartige Lichter aufgegangen. Ich habe da
in die tiefsten Tiefen des Menschenlebens geschaut und
Dinge gesehen, die andere niemals sehen werden, weil sie
keine Augen dafuer haben. Ich habe da erkannt, dass
Grossmutters Maerchen die Wahrheit sagt, dass es ein
Dschinnistan und ein Ardistan gibt, ein ethisches Hochland
und ein ethisches Tiefland, und dass die Hauptbewegung,
an der wir alle teilzunehmen haben, nicht von
oben nach unten geht, sondern von unten nach oben,
empor, empor zur Befreiung von der Suende, hinauf,
hinauf zur Edelmenschlichkeit. Diese Erkenntnis ist mir
von groesstem Segen gewesen; sie hat auch mich selbst
befreit. Ich habe die in mir schreienden Stimmen, von
denen ich weiter oben sprach, auch in der Zelle
vernommen. Ich habe mit ihnen gekaempft und sie stets zum
Schweigen gebracht. Sie kehrten zwar zurueck; sie liessen
sich wieder hoeren, doch in immer laengern Zwischenraeumen,
bis ich endlich annehmen konnte, dass sie ganz und fuer
immer stumm geworden seien.

Ausserdem hatte ich die Bibliothek der Gefangenen
zu verwalten, und auch die Bibliothek der Beamten stand
mir offen. Die Werke der letzteren bezogen sich nicht etwa
nur auf Strafrecht und auf Strafvollzug, sondern es waren
alle Wissenschaften vertreten. Ich habe diese koestlichen,
inhaltsreichen Buecher nicht nur gelesen, sondern studiert
und sehr viel daraus gewonnen. Und es waren nicht nur
die Werke der Anstaltsbibliotheken, die mir zur
Verfuegung standen, sondern man zeigte sich auch gern
bereit, mir solche von auswaerts zugaengig zu machen. Es
war mir ein unwiderstehliches Beduerfnis, die Ruhe und
Ungestoertheit der Zelle so viel wie moeglich fuer mein
geistiges Vorwaertskommen auszunutzen, und die Beamten
hatten ihre Freude daran, mir hierzu in jeder, den
Anstaltsgesetzen nicht widersprechenden Weise behilflich zu sein.
So verwandelte sich fuer mich die Strafzeit in eine
Studienzeit, zu der mir groessere Sammlung und groessere
Vertiefungsmoeglichkeit geboten war, als ein Hochschueler
jemals in der Freiheit findet. Ich werde ueber diesen grossen,
unschaetzbaren Gewinn, den die Gefangenschaft mir brachte,
noch fernerhin sprechen. Noch heut bin ich ganz
besonders dankbar dafuer, dass es mir nicht verboten war,
mir fremdsprachige Grammatiken anzuschaffen und hierdurch
den eigentlichen Grund zu meinen spaeteren Reisearbeiten
zu legen, die aber bekanntlich gar keine Reisearbeiten
sind, sondern ein ganz anderes, bis jetzt unbebautes
Genre bilden sollen. Doch ist es fuer jetzt nicht
meine Absicht, mich ueber diese meine Studien zu verbreiten,
sondern ich habe mich hier allein und ganz besonders
mit dem Umstand zu befassen, dass die mir anvertraute
Verwaltung der Gefangenenbibliothek mir Gelegenheit
zu hoechst wichtigen Beobachtungen und Erfahrungen
gab, unter deren Einfluss meine schriftstellerische
Taetigkeit sich zu der gestaltete, die sie geworden ist.

Wenn ich behaupte, dass ich die literarischen Beduerfnisse,
oder sagen wir, die Lesebeduerfnisse der Volksseele
kennen lernte, so bitte ich, diese Behauptung ernst
zu nehmen. Man soll nicht sagen, dass jeder
Volksbibliothekar und jeder Leihbibliothekar genau dieselben
Erfahrungen machen koenne, denn das ist nicht wahr.
Ein Leser in Freiheit und ein Leser in Haft, das sind
zwei ganz verschiedene Gestalten. Bei dem Letzteren kann
das Lesen geradezu zum seelischen Existenzbeduerfnisse
werden. Sein Wesen wendet sich, es kehrt sich um. Die
aeussere Persoenlichkeit hat unter der Anstaltszucht ihre
Geltung aufgegeben; die innere tritt hervor. Und diese
ist es, die von dem Beamten, von der Anstaltserziehung
erkannt und gepackt werden muss, wenn der menschlich
grosse, humane Zweck der Strafe erreicht werden soll,
moralische Erhebung und Festigung, Aussoehnung zwischen
der Gesellschaft und dem sogenannten Verbrecher, die
sich beide aneinander versuendigten. Dieses Hervortreten
der innern Persoenlichkeit ist in der Freiheit eine Ausnahme,
in der Gefangenschaft aber die Regel. Der Gefangene
hat waehrend seiner Detention auf alle seine leiblichen
Sonderrechte zu verzichten. In leiblicher Beziehung
ist er nicht mehr Person, sondern nur noch Sache, eine
Nummer, die in den Buechern eingetragen wird und bei
der man ihn auch nennt. Um so kraeftiger, ja ungestuemer
tritt seine innere Gestalt, seine Seele hervor, um sich,
ihre Rechte und Beduerfnisse geltend zu machen. Der
Leib ist gezwungen, sich in die Gefaengniskleidung und
Gefaengniskost zu fuegen. Wehe, wenn man den Fehler
begeht, den gleichen Zwang auch auf die Seele ausueben
zu wollen! Sie strebt mit Macht heraus aus dem
Gefaengniskleide, und sie verlangt mit Heisshunger nach einer
Kost, an der sie ethisch gesunden und erstarken kann, um
sich von den Fesseln, in denen sie bisher schmachtete, zu
befreien. Man glaube mir, kein Straefling wuenscht das
Boese fuer sich; sie alle wuenschen das Gute. Im tiefsten
Herzensgrunde hat jeder den Trieb, nicht nur koerperlich
sondern auch moralisch frei zu sein, sogar der scheinbar
Unverbesserliche. Woher aber soll diese nackte, hungrige
Seele sich gut kleiden und gut naehren, naemlich gut im
ethischen Sinne? Aus sich selbst heraus? Aus den
sonntaeglichen Anstaltspredigten? Aus den wenigen, kurzen
Besuchen der Anstaltsgeistlichen und anderer Beamten?
Aus dem Zusammenleben mit den Strafgefaehrten? Man
beantworte diese Fragen, wie man will, die Hauptquelle
aller Erziehung, Besserung und Emporhebung kann bei
derartig gegebenen Verhaeltnissen nur die Bibliothek sein.
Der Gefangene, der sich so fuehrt, dass ihm das Lesen
nicht verboten werden muss, bekommt pro Woche ein Buch.
Der Inhalt desselben bildet sieben Tage lang die seelische
Kost fuer den nach Nahrung Schmachtenden. Er darf
sich das Buch nicht waehlen; er muss nehmen, was er
bekommt. Was man ihm gibt, kann ihm zum Glueck, kann
ihm zum Unglueck werden, kann ihm Belehrung oder Strafe
sein, kann ihn zur Selbsterkenntnis und zur Einsicht bringen,
ihn aber auch empoeren und verhaerten. Einer meiner
Mitgefangenen, ein geistreicher Bankier, hatte dreiviertel Jahre
lang weiter nichts als alte "Frauendorfer Blaetter" zu
lesen bekommen, trockene Unterweisungen im Gartenbau,
die ihn weder interessieren noch ihm irgendeinen Nutzen
bringen konnten. Er trug es in steigender Erbitterung,
bis ich die Bibliothek ueberkam [sic] und ihm Passenderes gab.
Einen Schauspieler, der ein Feuerkopf war, hatten Jeremias
Gotthelfs Erzaehlungen derart ausser sich gebracht,
dass er nahe daran stand, wegen Ungebuehr bestraft zu
werden. Das letzte, was er hatte lesen muessen, hatte
den Titel gehabt "Wie fuenf Maedchen im Branntwein
jaemmerlich umkommen." Als ich ihm einen Band von
Edmund Hoefer gab, war er so froh, als ob ich ihm ein Vermoegen
geschenkt haette. Ein sozialdemokratischer Klempnermeister
war einer langen Reihe von Erbauungsbuechern
zum Opfer gefallen. Er schwor mir wuetend zu, dass es
schon um dieser Buecher willen keinen Herrgott geben
koenne. Er habe nur aus bitterer Not Bankrott gemacht;
die Verfasser und Herausgeber dieser Schriften aber seien
aus Selbstgerechtigkeit und Uebermut bankrott und
verdienten wenigstens dieselbe Gefaengnisstrafe wie er.

Aus solchen Beispielen geht hervor, wie genau ich
zunaechst meine Bibliothek und sodann auch die Beduerfnisse
ihrer Leser kennen zu lernen hatte. Das war mit
ernsten und schwierigen psychologischen Erwaegungen
verbunden und fuehrte zu dem betruebenden Schlussresultate,
dass eigentlich solche Buecher, wie wir sie brauchten,
nur ganz wenige vorhanden waren. Sie fehlten nicht
nur in unserer Gefaengnisbibliothek, sie fehlten auch
ueberhaupt in der Literatur. Ich dachte an meine Knabenzeit,
an die Traktaetchen, die ich da gelesen und an den Schund,
der mich da vergiftet hatte; ich dachte weiter, und ich
verglich. Da daemmerte in mir eine Erkenntnis auf. Sind
nur die Bewohner der Strafanstalten detiniert? Ist nicht
eigentlich jeder Mensch ein Gefangener? Stecken nicht
Millionen von Menschen hinter Mauern, die man zwar
nicht mit den Augen sieht, die aber doch nur allzu
fuehlbar vorhanden sind? Ist es nur fuer die Bewohner der
Strafanstalt der Leib, der gebaendigt werden muss, damit
der hoehere, von oben stammende Teil unseres Wesens zur
Geltung kommen moege? Muss nicht ueberhaupt bei allen
Sterblichen, also bei der ganzen Menschheit, alles Niedrige
gefesselt werden, damit die hierdurch die Freiheit
gewinnende Seele sich zum hoechsten irdischen Ideale, zur
Edelmenschlichkeit, erheben koenne? Und sind es nicht die
Religion, die Kunst, die Literatur, die uns aus solcher
Tiefe zu solcher Hoehe fuehren sollen? Die Literatur, der
auch ich, der an die enge Zelle geschmiedete Gefangene,
mit angehoere!

Auf diesem Gedankenpfade weitergehend, gelangte ich
zu Betrachtungen und Schluessen, die scheinbar hoechst
seltsam, im Grunde genommen aber ganz natuerlich waren.
Es wurde zwischen meinen vier engen Waenden hell; sie
weiteten sich. Erst ahnte ich, dann sah ich und endlich
erkannte ich die zwar verborgenen aber doch innigen
Zusammenhaenge zwischen dem Kleinsten und dem Groessten,
dem Koerperlichen und dem Seelischen, dem Leiblichen und
dem Geistigen, dem Endlichen und dem Unendlichen.
Das war der Zeitpunkt, an dem ich begann, die lieben,
alten Maerchen meiner Grossmutter in ihrer tiefen
Bedeutung zu begreifen. Ich lag naechtelang wach und
dachte nach. Ich war angekettet im tiefsten, niedrigsten,
verachtetsten Ardistan und schickte meine ganze Sehnsucht
und alle meine Gedanken zum hellen, freien Dschinnistan
empor. Ich stellte mir vor, die verloren gegangene
Menschenseele zu sein, die niemals wiedergefunden werden
kann, wenn sie sich nicht selbst wiederfindet. Dieses
Wiederfinden kann nie hoch oben in Dschinnistan, sondern nur
hier unten in Ardistan geschehen, im Erdenleid, in der
Menschheitsqual, bei der Traeberkost des verlorenen Sohnes
unserer biblischen Geschichte. Meine Phantasie begann,
das, was ich suchte, in Form zu fassen, um es ergreifen
und festhalten zu koennen. Es wohnte und lebte in mir.
Aber nicht nur da, sondern auch ausserhalb, allueberall, in
jedem andern Menschen, auch im Menschengeschlecht, als
Grosses und Ganzes gedacht. Da entstand in mir meine
Marah Durimeh, die grosse, herrliche Menschheitsseele,
der ich die Gestalt meiner geliebten Grossmutter gab. Da
tauchte zum ersten Male mein Tatellah-Satah in mir
auf, jener geheimnisvolle "Bewahrer der grossen Medizin",
den meine Leser im dreiunddreissigsten meiner Baende
kennen gelernt haben. Und da wurde auch der Gedanke
"Winnetou" geboren. Wohlverstanden, nur der Gedanke,
nicht aber er selbst, den ich erst spaeter fand. Damals
habe ich die psychologischen Werke der Beamtenbibliothek
und alle andern, die mir zugaengig wurden -- fast
verschlungen, haette ich beinahe gesagt; aber das wuerde nicht
wahr sein, denn ich habe sie langsam, Wort fuer Wort
zerlegt und jedes einzelne Wort mit einer Bedachtsamkeit
in mir aufgenommen, die hoechst wahrscheinlich nicht
allzu haeufig ist; aber ich habe das wie atemlos und mit
einem Hunger, mit einem Eifer getan, als ob mein Leben,
meine Seligkeit davon abhaenge, mir innerlich klar zu
werden. Und als ich dann glaubte, mich auf dem richtigen
Wege zu befinden, da griff ich in meine Kinderzeit
zurueck und holte den alten, kuehnen Wunsch hervor, "ein
Maerchenerzaehler zu werden, wie du, Grossmutter bist."
Ich befand mich ja an einem der groessten und reichsten
Fundorte alles dessen, was da zu erzaehlen war, im
Gefaengnisse. Da kondensiert und verdichtet sich alles, was
draussen in der Freiheit so leicht und so duenn vorueberfliesst,
dass man es nicht ergreifen und noch viel weniger
betrachten kann. Und da erheben sich die Gegensaetze, die
draussen sich wie auf ebener Flaeche vermischen, so bergeshoch,
dass in dieser Vergroesserung Alles offenbar wird,
was anderwaerts in Heimlichkeit verborgen bleibt. Ich
hatte sie vor mir aufgeschlagen, die anspruchsvollen,
hochgelehrten Werke ueber Psychologie, besonders ueber
Kriminalpsychologie. Fast jede Zeile war mir eingepraegt. Sie
enthielten die Theorie, ein Konglomerat von Raetseln und
Problemen. Die Praxis aber lag rund um mich her, in
ebenso klarer wie erschuetternder Aufrichtigkeit. Welch ein
Unterschied zwischen beiden? Wo war die Wahrheit zu
suchen? In den aufgeschlagenen Buechern oder in der
aufgeschlagenen Wirklichkeit? In beiden! Die Wissenschaft
ist wahr, und das Leben ist wahr. Die Wissenschaft
irrt, und das Leben irrt. Ihre beiderseitigen Wege
fuehren ueber den Irrtum zur Wahrheit; dort muessen sie
sich treffen. Wo diese Wahrheit liegt und wie sie lautet,
das koennen wir nur ahnen. Es ist nur einem einzigen
Auge vergoennt, sie vorauszusehen, und das ist das Auge
des -- -- Maerchens. Darum will ich Maerchenerzaehler
sein, nichts Anderes als Maerchenerzaehler, ganz so, wie
Grossmutter es war! Ich brauche nur die Augen zu
oeffnen, so sehe ich sie aufgespeichert, diese Hunderte und
Aberhunderte von fleischgewordenen Gleichnissen und nach
Erloesung trachtenden Maerchen. In jeder Zelle eins und
auf jedem Arbeitsschemel eins. Lauter schlafende
Dornroeschen, die darauf warten, von der Barmherzigkeit und
Liebe wachgekuesst zu werden. Lauter in Fesseln schmachtende
Seelen, in alten Schloessern, die in Gefaengnisse
umgewandelt sind, oder in modernen Riesenbauten, in denen
Humanitaet von Zelle zu Zelle, von Schemel zu Schemel
geht, um aufzuwecken und freizumachen, was des Aufwachens
und der Freiheit wert sich zeigt. Ich will zwischen
Wissenschaft und Leben vermitteln. Ich will Gleichnisse
und Maerchen erzaehlen, in denen tief verborgen die
Wahrheit liegt, die man auf andere Weise noch nicht zu
erschauen vermag. Ich will Licht schoepfen aus dem Dunkel
meines Gefaengnislebens. Ich will die Strafe, die mich
getroffen hat, in Freiheit fuer andere verwandeln. Ich
will die Strenge des Gesetzes, unter der ich leide, in ein
grosses Mitleid mit allen denen, die gefallen sind,
verkehren, in eine Liebe und Barmherzigkeit, vor der es
schliesslich kein "Verbrechen" mehr und keine "Verbrecher"
gibt, sondern nur Kranke, Kranke, Kranke.

Aber kein Mensch darf ahnen, dass das, was ich erzaehle,
nur Gleichnisse und nur Maerchen sind, denn wuesste
man das, so wuerde ich nie erreichen, was ich zu erreichen
gedenke. Ich muss selbst zum Maerchen werden, ich selbst,
mein eigenes Ich. Es wird das freilich eine Kuehnheit
sein, an der ich leicht zugrunde gehen kann, was aber
liegt am Schicksal eines kleinen Einzelmenschen, wenn es
sich um grosse, riesig emporstrebende Fragen der ganzen
Menschheit handelt? An dem winzigen Schicksaelchen eines
verachteten Gefangenen, der fuer die Gesellschaft schon so
und ueberhaupt verloren ist, wenn sich die Art und Weise,
in der man ueber das "Verbrechen" denkt und spricht,
nicht baldigst aendert!

Das war ein Gedanke, der mir ganz ploetzlich kam,
sich aber tief einnistete und mich nicht wieder verliess.
Er gewann Macht ueber mich; er wurde gross. Er nahm
endlich meine ganze Seele ein, und zwar wohl deshalb,
weil er in sich die Erfuellung alles dessen barg, was schon
von meiner Kindheit an Wunsch und Hoffnung in
mir lebte. Ich hielt ihn fest, diesen Gedanken; ich
erweiterte und vertiefte ihn; ich arbeitete ihn aus. Er
hatte mich, und ich hatte ihn; wir wurden beide identisch.
Aber das geschah nicht schnell, sondern es brauchte eine lange,
lange Zeit, und es gingen noch truebere und noch schwerere
Tage dahin, als die gegenwaertigen waren, ehe ich meinen
Arbeitsplan entwickelte und derart festgelegt hatte, dass
an ihm nichts mehr zu aendern war. Ich nahm mir vor,
zunaechst noch weiter an meinen Humoresken und erzgebirgischen
Dorfgeschichten zu schreiben, um der deutschen
Leserwelt bekannt zu werden und ihr zu zeigen, dass ich
mich absolut nur auf gottesglaeubigem Boden bewege.
Dann aber wollte ich zu einem Genre greifen, welches
im allgemeinsten Interesse steht und die groesste
Eindrucksfaehigkeit besitzt, naemlich zur Reiseerzaehlung. Diesen
Erzaehlungen wirkliche Reisen zugrunde zu legen, war nicht
absolut notwendig; sie sollten ja doch nur Gleichnisse
und nur Maerchen sein, allerdings ausserordentlich
vielsagende Gleichnisse und Maerchen. Trotzdem aber waren
Reisen wuenschenswert, zu Studienzwecken, um die verschiedenen
Milieus kennen zu lernen, in denen meine Gestalten
sich zu bewegen hatten. Vor allem galt es, sich
tuechtig vorzubereiten, Erdkunde, Voelkerkunde, Sprachkunde
treiben. Ich hatte meine Sujets aus meinem eigenen
Leben, aus dem Leben meiner Umgebung, meiner Heimat
zu nehmen und konnte darum stets der Wahrheit gemaess
behaupten, dass Alles, was ich erzaehle, Selbsterlebtes und
Miterlebtes sei. Aber ich musste diese Sujets hinaus
in ferne Laender und zu fernen Voelkern versetzen, um ihnen
diejenige Wirkung zu verleihen, die sie in der heimatlichen
Kleidung nicht besitzen. In die Praerie oder unter Palmen
versetzt, von der Sonne des Morgenlandes bestrahlt oder
von den Schneestuermen des Wilden Westens umtobt, in
Gefahren schwebend, welche das staerkste Mitgefuehl der
Lesenden erwecken, so und nicht anders mussten alle meine
Gestalten gezeichnet sein, wenn ich mit ihnen das erreichen
wollte, was sie erreichen sollten. Und dazu hatte ich in
allen den Laendern, die zu beschreiben waren, wenigstens
theoretisch derart zu Hause zu sein, wie ein Europaeer
es nur immer vermag. Es galt also zu arbeiten, schwer
und angestrengt zu arbeiten, um mich vorzubereiten, und
dazu war der stille ungestoerte Gefaengnisraum, in dem
ich lebte, grad so die richtige Stelle.

Es gibt irdische Wahrheiten, und es gibt himmlische
Wahrheiten. Die irdischen Wahrheiten werden uns durch
die Wissenschaft, die himmlischen durch die Offenbarung
gegeben. Die Wissenschaft pflegt ihre Wahrheiten zu
beweisen; was die Offenbarung behauptet, wird von den
Gelehrten hoechstens als glaubhaft, nicht aber als bewiesen
betrachtet. So eine himmlische Wahrheit steigt an den
Strahlen der Sterne zur Erde nieder und geht von Haus
zu Haus, um anzuklopfen und eingelassen zu werden.
Sie wird ueberall abgewiesen, denn sie will geglaubt sein,
aber das tut man nicht, weil sie keine gelehrte Legitimation
besitzt. So geht sie von Dorf zu Dorf, von Stadt zu
Stadt, von Land zu Land, ohne erhoert und aufgenommen
zu werden. Da steigt sie am Strahl der Sterne wieder
himmelan und kehrt zu dem zurueck, von dem sie ausgegangen
ist. Sie klagt ihm weinend ihr Leid. Er aber
laechelt mild und spricht: "Weine nicht! Geh' wieder
zur Erde nieder, und klopfe bei dem Einzigen an, dessen
Haus du noch nicht fandest, beim Dichter. Bitte ihn,
dich in das Gewand des Maerchens zu kleiden, und versuche
dann dein Heil noch einmal!" Sie gehorcht. Der
Dichter nimmt sie liebend auf und kleidet sie. Sie
beginnt ihren Gang als Maerchen nun von Neuem, und
wo sie anklopft, ist sie jetzt willkommen. Man oeffnet ihr
die Tueren und die Herzen. Man lauscht mit Andacht
ihren Worten; man glaubt an sie. Man bittet sie, zu
bleiben, denn jeder hat sie liebgewonnen. Sie aber muss
weiter, immer weiter, um zu erfuellen, was ihr aufgetragen
worden ist. Doch geht sie nur als Maerchen; als Wahrheit
aber bleibt sie zurueck. Und wenn man sie auch nicht
sieht, sie ist doch da und herrscht im Haus, fuer alle
Folgezeiten.

So, das ist das Maerchen! Aber nicht das Kindermaerchen,
sondern das wahre, eigentliche, wirkliche Maerchen,
trotz seines anspruchslosen, einfachen Kleides die
hoechste und schwierigste aller Dichtungen, der in ihm
wohnenden Seele gemaess. Und einer jener Dichter, zu
denen die ewige Wahrheit kommt, um sie kleiden zu lassen,
wollte ich sein! Ich weiss gar wohl, welche Kuehnheit
des war. Doch gestehe ich es, ohne mich zu fuerchten.
Die Wahrheit ist so verhasst und das Maerchen so
verachtet, wie ich selbst es bin; wir passen zueinander.
Das Maerchen und ich, wir werden von Tausenden gelesen,
ohne verstanden zu werden, weil man nicht in die Tiefe
dringt. Wie man behauptet, dass das Maerchen nur fuer
Kinder sei, so bezeichnet man mich als "Jugendschriftsteller",
der nur fuer unerwachsene Buben schreibe. Kurz,
ich brauche mich gar nicht zu entschuldigen, dass ich so
verwegen gewesen bin, nur ein Maerchen- und
Gleichnisschriftsteller sein zu wollen. Gleicht doch mein "Leben
und Streben" schon an und fuer sich selbst einem Maerchen,
und sind es doch fast unzaehlige Fabeln und Maerchen, mit
denen meine Person von gegnerischer Seite umkleidet
worden ist! Und wenn ich mich dagegen verwahre, so
glaubt man mir ebenso wenig, wie Mancher dem Maerchen
glaubt. Aber, wie jedes echte Maerchen doch endlich
einmal zur Wahrheit wird, so wird auch alles an mir zur
Wahrheit werden, und was man mir heut nicht glaubt,
das wird man morgen glauben lernen.

Also alle meine Reiseerzaehlungen, die ich zu schreiben
beabsichtigte, sollten bildlich, sollten symbolisch sein. Sie
sollten Etwas sagen, was nicht auf der Oberflaeche lag.
Ich wollte Neues, Beglueckendes bringen, ohne meine Leser
mit dem Alten, Bisherigen in Kampf und Streit zu
verwickeln. Und was ich zu sagen hatte, das musste ich
suchen lassen; ich durfte es nicht offen vor die Tueren
legen, weil man Alles, was man so billig bekommt, liegen
zu lassen pflegt und nur das zu schaetzen weiss, was man
sich muehsam zu erringen hat. Es waere ein unverzeihlicher
Fehler gewesen, gleich von vornherein anzudeuten, dass
meine Reiseerzaehlungen bildlich zu nehmen seien. Man
haette mich einfach nicht gelesen, und Alles, was ich loesen
wollte, waere Fabel und Maerchen geblieben. Der Leser
musste ungeahnt finden, was ich gab; er betrachtete
es dann als wohlerrungen und hielt es fuer das Leben
fest.

Aber was war denn eigentlich das, was ich geben
wollte? Das war vielerlei und nichts Alltaegliches. Ich
wollte Menschheitsfragen beantworten und Menschheitsraetsel
loesen. Man lache mich aus; aber ich habe es
gewollt; ich habe es versucht und werde es weiter
versuchen. Ob ich es erreiche, kann weder ich noch ein
Anderer wissen. Es mag bei der Ausfuehrung dann wohl
mancher Fehler untergelaufen sein, denn ich bin ein irrender
Mensch; mein Wollen aber ist gut und rein gewesen. Ich
wollte ferner meine psychologischen Erfahrungen zur
Veroeffentlichung bringen. Ein junger Lehrer, der bestraft
worden ist, seine psychologischen Erfahrungen? Ist das
nicht noch laecherlicher als das Vorhergehende? Mag man
es dafuer halten; ich aber habe an hundert und wieder
hundert ungluecklichen Menschen gesehen, dass sie nur darum
in das Unglueck geraten waren und nur darum darin
stecken blieben, weil ihre Seelen, diese kostbarsten Wesen
der ganzen irdischen Schoepfung, vollstaendig vernachlaessigt
worden waren. Der Geist ist das verzogene, eingebildete
Lieblingskind, die Seele das zurueckgesetzte, hungernde
und frierende Aschenbroedel. Fuer den Geist sind
alle Schulen da, von der A-B-C-Schuetzen-Schule bis
hinauf zur Universitaet, fuer die Seele aber keine einzige.
Fuer den Geist werden Millionen Buecher geschrieben,
wie viele fuer die Seele? Dem Menschengeiste werden
tausend und abertausend Denkmaeler gesetzt; wo stehen
die, welche bestimmt sind, die Menschenseele zu
verherrlichen? Wohlan, sage ich mir, so will ich es sein, der
fuer die Seele schreibt, ganz nur fuer sie allein, mag man
darueber laecheln oder nicht! Man kennt sie nicht. Darum
werden viele meine Werke entweder nicht oder falsch
verstehen, aber das soll mich ja nicht hindern, zu tun, was
ich mir vorgenommen habe.

Das war eigentlich genug fuer einen Menschen; aber
ich wollte nicht das allein, ich wollte noch viel mehr.
Ich sah um mich herum das tiefste Menschenelend liegen;
ich war fuer mich der Mittelpunkt desselben. Und hoch
ueber uns lag die Erloesung, lag die Edelmenschlichkeit,
nach der wir emporzustreben hatten. Diese Aufgabe war
aber nicht allein die unsrige, sondern sie ist allen Menschen
erteilt; nur dass wir, die wir um so viel tiefer lagerten
als die Andern, weit mehr und weit muehsamer aufzusteigen
hatten als sie. Aus der Tiefe zur Hoehe, aus Ardistan
nach Dschinnistan, vom niedern Sinnenmenschen zum
Edelmenschen empor. Wie das geschehen muesse, wollte ich
an zwei Beispielen zeigen, an einem orientalischen und
an einem amerikanischen. Ich teilte mir die Erde fuer
diese meine besonderen Zwecke in zwei Haelften, in eine
amerikanische und eine asiatisch-afrikanische. Dort wohnt
die indianische Rasse und hier die semitisch-mohammedanische.
An diese beiden Rassen wollte ich meine Maerchen, meine
Gedanken und Erlaeuterungen knuepfen. Darum galt es,
mich vor allen Dingen mit den arabischen u. s. w. Sprachen
und den Indianerdialekten zu beschaeftigen. Der unwandelbare
Allahglaube der einen und der hochpoetische Glaube
an den "grossen, guten Geist" der Andern harmonierte mit
meinem eigenen, unerschuetterlichen Gottesglauben. In
Amerika sollte eine maennliche und in Asien eine weibliche
Gestalt das Ideal bilden, an dem meine Leser ihr ethisches
Wollen emporzuranken haetten. Die eine ist mein
Winnetou, die andere Marah Durimeh geworden. Im Westen
soll die Handlung aus dem niedrigen Leben der Savanne
und Prairie nach und nach bis zu den reinen und lichten
Hoehen des Mount Winnetou emporsteigen. Im Osten
hat sie sich das Treiben der Wueste bis nach dem
hohen Gipfel des Dschebel Marah Durimeh zu erheben.
Darum beginnt mein erster Band mit dem Titel "durch
die Wueste." Die Hauptperson aller dieser Erzaehlungen
sollte der Einheit wegen eine und dieselbe sein, ein
beginnender Edelmensch, der sich nach und nach von allen
Schlacken des Animamenschentumes reinigt. Fuer Amerika
sollte er Old Shatterhand, fuer den Orient aber Kara
Ben Nemsi heissen, denn dass er ein Deutscher zu sein
hatte, verstand sich ganz von selbst. Er musste als selbst
erzaehlend, also als "Icherzaehler" dargestellt werden.
Sein Ich ist keine Wirklichkeit, sondern dichterische Imagination.
Doch, wenn dieses "Ich" auch nicht selbst existiert,
so soll doch Alles, was von ihm erzaehlt wird, aus der
Wirklichkeit geschoepft sein und zur Wirklichkeit werden.
Dieser Old Shatterhand und dieser Kara Ben Nemsi,
also dieses "Ich" ist als jene grosse Menschheitsfrage
gedacht, welche von Gott selbst geschaffen wurde, als er
durch das Paradies ging um zu fragen: "Adam, d. i.
Mensch, wo bist Du?" "Edelmensch, wo bist Du?" Ich
sehe nur gefallene, niedrige Menschen!" Diese Menschheitsfrage
ist seitdem durch alle Zeiten und alle Laender des
Erdkreises gegangen, laut rufend und laut klagend, hat
aber nie eine Antwort erhalten. Sie hat Gewaltmenschen
gesehen zu Millionen und Abermillionen, die einander
bekaempften, zerfleischten und vernichteten, nie aber einen
Edelmenschen, der den Bewohnern von Dschinnistan glich
und nach ihrem herrlichen Gesetze lebte, dass ein Jeder
Engel seines Naechsten zu sein habe, um nicht an sich
selbst zum Teufel zu werden. Einmal aber muss und
wird die Menschheit doch so hoch gestiegen sein, dass auf
die bis dahin vergebliche Frage von irgendwoher die beglueckende
Antwort erfolgt: "hier bin ich. Ich bin der erste
Edelmensch, und Andere werden mir folgen!" So geht
auch Old Shatterhand und so geht Kara Ben Nemsi durch
die Laender, um nach Edelmenschen zu suchen. Und wo
er keinen findet, da zeigt er durch sein eigenes edelmenschliches
Verhalten, wie er sich ihn denkt. Und dieser imaginaere
Old Shatterhand, dieser imaginaere Kara Ben Nemsi,
dieses imaginaere "Ich" hat nicht imaginaer zu bleiben,
sondern sich zu realisieren, zu verwirklichen, und zwar in
meinem Leser, der innerlich Alles miterlebt und darum
gleich meinen Gestalten emporsteigt und sich veredelt. In
dieser Weise trage ich meinen Teil zur Loesung der grossen
Aufgabe bei, dass sich der Gewaltmensch, also der niedrige
Mensch, zum Edelmenschen entwickeln koenne.

Indem ich diese Gedanken in mir bewegte, fuehlte
ich gar wohl, dass ich mich durch ihre Ausfuehrung einer
Gefahr aussetzen wuerde, die fuer mich keine geringe war.
Wie nun, wenn man diese Imagination nicht verstand
und dieses "Ich" also nicht begriff? Wenn man glaubte,
ich meine mich selbst? Lag es da nicht nahe, dass ein
Jeder, dem es an Intelligenz oder gutem Willen fehlte,
zwischen Wirklichkeit und Imagination zu unterscheiden,
mich als Luegner und Schwindler bezeichnen wuerde? Ja,
das lag allerdings in der Moeglichkeit, aber fuer wahrscheinlich
hielt ich es nicht. Ich hatte dieses "Ich," also
diesen Kara Ben Nemsi oder Old Shatterhand, ja mit
allen Vorzuegen auszustatten, zu denen es die Menschheit
im Verlaufe ihrer Entwicklung bis heut gebracht hat.
Mein Held musste die hoechste Intelligenz, die tiefste
Herzensbildung und die groesste Geschicklichkeit in allen
Leibesuebungen besitzen. Dass sich das in der Wirklichkeit
nicht in einem einzelnen Menschen vereinigen konnte,
das verstand sich doch wohl ganz von selbst. Und wenn
ich, wie ich mir vornahm, eine Reihe von dreissig bis
vierzig Baenden schrieb, so war doch gewiss anzunehmen,
dass kein vernuenftiger Mann auf die Idee kommen werde,
dass ein einziger Mensch das Alles erlebt haben koenne.
Nein! Der Vorwurf, dass ich ein Luegner und Schwindler
sei, war, wenigstens fuer denkende Leute, vollstaendig
ausgeschlossen! So glaubte ich damals. Ja, ich war sogar
fest ueberzeugt, trotzdem ich mit dem "Ich" mich nicht
selbst meinte, doch mit bestem Gewissen behaupten zu
koennen, dass ich den Inhalt dieser Erzaehlungen selbst
erlebt oder miterlebt habe, weil er ja aus meinem eigenen
Leben oder doch aus meiner naechsten Naehe stammte. Ich
hielt es fuer gar nicht schwer, sondern sogar fuer sehr leicht
und vor allen Dingen auch fuer interessant, sich vorzustellen,
dass Karl May diese Reiseerzaehlungen zwar niederschreibt,
sie aber so verfasst, als ob sie nicht aus seinem eigenen
Kopfe stammen, sondern ihm von jenem imaginaeren "Ich",
also von der grossen Menschheitsfrage, diktiert worden
seien. Ob diese meine Annahme richtig war, wird bald
die Folge zeigen.

Der Vorsatz, meine Gestalten teils in indianische
und teils in orientalische Gewaender zu kleiden, fuehrte mich
ganz selbstverstaendlich zu tiefem Mitgefuehle fuer die Schicksale
der betreffenden Voelkerschaften. Der als unaufhaltsam
bezeichnete Untergang der roten Rasse begann, mich
ununterbrochen zu beschaeftigen. Und ueber die Undankbarkeit
des Abendlandes gegenueber dem Morgenlande, dem es
doch seine ganze materielle und geistige Kultur verdankt,
machte ich mir allerlei schwere Gedanken. Das Wohl
der Menschheit will, dass zwischen beiden Friede ist, nicht
laenger Ausbeutung und Blutvergiessen. Ich nahm mir
vor, dies in meinen Buechern immerfort zu betonen und
in meinen Lesern jene Liebe zur roten Rasse und fuer die
Bewohner des Orients zu erwecken, die wir als Mitmenschen
ihnen schuldig sind. Man versichert mir heut,
dies nicht etwa bei nur Wenigen, sondern bei Hunderttausenden
erreicht zu haben, und ich bin nicht abgeneigt,
dies zu glauben.

Und nun die Hauptfrage: Fuer wen sollten meine
Buecher geschrieben sein? Ganz selbstverstaendlich fuer das Volk,
fuer das ganze Volk, nicht nur fuer einzelne Teile desselben,
fuer einzelne Staende, fuer einzelne Altersklassen. Vor allen
Dingen nicht etwa allein fuer die Jugend! Auf diese
letztere Versicherung habe ich das groesste Gewicht und
den schaerfsten Ton zu legen. Waere es meine Absicht
gewesen, Jugendschriftsteller sein oder werden zu wollen,
so haette ich ganz notwendigerweise auf die Ausfuehrung
aller meiner Plaene und auf die Erreichung aller meiner
Ideale fuer immer verzichten muessen. Und dies zu tun,
ist mir niemals eingefallen. Zwar hatte ich auch an die
Jugend zu denken, denn sie bietet nicht nur zeitlich die
erste Stufe des Volkes; sie ist es nicht nur, aus der sich
das Volk immer fort und fort ergaenzt, sondern sie ist
es, die im Aufwaertsstreben der Menschheit den Alten
und den Bequemen voranzusteigen hat, um das von unsern
Pionieren neu gesichtete Terrain schnellsten Tempo's zu
besetzen. Aber wie sie nur einen Teil des Volkes bildet,
so konnte das, was ich an sie zu richten hatte, auch nur
ein Teil dessen sein, was ich fuer das Volk als Ganzes
schrieb. Wenn ich sage, dass ich fuer das Volk schreiben
wollte, so meine ich damit, fuer den Menschen ueberhaupt,
mag er so jung oder so alt sein, wie er ist. Aber nicht
jedes meiner Buecher ist fuer jeden Menschen. Und doch
auch wieder ist es fuer jeden Menschen, aber nach und
nach, je nachdem er sich vorwaerts entwickelt, je nachdem
er aelter und erfahrener wird, je nachdem er faehig
geworden ist, ihren Inhalt zu verstehen und zu begreifen.
Meine Buecher sollen ihn durch das ganze Leben begleiten.
Er soll sie als Knabe, als Juengling, als Mann, als
Greis lesen, auf jeder dieser Altersstufen das, was ihrer
Hoehe entsprechend ist. Das Alles langsam, mit
Ueberlegung und Bedacht. Wer meine Buecher verschlingt,
und zwar wahllos verschlingt, um den ist es vielleicht
schade; auf alle Faelle aber ist es noch mehr schade um sie!
Wer sie missbraucht, der soll nicht mich oder sie, sondern
sich selbst zur Verantwortung ziehen. Ich erinnere da
an das Rauchen, an das Essen und Trinken. Rauchen
ist ein Genuss. Essen und Trinken ist unerlaesslich. Aber
jederzeit zu rauchen, zu essen, zu trinken, und Alles, was
einem geboten wird, zu rauchen und zu verzehren, wuerde
nicht nur toericht, sondern sogar schaedlich sein. Eine gute,
interessante Lektuere soll man geniessen, aber nicht wie ein
Haifisch verschlingen! Da meine Buecher nur Gleichnisse
und Maerchen enthalten, versteht es sich ganz von selbst,
dass man reiflich ueber sie nachdenken soll und dass sie
nur in die Haende von Leuten gehoeren, die nicht nur
nachdenken koennen, sondern auch nachdenken wollen.

Als ich damals diese Gedanken erwog und meine
Plaene fasste, hatte ich zwar schon Verschiedenes geschrieben
und an die Oeffentlichkeit gegeben, aber es war mir noch
nicht eingefallen, mich als Schriftsteller oder gar als
Kuenstler zu bezeichnen. Und jeder wirkliche Schriftsteller
muss doch zugleich auch Kuenstler sein. Ich hielt mich
noch nicht einmal fuer einen zuenftigen Lehrling, sondern
nur erst fuer einen ausserhalb der Zunft herumtastenden
Anfaenger, der seine ersten, kindlichen Gehversuche macht.
Und doch schon so weit umfassende, weit hinausreichende
Plaene! Wenn ich diese Plaene ueberschaute, so haette mir
eigentlich himmelangst werden sollen, denn es gehoerten jedenfalls
mehrere arbeitsreiche, ungestoerte, glueckliche Menschenleben
dazu, den vor mir liegenden Stoff echt literarisch,
also kuenstlerisch zu bewaeltigen. Aber es wurde mir doch
nicht angst, sondern ich blieb sehr ruhig dabei. Ich fragte
mich: Muss man denn Schriftsteller sein, und muss man
denn Kuenstler sein, um solche Sachen schreiben zu duerfen?
Wer will und kann es Einem verbieten? Machen wir es
ohne Zunft, wenn es nur richtig wird! Und machen wir
es ohne Kunst, wenn es nur Wirkung hat und das erreicht,
was es erreichen soll! Ob Schriftsteller und Kuenstler
mich als "Kollegen" gelten lassen wuerden, das musste
mir damals gleichgueltig sein. Zwar, meinen individuellen
Stolz besass ich ebenso wie jeder andere Mensch, und von
Kunst dachte ich so hoch, wie man nur denken kann. Aber
diese meine Gedanken waren anders als diejenigen anderer
Leute, besonders der Fachgenossen. Kuenstler zu sein,
duenkte mich das Allerhoechste auf Erden, und es lebte tief
in meinem Herzen der heisse Wunsch, diese Hoehe zu erreichen,
und sollte es erst noch in der letzten Stunde vor
meinem Tode sein. Jener Kindheitsabend, an dem ich
den "Faust" zu sehen bekam, stand noch unvergessen in
meiner Seele, und die Vorsaetze, die ich an ihn geschlossen
hatte, besassen noch ganz denselben Willen und dieselbe
Macht ueber mich wie vorher. Fuer das Theater schreiben!
Dramen schreiben! Dramen, in denen gezeigt wird, wie
der Mensch aufsteigen soll und aufsteigen kann aus dem
Erdenleide zur Daseinsfreude, aus der Sklaverei des
niedern Triebes zur Seelenreinheit und zur Seelengroesse.
Um so Etwas schreiben zu koennen, muss man Kuenstler
sein, und zwar echter, wahrer Kuenstler. Aber was ich
nur da als Kunst dachte, das war etwas ganz Anderes
als das, was die heutige Kritik als Kunst bezeichnet, und
so blieb mir weiter nichts uebrig, als alle meine Wuensche,
die sich darauf bezogen, als Literat ein Kuenstler, und
zwar ein wahrer, wertvoller Kuenstler sein zu duerfen, fuer
lange, lange Jahre zurueckzustellen und bis dahin zu bleiben,
was ich eben war, naemlich ein unzuenftiger Anfaenger, der
nicht die geringste Praetentien [sic] besass, ein Zunftgenosse zu
werden. Wie ich stets, seitdem ich lebte, abgesondert und
einsam gestanden hatte, so war ich schon damals ueberzeugt,
dass auch mein Weg als Literat ein einsamer sein
und bleiben werde, so weit mein Leben reiche. Was ich
suchte, fand sich nicht im alltaeglichen Leben. Was ich
wollte, war etwas dem gewoehnlichen Menschen vollstaendig
Fernliegendes. Und was ich fuer richtig hielt, das war
hoechst wahrscheinlich fuer andere Leute das Falsche.
Zudem war ich ja ein bestrafter Mensch. Da lag es mir
nahe, ganz fuer mich zu bleiben und keinen wertvolleren
Menschen mit mir zu belaestigen. In Beziehung auf
Kunst war ich nicht sachverstaendig. Vielleicht hatten die
andern recht; ich konnte irren. Fuer alle Faelle aber hielt
mich mein Ideal fest, am Abende meines Lebens, nach
vollendeter Reife, ein grosses, schoenes Dichterwerk zu
schaffen, eine Symphonie erloesender Gedanken, in der
ich mich erkuehne, Licht aus meiner Finsternis zu schoepfen,
Glueck aus meinem Unglueck, Freude aus meiner Qual.
Dies fuer spaeter, wenn mir der Tod einst seinen ersten
Wink erteilt. Fuer jetzt aber galt es, zu lernen, viel zu
lernen und auf dieses Werk vorzubereiten, damit es
nicht misslinge. Jetzt Maerchen und Gleichnisse geben,
um dann am Schlusse des Lebens aus ihnen die Wahrheit
und die Wirklichkeit zu ziehen und auf die Buehne
zu bringen!

Aber diese Gleichnisse sind nicht kurze Schriftstuecke
wie z. B. die herrlichen Gleichnisse Christi, sondern
lange Erzaehlungen, in denen viele Personen handelnd
auftreten. Und ihre Zahl ist gross; sie sollen eine
ganze Reihe von Baenden fuellen und das Material fuer
jene spaetere grosse Aufgabe bilden, mit der ich meine
Taetigkeit beschliessen will. Sie koennen also keine
sorgfaeltig ausgefuehrten Gemaelde sein, sondern nur
Federzeichnungen, nur Skizzen, Voruebungen, Etuden, an
welche nicht der Massstab gelegt werden darf, der nur
fuer ausgesprochene Kunstwerke gilt. Ich kann und will
und darf kein kunstvollendeter Paul Heyse sein, sondern
meine Aufgabe ist, aus hochgelegenen Marmor und
Alabasterbruechen die Bloecke fuer spaetere Kunstwerke zu brechen,
deren Form ich hoechstens andeuten kann, weil mir die
Zeit zur Ausfuehrung nicht zur Verfuegung steht. Diese
Andeutung gebe ich eben in Maerchen, die meinen
erzaehlenden Gleichnissen eingeschoben sind und die Punkte
bilden, um welche sich das Interesse des Lesers
konzentriert. Die kuenstlerische Kritik braucht sich also mit
meinen Reiseerzaehlungen nicht zu befassen, weil es gar
nicht meine Absicht ist, ihnen eine kuenstlerische Form oder
gar Vollendung zu geben. Sie haben den einfachen,
schlichten Arm- oder Fussringen der Araberinnen zu
gleichen, die weiter nichts sein sollen, als eben nur silberne
Ringe. Der Wert liegt im Metall, nicht in der Arbeit.
Der Maler, welcher fluechtige Skizzen zeichnet, um ein
grosses Gemaelde vorzubereiten, wuerde sich gewiss ueber
den Kritiker verwundern, der an diese Skizzen denselben
Massstab legen wollte, den er dann spaeter an das
Gemaelde zu legen hat.

Soviel ueber die Plaene, welche damals in mir entstanden
und die ich festgehalten und befolgt habe bis auf
den heutigen Tag. Sie kamen nicht ploetzlich, und sie
kamen nicht in gesellschaftlicher Fuelle, sondern langsam,
einer nach dem andern. Und sie reiften nicht eilig aus,
sondern es dauerte monate- und jahrelang, ehe ich mir
von dem einen Punkt bis zum naechsten klar geworden
war. Ich hatte aber auch genugsam Zeit dazu. Ich
legte mir eine Art von Buchhaltung ueber diese Plaene
und ihre Ausfuehrung an; ich habe sie mir heilig aufgehoben
und besitze sie noch heut. Jeder Gedanke wurde
in seine Teile zerlegt, und jeder dieser Teile wurde notiert.
Ich stellte sogar ein Verzeichnis ueber die Titel und den
Inhalt aller Reiseerzaehlungen auf, die ich bringen wollte.
Ich bin zwar dann nicht genau nach diesen Verzeichnissen
gegangen, aber es hat mir doch viel genuetzt, und ich
zehre noch heut von Sujets, die schon damals in mir
entstanden. Auch schriftstellerte ich fleissig; ich schrieb
Manuskripte, um gleich nach meiner Entlassung moeglichst
viel Stoff zur Veroeffentlichung zu haben. Kurz, ich war
begeistert fuer mein Vorhaben und fuehlte mich, obgleich
ich Gefangener war, unendlich gluecklich in der Aussicht
auf eine Zukunft, die, wie ich wohl hoffen durfte, keine
ganz gewoehnliche zu werden versprach.

Das Schicksal schien mit meinen Vorsaetzen einverstanden
zu sein. Es spendete mir, als ob es mich fuer
alles Leid entschaedigen wolle, eine reiche, hochwillkommene
Gabe: Ich wurde begnadigt. Die Direktion hatte fuer
mich ein Gnadengesuch eingereicht, auf welches ich ein
volles Jahr meiner Strafzeit erlassen bekam. Ich stand
in der ersten Disziplinarklasse und erhielt ein
Vertrauenszeugnis ausgestellt, welches mir den Rueckweg in das
Leben glaettete und mich aller polizeilichen Scherereien
ueberhob. Der Kenner weiss, was das bedeutet!

Es war ein schoener, warmer Sonnentag, als ich die
Anstalt verliess, zum Kampfe gegen des Lebens Widerstand
mit meinen Manuskripten bewaffnet. Ich hatte nach
Hause geschrieben, um die Meinigen von meiner Heimkehr
zu benachrichtigen. Wie freute ich mich auf das
Wiedersehen. Angst vor Vorwuerfen brauchte ich nicht zu
haben; dies war ja schon laengst durch Briefe geordnet.
Ich wusste, dass ich willkommen sei und dass man mir
mit keinem Worte wehe tun werde. Am meisten freute
ich mich auf Grossmutter. Wie musste sie sich gegraemt
und gehaermt haben! Und wie gern wuerde sie mir ihre
alte, liebe, treue Hand entgegenstrecken. Wie entzueckt
wuerde sie ueber meine Plaene sein! Wie sehr wuerde sie
mir helfen, sie auszudenken und so tief wie moeglich
auszuschoepfen! Ich ging von Zwickau nach Ernsttal, also
genau denselben Weg, den ich damals als Knabe
gegangen war, um in Spanien nach Hilfe zu suchen. Es
laesst sich denken, was fuer Gedanken mich auf diesem Weg
begleiteten. Ich hatte auf jenem Heimwege mit dem
Vater den Vorsatz gefasst, ihn nie wieder durch Derartiges
zu betrueben; wie schlecht aber hatte ich Wort gehalten!
Sollte ich heut etwa aehnliche Vorsaetze fassen, fuer deren
Erfuellung die Ohnmacht des Menschen keine Gewaehr zu
leisten vermag? Das "Maerchen von Sitara" tauchte
vor mir auf. Gehoerte ich vielleicht zu denen, auf deren
Seelen, wenn sie geboren werden, der Teufel wartet, um
sie in das Elend zu schleudern, so dass sie verloren gehen?
Alles Straeuben und Aufbaeumen hilft nichts; sie sind dem
Untergange geweiht. Gilt das auch mir?

Meine Gedanken wurden trueber und trueber, je mehr
ich mich der Heimat naeherte. Es war, als ob mir von
dort aus boese Ahnungen entgegenwehten. Meine frohe
Zuversicht schien mich verlassen zu wollen; ich musste mir
Muehe geben, sie festzuhalten. Von der Lungwitzer Hoehe
aus schaute ich ueber das Staedtchen hin. Da schlaengelten
sich vor meinen Augen die Wege, die ich damals so oft
gegangen war, in heissem Kampfe mit jenen fuerchterlichen
inneren Stimmen liegend, die mir Tag und Nacht hindurch
in einem fort die Worte "des Schneiders Fluch,
des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch" zuriefen.
Und was war das? Indem ich hieran dachte, hoerte ich
ganz dieselbe Stimme erklingen, in mir, ganz deutlich, wie
erst nur von Weitem, aber sie schienen sich zu naehern, "des
Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch, des Schneiders
Fluch!" Sollte und wollte sich das etwa wiederholen?
Ich erschrak, wie ich noch nie erschrocken bin, und eilte
von dieser Stelle und von dieser Erinnerung fort, die
Hoehe hinab, durch das Staedtchen hindurch, nach Hause,
nach Hause, nach Hause!

Ich kam eher, als man mich erwartete. Meine Eltern
wohnten noch im ersten Stock desselben Hauses. Ich stieg
die Treppe empor und dann gleich noch eine zweite hinauf
nach dem Bodenraume, wo Grossmutter sich immer am
liebsten aufgehalten hatte. Ich wollte zunaechst zu ihr und
dann erst zu Vater, Mutter und Geschwistern. Da sah ich
die wenigen Sachen, die sie besessen hatte; sie selbst aber
war nicht da. Da stand ihre Lade, mit blauen und gelben
Blumen bemalt. Sie war verschlossen, der Schluessel
abgezogen. Und da stand ihre Bettstelle; sie war leer. Ich
eilte hinab in die Wohnstube. Da sassen die Eltern. Die
Schwestern fehlten. Das war Zartgefuehl. Sie hatten
gemeint, die Eltern gingen vor. Ich gruesste gar nicht und
fragte, wo Grossmutter sei. "Tot -- -- -- gestorben!"
lautete die Antwort. "Wann?" "Schon voriges Jahr."
Da sank ich auf den Stuhl und legte Kopf und Arme
auf den Tisch. Sie lebte nicht mehr! Man hatte es mir
verschwiegen, um mich zu schonen, um mir die Gefangenschaft
nicht noch zu erschweren. Das war ja recht gut
gedacht; nun aber traf es mich um so wuchtiger. Sie war
nicht eigentlich krank gewesen; sie war nur so
hingeschwunden, vor Gram und Leid um -- -- -- mich!

Es dauerte lange Zeit, ehe ich den Kopf wieder hob,
um die Eltern nun zu gruessen. Sie erschraken. Sie
sagten mir spaeter, mein Gesicht habe schlimmer ausgesehen
als dasjenige einer Leiche. Die Geschwister kamen hinzu.
Sie freuten sich des Wiedersehens, aber sie schauten mich
so sonderbar an, so scheu. Das war nichts weiter als
der Reflex meines eigenen Gesichts. Ich gab mir zwar
die groesste Muehe, aber ich konnte den Schlag, der mich
soeben getroffen hatte, doch nicht ganz verbergen. Ich
wollte nur von Grossmutter wissen, jetzt weiter nichts, und
man erzaehlte mir. Sie hatte sehr viel von mir gesprochen,
aber niemals ein Wort, welches mich haette kraenken muessen,
wenn ich dabeigewesen waere. Und sie hatte nie geklagt
oder gar geweint. Sie hatte gesagt, nun wisse sie, dass
ich eine jener Seelen sei, die bei ihrer Geburt zur falschen
Stelle geschleudert werden, um dort vernichtet zu werden.
Nun sei sie ueberzeugt, dass ich durch die Geisterschmiede
muesse, um alle irdischen Qualen ueber mich ergehen zu lassen.
Aber sie wisse, ich werde nicht schreien, ich werde tragen,
was zu tragen ist, und mir den Weg nach Dschinistan [sic]
erzwingen. Je naeher sie dem Tode kam, desto
ausschliesslicher lebte sie nur noch ihrer Maerchenwelt und
desto ausschliesslicher sprach sie nur noch von mir. An
einem der letzten Tage erzaehlte sie, dass der laengst
verstorbene Herr Kantor heute Nacht bei ihr gewesen sei.
Er war unser Nachbar gewesen. Die beiden Haeuser
stiessen aneinander. Da habe sich ploetzlich im Dunkel
die Mauer auseinander getan, und es sei hell geworden,
aber nicht in einem gewoehnlichen Licht, sondern von einem,
welches sie noch nie gesehen habe. Von ihm beleuchtet,
sei der Herr Kantor erschienen. Er haben genauso
ausgesehn wie damals, als er noch lebte. Er sei langsam
bis an ihr Bett gekommen, habe sie freundlich laechelnd
gegruesst, wie es immer seine Art und Weise war, und
dann gesagt, dass sie sich ja nicht um mich sorgen solle;
ich koenne wohl stuerzen wie jeder Andere, nicht aber liegen
bleiben; es werde mir zwar schwer gemacht, doch erreiche
ich sicher mein Ziel. Nach diesen Worten nickte er ihr
wieder freundlich zu und ging ebenso langsam, wie er
gekommen war, nach der Mauerluecke zurueck. Sie schloss
sich hinter ihm. Das Licht verschwand; es wurde wieder
dunkel.

Als sie das erzaehlt hatte, war es gewesen, als ob
ein Teil jenes fremden, ihr bisher unbekannten Lichtes
auf ihrem Gesicht zurueckgeblieben sei, und es lag auch
noch dann darauf, als sie die Augen geschlossen hatte
und nicht mehr atmete. Ihr Tod war ein sanfter, ein
friedlicher, ein seliger gewesen; mir aber war gar nicht
friedlich und gar nicht selig zu Mute, als man mir von
ihm erzaehlte. Es tauchten Vorwuerfe in mir auf, aber
keine Vorwuerfe, die nur Gedanken sind, wie bei andern
Leuten, die nicht von derselben Veranlagung sind wie ich,
sondern Vorwuerfe viel wesentlicherer, viel kompakterer
Art. Ich sah sie in mir kommen, und ich hoerte, was
sie sagten, jedes Wort, ja wirklich, jedes Wort! Das
waren nicht Gedanken, sondern Gestalten, wirkliche Wesen,
die nicht die geringste Identitaet mit mir zu besitzen schienen
und doch identisch waren. Welch ein Raetsel! Aber welch
ein ungewoehnliches, furchtbar beaengstigendes Raetsel! Sie
glichen jenen in mir schreienden, dunkeln Gestalten
von frueher her, mit denen ich -- -- -- mein Gott, kaum
hatte ich an sie gedacht, so waren sie wieder da, ganz so,
wie ich damals gezwungen gewesen war, sie in meinem
Innern zu sehen und zu hoeren. Ich vernahm ihre Stimmen
so deutlich, als ob sie vor mir stuenden und an Stelle
der Eltern und Geschwister mit mir spraechen. Und sie
blieben. Sie gingen, als ich mich niederlegte, mit mir
schlafen. Aber sie schliefen nicht und liessen auch mich nicht
schlafen. Es begann das fruehere Elend, die fruehere
Marter, der fruehere Kampf mit unbegreiflichen Maechten,
die um so gefaehrlicher waren, als ich absolut nicht entdecken
konnte, ob sie Teile von mir seien oder nicht. Sie
schienen es zu sein, denn sie kannten einen jeden meiner
Gedanken, noch ehe er mir selbst zum Bewusstsein kam.
Und doch konnten sie ganz unmoeglich zu mir gehoeren,
weil das, was sie wollten, fast stets das Gegenteil von
meinem Willen war. Ich hatte mit meiner Vergangenheit
abgeschlossen. Der vor mir liegende Teil meines
Lebens sollte ein ganz anderer sein, als der, welcher hinter
mir lag. Diese Stimmen aber waren bemueht, mich mit
aller Gewalt in die Vergangenheit zurueckzuzerren. Sie
verlangten wie frueher, dass ich mich raechen solle. Nun
erst recht mich raechen, fuer die im Gefaengnis verlorene,
koestliche Zeit! Sie wurden von Tag zu Tag lauter; ich
aber stemmte mich gegen sie; ich tat, als ob ich nichts,
gar nichts hoere. Das war aber selbst bei der groessten
Kraftaufwendung nicht laenger als hoechstens nur einige
Tage lang auszuhalten. Indessen besuchte ich einige
Verleger, um mit ihnen ueber die Herausgabe der im Gefaengnisse
geschriebenen Manuskripte zu verhandeln. Hierbei
stellte es sich heraus, dass waehrend dieser meiner
Abwesenheit die inneren Stimmen um so mehr verstummten,
je weiter ich mich von der Heimat entfernte, und wieder
um so deutlicher wurden, je mehr ich mich ihr wieder
naeherte. Es war, als ob diese finstern Gestalten dort
sesshaft seien und nur dann ueber mich herfallen koennten,
wenn ich die Unvorsichtigkeit beging, mich dort einzufinden.
Ich beschloss hierauf die Probe zu machen. Ich kassierte
meine Honorare ein und machte eine laengere Auslandsreise.
Wohin, das habe ich im zweiten Bande dieses
Werkes zu erzaehlen, in welchem meinen Reisen und ihren
Ergebnissen ein groesserer Raum gewidmet werden soll,
als ich ihnen hier gewaehren koennte. Waehrend dieser
Reise verschwanden diese Bilder ganz und gar; ich wurde
vollstaendig frei von ihnen. Dafuer aber stellte sich ein
ganz ungewoehnlicher Drang in mir ein, nach der Heimat
zurueckzukehren. Es war kein gesunder, sondern ein kranker
Trieb; das fuehlte ich gar wohl, aber er wurde so stark,
dass ich die Widerstandskraft verlor und ihm gehorchte.
Ich kehrte heim, und kaum war ich dort, so stuerzte sich
Alles, was ich beseitigt glaubte, wieder auf mich. Die
Anfechtungen begannen von Neuem. Ich vernahm unausgesetzt
den inneren Befehl, an der menschlichen Gesellschaft
Rache zu nehmen, und zwar dadurch Rache, dass
ich mich an ihren Gesetzen vergriff. Ich fuehlte, dass ich,
falls ich diesem Befehle Gehorsam leiste, ein hoechst
gefaehrlicher Mensch sein werde, und nahm alle mir gegebene
Kraft zusammen, gegen dieses entsetzliche Schicksal
anzukaempfen.

Ich halte es hier fuer noetig, zu konstatieren, dass ich
meinen Zustand keineswegs fuer pathologisch hielt. Alle
meine Vorfahren waren, soweit ich sie kannte, sowohl
koerperlich als auch geistig kerngesunde Menschen gewesen.
Es gab nichts Atavistisches an mir. Was sich in dieser
Beziehung mir angeheftet hatte, das war gewiss nicht
von innen heraus erzeugt, sondern von aussen her an
mich herangetreten. Ich arbeitete fleissig, fast Tag und
Nacht, wie ich ueberhaupt an der Arbeit stets meine groesste
Freude gefunden habe. Man kaufte meine Sachen gern.
Ich litt also keineswegs Not, zumal ich bei den Eltern
wohnte, die sich jetzt auch besser standen als frueher. Ich
haette vollstaendig zu leben gehabt, auch wenn ich mir nichts
verdiente. Bei diesen Arbeiten wiederholte sich das, was
ich schon frueher beschrieben habe. Wenn ich etwas Gewoehnliches
schrieb, stellte sich nicht die geringste Hinderung
ein. Sobald ich mir aber ein hoeheres Thema stellte,
eine geistig, religioes oder ethisch wertvollere Aufgabe,
wurden Gewalten in mir rege, die sich dagegen empoerten
und mich dadurch hinderten, meine Arbeit zustande zu
bringen, dass sie mir, wahrend ich schrieb, die trivialsten,
bloedesten oder gar verbotensten Gedanken dazwischenwarfen.
Ich sollte nicht empor; ich sollte unten bleiben. Hierzu
gesellte sich ein alter, sehr wohlbekannter Hallunke, dem
Niemand trauen darf, und wenn er auch noch so schmeichelt;
ich meine den Durst. Der Abscheu vor Branntwein ist
mir angeboren; ich geniesse ihn hoechstens als Arznei.
Wein war mir schon des Preises wegen bisher versagt,
und auch fuer Bier besitze ich keineswegs die Zuneigung,
welche man empfinden muss, um ein Trinker zu werden.
Jetzt aber fuehlte ich seltsamer Weise stets grossen Durst,
wenn ich auf meinen Spaziergaengen an einem Wirtshause
vorueberging, und auch des Abends, wenn Andere nicht
mehr arbeiteten, trat mir das Verlangen nahe, die Feder
hinzulegen und in die Kneipe zu gehen, wie sie. Ich tat
es aber nicht. Vater tat es. Er konnte sein Glas einfaches
Bier und sein Schnaeppschen [sic] nicht gut entbehren.
Ich aber hatte keine Lust dazu und blieb daheim. Das
war mir nicht etwa ein Opfer und fiel mir nicht etwa
schwer, o nein. Ich erzaehle es nur des psychologischen
Interesses wegen, weil es mir hoechst sonderbar erscheint,
dass dieser meiner ganzen Natur widersprechende und mir
sonst vollstaendig fremde Durst nach Spirituosen immer
nur dann auftrat, wenn jene Stimmen die Oberhand in
mir hatten, sonst aber nie!

Ich hatte mich so sehr darauf gefreut, Grossmutter
meine Arbeitsplaene vorzulegen; nun war sie tot. Ich
sprach hierueber also mit den Eltern und Geschwistern.
Vater hatte jetzt Anderes zu denken. Er war in einer
Art sozialer Mauserung begriffen und darum fuer mich
nicht zu haben, zumal er des Abends nie daheim blieb.
Auch die Schwestern hatten andere Interessen. Mein
ganzer Gedankenkreis war ihnen fremd. So blieb mir
nur die Mutter. Sie sass des Abends mit ihrem Strickstrumpf
still am Tische, an dem ich schrieb. Ich legte
ihr so gern die Gedanken vor, mit denen ich meine Feder
beschaeftigte. Sie hoerte mir ruhig zu. Sie nickte
einverstanden. Sie laechelte ermutigend. Sie sagte ein liebes,
troestendes Wort. Sie war wie eine Heilige. Aber auch
sie verstand mich nicht. Sie fuehlte nur; sie ahnte. Und
sie wuenschte von ganzem Herzen, dass Alles so werden
moechte, wie ich es mir ersehnte. Und als sie sah, wie
fest und unerschuetterlich ich an meine Zukunft glaubte,
da glaubte auch sie und war so froh, wie eine Mutter
sein kann, deren Kind noch so gluecklich ist, sich auf Gott,
auf die Menschheit und auf sich selbst verlassen zu duerfen.
Ich aber fuehlte mich einsam, einsam wie immer. Denn
auch im ganzen Orte gab es keinen einzigen Menschen,
der mich haette verstehen wollen oder gar verstehen koennen.
Und diese Einsamkeit war mir, grad mir, dem innerlich
so schwer Angefochtenen im hoechsten Grade gefaehrlich.
Nichts war mir noetiger als verstaendnisvolle Geselligkeit.
Aber ich stand, wenn auch nicht aeusserlich, so doch innerlich
stets allein und war also den Gestalten, die mich bezwingen
wollten, fast unausgesetzt und schutzlos preisgegeben.
Und mitten in dieser Schutzlosigkeit wurde ich
nun auch von andern Feinden gepackt, die, obgleich sie
keine inneren, sondern aeusserliche waren, doch ebenso wenig
mit den Haenden gefasst werden konnten.

Meine Mutter hatte infolge ihres Berufes unausgesetzt
in andern Familien zu verkehren. Sie war Vertrauensperson.
Man hatte sie gern. Man teilte ihr Alles
mit, ohne dass man sie um Verschwiegenheit zu bitten
brauchte. Sie erfuhr Alles, was im Staedtchen und in
der Umgegend geschah. Es hatte irgendwo einen Einbruch
gegeben. Jedermann sprach von ihm. Der Taeter war
entkommen. Bald gab es wieder einen, in derselben Weise
ausgefuehrt. Dazu kamen einige Schwindeleien, wahrscheinlich
von herabgekommenen Handwerksburschen in Szene
gesetzt. Ich hoerte gar nicht hin, als man es erzaehlte,
bemerkte aber nach einiger Zeit, dass Mutter noch ernster
als gewoehnlich war und mich, wenn sie glaubte, unbeobachtet
zu sein, so eigentuemlich mitleidig betrachtete. Ich
blieb anfaenglich still, glaubte aber sehr bald, sie nach dem
Grunde fragen zu muessen. Sie wollte nicht antworten;
ich bat aber so lange, bis sie es tat. Es zirkulierte ein
Geruecht, ein unfassbares Geruecht, dass ich jener Einbrecher
sei. Wem sollte man es zutrauen, als mir, dem entlassenen
Gefangenen? Ich lachte aeusserlich dazu, innerlich aber war
ich empoert, und es gab einige schwere Naechte. Es bruellte
vom Abend bis zum Morgen in meinem Innern. Die
Stimmen schrien mir zu: "Wehre dich, wie du willst,
wir geben dich nicht los! Du gehoerst zu uns! Wir
zwingen dich, dich zu raechen! Du bist vor der Welt ein
Schurke und musst ein Schurke bleiben, wenn du Ruhe
haben willst!" So klang es bei Nacht. Wenn ich am
Tage arbeiten wollte, brachte ich nichts fertig. Ich konnte
nicht essen. Mutter hatte es auch dem Vater gesagt.
Beide baten mich, mir die Sache nicht zu Herzen zu
nehmen. Sie konnten fuer mich eintreten. Sie wussten
ja genau, dass ich in den betreffenden Zeiten nicht aus
dem Haus gekommen war. Was wir erfuhren, war alles
im Vertrauen gesagt. Kein Name wurde genannt. Darum
gab es keinen Punkt, an dem ich zugreifen konnte, mich
zu wehren. Aber es kam schlimmer. Die heimatliche
Polizei wollte mir nicht wohl. Ich war mit Vertrauenszeugnis
entlassen worden und darum ihrer Aufsicht entgangen.
Jetzt glaubte sie, Veranlassung zu haben, sich
mit mir zu beschaeftigen. Es kamen einige neue Schelmenstreiche
vor, deren Taeter ganz unbedingt mit einer gewissen
Intelligenz behaftet waren. Man glaubte, dies
auf mich deuten zu muessen. Das war zu derselben Zeit,
in der sich die schon erwaehnte "Luegenschmiede" zu bilden
begann. Neue Geruechte kursierten, romantisch
ausgeschmueckt. Der Herr Wachtmeister erkundigte sich unter
der Hand, wo ich an dem und dem Tag, zu der und der
Zeit gewesen sei. Die Augen hingen an mir, wo ich mich
sehen liess; aber sobald ich diese Blicke wiedergab, schaute
man schnell hinweg. Da kam ein armer Wurm, aber ein
guter Kerl, ein Schulkamerad, der mich immer lieb gehabt
hatte und auch jetzt noch an mir hing. Der war sprichwoertlich
unbeholfen und unverzeihlich aufrichtig. Er hielt
grob sein fuer Menschenpflicht. Der konnte es nicht
laenger aushalten. Er kam zu mir und erzaehlte mir auf
Handschlag und Schweigepflicht Alles, was gegen mich
im Schwange ging. Das war so dumm und doch so empoerend,
so leichtsinnig und gewissenlos, so -- -- so -- --
so -- -- so -- -- -- ich fand keine Worte, dem armen,
wohlmeinenden Menschen fuer seine schmerzhafte Aufrichtigkeit
zu danken. Aber als er mein Gesicht sah, machte er
sich so schnell wie moeglich von dannen.

Das war ein schwerer, ein unglueckseliger Tag. Es
trieb mich fort, hinaus. Ich lief im Wald herum und
kam spaet abends todmuede heim und legte mich nieder, ohne
gegessen zu haben. Trotz der Muedigkeit fand ich keinen
Schlaf. Zehn, fuenfzig, ja hundert Stimmen verhoehnten
mich in meinem Innern mit unaufhoerlichem Gelaechter.
Ich sprang vom Lager auf und rannte wieder fort, in
die Nacht hinein; wohin, wohin, das beachtete ich gar
nicht. Es kam mir vor, als ob die inneren Gestalten aus
mir herausgetreten seien und neben mir herliefen. Voran
der fromme Seminardirektor, dann der Buchhalter, der
mir seine Uhr nicht geborgt haben wollte, eine Rotte von
Kegelschiebern, mit Kegelkugeln in den Haenden, und hierauf
die Raubritter, Raeuber, Moenche, Nonnen, Geister und
Gespenster aus der Hohensteiner Schundbibliothek. Das
verfolgte mich hin und her; das jagte mich auf und ab.
Das schrie und jubelte und hoehnte, dass mir die Ohren
gellten. Als die Sonne aufging, fand ich mich im Innern
eines tiefen, steilen Steinbruchs emporkletternd. Ich hatte
mich verstiegen; ich konnte nicht weiter. Da hatten sie
mich fest, und da liessen sie mich nicht wieder hinab. Da
klebte ich zwischen Himmel und Erde, bis die Arbeiter
kamen und mich mit Hilfe einiger Leitern herunterholten.
Dann ging es weiter, immer weiter, weiter, den ganzen
Tag, die ganze naechste Nacht; dann brach ich zusammen
und schlief ein. Wo, das weiss ich nicht. Es war auf
einem Raine, zwischen zwei eng zusammenstehenden
Roggenfeldern. Ein Donner weckte mich. Es war wieder Nacht,
und der Gewitterregen floss in Stroemen herab. Ich eilte
fort und kam an ein Ruebenfeld. Ich hatte Hunger und
zog eine Ruebe heraus. Mit der kam ich in den Wald,
kroch unter die dicht bewachsenen Baeume und ass. Hierauf
schlief ich wieder ein. Aber ich schlief nicht fest; ich wachte
immer wieder auf. Die Stimmen weckten mich. Sie hoehnten
unaufhoerlich "Du bist ein Vieh geworden, frissest
Rueben, Rueben, Rueben!" Als der Morgen anbrach, holte
ich mir eine zweite Ruebe, kehrte in den Wald zurueck und
ass. Dann suchte ich mir eine lichte Stelle auf und liess
mich von der Sonne bescheinen, um trocken zu werden.
Die Stimmen schwiegen hier; das gab mir Ruhe. Ich
fand einen langen, wenn auch nur oberflaechlichen Schlaf,
waehrend dessen Dauer ich mich immer von einer Seite
auf die andere warf, und von kurzen, aufregenden Traumbildern
gequaelt wurde, die mir vorspiegelten, dass ich bald
ein Kegel, nach dem man schob, bald ein Zigeuner aus
Preziosa und bald etwas noch Schlimmeres sei. Dieser
Schlaf ermuedete mich nur noch mehr, statt dass er mich
staerkte. Ich entwand mich ihm, als der Abend anbrach,
und verliess den Wald. Indem ich unter den Baeumen
hervortrat, sah ich den Himmel blutigrot; ein Qualm
stieg zu ihm auf. Sicherlich war da ein Feuer. Das
war von einer ganz eigenen Wirkung auf mich. Ich
wusste nicht, wo ich war; aber es zog mich fort, das Feuer
zu betrachten. Ich erreichte eine Halde, die mir bekannt
vorkam. Dort setzte ich mich auf einen Stein und starrte
in die Glut. Zwar brannte ein Haus; aber das Feuer war
in mir. Und der Rauch, dieser dicke, erstickende Rauch!
Der war nicht da drueben beim Feuer, sondern hier bei
mir. Der huellte mich ein, und der drang mir in die Seele.
Dort ballte er sich zu Klumpen, die Arme und Beine und
Augen und Gesichtszuege bekamen und sich in mir bewegten.
Sie sprachen. Aber was? Ich bin mir erst spaeter, viel
spaeter klar ueber die Entstehung solcher innerer
Schreckgebilde geworden. Damals war ich es noch nicht, und so
konnten sie die entsetzliche Wirkung aeussern, gegen welche
meine auf das Aeusserste angespannten Nerven keine
Widerstandskraft mehr besassen. Ich fiel in mir zusammen, wie
das brennende Haus da drueben zusammenfiel, als die
Flammen niedriger und niedriger wurden und endlich
erloschen. Da raffte ich mich auf und ging. In mir war
auch Alles erloschen. Ich war dumm, vollstaendig dumm.
Mein Kopf war wie von einer dicken Schicht von Lehm
und Haecksel umhuellt. Ich fand keinen Gedanken. Ich
suchte auch gar nicht danach. Ich wankte beim Gehen.
Ich lief irr. Ich torkelte weiter, bis ich endlich
einen Ort erreichte, an dessen Kirchhof die Strasse,
auf der ich mich befand, vorueberfuehrte. Ich lehnte mich
an die Mauer des Gottesackers und weinte. Das war
wohl unmaennlich, aber ich hatte nicht die Kraft, es zu
verhindern. Diese Traenen waren keine erloesenden. Sie
brachten mir keine Erleichterung; aber sie schienen meine
Augen zu reinigen und zu staerken. Ich sah ploetzlich, dass
es der Ernsttaler Kirchhof war, an dem ich stand. Er
war mir ebenso vertraut wie die Strasse, an der er lag;
heut aber hatte ich weder ihn noch sie erkannt.

Der Morgen graute. Ich ging den Leichenweg hinab,
ueber den Markt hinueber und oeffnete leise die Tuer unseres
Hauses, stieg ebenso leise die Treppe hinauf nach der
Wohnung und setzte mich dort an den Tisch. Das tat ich ohne
Absicht, ohne Willen, wie eine Puppe, die man am
Faden zieht. Nach einiger Zeit oeffnete sich die
Schlafkammertuer. Mutter trat heraus. Sie pflegte sehr zeitig
aufzustehen, ihres Berufes wegen. Als sie mich sah,
erschrak sie. Sie zog die Kammertuer schnell hinter sich
zu und sagte aufgeregt, aber leise:

"Um Gotteswillen! Du? Hat jemand dich kommen
sehen?"

"Nein," antwortete ich.

"Wie siehst du aus! Schnell wieder fort, fort, fort!
Nach Amerika hinueber! Dass man dich nicht erwischt!
Wenn man dich wieder einsperrt, das ueberlebe ich nicht!"

"Fort? Warum?" fragte ich.

"Was hast du getan; was hast du getan! Dieses
Feuer, dieses Feuer!"

"Was ist es mit dem Feuer?"

"Man hat dich gesehen! Im Steinbruch -- -- im
Walde -- -- auf dem Felde -- -- und gestern auch bei
dem Haus, bevor es niederbrannte!"

Das war ja entsetzlich, geradezu entsetzlich!

"Mut -- -- ter! Mut -- -- ter!" stotterte ich. "Glaubst
du etwa, dass -- -- --"

"Ja, ich glaube es; ich muss es glauben, und Vater
auch," unterbrach sie mich. "Alle Leute sagen es!"

Sie stiess das hastig hervor. Sie weinte nicht, und
sie jammerte nicht; sie war so stark im Tragen innerer
Lasten. Sie fuhr in demselben Atem fort:

"Um Gottes willen, lass dich nicht erwischen, vor
allen Dingen nicht hier bei uns im Hause! Geh, geh!
Ehe die Leute aufstehen und dich sehen! Ich darf nicht
sagen, dass du hier warst; ich darf nicht wissen, wo du
bist; ich darf dich nicht laenger sehen! Geh also, geh!
Wenn es verjaehrt ist, kommst du wieder!"

Sie huschte wieder in die Kammer hinaus, ohne mich
beruehrt zu haben und ohne auf ein ferneres Wort von
mir zu warten. Ich war allein und griff mir mit beiden
Haenden nach dem Kopfe. Ich fuehlte da ganz deutlich
die dicke Lehm- und Haeckselschicht. Dieser Mensch, der
da stand, war doch nicht etwa ich? An den die eigene
Mutter nicht mehr glaubte? Wer war der Kerl, der in
seiner schmutzigen, verknitterten Kleidung aussah, wie ein
Vagabund? Hinaus mit ihm, hinaus! Fort, fort!

Ich habe noch so viel Verstand gehabt, den
Kleiderschrank zu oeffnen und einen andern, saubern Anzug
anzulegen. Dann bin ich fortgegangen. Wohin? Die
Erinnerung laesst mich im Stich. Ich war wieder krank
wie damals. Nicht geistig, sondern seelisch krank. Die
inneren Gestalten und Stimmen beherrschten mich
vollstaendig. Wenn ich mir Muehe gebe, mich auf jene Zeit
zu besinnen, so ist es mir wie Einem, der vor fuenfzig
Jahren irgend ein Theaterstueck gesehen hat und nach
dieser Zeit noch wissen soll, was von Augenblick zu
Augenblick geschah und wie die Kulissen sich verwandelten.
Einzelne Bilder sind mir geblieben, doch so undeutlich,
dass ich nicht behaupten kann, was wahr daran ist und
was nicht. Ich habe in jener Zeit jenen dunklen Gestalten
gehorcht, welche in mir wohnten und mich beherrschten.
Was ich getan habe, erscheint jedem Unbefangenen
unglaublich. Man beschuldigte mich, einen
Kinderwagen gestohlen zu haben! Wozu? Ein leeres
Portemonnaie mit nur drei Pfennigen Inhalt! Anderes
ist schon glaublicher und Einiges direkt erwiesen. Man
hatte mich festgenommen, und wo Etwas geschehen war,
da transportierte man mich als "hoffentlichen Taeter" hin.
Das war eine hochinteressante Zeit fuer die Habitues der
Ernsttaler Luegenschmiede. Da wurde fast taeglich Neues
erzaehlt oder Altes variiert, was ich begangen haben sollte.
Jeder Vagabund, der in den Ortsbereich dieser Maerchen
kam, legte sich meinen Namen bei, um auf meine Rechnung
hin zu suendigen. Das war selbst fuer einen aeusserlich
und innerlich Gefangenen zuviel. Ich zerbrach
waehrend eines Transportes meine Fesseln und verschwand.
Wohin, das beabsichtige ich, im zweiten Bande, in dem
ich von meinen Reisen erzaehle, ausfuehrlich zu berichten.
Fuer jetzt ist nur dasselbe wie frueher zu erwaehnen, naemlich,
dass ich seelisch um so freier wurde, je weiter ich mich
von der Heimat entfernte, dass mich draussen in der Ferne
ein unwiderstehlicher Trieb zur Heimkehr packte und dass
ich innerlich wieder um so freier wurde, je mehr ich mich
der Gegend meines Geburtsortes naeherte. Gibt es
Jemand, der das zu ergruenden vermag? Ich folgte teils
jenem unbegreiflichen Zwange, teils kehrte ich freiwillig
zurueck, und zwar um meiner guten Plaene und um meiner
Zukunft willen. Hatte ich gesuendigt; so hatte ich zu buessen;
das verstand sich ganz von selbst. Und bevor diese Busse
nicht erledigt war, konnte es fuer mich keine erspriessliche
Arbeit und keine Zukunft geben. Ich kehrte also nach
fuenf Monaten wieder heim, um mich dem Gericht zu
stellen, tat dies aber leider nicht stracks, wie es richtig
gewesen waere, sondern verfiel jenen inneren Gewalten,
die sich wieder einstellten und mich verhinderten, zu tun,
was ich mir vorgenommen hatte. Die Folge davon war,
dass ich, anstatt mich freiwillig zu stellen, ergriffen wurde.
Das verschaerfte meine Lage derart, dass ich die Strenge
des Richters, der mein Urteil faellte, vollstaendig begreife.
Umso weniger aber ist der Rechtsanwalt zu begreifen,
der mir von Gerichts wegen als Verteidiger gestellt
wurde. Er hat mich nicht verteidigt, sondern belastet,
und zwar in der schlimmsten Weise. Er bildete sich ein,
bei dieser billigen Gelegenheit Kriminalpsychologie treiben
zu koennen oder treiben zu sollen, und doch fehlte ihm
nicht mehr als Alles, was noetig ist, um eine solche
Aufgabe auch nur einigermassen zu loesen. Ich haette gar
wohl leugnen koennen, gab aber Alles, dessen man mich
beschuldigte, glattweg zu. Das tat ich, um die Sache
um jeden Preis los zu werden und so wenig wie moeglich
Zeitverlust zu erleiden. Dieser Advokat war unfaehig, mich
oder ueberhaupt ein nicht ganz alltaegliches Seelenleben
zu begreifen. Das Urteil lautete auf 4 Jahre Zuchthaus
und zwei Jahre Polizeiaufsicht. So schwer es mir faellt,
dies fuer die Oeffentlichkeit niederzuschreiben, ich kann mich
nicht davon entbinden; es muss so sein. Nicht mich bedaure
ich, sondern meine armen, braven Eltern und Geschwister,
welch erstere mir noch im Grabe leid tun, dass
ihr Sohn, auf den sie so grosse, vielleicht nicht ganz
unberechtigte Hoffnungen setzten, durch die unendliche
Grausamkeit der Tatsachen und Verhaeltnisse gezwungen
ist, derartige Gestaendnisse zu machen.

Es kann mir nicht einfallen, die Missetaten, die mir
vorgeworfen werden, hier aufzuzaehlen. Mein Henker,
Schinder und Abdecker zu sein, ueberlasse ich jener
abgrundtiefen Ehrlosigkeit, die mich vor nun zehn Jahren an
das Kreuz geschlagen und waehrend dieser Zeit keinen
Augenblick lang aufgehoert hat, immer neue Qualen fuer
mich zu ersinnen. Sie mag in diesen Faekalienstoffen
weiterwuehlen, zum Entzuecken aller jener niedern
Lebewesen, denen diese Stoffe Lebensbedingungen sind. Und
ebensowenig bin ich gewillt, mit dieser meiner jetzigen
Gefangenschaft Sensation zu treiben. Ich habe schlicht
und einfach ueber sie zu berichten, die Wahrheit zu sagen
und mich dann zu beeilen, diesem vermeintlichen Abgrund,
der aber ganz und gar kein Abgrund ist, fuer immer Valet
zu sagen.

Meine Strafe war schwer und lang, und der auf
zwei Jahre Polizeiaufsicht lautende Zusatz konnte mir
bei meiner Einlieferung keineswegs als Empfehlung dienen.
Ich war also auf strenge Behandlung gefasst. Sie war
ernst, aber sie tat nicht weh. Eine Anstaltsdirektion
handelt ganz richtig, wenn sie sich nicht voreingenommen
zeigt, sondern ruhig abwartet, ob und wie der Eingelieferte
sich fuegt. Nun, ich fuegte mich! Freilich wurde fuer dieses
Mal auf meinen Stand keine Ruecksicht genommen. Man
teilte mich derjenigen Beschaeftigung zu, in der grad
Arbeiter gebraucht wurden. Ich wurde Zigarrenmacher.
Ich bat, isoliert zu werden; man gestattete es mir. Ich
habe vier Jahre lang dieselbe Zelle bewohnt und denke
noch heut mit jener eigenartigen, dankbaren Ruehrung an
sie zurueck, welche man stillen, nicht grausamen
Leidensstaetten schuldet. Auch die Arbeit wurde mir lieb. Sie
war mir hochinteressant. Ich lernte alle Arten von Tabak
kennen und alle Sorten von Zigarren fertigen, von der
billigsten bis zur teuersten. Das taegliche Pensum war
nicht zu hoch gestellt. Es kam auf die Sorte, auf den
guten Willen und auf die Geschicklichkeit an. Als ich
einmal eingeuebt war, brachte ich mein Pensum spielend
fertig und hatte auch noch stunden- und halbe Tage lang
uebrige Zeit. Diese Zeit fuer mich verwenden zu duerfen,
war mein innigster Wunsch, und der wurde mir eher,
viel eher erfuellt, als ich es fuer moeglich hielt.

Ich betone hier ein fuer allemal, dass es fuer mich keinen
Zufall gibt. Das weiss ein jeder meiner Leser. Fuer
mich gibt es nur eine Fuegung. So auch in diesem Falle.
Die Anstaltskirche in Waldheim hatte eine protestantische
und eine katholische Gemeinde. Der katholische Katechet
(Anstaltslehrer) fungierte waehrend des katholischen
Gottesdienstes als Organist. Nun war er aber im Laufe der
Zeit so mit neuen Pflichten und vieler Arbeit ueberbuerdet
worden, dass er fuer das Orgelspiel einen Stellvertreter
suchen musste, zumal er bei Verhinderung des Geistlichen
die Predigt vorzulesen hatte und also nicht auch
noch die Orgel uebernehmen konnte. Die Direktion billigte
ihm zu, sich einen Vertreter unter den Gefangenen zu
suchen. Er tat es. Es gab eine ganze Anzahl bestrafter
Lehrer unter den Gefangenen. Sie wurden geprueft.
Warum keiner von ihnen genommen wurde, das weiss
ich nicht. Sie waren alle laenger da, als ich, hatten
also Zeit gehabt, sich das Vertrauen zu erwerben, welches
zur Bekleidung einer solchen Stelle gehoert. Ich aber war
mit nichts weniger als guten Attesten eingeliefert, konnte
der zukuenftigen Polizeiaufsicht unmoeglich entgehen und
hatte noch keine Zeit gefunden, zu zeigen, dass ich trotzdem
Vertrauen verdiente. Hier liegt die Ursache fuer mich,
keinen Zufall, sondern eine Schickung anzunehmen. Der
Katechet kam in meine Zelle, unterhielt sich eine Weile
mit mir und ging dann fort, ohne mir etwas zu sagen.
Einige Tage spaeter kam auch der katholische Geistliche.
Auch er entfernte sich nach kurzer Zeit, ohne dass er sich
ueber den Grund seines Besuches aeusserte. Aber am
naechsten Tage wurde ich in die Kirche gefuehrt, an die
Orgel gesetzt, bekam Noten vorgelegt und musste spielen.
Die Herren Beamten sassen unten im Schiff der Kirche
so, dass ich sie nicht sah. Bei mir war nur der Katechet,
der mir die Aufgaben vorlegte. Ich bestand die Pruefung
und musste vor dem Direktor erscheinen, der mir eroeffnete,
dass ich zum Organisten bestellt sei und mich also sehr
gut zu fuehren habe, um dieses Vertrauens wuerdig zu
sein. Das war der Anfang, aus dem sich so sehr viel
fuer mich und mein Innenleben entwickelte.

Ich, der Protestant, Orgelspieler in einer
katholischen Kirche! Das brachte mir zunaechst einige
Bewegungsfreiheiten innerhalb der Anstaltsgebaeude. Man
konnte mir doch keinen Aufseher mit an die Orgel stellen!
Aber es brachte mir noch mehr, naemlich Achtung und
diejenige Ruecksichtnahme, nach der ich in Beziehung auf
gewisse Aeusserlichkeiten strebte. Der Aufseher unserer
Visitation war ein stiller, ernster Mann, der mir sehr
wohlgefiel; als er im Meldebuch las, dass ich katholischer
Organist geworden sei, kam er verwundert in meine Zelle,
um mich zu fragen, ob vielleicht in meinen Einlieferungsakten
ein Versehen unterlaufen sei; da sei ich als
evangelisch-lutherisch bezeichnet. Ich verneinte das Versehen.
Da sah er mich gross an und sagte:

"Das ist noch gar nicht dagewesen! Da musst
du -- -- -- hm, da muessen Sie sehr musikalisch sein!"

Die Gefangenen werden natuerlich "Du" genannt;
von jetzt an aber sagte er "Sie", und Andere taten ihm
das nach. Das war eine scheinbar kleine, aber trotzdem
sehr wertvolle Errungenschaft, weil aus ihr vieles Andere
folgerte. Bald stellte sich zu meiner freudigen
Ueberraschung heraus, dass mein Aufseher der Dirigent des
Blaeserkorps war. Ich erzaehlte ihm von meiner
musikalischen Beschaeftigung in Zwickau. Da brachte er mir
schleunigst Noten, um mir eine Probeaufgabe zu erteilen.
Ich bestand auch diese Pruefung, und von nun an war
dafuer gesorgt, dass ich nicht verhindert wurde, in meiner
freien Zeit nach meinen Zielen zu streben. Dieser Aufseher
ist mir ein lieber, vaeterlicher Freund gewesen, und
wir haben, als er spaeter pensioniert war und nach Dresden
zog, noch lange in lieber, achtungsvoller Weise mit
einander verkehrt.

Der katholische Katechet hiess Kochta. Er war nur
Lehrer, ohne akademischen Hintergrund, aber ein
Ehrenmann in jeder Beziehung, human wie selten Einer und
von einer so reichen erzieherischen, psychologischen
Erfahrung, dass das, was er meinte, einen viel groesseren Wert
fuer mich besass, als ganze Stoesse von gelehrten Buechern.
Nie sprach er ueber konfessionelle Dinge mit mir. Er
hielt mich fuer einen Protestanten und machte nicht den
geringsten Versuch, auf meine Glaubensanschauung
einzuwirken. Und wie er sich zu mir, so verhielt ich mich
zu ihm. Nie habe ich ihm eine Frage nach dem
Katholizismus vorgelegt. Was ich da wissen musste, das
wusste ich bereits oder konnte es in anderer Weise
erfahren. Mir war das schoene Verhaeltnis heilig, das
nach und nach zwischen ihm und mir entstand, ohne dass
sich stoerende Gegensaetze in das rein menschliche Wohlwollen
schleichen durften. Er tat seinen Kirchendienst,
ich meinen Orgeldienst, aber im Uebrigen blieb die Religion
zwischen uns vollstaendig unberuehrt und konnte also umso
direkter und reiner auf mich wirken. Grad dieses sein
Schweigen war so beredt, denn es liess seine Taten sprechen,
und diese Taten waren die eines Edelmenschen, dessen
Wirkungskreis zwar ein kleiner ist, der aber selbst das
Kleinste gross zu nehmen weiss.

Ich hatte nie katholische Kirchenlieder gespielt; jetzt
lernte ich sie kennen. Was fuer Orgel- und sonstige
Musikstuecke bekam ich in die Hand! Ich hatte geglaubt,
Musikverstaendnis zu besitzen. Ich Tor! Dieser einfache
Katechet gab mir Nuesse zu knacken, die mir sehr zu schaffen
machten. Was Musik eigentlich ist, das begann ich erst
jetzt zu ahnen, und die Musik ist nicht etwa das
allergeringste Mittel, durch welches die Kirche wirkt.

Der katholische Pfarrer kam nur dann zu mir, wenn
eine besondere Feststellung in Beziehung auf die
Orgelbegleitung noetig war. Er sprach nur das Allernoetigste,
ueber Religion gar nicht; aber wenn er zu mir hereintrat
war es stets, als ob bei mir die Sonne zu scheinen
beginne. Solche Sonnenmenschen sind selten, und doch muesste
eigentlich jeder Geistliche ein Sonnenmensch sein, denn
der Laie ist nur allzusehr geneigt, die Kirche so zu
betrachten und zu beurteilen, wie ihre Priester sich zu ihm
stellen. Ueber den Unterschied zwischen dem protestantischen
und dem katholischen Gottesdienst gehe ich hinweg, aber
jeder vernuenftige Mensch wird es fuer ganz naturgemaess
und selbstverstaendlich halten, dass ich nicht vier Jahre
lang an dem letzteren teilnehmen, ja sogar aktiv an ihm
beteiligt sein konnte, ohne von ihm beeinflusst zu werden.
Wir sind doch keine Steine, von denen alles Weiche
abprallt! Und sogar dieser Stein wird warm, wenn
der Sonnenstrahl ihn trifft! Und diese Gottesdienste
waren ja Sonnenstrahlen! Es liegt noch heut eine
unendliche Dankbarkeit fuer diese Waerme und diese Guete in
mir, die sich meiner annahm und keinen einzigen Vorwurf
fuer mich hatte, als alles Andere gegen mich war. Ich
habe sie gesegnet bis auf den heutigen Tag und werde
sie segnen, so lange ich lebe! Wie arm muessen doch die
Menschen innerlich sein, welche behaupten, dass ich katholisiere!
Es ist ganz unmoeglich, dass sie die Menschenseele und die
in ihr liegenden Heiligtuemer kennen. Uebrigens habe
ich ueber den katholischen Glauben gar nichts geschrieben,
ueber den mohammedanischen aber ganze Baende. Der
Vorwurf, dass ich islamitisiere, erscheint also viel berechtigter,
als der, dass ich katholisiere. Warum macht man mir
diesen nicht? Die Madonna ist von hundert protestantischen
Malern dargestellt und von hundert protestantischen Dichtern,
sogar von Goethe, behandelt worden. Warum sagt man
von diesen nicht, dass sie katholisieren? Ich habe der
katholischen Kirche fuer die hochsinnige Gastfreundlichkeit,
die sie mir, dem Protestanten, vier Jahre lang erwies,
durch ein einziges Ave Maria gedankt, welches ich fuer
meinen Winnetou dichtete. Ist das ein Grund, mich
der religioesen Heuchelei zu bezichtigen? Noch dazu des
Geldes wegen! Ich wiederhole: Wie arm muessen diese
Menschen sein, wie unendlich arm! -- --

Ich muss konstatieren, dass diese vier Jahre der
ungestoerten Einsamkeit und konzentrierten Sammlung mich
sehr, sehr weit vorwaerts gebracht haben. Es stand mir
jedes Buch zur Verfuegung, das ich fuer meine Studien
brauchte. Ich stellte meine Arbeitsplaene fertig und
begann dann mit der Ausfuehrung derselben. Ich schrieb
Manuskripte. Sobald eines fertig war, schickte ich es heim.
Die Eltern vermittelten dann zwischen mir und den Verlegern.
Ich schrieb diesen nicht direkt, weil sie jetzt noch
nicht erfahren sollten, dass der Verfasser der Erzaehlungen,
die sie druckten, ein Gefangener sei. Einer aber erfuhr
es doch, weil er persoenlich zu den Eltern kam. Das war
der spaeter noch viel zu erwaehnende Kolportagebuchhaendler
H. G. Muenchmeyer in Dresden. Er war Zimmergesell
gewesen, hatte bei Tanzmusiken auf dem Dorfe das
Klappenhorn geblasen und war dann Kolporteur geworden. In
dieser Eigenschaft kam er auch nach Hohenstein-Ernsttal
und lernte in einem benachbarten Dorfe eine Dienstmagd
kennen, die er heiratete. Das fesselte ihn an die
Gegend. Er wurde da bekannt und erfuhr auch von mir.
Was er da Tolles hoerte, schien ihm ausserordentlich passend
fuer seine Kolportage. Er suchte meinen Vater auf und
machte sich vertraut mit ihm. So kamen ihm meine
Manuskripte in die Hand. Er las sie. Einiges war ihm
zu hoch. Anderes aber gefiel ihm so, dass es ihn, wie er
sagte, entzueckte. Er bat, es drucken zu duerfen, und
bekam die Erlaubnis dazu. Er wollte sofort bezahlen und
legte das Geld auf den Tisch. Vater aber nahm es nicht.
Er schob es zurueck und forderte ihn auf, es mir persoenlich
zu geben, wenn ich entlassen sei. Hierauf ging Muenchmeyer
sehr gern ein. Er versicherte, ich sei der Mann,
den er gebrauchen koenne; er werde mich nach meiner
Heimkehr aufsuchen und alles Naehere mit mir besprechen.

Dies erzaehle und stelle ich fuer einstweilen fest. Es ist
fuer manches Folgende von grosser Wichtigkeit, zu wissen,
dass Muenchmeyer nicht nur meine Vergangenheit, wie sie
in Wahrheit verlief, genau kannte, sondern auch Alles
gehoert hatte, was hinzugelogen worden war.

Was meinen seelischen Zustand betrifft, so hatte ich
Ruhe, vollstaendige Ruhe. In den ersten vier Wochen der
letzten vier Jahre war es noch vorgekommen, dass die
dunklen Gestalten mich innerlich gequaelt und mit Zurufen
belaestigt hatten; das hatte aber nach und nach aufgehoert
und war schliesslich still geworden, ohne sich wieder zu
regen. Wenn ich hierueber nachdachte, ohne auf


 


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