Mein Leben und Streben
by
Karl May

Part 4 out of 6



psychologische Abwege zu geraten, so kam ich zu der Einsicht,
dass diese Gebilde nur solange Einfluss besitzen, wie man
in den betreffenden Anschauungen steckt. Hat man aber
die letzteren ueberwunden, dann muessen die Schreckbilder
schwinden. Und dies schien das Richtige zu sein; der
Katechet war derselben Meinung. Ich hatte ihm von
meinen inneren Anfechtungen nichts erzaehlt, wie ich in
rein persoenlichen und familiaeren Dingen ueberhaupt nie
einen Menschen zu meinem Vertrauten mache. Aber zuweilen
fiel doch ein Wort, welches nicht andeuten sollte,
aber doch andeutete. Er wurde aufmerksam. Einmal
kam ich im Verlauf des Gespraeches darauf, von meinen
dunklen Gestalten und ihren quaelenden Stimmen zu sprechen;
aber ich tat so, als ob ich von einem Andern spraeche, nicht
von mir selbst. Da laechelte er. Er wusste gar wohl, wen
ich meinte. Am naechsten Tage brachte er mir ein kleines
Buch, dessen Titel lautete: "Die sogenannte Spaltung des
menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung
ueberhaupt." Ich las es. Wie koestlich es war! Welche
Aufklaerung es gab! Nun wusste ich auf einmal, woran
ich mit mir war! Nun mochten sie wiederkommen, diese
Stimmen; ich hatte sie nicht mehr zu fuerchten! Spaeter,
als er sich das Buch wieder holte, dankte ich ihm, der
Freude entsprechend, die ich darueber empfand. Da fragte
er mich:

"Nicht wahr, Sie waren es selbst, von dem Sie
erzaehlten?"

"Ja," antwortete ich.

"Haben Sie alles verstanden?"

"Nein, noch nicht."

"Dieses hier?"

Er schlug eine Stelle auf; da war zu lesen: "Wer
an diesen schweren Anfechtungen leidet, der huete sich vor
der Stelle, an der er geboren wurde. Er wohne niemals
laengere Zeit dort. Und vor allen Dingen, wenn er einmal
heiratet, so hole er sich seine Frau ja nicht von diesem
Orte!"

"Nein, das verstehe ich noch nicht," gestand ich ein.

"Ich auch nicht," gab er zu. "Aber denken Sie
darueber nach!"

Dieses Nachdenken, welches er mir riet, fuehrte mich
zu keinem Resultate. Es handelte sich um eine rein
psychologische Frage. Da ist die Erfahrung die einzige wissende
Lehrerin, und diese Erfahrung musste ich machen, ehe
ich es begriff, leider, leider! -- -- --

_________


VI.
Bei der Kolportage.

_____

Es war ausgestanden. Ich kehrte heim. Es war
ein stuermischer Fruehlingstag, es regnete und schneite.
Vater kam mir entgegen. Es fiel ihm auch dieses Mal
nicht ein, mir Vorwuerfe zu machen. Er hatte meine
Manuskripte gelesen und meine Briefe fast auswendig
gelernt. Er wusste nun, dass er in Beziehung auf meine
Zukunft nichts mehr zu befuerchten hatte. Er kam bei
dieser Gelegenheit auch auf Muenchmeyer zu sprechen und
darauf, dass dieser mich aufsuchen wolle.

"Das wird vergeblich sein," sagte ich. "Dieser Mann
will Schundromane, aufregende Liebesgeschichten, weiter
nichts. Solche Sachen schreibe ich nicht. Er glaubt
wahrscheinlich, dass ich so ehrlos bin, ihm aus dem, was man
ueber mich faselt, einen Kolportageroman zusammenzuflicken,
der ihm allerdings viel Geld einbringen, mich aber
vernichten wuerde. Da irrt er sich. Ich habe ganz andere
Zwecke und Ziele!"

Vater gab mir recht. Als wir oberhalb der Stadt
angekommen waren und sie vor uns liegen sahen, zeigte er
nach dem naechsten Dorf hinueber, auf ein alleinstehendes,
neugebautes Haus und fragte mich:

"Kennst du das dort?"

"Ist es nicht die Stelle, wo damals das Feuer war?"

"Ja. Einige Tage, nachdem du fort warst, kam es
heraus, wer es angezuendet hat. Es wurde mit dem Taeter
sehr rasch verfahren. Er ist noch eher in das Zuchthaus
gekommen als du. Mutter wird es dir erzaehlen."

"O nein! Ich will nichts wissen, gar nichts. Bitte
sie, dass sie hierueber schweigen soll!"

Noch an demselben Abend erfuhr ich, dass der
Ortswachtmeister in der Kneipe damit geprahlt hatte, wie scharf
er mich empfangen und beaufsichtigen werde, zwei Jahre
lang; er lasse mich keinen Tag lang aus den Augen! Er
kam schon am andern Vormittag und warf sich derart in
die Brust, dass man es wirklich keinem in dieser Weise
behandelten Menschen uebelnehmen kann, wenn er dadurch
rueckfaellig wird. Er behauptete, zwei Jahre lang mein
Vorgesetzter zu sein, bei dem ich mich taeglich zu melden habe.
Dann zog er die betreffenden Gesetzesparagraphen aus der
Tasche, um mir eine Vorlesung ueber meine Pflichten zu
halten. Ich sagte kein Wort, sondern oeffnete die Tuer und
gab ihm einen Wink, sich zu entfernen. Als er das nicht
sofort tat, tat ich es. Ich ging zum Buergermeister und
machte kurzen Prozess. Ich forderte einen Auslandspass,
und als mir die Auskunft wurde, dass dies nicht so ohne
weiteres moeglich sei, war ich schon am naechsten Tage ohne
Pass unterwegs.

Im Zuge sass ich in einem sonst leeren Coupe. Es
ging ueber die Grenze. Da begann es ploetzlich in mir
laut zu wueten und zu toben, zu schreien und zu bruellen
wie in einem Dorfwirtshause, in dem die Bauernknechte
mit Stuhlbeinen aufeinander schlagen. Hunderte von
Gestalten und Hunderte von Stimmen waren es, von denen
das kam. Frueher haette es mich entsetzt; heut aber liess
es mich kalt. Diese Sumpfreminiszenzen, die mich nicht
hergeben wollten, hatten ihre Macht ueber mich verloren.
Ich reagierte nicht darauf, und so sollte es nach und nach
ganz von selber still werden.

Wohin diese Reise ging und wie sie verlief, soll der
zweite Band berichten. Inzwischen kam Muenchmeyer, um
nach mir zu fragen. Ich war schon fort. Da zahlte er
das Honorar und ging unverrichteter Sache wieder heim.
Ungefaehr dreiviertel Jahre spaeter erschien er wieder, und
zwar nicht allein, sondern mit seinem Bruder. Dieses Mal
fand er mich daheim, denn ich war wieder da, um meine
"Geographischen Predigten" zu schreiben und in Druck zu
geben. Sein Bruder war Schneider gewesen und dann
auch Kolporteur geworden. Das Geschaeft war bisher gut
gegangen, sogar ausserordentlich gut; nun aber stand es in
Gefahr, ganz ploetzlich zusammenzubrechen. Man brauchte
einen Retter, und der sollte ich sein, ausgerechnet ich! Das
war mir unbegreiflich, weil ich mit Muenchmeyer noch nie
etwas zu tun gehabt hatte, auch gar nichts mit ihm zu
tun haben wollte und weder ihn noch seine Lage kannte.
Er erklaerte sie mir. Er war ein klug berechnender, sehr
beredter Mann, und sein Bruder sekundierte ihm in so
trefflicher Weise, dass ich beide nicht kurzer Hand
abwies, sondern sie aussprechen liess. Aber als sie das
getan hatten, war ich -- -- -- eingefangen, obgleich ich es
nie fuer moeglich gehalten haette, dass ich jemals zu der
"Kolportage" in irgend eine Geschaeftsbeziehung treten
koenne.

Muenchmeyer hatte es zu einer nicht unbedeutenden
Druckerei mit Setzersaal, Stereotypie usw. gebracht. Was
er herausgab, war allerdings die niedrigste Kolportage. Er
sprach von einem sogenannten "Schwarzen Buch" mit lauter
Verbrechergeschichten, von einem sogenannten "Venustempel",
der eine wahre Goldgrube sei, und von einigen anderen
Werken gleicher Art. Fuer heut aber handle es sich
um ein Wochenblatt, welches er unter dem Titel "Der
Beobachter an der Elbe" herausgebe. Gruender und
Redakteur dieses Blattes sei ein aus Berlin stammender
Schriftsteller namens Otto Freytag, ein sehr geschickter,
tatkraeftiger, aber in geschaeftlicher Beziehung hoechst
gefaehrlicher Mensch. Dieser habe sich mit ihm ueberworfen, sei
ploetzlich aus der Redaktion gelaufen, habe alle
Manuskripte mitgenommen und wolle nun ein ganz aehnliches
Blatt wie den "Beobachter an der Elbe" herausgeben,
um ihn tot zu machen. "Wenn ich nicht sofort einen
anderen Redakteur bekomme, der diesem Menschen ueber ist
und es mit ihm aufzunehmen versteht, bin ich verloren!"
schloss Muenchmeyer seinen Bericht.

"Aber wie kommen Sie da grad auf mich?" erkundigte
ich mich. "Ich bin weder Redakteur noch in irgend
einer Weise bewaehrt!"

"Das lassen Sie meine Sorge sein! Ich habe viel
von Ihnen gehoert und, vor allen Dingen, ich habe Ihre
Manuskripte gelesen. Ich kenne mich aus. Sie sind der,
den ich brauche!"

"Aber ich habe ganz andere Sachen vor, und zur
Kolportage wird mich niemand bringen!"

"Weil Sie sie nicht kennen. Man kann doch auch
Gutes mit ihr leisten. Was haben Sie denn vor?"

Ich erklaerte ihm meine Plaene. Da fing er Feuer;
er begeisterte sich fuer sie. Er gehoerte zu jenen Leuten,
die gern vom Hohen schwaermen, aber doch vom
Niedrigen leben.

"Das ist ja vortrefflich, ganz vortrefflich!" rief er
aus. "Und das koennen Sie Alles bei mir erreichen, am
besten und schnellsten bei mir!"

"Wieso?"

"Sie geben diese Sachen bei mir in Druck und machen
diesen Freytag und sein neues Blatt damit tot!"

"Das waere allerdings bequem. Aber wenn mir Ihr
,Beobachter an der Elbe' nicht gefaellt? Ich kenne ihn
ja nicht."

"So lassen wir ihn eingehen, und Sie gruenden ein
neues Blatt an seiner Stelle!"

"Was fuer eines?"

"Ganz nach Ihrem Belieben, wie es fuer Ihre Zwecke
passt!"

Ich gestehe, dass er mich durch dieses Versprechen schon
mehr als halb gewann. Das klang in Beziehung auf meine
Plaene ja fast wie ein Himmelsgeschenk! Er fuegte noch
weitere Versprechungen hinzu, durch welche er es mir leicht
machte, auf seine Wuensche einzugehen. Hierzu kamen meine
eigenen Erwaegungen. Es wurde mir hier ganz unerwartet
die praechtigste Gelegenheit geboten, den Buchdruck, die
Schriftsetzerei, die Stereotypie und alles noch hierher
Gehoerige in bequemster Weise kennenzulernen. Das hatte
fuer mich als Schriftsteller sehr hohen Wert und wurde
mir wahrscheinlich nie wieder geboten. Der Gehalt, den [sic]
Muenchmeyer mir zahlen konnte, war zwar nicht bedeutend,
aber es flossen mir ja ausserdem derartige Honorare zu,
dass ich ihn eigentlich gar nicht brauchte. Und ich war
gar nicht gebunden. Er bot mir vierteljaehrige Kuendigung
an. Ich konnte also alle drei Monate gehen, wenn es
mir nicht gefiel.

"Versuchen Sie es! Sagen Sie ja!" forderte er
mich auf, indem er mir einen Monatsgehalt hinzaehlte.

"Wann haette ich anzutreten?" fragte ich.

"Spaetestens uebermorgen. Es eilt. Dieser Freytag
darf uns nicht vorauskommen."

"Aber Sie wissen doch, dass ich bestraft bin!"

"Ich weiss Alles. Das tut aber nichts."

"Und ich stehe sogar auch unter Polizeiaufsicht!"

"Das habe ich nicht gewusst; aber auch das tut
nichts. Grad weil dies so ist, sind Sie mir der
Allerliebste! Schlagen Sie ein!"

Das klang gradezu ruehrend. Er hielt mir die Hand
hin; Vater und Mutter nickten mir bittend zu; da gab
ich ihm den Handschlag; ich war -- -- -- Redakteur.

Als ich nach Dresden kam, nahm ich mir zunaechst
ein moebliertes Logis, doch stellte mir Muenchmeyer sehr
bald mehrere Zimmer als Redaktionswohnung zur
Verfuegung, und ich kaufte mir die Moebel dazu. Ich fand
den Verlag ganz ungemein haesslich. Das "Schwarze Buch"
war geradezu empoerend verbrecherisch. Der "Venustempel"
zeigte sich als ein scheussliches, auf die niedrigste
Sinnenlust berechnetes Unternehmen mit zotenhaften
Beschreibungen und entsetzlich nackten, aufregenden
Abbildungen. Beigegeben war eine Hausapotheke fuer
Geschlechtskrankheiten, an welcher Summen verdient wurden, die
mir fast unglaublich erschienen. Diese schamlosen Hefte
und Bilder lagen ueberall umher. Die Arbeiter und
Arbeiterinnen nahmen sie mit heim. Die vier Toechter
Muenchmeyers, damals noch im Schul- und Kindesalter,
lasen und spielten mit ihnen, und als ich Frau
Muenchmeyer vor den Folgen warnte, antwortete sie: "Was
denken Sie! Das ist unser bestes Buch! Das bringt eine
Masse Geld!" Ich nahm mir vor, dies muesse entweder
anders werden oder ich wuerde ohne Kuendigung wieder
fortgehen. Was den "Beobachter an der Elbe" betrifft,
dessen Redaktion ich uebernommen hatte, so sah ich gleich
mit dem ersten Blick, dass er verschwinden muesse.
Muenchmeyer war so vernuenftig, dies zuzugeben. Wir liessen
das Blatt eingehen, und ich gruendete drei andere an
seiner Stelle, naemlich zwei anstaendige Unterhaltungsblaetter,
welche "Deutsches Familienblatt" und "Feierstunden"
betitelt waren, und ein Fach- und Unterhaltungsblatt
fuer Berg-, Huetten- und Eisenarbeiter, dem ich die
Ueberschrift "Schacht und Huette" gab. Diese drei Blaetter
waren darauf berechnet, besonders die seelischen Beduerfnisse
der Leser zu befriedigen und Sonnenschein in ihre Haeuser
und Herzen zu bringen. In Beziehung auf "Schacht und
Huette" bereiste ich Deutschland und Oesterreich, um die
grossen Firmen z. B. Hartmann, Krupp, Borsig usw. dafuer
zu interessieren, und da ein solches Blatt damals Beduerfnis
war, so erzielte ich Erfolge, ueber die ich selbst erstaunte.
Unsere Blaetter stiegen so, dass Muenchmeyer mir zu Weihnachten
ein Klavier schenkte. Sein Konkurrent Freytag gab
sich alle Muehe, hatte zwar anfaenglich auch Erfolg, musste
sein Blatt aber schon nach kurzer Zeit eingehen lassen.

In dieser Zeit der Entwicklung war es, dass Muenchmeyer
von auswaertigen Behoerden wegen der Verbreitung
des "Venustempels" angezeigt wurde. Verfasser dieses
Schand- und Schundwerkes war eben jener Otto Freytag,
der nur deshalb mit Muenchmeyer gebrochen hatte, weil
dieser ihn an dem Gewinn, den das Werk brachte, nicht
partizipieren liess. Das Buch enthielt eine luestern
geschriebene Abteilung ueber "die Prostitution", die zu
Polizeianzeigen allerdings direkt herausforderte. Es wurde
Muenchmeyer von irgend einer Seite verraten, von welcher,
das weiss ich nicht, dass eine Haussuchung nach dem
"Venustempel" stattfinden werde. Sofort begann eine fieberhafte
Ruehrigkeit, die Verluste, die hier drohten, zu verhueten.
Jedermann, dem man traute, musste helfen; mir aber
sagte man kein Wort; man schaemte sich. Es lagen
Tausende von gedruckten Exemplaren da. Man versteckte
ganze Stoesse, die bis zur Decke reichten, hinter andern
Werken. Man fuellte den Lift damit aus. Man benutzte
jede verborgene Stelle. Man schaffte eine Menge der
gefaehrdeten Buecher in die Privatwohnungen und verbarg
sie sogar unter den Betten der Kinder. Das ging so schnell
und gelang so gut, dass die Polizei, als sie sich einstellte,
kaum eine ganz geringe Nachlese fand, und noch lange
hat man sich im Muenchmeyerschen Hause des Schnippchens
geruehmt, welches damals der sonst so findigen Dresdener
Behoerde geschlagen worden sei. Ich erfuhr erst spaeter,
viel spaeter hiervon und zog meine Konsequenzen. Meines
Bleibens war hier nicht. Ich wollte aus dem Abgrund
heraus, nicht aber wieder hinunter!

Ich darf wohl sagen, dass ich in jener Zeit fleissig
gewesen bin und mir ehrliche Muehe gegeben habe, die
Muenchmeyersche Kolportage in einen anstaendigen Verlag
zu verwandeln. Muenchmeyer befreundete sich so mit mir,
dass wir wie Brueder verkehrten. Das war mir ganz lieb,
so lange er tat, was ich fuer richtig hielt. Ich begann
gleich in den ersten Nummern der drei neugegruendeten
Blaetter mit der Ausfuehrung meiner literarischen Plaene.
Ich habe bereits gesagt, dass ich in dieser Beziehung mein
Augenmerk auf die Bewohner zweier Erdhaelften, naemlich
auf die Indianer und auf die islamitischen Volker richten
wollte. Das tat ich nun hier. Ich bestimmte das "Deutsche
Familienblatt" fuer die Indianer und die "Feierstunden"
fuer den Orient. Im ersteren Blatte begann ich sofort
mit "Winnetou", nannte ihn aber einem anderen
Indianerdialekt gemaess einstweilen noch In-nu-woh. Ich war
ueberzeugt, dass diese beiden Blaetter eine Zukunft haetten,
und ich bildete mir ein, fuer eine ganze Reihe von
Jahrgaengen Redakteur bleiben zu koennen. Da gab es Raum
und Zeit genug fuer das, was ich wollte. Ganz
selbstverstaendlich schrieb ich auch fuer andere Firmen, die ich
wohl nicht zu nennen brauche, doch ohne die Absicht, mich
bei ihnen festzusetzen. Leider stellte sich meinen guten,
weit ausschauenden Absichten ganz ploetzlich ein unerwartetes
Hindernis entgegen, welches eigentlich gar nicht bestimmt
war, ein Hindernis zu sein; es sollte vielmehr eine
Anerkennung, eine Foerderung bedeuten. Man machte mir
naemlich, um mich an die Firma zu binden, den Vorschlag,
die Schwester der Frau Muenchmeyer zu heiraten. Man
lud, um dies zu erreichen, meinen Vater nach Dresden
ein. Er durfte zwei Wochen lang als Gast bei Muenchmeyers
wohnen und bekam vom Vater der Frau Muenchmeyer
die Bruederschaft angetragen. Das bewirkte grad
das Gegenteil. Ich sagte "nein" und kuendigte, denn
nun verstand es sich ganz von selbst, dass ich nicht bleiben
konnte, zumal es um diese Zeit war, dass ich ueber jenen
Streich, den man der Dresdener Polizei gespielt hatte,
das Naehere erfuhr. Nun hatten meine Plaene einstweilen
zu schweigen, doch gab ich sie nicht auf. Als das
Vierteljahr vorueber war, zog ich von Muenchmeyers fort, doch
nicht von Dresden. Die Trennung von der Kolportage
tat mir nicht im geringsten wehe. Ich war wieder frei,
schrieb einige notwendige Manuskripte und ging sodann
auf Reisen. Hierbei meine Vaterstadt beruehrend, wurde
ich als Zeuge auf das dortige Amtsgericht geladen und
erfuhr, dass Freytag, der Verfasser, und Muenchmeyer, der
Verleger des "Venustempels", wegen dieses Schandwerkes
kuerzlich bestraft worden seien. Das hatte man mir
verschwiegen. Wie froh war ich, nicht in den Bezirk dieses
Venustempels hineingeheiratet zu haben!

Nach der Heimkehr von der soeben erwaehnten Reise
hatte ich Veranlassung, eine meiner Schwestern, die in
Hohenstein verheiratet war, aufzusuchen. Ich wohnte
einige Tage bei ihr und lernte da ein Maedchen kennen,
welches einen ganz eigenartigen Eindruck auf mich machte.
Ich habe am Anfange dieses meines Buches gesagt, dass
ich die sonderbare Eigentuemlichkeit besitze, die Menschen
mehr seelisch als koerperlich vor mir zu sehen. Ob das
ein Vorzug oder ein Nachteil ist, kann nicht ich
entscheiden; aber infolge dieser meiner Eigenheit kommt es
nicht selten vor, dass ich eine haessliche Person schoen und
eine schoene haesslich finde. Die interessantesten Wesen
sind mir die, deren seelische Gestalt mir raetselhaft
erscheint, deren Konturen ich nicht erkennen kann oder deren
Kolorit ich nicht begreife. Solche Personen ziehen mich
an, selbst wenn sie abstossend wirken; ich kann nichts
dafuer. Und mit dem Maedchen, von dem ich hier spreche,
hatte es noch eine andere, ganz eigentuemliche Bewandtnis.
Naemlich als ich, vierzehn Jahre alt, Proseminarist in
Waldenburg war, ging ich eines Novembertages von dort
nach Ernstthal zu den Eltern, um meine Waesche zu holen.
Auf dem Rueckwege kam ich ueber den Hohensteiner Markt.
Da wurde gesungen. Die Kurrende stand vor einem
Hause. Es war da eine Leiche, die beerdigt werden
sollte. Ich kannte das Haus. Unten wohnte ein Mehlhaendler
und oben eine von fremdher zugezogene Persoenlichkeit,
die man bald als Barbier, bald als Feldscheer [sic], Chirurg
oder Arzt bezeichnete. Er barbierte nicht Jedermann, und es
war bekannt, dass er noch weit mehr konnte als das. Sein
Name war Pollmer. Er hatte eine Tochter, die man fuer
das schoenste Maedchen der beiden Staedte hielt; das wusste
ich. Die sollte jetzt begraben werden. Darum blieb ich
stehen. Zwei Frauen, die auch zuhoeren und zusehen
wollten, stellten sich hinter mich. Eine dritte kam hinzu,
die war vom Dorfe, sie fragte, was das fuer eine
Leiche sei.

"Pollmers Tochter," antwortete eine der beiden ersten
Frauen.

"Ach?! Dem Zahndoktor seine? Woran ist denn
die gestorben?"

"An ihrem eigenen Kinde. Besser waere es, dieses
waere tot, sie aber lebte noch. Auf so einem Kinde, an
dem die Mutter stirbt, kann niemals Segen ruhen; das
bringt Jedermann nur Unheil."

"Was ist denn der Vater?"

"Der? Es hat ja keinen!"

"Du lieber Gott! Auch das noch? Da waere es
freilich besser, der Nickel koennte gleich mitbegraben
werden!"

Jetzt hoerte der Gesang auf. Man brachte den Sarg
heraus. Der Leichenzug bildete sich. Droben am offenen
Fenster der Wohnstube erschien eine weibliche Person,
welche etwas auf den Armen trug. Das war das Kind,
der "Nickel", der seine eigene Mutter getoetet hatte und
Jedermann Unheil brachte! Ich verstand von dem allem
nichts. Was weiss ein vierzehnjaehriger Junge von den
Vorurteilen dieser Art von Menschen! Aber als der
Leichenzug an mir vorueber war, und ich meinen Weg
fortsetzte, nahm ich Etwas mit, was mich spaeter noch
oft beschaeftigte, naemlich die Frage, warum man sich vor
einem Kinde, welches keinen Vater hat und schuld an
dem Tode seiner Mutter ist, in Acht nehmen muss. Ich
glaubte infolge meiner Jugend und Unerfahrenheit an
das, was die alten Weiber gesagt hatten, und fuehlte eine
Art von Grauen, so oft ich an dieses Leichenbegraebnis
und an den unglueckseligen "Nickel" dachte. Sobald ich
spaeter ueber den Hohensteiner Markt kam, schaute ich
ganz unwillkuerlich nach dem betreffenden Fenster in der
Oberstube des Mehlhaendlerhauses. Nach Verlauf einer
Reihe von Jahren sah ich einmal den Kopf eines Kindes,
eines Maedchens, herausschauen. Ich blieb fuer einen
Augenblick stehen, um das Gesicht zu betrachten. Es
war nichtssagend und hatte weder etwas Wohltuendes
noch etwas Fuerchterliches an sich. Spaeter begegnete ich
einmal auf der Gasse einem stark gebauten, hochgewachsenen
Manne, der ein ungefaehr zwoelfjaehriges Maedchen
an der Hand fuehrte. Das war der alte Pollmer mit
seinem "Nickel". Der Alte sah sehr ernst, das Kind
aber recht munter und freundlich aus; es hatte gar
nichts an sich, was verriet, "dass seine Mutter an ihm
gestorben war". Dann habe ich es noch verschiedene
Male gesehen, als angehenden Backfisch, bleich, lang
aufgeschossen, ueberaus schmal, ganz uninteressant, ein
vollstaendig gleichgueltiges Wesen. Nie haette ich gedacht, dass
dieses Maedchen jemals in meinem Leben eine wenn auch
nur unbedeutende Rolle spielen koenne. Und nun ich jetzt
bei meiner Schwester wohnte, wurden mir bei einer ihrer
Freundinnen einige junge Maedchen vorgestellt, unter
denen sich auch ein "Fraeulein Pollmer" befand. Das
war der "Nickel"; aber er sah ganz anders aus als
frueher. Er sass so still und bescheiden am Tisch,
beschaeftigte sich sehr eifrig mit einer Haekelei und sprach
fast gar kein Wort. Das gefiel mir. Dieses Gesicht
erroetete leicht. Es hatte einen ganz eigenartigen,
geheimnisvollen Augenaufschlag. Und wenn ein Wort ueber
die Lippen kam, so klang es vorsichtig, erwaegend, gar
nicht wie bei andern Maedchen, die Alles grad so
herausschwatzten, wie es ihnen auf die Zunge laeuft. Das gefiel
mir sehr. Ich erfuhr, dass ihr Grossvater, naemlich
Pollmer, meine "Geographischen Predigten" gelesen hatte
und sie immer wieder las. Das gefiel mir noch mehr.
Sie erschien mir von ihren Freundinnen ganz verschieden.
Hinter den Gestalten der Letzteren sah ich keine Spur
von Geist und nur einen Hauch von Seele. Hinter der
Pollmer aber lag psychologisches Land, ob Hoch- oder
Niederland, ob Wueste oder Fruchtbarkeit, das konnte ich
nicht unterscheiden, aber Land war da; das sah ich
deutlich, und es entstand der Wunsch in mir, dieses Land
kennen zu lernen. Dass sie nicht aus einer wohlhabenden
oder gar vornehmen Familie stammte, konnte mich nicht
verhindern, ich war ja selbst auch nur ein armer
Webersohn und eigentlich viel weniger als das.

Am naechsten Tage kam ihr Grossvater zu mir. Sie
hatte ihm von mir erzaehlt und in ihm den Wunsch
erweckt, mich nach der Lektuere meiner "Predigten" nun
auch persoenlich kennen zu lernen. Er schien von mir
befriedigt zu sein, denn er forderte mich auf, nun auch
ihn zu besuchen. Ich tat es. Es entwickelte sich ein
Verkehr zwischen uns, der dann, als ich meinen Besuch
beendet hatte und wieder nach Dresden ging, sich aus
einem persoenlichen in einen schriftlichen verwandelte.
Aber Pollmer schrieb nicht gern. Die Briefe, die ich
bekam, waren von der Hand seiner Enkeltochter. Wer
haette jemals gedacht, dass ich mit dem "Nickel", der Einem
"nur Unheil bringt", in Korrespondenz treten wuerde!

Ihre Zuschriften machten einen ausserordentlich guten
Eindruck. Sie sprach da von meinem "schoenen,
hochwichtigen Beruf", von meinen "herrlichen Aufgaben", von
meinen "edlen Zielen und Idealen". Sie zitierte Stellen
aus meinen "Geographischen Predigten" und knuepfte
Gedanken daran, deren Trefflichkeit mich erstaunte. Welch
eine Veranlagung zur Schriftstellersfrau! Zwar kam es
mir zuweilen so vor, als ob nur ein maennlicher Verfasser,
und zwar ein sehr gebildeter, solche Briefe schreiben
koenne, aber es war mir nicht moeglich, sie eines solchen
Betruges fuer faehig zu halten. Meine Schwester schrieb
mir auch. Sie floss vom Lobe "Fraeulein Pollmers" ueber
und lud mich fuer die Weihnachtsferien ein, sie wieder zu
besuchen. Ich tat es. Ich vergass, dass grad die
Weihnachtszeit mir selten freundlich gesinnt gewesen ist und
dass ich vor der Stelle, an der ich geboren wurde,
gewarnt worden bin. Diese Weihnacht entschied ueber
mich, wenn ich mich auch nicht sofort verlobte. Ich hatte
ja Zeit. Diese Zeit verbrachte ich meist auf Reisen, bis
ich mich zu Pfingsten wieder in der Heimat einstellte,
um das Seelenstudium des "Nickels", der nun "mein
Nickel" werden sollte, weiter fortzusetzen. Aber es kam
nicht zu dieser Fortsetzung, sondern gleich zu einer
Entscheidung, wie sie sonst nur auf der Buehne zu sein
pflegt. Naemlich als Pollmer erfuhr, dass ich wieder da
sei, besuchte er mich und lud mich zu sich zum
Mittagessen ein. Er war laengst Witwer, und seine Familie
bestand nur aus ihm und seiner Enkeltochter. Ich wusste,
dass er sich ueberall nur hoechst lobend ueber mich aussprach,
und dass meine Vorstrafen ihn ganz und gar nicht hinderten,
mich fuer einen guten, vertrauenswuerdigen Menschen
zu halten. Aber ich wusste auch, dass er sein Enkelkind
fuer das schoenste und wertvollste Wesen der ganzen
Umgegend hielt und dass er ganz maerchenhafte Gedanken
in Beziehung auf dessen Verheiratung hatte. Er war
der Ansicht, dass solche strahlende Beautes der groesste
Reichtum ihrer Familie seien und nur moeglichst reich
und vornehm verheiratet werden duerfen. Ganz selbstverstaendlich
konnte diese seine Meinung nicht ohne Einfluss
auf seine Enkeltochter geblieben sein; das bemerkte
ich sehr wohl; und vielleicht war es die hoechste Zeit, sie
diesem Einflusse zu entziehen. Ich antwortete darum,
als er mich bat, heut bei ihm zu Mittag zu essen:

"Sehr gern, doch nur unter der Bedingung, dass ich
nicht nur Ihretwegen, sondern auch um Ihrer Tochter
willen kommen darf."

Er horchte ueberrascht auf.

"Um Emmas willen?" fragte er.

"Ja."

"Wie meinen Sie das? Haben Sie Absichten auf
sie? Wollen Sie sie etwa heiraten?"

"Allerdings."

"Alle Wetter! Davon weiss ich kein Wort! Das ist
aber doch wohl nur Ihre Absicht! Was sagt denn sie
dazu?"

"Sie ist einverstanden."

Da sprang er von dem Stuhle auf, wurde tiefrot
im Gesicht und rief aus:

"Daraus wird nichts, nichts, nichts! Meine Tochter
ist nicht dazu geboren und nicht dazu erzogen, dass sie
sich mit einem armen Teufel durch das Leben schindet!
Die kann andere Maenner kriegen. Die soll mir keinen
Schriftsteller heiraten, der, wenn es gut geht, nur von
seiner Beruehmtheit und nur vom Hunger lebt!"

"Denken Sie dabei etwa auch mit an meine Vorstrafen?"
fragte ich. "Das wuerde ich gelten lassen!"

"Unsinn! Das kuemmert mich nicht. Es laufen
Hunderttausende in der Freiheit herum, die in das
Zuchthaus gehoeren! Nein, das ist es nicht. Ich habe ganz
andere Gruende. Sie bekommen meine Tochter nicht!"

Er rief das sehr laut aus.

"Oho!" antwortete ich.

"Oho? Hier gibt es kein Oho! Ich wiederhole
Ihnen, Sie bekommen meine Tochter nicht!"

Er stampfte bei jedem dieser Worte, um ihren Eindruck
zu verstaerken, mit dem Spazierstock auf den Boden.
Es juckte mir foermlich in der Hand, sie ihm auf die
Achsel zu legen und ihm lachend zu sagen: "Gut, so behalten
Sie sie!" Aber dagegen baeumte sich das vaeterliche
Erbteil in mir auf, der zaehe, unbedachte Zorn, der
niemals das Richtige tut. Ich brauste nun auch auf:

"Wenn ich sie nicht bekomme, so nehme ich sie mir!"

"Versuchen Sie das!"

"Ich werde es nicht nur versuchen, sondern ich werde
es tun, wirklich tun!"

Da lachte er.

"Sie werden sich nicht zu mir wagen. Ich verbitte
mir von jetzt an jeden Besuch!"

"Das versteht sich ganz von selbst. Aber ich sage
Ihnen im voraus: Sie werden seiner Zeit persoenlich zu
mir kommen und mich bitten, Sie zu besuchen. Jetzt
aber leben Sie wohl!"

"Ich Sie bitten? Nie, nie, niemals!"

Er ging. Ich aber schrieb drei Zeilen und schickte
sie seiner Tochter. Die lauteten: "Entscheide zwischen
mir und Deinem Grossvater, Waehlst Du ihn, so bleib;
waehlst Du mich, so komm sofort nach Dresden!" Dann
reiste ich ab. Sie waehlte mich; sie kam. Sie verliess
den, der sie erzogen hatte und dessen einziges Gut sie
war. Das schmeichelte mir. Ich fuehlte mich als Sieger.
Ich tat sie zu einer Pfarrerswitwe, die zwei erwachsene,
hochgebildete Toechter besass. Durch den Umgang mit
diesen Damen wurde es ihr moeglich, sich Alles, was sie
noch nicht besass, spielend anzueignen. Von da aus bekam
sie Gelegenheit, eine selbstaendige Wirtschaft fuehren
zu koennen. Auch ich arbeitete mit gutem, ja mit sehr
gutem Erfolg. Ich wurde bekannt und bezog sehr anstaendige
Honorare. Ich hatte mit meinen "Reiseerzaehlungen"
begonnen, die sofort in Paris und Tours auch
in franzoesischer Sprache erschienen. Das sprach sich
herum; das imponierte sogar dem "alten Pollmer". Er
hoerte von Kennern, dass ich im Begriff stehe, ein
wohlhabender, vielleicht gar ein reicher Mann zu werden. Da
schrieb er an seine Tochter. Er verzieh ihr, dass sie ihn
um meinetwillen verlassen hatte, und forderte sie auf,
nach Hohenstein zu kommen, ihn zu besuchen, mich aber
mitzubringen. Sie erfuellte ihm diesen Wunsch, und ich
begleitete sie. Aber ich ging nicht zu ihm, sondern nach
Ernstthal zu meinen Eltern. Er schickte nach mir; ich
aber antwortete, er wisse wohl, was ich ihm vorausgesagt
habe. Wenn er mich bei sich haben wolle, muesse
er persoenlich kommen, mich einzuladen. Und er kam!

Ich fuehlte mich wieder als Sieger. Wie toericht
von mir! Hier hatte nicht ich, sondern nur die Erwaegung
gesiegt, dass ich es wahrscheinlich zu einem Vermoegen
bringen werde, und es gab sogar die Gefahr fuer mich,
dass diese Erwaegung nicht allein vom Grossvater getroffen
worden war. Uebrigens bat er sie, bis zu unserer
Verheiratung bei ihm in Hohenstein zu bleiben. Ich hatte
nichts dagegen und gab mein Logis in Dresden auf, um
bei den Eltern in Ernsttal zu wohnen. Es war damals
eine Zeit ganz eigenartiger innerer und aeusserer
Entwicklungen fuer mich. Ich schrieb und machte Reisen.
Von einer dieser Reisen zurueckgekehrt, erfuhr ich, kaum
aus dem Kupee gestiegen, dass heute nacht der "alte Pollmer"
gestorben sei; der Schlag hatte ihn getroffen. Ich
eilte nach seiner Wohnung. Man hatte mir zuviel
gesagt. Er war nicht tot; er lebte noch, er konnte aber
weder sprechen noch sich bewegen. Sein Enkelkind sass
in einer seitwaerts liegenden Stube bei einer klingenden
Beschaeftigung. Sie hatte nach seinem Gelde gesucht und
es gefunden. Es war nicht viel; ich glaube kaum
zweihundert Mark. Ich zog sie davon fort, zu dem Kranken
hinueber. Er erkannte mich und wollte reden, brachte es
aber nur zu einem unartikulierten Lallen. Aus seinem
Blicke sprach eine ungeheure Angst. Da kam der behandelnde
Arzt. Er hatte ihn schon gleich frueh am Morgen
untersucht, tat dies jetzt wieder und gab uns den Bescheid,
dass alle Hoffnung vergeblich sei. Als er sich entfernt
hatte, glitt die Tochter des Sterbenden vor mir
nieder und bat mich, sie ja nicht zu verlassen. Ich
versprach es ihr und habe Wort gehalten. Ich habe sogar
noch mehr getan. Ich habe ihren Wunsch erfuellt, in
Hohenstein wohnen zu bleiben. Wir mieteten uns eine
Etage des oberen Marktes und haetten da unendlich gluecklich
leben koennen, wenn uns ein solches Glueck beschieden
gewesen waere.

Ich schrieb damals schon einige Jahre fuer
Pustet in Regensburg, in dessen "Deutschem Hausschatz"
meine "Reiseerzaehlungen" erschienen. Die Firma Pustet
ist eine katholische und der "Deutsche Hausschatz" ein
katholisches Familienblatt. Aber diese konfessionelle
Zugehoerigkeit war mir hoechst gleichgueltig. Der Grund,
warum ich dieser hochanstaendigen Firma treugeblieben
bin, war kein konfessioneller, sondern ein rein geschaeftlicher.
Kommerzienrat Pustet liess mir naemlich schon bei
der zweiten, kurzen Erzaehlung durch seinen Redakteur
Vinzenz Mueller mitteilen, dass er bereit sei, alle meine
Manuskripte zu erwerben; ich solle sie keinem anderen
Verlag senden. Und zahlen werde er sofort. Bei laengeren
Manuskripten, die ich ihm nach und nach schicken solle, gehe
er sehr gern auf Teilzahlungen ein; so viel Seiten, so viel
Geld! Es wird wohl selten einen Schriftsteller geben, dem
ein solches Anerbieten gemacht wird. Ich ging mit Freuden
darauf ein. Rund zwanzig Jahre lang ist das Honorar,
wenn ich das Manuskript heute zur Post sandte, genau
uebermorgen eingetroffen. Ich erinnere mich keines
einzigen Males, dass es spaeter gekommen waere. Und
niemals hat es in Beziehung auf das Honorar auch nur
die geringste Differenz zwischen uns gegeben. Ich habe
nie mehr verlangt, als was vereinbart worden war, und
als Pustet es mir ploetzlich verdoppelte, tat er das aus
eigenem, freiem Entschlusse, ohne dass ich einen hierauf
bezueglichen Wunsch geaeussert hatte. Solchen Verlegern
bleibt man treu, auch ohne nach ihrem Glauben und
ihrer Konfession zu fragen.

Aber noch wertvoller als diese Puenktlichkeit war fuer
mich der Umstand, dass alle meine Manuskripte
vorausbestellt waren und sicher an- und aufgenommen wurden.
Das machte es mir moeglich, meine auf die "Reiseerzaehlungen"
bezueglichen Plaene nun endlich auszufuehren. Es
war mir nun der noetige Spaltenraum fuer lange Zeit
hinaus sichergestellt. Durch wen ich diese Erzaehlungen
dann spaeter in Buchform herausgeben wuerde, war eine
Frage, die einstweilen noch offenbleiben konnte. Es gibt
feindselige Menschen, welche behaupten, dass ich mich
nur um des Geldes willen an diesen katholischen Verlag
herangemacht habe. Das ist eine Unwahrheit, fuer deren
Gewissenlosigkeit und Verwerflichkeit ich keine Worte
finde. Ich habe ganz das Gegenteil von dem getan,
dessen man mich da beschuldigt. Ich habe dem "Deutschen
Hausschatz" und seinem Herausgeber Opfer gebracht,
von deren Groesse die Familie Pustet keine Ahnung
hatte. Vor mir liegt ein Brief, den Professor Josef
Kuerschner, der bekannte, beruehmte Publizist, mit dem ich
sehr befreundet war, am 3. Oktober 1886 an mich
schrieb. Es handelte sich um die bei Spemann in
Stuttgart erscheinende Revue "Vom Fels zum Meere",
fuer welche ich mitgearbeitet habe. Der Brief lautet wie
folgt:

"Sehr geehrter Herr!

Sie haben inzwischen schon wieder fuer andere
Unternehmungen Beitraege geliefert, waehrend Sie mich
mit dem laengst Versprochenen noch immer im Stiche
liessen. Das ist eigentlich nicht recht, und ich bitte
Sie dringend, nun Ihr Versprechen mir gegenueber
wahr zu machen. Ich will diese Gelegenheit nicht
voruebergehen lassen, ohne Sie zu fragen, ob Sie nicht
geneigt waeren, einmal einen recht packenden, fesselnden
und situationsreichen Roman zu schreiben. Ich wuerde
I h n e n in diesem Falle ein Honorar bis zu tausend
Mark pro "Fels"-Bogen zusichern koennen, wenn Sie
etwas Derartiges schreiben wuerden.

In vorzueglicher Hochachtung

Ihr ergebenster

Josef Kuerschner.

Das Honorar, welches ich von Pustet bekam, war
gegen diese tausend Mark so unbedeutend, dass ich mich
scheue, seinen Betrag hier zu nennen. Wenn ich Pustet
trotzdem vorgezogen habe, so ist das ein gewiss wohl mehr
als hinreichender Beweis, dass ich fuer den "Hausschatz"
nicht geschrieben habe, um "mehr Geld zu machen, als
ich von Andern bekam". Auch meine andern Verleger
zahlten bedeutend mehr als Pustet. Das muss ich, um
diesen boeswilligen Ausstreuungen zu begegnen, hiermit
konstatieren. Ueber den Inhalt dieser meiner
Hausschatzerzaehlungen berichte ich an anderer Stelle. Ich habe,
der Logik der Tatsachen gehorchend, mich von Pustet
zurueck zu Muenchmeyer zu wenden.

Es war ihm Jahre 1882, als ich mit meiner Frau
auf einer Erholungstour nach Dresden kam. Ich hatte
ihr Muenchmeyer so lebhaft geschildert, dass sie sich ein
ganz richtiges Bild von ihm machen konnte, obgleich sie
ihn noch nicht gesehen hatte. Sie wuenschte aber sehr,
ihn kennen zu lernen, von dem ihr auch Andere gesagt
hatten, dass er ein huebscher Kerl, ein glanzvoller Unterhalter
und fuer schoene Frauen begeistert sei. Er pflegte
in dieser Jahreszeit um die Daemmerstunde in einer
bestimmten Gartenrestauration zu verkehren. Als ich ihr
das sagte, bat sie mich, sie hinzufuehren. Ich tat es,
obgleich es mir widerstrebte, ihm diejenige zu zeigen, die ich
seiner Schwaegerin vorgezogen hatte. Ich hatte mich
nicht geirrt. Er war da. Der einzige Gast im ganzen
Garten. Die Freude, mich wiederzusehen, war aufrichtig;
das sah man ihm an. Aber gab es nicht vielleicht auch
geschaeftliche Ursachen zu dieser Freude? Er hatte gar
so zusammengedrueckt und niedergeschlagen dagesessen, den
Kopf in beide Haende gelegt. Nun aber war er ploetzlich
froh und munter. Er strahlte vor Vergnuegen. Er
machte mir in seiner Kolportageweise die unmoeglichsten
Komplimente, eine so schoene Frau zu haben, und meiner
Frau gratulierte er in denselben Ausdruecken zu dem
Glueck, einen so schnell beruehmt gewordenen Mann zu
besitzen. Er kannte meine Erfolge, uebertrieb sie aber,
um uns beiden zu schmeicheln. Er machte Eindruck auf
meine Frau, und sie ebenso auf ihn. Er begann, zu
schwaermen, und er begann, aufrichtig zu werden. Sie
sei schoen wie ein Engel, und sie solle sein Rettungsengel
werden, ja, sein Rettungsengel, den er brauche in seiner
jetzigen grossen Not. Sie koenne ihn retten, indem sie
mich bitte, einen Roman fuer ihn zu schreiben. Und nun
erzaehlte er:

Als ich aus seinem Geschaeft getreten war, hatte er
keinen passenden Redakteur fuer die von mir gegruendeten
Blaetter gefunden. Er selbst verstand nicht, zu redigieren.
Sie verloren sehr schnell ihren Wert; die Abonnenten
fielen ab; sie gingen ein. Dabei blieb es aber nicht. Es
wollte ueberhaupt nichts mehr gelingen. Verlust folgte
auf Verlust, und jetzt stand es so, dass er die Hamletfrage
Sein oder Nichtsein nicht laenger von sich weisen
konnte. Er habe soeben, in diesem Augenblick, darueber
nachgedacht, durch wen oder was er Rettung finden koenne,
doch vergeblich. Da seien wir beide gekommen, grad wie
vom Himmel geschickt. Und nun wisse er, dass er gerettet
werde, naemlich durch mich, durch einen Roman von mir,
durch meine schoene, junge, liebe, gute Herzensfrau, die
mir keine Ruhe lassen werde, bis dieser Roman in seinen
Haenden sei. Der Pfiffikus hatte sich durch diese derben
Lobeserhebungen der Mithilfe meiner unerfahrenen Frau
vollstaendig versichert. Er drang in mich, ihm seinen Wunsch
zu erfuellen, und sie bat mit. Er stellte mir klugerweise
vor, dass eigentlich nur ich schuld an seiner jetzigen schlimmen
Lage sei. Vor sechs Jahren habe alles ausserordentlich
gut gestanden; aber dass ich seine Schwaegerin nicht habe
heiraten wollen und aus der Redaktion gegangen sei, das
habe alles in das Gegenteil verwandelt. Um das wieder
gut zu machen, sei ich also moralisch geradezu verpflichtet,
ihm jetzt unter die Arme zu greifen.

Was diesen letzteren Gedanken betraf, so fuehlte ich
gar wohl, dass etwas Wahres daran sei. Man hatte
damals meine Bereitwilligkeit, die Schwester der Frau
Muenchmeyer zu heiraten, fuer so selbstverstaendlich gehalten,
dass ueberall davon gesprochen worden war. Dadurch, dass
ich den Plan zurueckwies, hatte nicht nur dieses Maedchen,
sondern auch die ganze Familie eine beinahe oeffentliche
Zuruecksetzung erlitten, an der ich zwar nicht die Schuld
trug, die mich aber geneigt machte, Muenchmeyer als Ersatz
dafuer irgend eine Liebe zu erweisen. Hierzu kam, dass
wir uns nicht gezankt hatten, sondern als Freunde
auseinander gegangen waren. Es konnte also wohl einen
geschaeftlichen, nicht aber einen persoenlichen Grund geben,
seinen Wunsch zurueckzuweisen. Aber auch in geschaeftlicher
Beziehung lag kein zwingender Grund vor, mich zu weigern.
Zeit hatte ich; ich brauchte sie mir nur zu nehmen. In
dem Umstand, dass Muenchmeyer Kolportageverleger war,
lag kein Zwang fuer mich, ihm nun auch meinerseits nichts
Anderes als nur einen Schund- und Kolportageroman zu
schreiben. Es konnte etwas Besseres sein, eine organische
Folge von Reiseerzaehlungen, wie ich sie Pustet und anderen
Verlegern lieferte. Tat ich das, so war damit zugleich
auch meinem Lebenswerke gedient, und ich konnte das,
was ich fuer Muenchmeyer schrieb, ganz ebenso spaeter fuer
mich in Baenden erscheinen lassen, wie das fuer meine
Hausschatzerzaehlungen bestimmt worden war.

Diese Erwaegungen gingen mir durch den Kopf, waehrend
Muenchmeyer und meine Frau auf mich einsprachen.
Ich erklaerte schliesslich, dass ich mich vielleicht entschliessen
koennen, den gewuenschten Roman zu schreiben, doch nur
unter der Bedingung, dass er nach einer bestimmten Zeit
mit saemtlichen Rechten wieder an mich zurueckfalle. Es
duerfe an meinem Manuskripte absolut kein Wort geaendert
werden; das wisse er ja von frueher her. Muenchmeyer
erklaerte, hierauf einzugehen, doch moege ich ihn mit dem
Honorar nicht druecken. Er sei in Not und koenne nicht
viel zahlen. Spaeter, wenn mein Roman gut einschlage,
koenne er das durch eine "feine Gratifikation" ausgleichen.
Das klang ja gut. Er bat, ihm keine Zeit zu setzen, an
welcher der Roman wieder an mich zurueckzufallen habe,
sondern lieber eine Abonnentenzahl, nach welcher, sobald
sie erreicht worden sei, er aufzuhoeren und mir meine Rechte
wiederzugeben habe. Er berechnete, dass er mit sechs- bis
siebentausend Abonnenten auf seine Rechnung komme;
was darueber hinausgehe, sei Verdienst. Darum schlug
ich vor, im Falle, dass ich den Roman schreiben werde,
solle Muenchmeyer bis zum zwanzigtausendsten Abonnenten
gehen duerfen, weiter nicht; dann habe er mir eine "feine
Gratifikation" zu zahlen, und der Roman falle mit allen
Rechten an mich zurueck. Ob ich ihn dann gegen das
entsprechende Honorar bei ihm oder bei einem anderen
Verleger weiter erscheinen lasse, sei lediglich meine Sache.
Hierauf ging Muenchmeyer sofort ein, ich aber gab meine
Zusage noch nicht definitiv; ich erklaerte, mir die Sache
erst noch reiflich ueberlegen und meine Entscheidung dann
morgen geben zu wollen.

Muenchmeyer kam schon am folgenden Morgen in unser
Hotel, um sich meinen Bescheid zu holen. Ich sagte ja,
halb freiwillig und halb gezwungen. Meine Frau hatte
nicht nachgelassen, bis ich ihr das Versprechen gab, ihm
seinen Wunsch zu erfuellen. Er bekam den Roman zu den
erwuenschten Bedingungen, naemlich nur bis zum
zwanzigtausendsten Abonnenten. Dafuer hatte er fuer die Nummer
35 Mark zu bezahlen und beim Schluss eine "feine
Gratifikation". Er gab den Handschlag. Unser Kontrakt
war also kein schriftlicher, sondern ein muendlicher. Er sagte,
wir seien beide ehrliche Maenner und wuerden einander
nie betruegen. Es klinge fuer ihn wie eine Beleidigung,
von ihm eine Unterschrift zu verlangen. Ich ging aus
zwei guten Gruenden hierauf ein. Naemlich erstens durften
nach damaligem saechsischem Gesetz bei Mangel eines
Kontrakts ueberhaupt nur tausend Exemplare gedruckt werden;
Muenchmeyer haette sich also, wenn er unehrlich sein wollte,
nur selbst betrogen; so dachte ich. Und zweitens konnte
ich mir den fehlenden schriftlichen Kontrakt sehr leicht und
unauffaellig durch Briefe verschaffen. Ich brauchte meine
Geschaeftsbriefe an Muenchmeyer sehr einfach nur so
einzurichten, dass seine Antworten nach und nach Alles
enthielten, was zwischen uns ausgemacht worden war. Das
habe ich denn auch getan und seine Antworten mir heilig
aufgehoben.

Er wuenschte sehr, dass ich mit dem Roman sofort
beginne. Ich tat ihm diesen Gefallen und kehrte schleunigst
nach Hohenstein zurueck, um unverweilt anzufangen. Meine
Frau trieb fast noch mehr als Muenchmeyer selbst. Er
hatte eine persoenliche Vorliebe fuer den nichtssagenden
Titel "Das Waldroeschen". Ich ging auch hierauf ein,
huetete mich aber, ihm sonst noch irgendwelche Konzessionen
zu machen. Schon nach einigen Wochen kamen guenstige
Nachrichten. Der Roman "ging". Dieses "ging" ist ein
Fachausdruck, welcher einen nicht gewoehnlichen Erfolg
bedeutet. Ich bekam weder Korrektur noch Revision zu
lesen, und das war mir ganz lieb, denn ich hatte keine
Zeit dazu. Beleghefte gingen mir nicht zu, weil sie mich
verzettelt haetten. Ich sollte meine Freiexemplare nach
Vollendung des Romans gleich komplett bekommen. Damit
war ich einverstanden. Freilich bekam ich dadurch keine
Gelegenheit, mein Originalmanuskript mit dem Druck zu
vergleichen, aber das machte mir keine Sorge. Es war
ja bestimmt worden, dass mir kein Wort geaendert werden
duerfe, und ich besass damals die Vertrauensseligkeit, dies
fuer genuegend zu halten.

Der Erfolg des "Waldroeschens" schien nicht nur ein
guter, sondern ein ungewoehnlicher zu werden. Muenchmeyer
zeigte sich in seinen Briefen sehr zufrieden. Er
schrieb wiederholt, dass er sich schon jetzt, nach so kurzer
Zeit fuer gerettet halte, denn er hoffe doch, dass der Roman
so zugkraeftig bleibe, wie er bis jetzt gewesen sei. Er regte
den Gedanken an, dass wir nicht in Hohenstein bleiben,
sondern nach Dresden ziehen moechten, da er mich in seiner
Naehe haben wolle. Meine Frau griff diesen Gedanken
mit Begeisterung auf und sorgte dafuer, dass er so schnell
wie moeglich ausgefuehrt wurde. Ich straeubte mich keineswegs.
Hatte ich doch waehrend der Hohensteiner Zeit mehr
und mehr an jene Warnung denken muessen, welche in dem
Buche des Katecheten zu lesen gewesen war. Ich hatte,
dieser Warnung zum Trotz, mich nicht nur an der Stelle,
an der ich geboren worden war, sesshaft niedergelassen,
sondern mir auch eine Frau von dort genommen. Ich
war fuer einige Zeit geneigt gewesen, den Inhalt dieser
Buchstelle als Aberglauben zu betrachten, sah sie aber
gar bald wieder mit dem Auge des Psychologen an und
wurde sodann durch die Schwere der Tatsachen gezwungen,
einzusehen, dass ein einzelner Schwimmer unbedingt leichter
ueber truebe Gewaesser hinueberlangt, als wenn er eine
zweite Person mitzunehmen hat, die weder schwimmen
kann noch schwimmen will. Darum war mir diese
Ortsveraenderung ganz recht, doch zog ich aus Vorsicht nicht
nach Dresden selbst, sondern nach Blasewitz, um mir
Ellbogenfreiheit zu sichern. Muenchmeyer stellte sich auch da
sofort ein, und zwar woechentlich mehrere Male. Es entwickelte
sich ein anfangs ganz foerderlicher Verkehr zwischen
ihm und uns. Ich arbeitete so, dass ich mir fast keine
Ruhe goennte. Der Roman schritt sehr schnell vorwaerts,
und sein Erfolg wuchs derart, dass Muenchmeyer mich bat,
noch einen zweiten und womoeglich noch einige weitere
zu schreiben. Ich ahnte nicht, dass meine Entscheidung
ueber diesen seinen Wunsch eine fuer mich hochwichtige sei
und dass sie mir, falls sie bejahend ausfallen sollte, zu
einer Quelle unsagbaren Elendes und unaussprechlicher
Qual werden koenne. Ich betrachtete nur die angeblichen
Vorteile, sah aber nicht die Gefahr.

Diese Gefahr entwickelte sich, wie schon einmal, aus
meinen literarischen Plaenen heraus. Muenchmeyer hatte
diese Plaene nicht vergessen; er kannte sie noch ganz gut.
Er erinnerte mich jetzt an sie. Ich hatte sie damals nicht
ausfuehren koennen, weil ich meine Stellung bei ihm aufgab.
Jetzt aber war ich kein Angestellter, sondern ein
freier Mann, der durch nichts verhindert werden konnte,
das zu tun, was ihm beliebte. Und die Hauptsache, ich
brauchte das, was ich schreiben wollte, nicht, wie bei
Pustet, auf viele Jahrgaenge auseinander zu dehnen, sondern
ich konnte es flottweg hintereinander schreiben, um das,
was jetzt als Heftroman erschien, spaeter in Buchform
herauszugeben. Das bestrickte mich. Hierzu kam das
bestaendige Zureden meiner Frau, welche die geringen Einwaende,
die ich zu erheben hatte, sehr leicht zum Schweigen
brachte. Kurz, ich gab meine Zustimmung, noch einige
Roman zu schreiben, und zwar zu ganz denselben Bedingungen
wie das "Waldroeschen". Diese Arbeiten hatten
mir also auch nach dem zwanzigtausendsten Abonnenten
mit allen Rechten wieder zuzufallen, und dann war mir
eine "feine Gratifikation" zu zahlen. Es gab nur eine
einzige Aenderung, naemlich die, dass ich fuer diese Romane
ein Honorar von fuenfzig Mark pro Heft bezog, anstatt
nur fuenfunddreissig bei dem "Waldroeschen".

Infolge dieser Abmachungen begann fuer mich von
jetzt an eine Zeit, an die ich heut nicht ohne Genugtuung,
zugleich aber auch nicht ohne tiefe Beschaemung denken
kann. Ich frage nicht, ob ich mich durch diese Aufrichtigkeit
blamiere; meine Pflicht ist, die Wahrheit zu sagen, weiter
nichts. Es war ein fast fieberhafter Fleiss, mit dem ich
damals arbeitete. Ich brauchte nicht, wie andere
Schriftsteller, muehsam nach Sujets zu suchen; ich hatte mir ja
reichhaltige Verzeichnisse von ihnen angelegt, in die ich
nur zu greifen brauchte, um sofort zu finden, was ich
suchte. Und sie alle waren schon fertig durchdacht; ich
hatte nur auszufuehren; ich brauchte nur zu schreiben.
Und dieses letztere tat ich mit einem Eifer, der mich weder
rechts noch links schauen liess, und grad das, das war
es, was ich wollte. Ich hatte einsehen muessen, dass es
fuer mich kein anderes Glueck im Leben gab, als nur das,
welches aus der Arbeit fliesst. Darum arbeitete ich, so
viel und so gern, so gern! Dieser ruhelose Fleiss ermoeglichte
es mir, zu vergessen, dass ich mich in meinem Lebensglueck
geirrt hatte und noch viel, viel einsamer lebte, als es
vorher jemals der Fall gewesen war. Dieses tiefe, innere
Verlassensein draengte mich, um die trostlose Oede auszufuellen,
zu rastlosem Fleisse und machte mich leider gleichgueltig
gegen die Notwendigkeit, geschaeftlich vorsichtig zu
sein. Es kam bei Muenchmeyer so viel vor, was mich
veranlassen konnte, auf der Hut zu sein, dass mehr als
genugsam Grund vorlag, die Zukunft und Integritaet alles
dessen, was ich fuer ihn schrieb, so sicher wie moeglich zu
stellen. Dass ich hieran nicht dachte, war ein Fehler, den
ich zwar entschuldigen, mir aber selbst heut noch nicht
verzeihen kann.

Muenchmeyer war Hausfreund bei uns geworden.
Er hatte sich in Blasewitz eine Art Garconlogis gemietet,
um seine Sonnabende und Sonntage bequemer bei uns
verbringen zu koennen. Er kam auch an Abenden der
andern Tage und brachte fast immer seinen Bruder, sehr
oft auch andere Personen mit. Er wuenschte zwar, dass
ich mich dadurch ja nicht in meiner Arbeit stoeren lassen
moege, doch konnte mich das nicht hindern, Herr meiner
Wohnung zu bleiben und dann, als mir dies nicht mehr
moeglich erschien, diese Wohnung aufzugeben und aus
Blasewitz fort, nach der Stadt zu ziehen. Meine neue
Wohnung lag in einer der stillsten, abgelegensten Strassen,
und mein neuer Wirt, ein sehr energischer Schloss- und
Rittergutsbesitzer, duldete keinen ruhestoerenden Laerm und
ueberhaupt keine Ueberfluessigkeiten in seinem Hause. Grad
das war es, was ich suchte. Ich fand da die innere und
aeussere Stille und die Sammlung, die ich brauchte.
Muenchmeyer kam noch einige Male, dann nicht mehr. Dafuer
aber stellten, ich wusste nicht, warum, sich Einladungen
von Frau Muenchmeyer ein, sie auf ihren Sonntagswanderungen
durch Wald und Heide zu begleiten. Diese
Wanderungen waren ihr vom Arzt geraten, der ihr tiefe
Lufteinatmung verordnet hatte. Ich musste mich wohl
oder uebel an ihnen beteiligen, weil dies der Wunsch
meiner Frau war, deren Gruende ich leider nicht zu wuerdigen
verstand. Sie fand sich nicht in die Abgeschiedenheit unserer
jetzigen Wohnung; sie entzweite sich mit dem Wirte. Ich
musste kuendigen. Wir zogen aus, nach einer Radauwohnung
des amerikanischen Viertels, die ueber einer Kneipe
lag, so dass ich nicht arbeiten konnte. Da wurde sie krank.
Der Arzt riet ihr sehr fruehe Spaziergaenge nach dem grossen
Garten, dem weltbekannten Dresdener Park. Solchen
aerztlichen Verordnungen hat man zu gehorchen. Es gab
fuer mich keinen Grund, diese Spaziergaenge zu verhindern,
die morgens vier bis fuenf Uhr begannen und ungefaehr
drei Stunden waehrten. Ich wusste nicht, dass Frau
Muenchmeyer auch nicht gesund war und dass auch sie
von ihrem Arzt die Weisung erhalten hatte, fruehe
Morgenspaziergaenge nach dem Grossen Garten zu machen. Erst
nach langer, sehr langer Zeit erfuhr ich, was waehrend
dieser Spaziergaenge geschehen war. Meine Frau war
mir nicht nur seelisch, sondern auch geschaeftlich verloren
gegangen. Die beiden Damen sassen tagtaeglich frueh morgens
in einer Konditorei des grossen Gartens und trieben eine
Hausfrauen- und Geschaeftspolitik, deren Wirkungen ich
erst spaeter verspuerte. Ich machte Schluss und zog von
Dresden fort, nach Koetzschenbroda, dem aeussersten Punkt
seiner Vorortsperipherie.

Schon vorher war ich mit meinem letzten Romane
fuer Muenchmeyer fertig geworden. Ich hatte ihm fuenf
geschrieben, in der Zeit von nur vier Jahren. Wenn
man spaeter vor Gericht behauptet hat, dass ich fuer Muenchmeyer
nicht fleissig, sondern faul gewesen sei, so bitte ich,
mir einen Verfasser zu nennen, der mehr geleistet und
zugleich auch noch fuer andere Verleger gearbeitet hat.
Hiermit sei fuer heut mit meiner "Kolportagezeit"
abgeschlossen. -- -- --

_________


VII.
Meine Werke.

_____

Wenn ich hier von meinen Werken spreche, so meine ich
diejenigen meiner Buecher, mit denen sich die Kritik
beschaeftigt hat oder noch beschaeftigt. Diejenigen, ueber
welche die Kritik, ob mit oder ohne Absicht, geschwiegen
hat, koennen auch hier uebergangen werden. Zu diesen
gehoeren meine Humoresken, meine erzgebirgischen
Dorfgeschichten und einige andere Sachen, die noch in den
Zeitungen verborgen liegen, ohne gesammelt worden zu
sein. Ich koennte hierzu auch noch meine "Himmelsgedanken"
rechnen, die man nicht erwaehnen zu wollen scheint, seit
es Herrn Herman [sic] Cardauns passierte, dass er sich mit
ihnen so wundersam blamierte. Er schrieb bekanntlich:
"Als lyrischen Dichter aber muessen wir uns ihn verbitten,"
obgleich sich in dieser ganzen Sammlung nicht ein einziges
lyrisches Gedicht befindet! Auch meine sogenannten "Union-
oder Spemannbaende" brauche ich hier nicht zu besprechen,
weil man sie nirgends angegriffen hat, obgleich ich nur
als Jugendschriftsteller angegriffen werde und sie die
einzigen Sachen sind, die ich fuer die Jugend geschrieben
habe. Es handelt sich also nur um die Fehsenfeldschen
"Reiseerzaehlungen" und um die bei Muenchmeyer
erschienenen "Schundromane", welch letztere im naechsten
Kapitel behandelt werden.

Meine "Reiseerzaehlungen" haben, wie bereits erwaehnt,
bei den Arabern von der Wueste bis zum Dschebel Marah
Durimeh und bei den Indianern von dem Urwald und
der Praerie bis zum Mount Winnetou aufzusteigen. Auf
diesem Wege soll der Leser vom niedrigen Anima-Menschen
bis zur Erkenntnis des Edelmenschentums gelangen.
Zugleich soll er erfahren, wie die Anima sich auf diesem
Wege in Seele und Geist verwandelt. Darum beginnen
diese Erzaehlungen mit dem ersten Bande in der "Wueste".
In der Wueste, d. i. in dem Nichts, in der voelligen
Unwissenheit ueber Alles, was die Anima, die Seele und
den Geist betrifft. Indem mein Kara Ben Nemsi, das
"Ich", die Menschheitsfrage, in diese Wueste tritt und die
Augen oeffnet, ist das Erste, was sich sehen laesst, ein
sonderbarer, kleiner Kerl, der ihm auf einem grossen
Pferde entgegengeritten kommt, sich einen langen beruehmten
Namen beilegt und gar noch behauptet, dass er Hadschi
sei, obgleich er schliesslich zugeben muss, dass er noch
niemals in einer der heiligen Staedte des Islams war, wo
man sich den Ehrentitel eines Hadschi erwirbt. Man
sieht, dass ich ein echt deutsches, also einheimisches,
psychologisches Raetsel in ein fremdes orientalisches Gewand
kleide, um es interessanter machen und anschaulicher loesen
zu koennen. Das ist es, was ich meine, wenn ich behaupte,
dass alle diese Reiseerzaehlungen als Gleichnisse, also bildlich
resp. symbolisch zu nehmen sind. Von einem Mystizismus
oder dergleichen kann dabei gar keine Rede sein.
Meine Bilder sind so klar, so durchsichtig, dass sich hinter
ihnen gar nichts Mystisches zu verstecken vermag.

Dieser Hadschi, der sich Hadschi Halef Omar nennt
und auch seinen Vater und Grossvater noch als Hadschis
hinten anfuegt, bedeutet die menschliche Anima, die sich
fuer die Seele oder gar fuer den Geist ausgibt, ohne selbst
zu wissen, was man unter Seele oder Geist zu verstehen
hat. Dies geschieht bei uns nicht nur im gewoehnlichen,
sondern auch im gelehrten Leben alltaeglich, aber man
ist derart blind fuer diesen Fehler, dass ich eben arabische
Personen und arabische Zustaende herbeiziehen muss, um
diese blinden Augen sehend zu machen. Ich schicke darum
diesen Halef gleich in den ersten Kapiteln nach Mekka,
wodurch seine Luege zur Wahrheit wird, weil er nun
wirklich Hadschi ist, und lasse ihn dann sofort seine
"Seele" kennen lernen -- -- -- Hannah [sic], sein Weib.

Ich hoffe, dieses Beispiel, welches ich gleich meinem
ersten Bande entnehme, sagt deutlich, was ich will und
wie man meine Buecher lesen muss, um ihren wirklichen
Inhalt kennen zu lernen. Ein zweites Beispiel mag
folgen: Kara Ben Nemsi befindet sich bei dem persischen
Stamme der Dschamikun. Dieser Stamm soll von dem
Volke der Sillan vernichtet werden. Da schickt der
Ustad, der Oberste der Dschamikun, einen Boten zum
Schah, um ihn um Hilfe zu bitten. Dieser Bote hat
aber den Schah noch nicht erreicht, so kommen ihm schon
die Heerscharen desselben entgegen, die ihm sagen, dass
sie vom Schah gesandt worden seien, den Dschamikun
Hilfe zu bringen. Der Schah hat also die Bitte des
Ustad erhoert, noch ehe sie zu ihm gelangte. Der Schah
ist aber Gott, und so interpretiere ich durch diese
Erzaehlung die christliche Liebe vom Gebete in Math. 6,8:
"Euer Vater weiss, was Ihr beduerfet, ehe Ihr ihn
bittet!" Uebrigens ist der Ustad kein Anderer als Karl
May, und die Dschamikun sind das Volk seiner Leser,
welches von den Sillan vernichtet werden soll. Ich
erzaehle also rein deutsche Begebenheiten im persischen
Gewande und mache sie dadurch fuer Freund und Feind
verstaendlich. Ist das nicht Gleichnis? Nicht bildlich?
Gewiss! Und ist es etwa mystisch? Nicht im
Allergeringsten! Es ist so offenbar Gleichnis, und so wenig
mystisch, dass mir, offengestanden, ein Jeder, der das Erstere
bestreitet und das Letztere behauptet, als ein Mensch
erscheint, der einen Namen verdient, den ich nicht nennen will.
Wer guten Willens ist und nicht mit unbedingt feindlicher
Absicht an das Lesen meiner Buecher geht, wird ohne Weiteres
finden, dass ihr Inhalt fast nur aus Gleichnissen besteht.
Und ist er einmal zu dieser Einsicht gelangt, so bleiben
ihm ganz sicher die zahlreichen Himmelsmaerchen nicht
verborgen, die in diesen Gleichnissen eingestreut liegen
und den eigentlichen, tiefsten Inhalt meiner Reiseerzaehlungen
zu bilden haben. Diese Maerchen sind es auch,
aus denen sich mein eigentliches Lebenswerk am Schlusse
meiner letzten Tage zu entwickeln hat.

Ist doch gleich meine erste Gestalt, naemlich Hadschi
Halef Omar, ein Maerchen, naemlich das Maerchen von
der verloren gegangenen Menschenseele, die niemals
wiedergefunden werden kann, ausser sie findet sich selbst.
Und dieser Hadschi ist meine eigene Anima, jawohl, die
Anima von Karl May! Indem ich alle Fehler des
Hadschi beschreibe, schildere ich meine eigenen und lege
also eine Beichte ab, wie sie so umfassend und so
aufrichtig wohl noch von keinem Schriftsteller abgelegt
worden ist. Ich darf also wohl behaupten, dass ich
gewisse Vorwuerfe, die mir von meinen Gegnern gemacht
werden, keineswegs verdiene. Wuerden diese Gegner es
einmal wagen, so offen ueber sich selbst zu sprechen wie
ich ueber mich, so wuerde das sogenannte Karl May-Problem
schon laengst in jenes Stadium getreten sein, in
welches es zu treten hat, mag man wollen oder nicht.
Denn dieses Karl-May-Problem ist auch ein Gleichnis.
Es ist nichts Anderes, als jenes grosse, allgemeine
Menschheitsproblem, an dessen Loesung schon ungezaehlte Millionen
gearbeitet haben, ohne etwas Greifbares zu erreichen.
Ganz ebenso hat man schon Jahrzehnte lang an mir
herumgearbeitet, ohne es weiter zu bringen als zu der
traurigen Karikatur, als die ich in den Gehirnen und
in den Schriften Derer lebe, die sich berufen waehnen,
Probleme zu loesen, dies aber immer nur da tun, wo
keine vorhanden sind.

Ich nenne ferner das Maerchen von "Marah Durimeh",
der Menschheitsseele, von "Schakara", der edlen,
gottgesandten Frauenseele, der ich die Gestalt meiner
jetzigen Frau gegeben habe. Das Maerchen vom "erloesten
Teufel", vom "eingemauerten Herrgott", vom
"versteinerten Gebete", von den "verkalkten Seelen",
von den "Rosensaeulen des Beit-Ullah", von dem "Sprung
in die Vergangenheit", von der "Dschemma der Lebendigen
und Toten", von der "Schlacht am Dschebel Allah",
vom "Mahalamasee", vom "Berg der Koenigsgraeber",
vom "Mir von Dschinnistan", vom "Mir von Ardistan",
von der "Stadt der Verstorbenen", vom "Dschebel Muchallis",
von der "Wasserscheide von El Hadd" und noch
viele, viele andere. Wie man bei einem geistig und
seelisch so bedeutsamen, ja schweren Inhalte meine Buecher
als "Jugendschriften" und mich als "Jugendschriftsteller"
bezeichnen kann, wuerde unbegreiflich sein, wenn man nicht
wuesste, dass Alle, die diesen Fehler begehen, sie entweder
nicht begriffen oder ueberhaupt nicht gelesen haben. Selbst
"Winnetou", der so leicht zu lesen zu sein scheint,
bedarf, wenn er sich im vierten Bande zum Schlusse neigt,
eines Nachdenkens und eines Verstaendnisses, welches doch
gewiss keinem Quartaner und keinem Backfisch zuzutrauen
ist! Wenn man trotzdem noch ferner bei den Ausdruecken
"Jugendschriften" und "Jugendschriftsteller" bleibt, so
muss ich das als einen gewollten Unfug bezeichnen, zu
dem sich kein anstaendiger, ernster Kritiker hergeben wird.

Gibt man aber ehrlich und der Wahrheit gemaess zu,
dass meine "Reiseerzaehlungen" nicht als Jugendschriften
verfasst worden sind, so ist der jetzt landlaeufig
gewordenen Behauptung, dass sie schaedlich sind, aller Boden
entzogen. Es lese sie doch nur der, dem sie nicht
schaedlich sind; ich zwinge ja keinen Andern dazu! Weshalb
und wozu die Vorwuerfe alle, die man mir jetzt in hunderten
von Zeitungen macht? Sieht man sich diese Vorwuerfe
aber genauer an, so verlieren sie allen Wert.
Frueher lobte man mich; jetzt tadelt man mich. Das ist
so Mode geworden und wird, wie jede Mode, sich wieder
in das Gegenteil verkehren. Aber diese Mode ist nicht
nur Mode, sondern Mache! Selbst wenn meine Buecher
jetzt von keinem Menschen mehr gelesen wuerden, koennte
mich das doch nicht im Geringsten beunruhigen, denn ich
weiss, dass man sehr bald hinter diese Mache kommen
und sich demgemaess verhalten wird. Ja, haette ich meinen
Lesern bloss nur Unterhaltungsfutter geliefert, so haette
ich von der Bildflaeche zu verschwinden, um nie wieder
aufzutauchen, und wuerde ganz von selbst so verstaendig
sein, mich darein zu ergeben. Aber _ich_habe_waehrend_
_meines_"Lebens_und Strebens"_allzu_viele_und_
_allzu_grosse_Fehler_begangen,_als_dass_ich_so_
_mir_nichts,_dir_nichts_untergehen_und_fuer_immer_
_verschwinden_duerfte.__Ich_habe_gutzumachen!_
Was der Sterbliche suendigt, das hat er zu buessen und zu
suehnen, und wohl ihm, wenn ihm die Guete des Himmels
erlaubt, seine Schuld nicht mit ueber den Tod hinueberzunehmen,
sondern sie schon hier zu bezahlen. Das will
ich tun; das darf ich tun, und das werde ich tun! Ja,
ich behaupte kuehn: das habe ich schon getan! Dem
irdischen Gesetze habe ich schon laengst Alles gegeben, was
es von mir zu fordern hatte; ich bin ihm nichts mehr
schuldig. Und was ueber diese von Menschen gestellten
Paragraphen hinausgeht, das werde ich begleichen, indem
ich das, was ich noch schreiben werde, dem grossen
Glaeubiger widme, der ganz genau weiss, ob ich ihm mehr
als jene Andern schuldig bin, die sich besser duenken
als May.

Ich bin ueberzeugt, dass meine Suenden, so weit sie
mir anzurechnen sind, nur auf persoenlichem, nicht aber
auf literarischem Gebiete liegen; auf letzterem bin ich
mir keiner Missetaten bewusst. Was ich mit meinen
"Reiseerzaehlungen" erreicht habe, wird erst nach meinem
Tode durch tausende von Zuschriften bekannt werden,
die aber selbst dann noch nur mein Biograph zu sehen
bekommt; veroeffentlicht werden sie nicht. Man pries
diese Werke und schwaermte fuer sie, bis es eines Tages
einem gewissenlosen Menschen einfiel, oeffentlich zu
behaupten, dass ich ausser ihnen auch noch andere, aber
"abgrundtief" unsittliche Sachen geschrieben habe. Selbst
wenn dies wahr gewesen waere, haette das die "Reiseerzaehlungen"
weder innerlich noch aeusserlich im Geringsten
veraendern koennen. Dennoch wurden sie von jenem Tage
an zunaechst mit Misstrauen betrachtet, dann mehr und
mehr verleumdet und endlich gar fuer direkt schaedlich
erklaert und aus den Bibliotheken gestossen, in denen sie
frueher willkommen geheissen worden waren. Warum?
Waren sie anders geworden? Nein! Hatten sich die
bibliographischen Gepflogenheiten, die ethischen Gesetze
veraendert? Nein! Waren die Beduerfnisse der Leser
andere geworden? Auch nicht! Aber aus welchem Grunde
denn sonst? Einfach einer Schund- und Kolportageklique
wegen, die sich vorgenommen hatte, mich, wie sie
sich selbst auszudruecken pflegte, "kaput zu machen". Aber
ist es denn menschenmoeglich, dass eine derartige Klique
einen so grossen, unbegreiflichen Einfluss auf Literatur
und Kritik zu gewinnen vermag? Leider ja! Ich habe
im naechsten Kapitel hiervon zu erzaehlen. Diese Rotte
scheut sich nicht, ihre eigenen Suenden und literarischen
Verbrechen auf mich zu werfen und sich als rein zu
gebaerden! Es gibt sogenannte Kritiker, welche mich wegen
meiner Muenchmeyer-Romane nun schon zehn Jahre lang
mit allen moeglichen Schmaehungen besudelt, dem Verlage
aber noch nicht einen einzigen, auch nicht den leisesten
Vorwurf gemacht haben. Ich bezeichne das als eine
Schande!

Man sagt, dass unsere Schundverleger jaehrlich fuenfzig
Millionen Mark aus dem deutschen Volke ziehen. Das
ist fuerchterlich, aber noch viel zu niedrig geschaetzt. Ein
einzelner Schundroman, der ein sogenannter Schlager ist,
kann dem Volke mehr als fuenf und sechs Millionen kosten,
und es gibt Kataloge, in denen z. B. die eine Firma
Muenchmeyer achtundfuenfzig -- man lese und staune --
achtundfuenfzig solcher Romane zu gleicher Zeit anpreist!
Man rechne; man multipliziere! Welche Verluste! Welch
eine ungeheure Summe von Gift und Unheil! Wie viel
hunderte, ja tausende von Menschen arbeiten daran,
dieses Gift zu erzeugen und zu verbreiten! Und nun
schlage man in den Zeitungen, in den Journalen, in den
Buechern nach, wen man fuer das Alles verantwortlich
macht, wen man an den Pranger stellt, wen man verachtet,
verspottet und verhoehnt! Karl May, Karl May,
immer wieder Karl May und nur und nur Karl May!
Wo sieht und liest man jemals einen andern Namen,
als nur diesen einen? Was habe ich denn getan, dass
man mich ueberhaupt zum Schunde zaehlt? Wo stecken die
zweitausend wirklichen Schundschriftsteller, welche jahraus,
jahrein rastlos dafuer sorgen, dass in Deutschland und
Deutschoesterreich der Schund kein Ende nimmt? Vor Gericht,
in "wissenschaftlichen" Werken, bei Kommissionssitzungen,
in oeffentlichen Vortraegen, von Schriftstellern,
Redakteuren, Lehrern, Pfarrern, Professoren, Kuenstlern,
Psychiatern, bei allen passenden und unpassenden
Gelegenheiten, wo von "Jugendverderbnis" die Rede ist,
da bringt man Karl May, Karl May! Er ist schuld,
nur er! Er ist der Typus der Jugendvergifter! Er ist
der Vater aller ruchlosen Kapitaen Thuermers, Nick Carters
und Buffalo Bills! Mein Gott, wissen diese Herren
denn wirklich nicht, was sie tun? Wie sie sich
versuendigen? Wie man im Kreise derer, die es besser wissen,
von ihnen spricht? Man nenne mir nur einen einzigen
Fall, wo vor Gericht wirklich nachgewiesen worden ist,
dass Jemand durch eines meiner Buecher verdorben worden
ist! Hunderte von Schundgeschichten der verderblichsten
Art hat so ein Bube gelesen, dabei auch einen
Band oder einige Baende von Karl May. Den kennt
man, die Andern aber nicht; darum muss er es sein,
dessen Namen man nennt und den man als Taeter bezeichnet!
Allwoechentlich werden mir von Zeitungsbureaus
fuenfzig, sechzig und siebzig Zeitungsausschnitte geschickt,
auf denen ich an Stelle der saemtlichen deutschen
Schundschriftsteller und Schundverleger hingerichtet werde. Das
ist unmenschlich! Ich werde mit Schande ueberhaeuft und
vor den wirklich Schuldigen zieht man den Hut. Warum
nennt man ihre Namen nicht? Warum nagelt man sie
nicht fest? Es gibt hunderte von Verlegern und Literaten,
die wegen Verbreitung von unzuechtigen Schriften
bestraft worden sind. Und noch groesser ist die Zahl
derer, die in voller Absicht Jugendschund herausgeben,
nur um Geld zu machen. Warum nennt man sie nicht?
Warum macht man sich zu ihrem Mitschuldigen, indem
man ihre Verbrechen an der Jugend und an dem Volke
duldet? Warum wirft man sich nicht auf sie, sondern
nur auf mich, den Suendenbock fuer den ganzen literarischen
Mob? Sehr einfach: Es ist Mache, nichts als Mache!
Und es kann nichts Anderes als Mache sein, weil so
viel, wie man auf mich wirft, kein Einzelner zu begehen
vermag! Ich habe das im naechsten Kapitel des Naeheren
zu beleuchten.

Die Anschuldigungen, welche man gegen mich erhebt,
sind bisher immer nur Behauptungen gewesen. Zu
keiner von ihnen wurde ein wirklicher Beweis erbracht.
Ich habe infolge dieser Anschuldigungen Ungezaehlte meiner
Leser brieflich oder muendlich gefragt, ob es ihnen moeglich
ist, mir eine der Reiseerzaehlungen oder eine Stelle
aus ihnen zu nennen, von der man behaupten darf, dass
sie schaedlich wirke. Es hat mir Niemand auch nur eine
einzige derartige Zeile nennen koennen. Ist doch sogar
meine unerbittlichste Gegnerin, die "Koelnische Volkszeitung",
gezwungen gewesen, mir das Attest auszustellen:
"Alles fuer die Jugend Anstoessige _ist_sorgfaeltig_
_vermieden,_ obgleich Mays Werke _nicht_etwa_bloss_fuer_
_diese_ bestimmt sind; _viele_tausend_Erwachsene_ haben
aus diesen bunten Bildern schon Erholung und Belehrung
im reichsten Masse geschoepft!" Schon aus diesem
Atteste geht die jetzige "Mache" hervor, denn meine
Buecher sind seit jener Zeit genau dieselben geblieben,
und derselbe Herr, der dieses oeffentliche Zeugnis aus
stellte [sic], war der Erste, der dieser Mache erlag und hat
sich seitdem nicht wieder aufrichten koennen.

Zur Zurueckweisung der Vorwuerfe, die man gegen
mich erhebt, sehe ich mich gezwungen, durch Veroeffentlichung
des nachfolgenden Briefes vielleicht eine Indiskretion
zu begehen, die mir der von mir hoch und aufrichtig
verehrte Herr aber wohl verzeihen wird. Doktor
Peter Rosegger schrieb mir am 2. Juli dieses Jahres
aus Krieglach:

"Sehr geehrter Herr!

Meine Notiz im Heimgarten basiert auf der
Charlottenburger Gerichtsverhandlung, und sobald wieder
das Gericht, und zwar zu Ihren Gunsten, entscheidet,
werde ich mit groesster Freude davon Notiz nehmen.

Als Kollege geht mir Ihr Fall ja nahe, und als
solcher moechte ich mir auch erlauben, Ihnen meine
Meinung zu sagen darauf hin, in welcher Weise Sie
sich am besten rechtfertigen koennten.

Ich wuerde an Ihrer Statt in der Polemik alles
ausschalten, was sich nicht sachlich auf die
Anschuldigungen bezieht. Das, was Sie aus Ihrer
Jugendzeit selbst eingestanden haben, ist damit wohl auch
abgetan und wuerde Ihnen kaum ein rechtlich denkender
Mensch noch nachtragen, wenn es nicht das Gericht
tut. Dass Sie Ihre Reiseschilderungen nicht persoenlich
erlebt haben, dass es nur Erzaehlungen in "Ichform"
sind, kann Ihnen auch kein Literat veruebeln.
So bleibt nur uebrig, endlich die sachlichen Beweise zu
erbringen, dass die beruehrten obszoenen Stellen nicht
Sie, sondern der Verleger hineinkorrigiert hat. Was
die Ihnen vorgeworfenen Plagiate betrifft, so muessen
doch Sachverstaendige entscheiden koennen, inwiefern es
Plagiate waeren oder inwiefern bloss umgearbeitete Stoffe
und Gedanken. Zuhanden der ersten Auflagen, dieselben
mit den neuen Auflagen verglichen, muesste doch
klar zu stellen sein, ob die Art, der Gedankengang und
der Stil der neu eingefuegten Saetze sich organisch an
Ihre Art und an das Buch anschliessen oder nicht.
Auf solche Wirklichkeiten, meine ich, sollten Sie nun
Ihre ganze Abwehr konzentrieren und ununterbrochen
draengen, dass die Dinge endlich vor Gericht zur
Entscheidung kommen. Alle andern Artikel Ihrer Freunde,
die nur so im Allgemeinen herumreden ueber die Vorzuege
Ihrer Werke, die ja anerkannt sind, koennen fuer
die peinliche Angelegenheit an sich keine besondere
Wirkung erzielen.

Also alle Mittel in Bewegung setzen, um zu einer
gerichtlichen Genugtuung zu kommen. Gelingt das
nicht, so ist absolutes Schweigen das Beste, und
gelingt es, so muss doch auch die Presse Ihrer jetzigen
Gegner die gerichtliche Ehrenrettung anerkennen und
in das Volk tragen.

Krankheit hat diesen Brief verspaetet. Verzeihen
Sie diese Offenheit, die aufrichtigem Wohlwollen
entspringt, und seien Sie gegruesst

von Ihrem ergebenen

P e t e r R o s e g g e r."

Krieglach, 2. 7. 1910.

Dass Peter Rosegger, der hochstehende, feinfuehlende
und human denkende geistige Aristokrat, das, was er
ueber meine Jugendzeit sagt, als abgeschlossen und abgetan
betrachtet, versteht sich ganz von selbst. In derartigen
Bodensaetzen und Rueckstaenden koennen nur niedrige
Menschen waten. Hierdurch habe ja auch ich selbst schon
laengst meinen Strich gemacht und habe einen Jeden,
der sich mit mir beschaeftigt, nach dem Masse zu beurteilen,
welches mir hier in Roseggers Brief gegeben wird.
Wer nicht verzeiht, dem wird auch nicht verziehen; das ist
im Himmel und auf Erden Recht.

Was die "Obszoenitaeten" und den Nachweis betrifft,
dass sie nicht von mir stammen, so habe ich diesen Gegenstand
im naechsten Kapitel zu behandeln, doch sei hier eine
mir notwendig erscheinende Bemerkung vorausgeschickt.
Naemlich nicht ich habe zu beweisen, dass diese unsittlichen
Stellen nicht von mir stammen, sondern man hat mir zu
beweisen, dass ich ihr Verfasser bin. Das ist so
selbstverstaendlich wie richtig. Es wird keinem jetzigen Richter
einfallen, mich in die Zeit der Daumenschrauben und der
spanischen Jungfrau zurueckzuschleppen, in welcher der
Anklaeger keinen Beweis zu erbringen hatte, wohl aber der
Angeschuldigte gezwungen war, nachzuweisen, dass er
unschuldig sei. Das konnte nicht anders als in den meisten
Faellen unmoeglich sein. Man hat mich aus prozessualen
Gruenden faelschlicher Weise beschuldigt, fuer Muenchmeyer
das "Buch der Liebe" geschrieben zu haben. Wie kann
ich beweisen, dass dies unwahr ist? Gesetzt den Fall, es
waere dem Muenchmeyerschen Rechtsanwalt der wahnsinnige
Gedanke gekommen, vor Gericht zu behaupten,
dass Peter Rosegger den beruechtigten "Venustempel"
geschrieben habe. Wuerde Rosegger den Beweis antreten,
dass dies eine Luege sei? Oder wuerde er sagen, dass man
die Wahrheit dieser Behauptung ihm zu beweisen habe?
Ich bin ueberzeugt, das Letztere. Und so thue [sic] auch ich.
Ich verlange die Vorlegung meiner Originalmanuskripte.
Einen andern Beweis kann es nicht geben.

Was nun die von Peter Rosegger erwaehnten Plagiate
betrifft, so hat es mit ihnen folgende Bewandtnis:
Der Benediktinermoench Pater Poellmann hat eine Reihe
von Artikeln gegen mich und meine Werke geschrieben
und ihnen die Drohung vorangeschickt, dass er mir mit
ihnen einen Strick drehen werde, um mich "aus dem
Tempel der deutschen Kunst hinauszupeitschen". Er hat
sich da des richtigen Bildes bedient, denn jede seiner
Behauptungen, mit denen er mich hierauf ueberschuettete, war
nichts weiter als ein Peitschenknall, spitz, scharf, hart,
lieblos und tierquaelerisch, darum die Leser empoerend und
ohne Wirkung in die Luft verklatschend. Ein leerer
Knall mit der Knabenpeitsche war es auch, als er mich
des Plagiates bezichtigte und sich erfolglose Muehe gab,
die Wahrheit seiner Behauptung zu beweisen. Er sprach
da wie ein Unwissender und konnte darum auch weiter
nichts als die wohlbekannte Wirkung der Unwissenheit
erreichen. Die "Grazer Tagespost" schreibt hierueber:

"Pater Poellmann, ein bekannter Herr, der sich unlaengst
in echt christlicher Demut selbst das schmueckende
Beiwort eines "anerkannten Kritikers" beilegte, hat die
moralische Niederlage, die er in seiner Schimpfschlacht
gegen den Reiseschriftsteller Karl May erlitt, sehr bald
vergessen, denn er nahm kuerzlich den Mund wieder
voll usw. usw."

Ich hatte naemlich in einigen meiner allerersten,
aeltesten Reiseerzaehlungen, bei deren Abfassung ich noch
nicht die noetige Erfahrung besass, die Ereignisse, die ich
schilderte, vor einem geographischen Hintergrunde spielen
lassen, den ich bekannten, Jedermann zugaenglichen Werken
entnahm. Das ist nicht nur erlaubt, sondern es geschieht
sehr haeufig. Sich Ortsbeschreibungen anzupassen, kann
niemals Diebstahl sein. Literarischer Diebstahl, also Plagiat,
liegt nur dann vor, wenn man sich wesentliche Bestandteile
eines Gedankenwerkes aneignet und diese in der
Art verwendet, dass sie dann wesentliche Bestandteile des
Werkes des Plagiators bilden und dabei als seine eigenen
Gedanken erscheinen. So Etwas habe ich aber nie getan
und werde es auch nie tun. Geographische Werke koennen,
besonders wenn sie geistiges Allgemeingut geworden sind,
ganz unbedenklich benutzt werden, sofern es sich nicht um
das Abschreiben ganzer Druckbogen oder Seitenfolgen
handelt und das Werk des Nachschriftstellers trotz des
Abschreibens eine selbstaendige geistige Arbeit bleibt. In
der Einleitung zum Voigtlaenderschen "Urheber- und
Verlagsrecht" heisst es:

"Kein Mensch schafft seine Gedankenwelt allein aus
sich selbst heraus. Er erbaut sie sich auf dem, was
Andere vor ihm oder mit ihm erdacht, gesagt, geschrieben
haben. Dann erst, im besten Falle, beginnt seine ureigene
Schoepfung. Selbst die am meisten schoepferische Taetigkeit,
die des Dichters, steht dann am hoechsten, erreicht
dann ihre groessten Erfolge, wenn sie die Weihe der
kuenstlerischen Form dem gibt, was mit dem Dichter zugleich
sein Volk denkt und fuehlt. Und nicht einmal die Form
ist ganz des Dichters Eigentum, denn die Form wird
von der gebildeten Sprache geliefert, "die fuer dich dichtet
und denkt", und die Manchem, der sich Dichter zu sein
duenkt, mehr als die Form, die ihm auch Gedanken oder
deren Schein leiht. Kurz, der Schriftsteller und Kuenstler
steht mit seinem Wissen und Koennen inmitten und auf
der Kulturarbeit von Jahrtausenden. Goethe, auf einer
einsamen Insel aufgewachsen, waere nicht Goethe
geworden. Ist aber Jemand mit Geistesgaben so begnadet,
dass er die Kulturarbeit der Menschheit um einen
Schritt hat weiter bringen koennen, weil er an das von
den Vorfahren Geleistete anknuepfen durfte, dann ist es
nicht mehr als billig, _dass_sein_Werk_zur_gegebenen_
_Zeit_wieder_Andern_zu_zwangslosem_Gebrauche_
_diene,_nicht_nur_der_Inhalt,_sondern_auch_die_
_Form."_

So sagt der Herausgeber des Gesetzbuches, und ihm
ist nicht zu widerstreiten. Ich, der ich nicht einmal
begangen habe, was er hier gestattet, bin also vollstaendig
gerechtfertigt. Ein anderer schreibt: "Alles ist mehr oder
weniger Plagiat an errungener Kultur-, Geistes- oder
Phantasieproduktion. Der Intellektadel, die obern Traeger
der Bildung und Kultur schoepfen ja doch alle mehr oder
minder aus _einem_ Reservoir, welches von den Leistungen
Anderer, Frueherer, Groesserer gespeist worden ist."

In Nr. 268 der "Feder", der Halbmonatsschrift fuer
Schriftsteller und Journalisten, steht geschrieben: "Aus
den Fingern kann sich der popularwissenschaftliche [sic]
Schriftsteller nun einmal nichts saugen, und bis zu einem
gewissen Grade muss deshalb auch Jeder ein Plagiator
sein. Wenn das eigentliche Gedankengebaeude neu ist,
dann ist man wohl berechtigt, passende Zierformen von
schon Bestehendem zu gebrauchen. Nach Emmerson ist
_der_groesste_Genius_zugleich_auch_der_groesste_
_Entlehner._ Es kommt da ganz auf das Wie an. _Man_
_darf_das_Gute_nehmen,_wo_man_es_findet,_ wenn
man einen grossen Zweck damit erreichen will; aber man
darf es sich nicht merken lassen; man muss mit dem
Entlehnten etwas wirklich Neues hervorbringen."

Es ist bekannt, dass Maeterlinck in einem seiner
Schauspiele drei Szenen von Paul Heyse rein abgeschrieben
hat. Heyse verbat sich das; Maeterlinck aber lachte ihn
aus und liess das Stueck ruhig unter seinem Namen
erscheinen. Ebenso bekannt ist, dass das populaere Lied
aus dem Freischuetz: "Wir winden dir den Jungfernkranz"
nicht von Weber, sondern von einem fast ganz
unbekannten Gothaer Musikdirektor ist. Weber hoerte es
und nahm es in seinen Freischuetz auf, ohne sich etwas
aus der Gefahr zu machen, als Plagiator und Dieb
bezeichnet zu werden. Shakespeare war bekanntlich der
groesste literarische Entwender, den wir kennen. Wenn
es nach Pater Poellmannschen Grundsaetzen ginge, wuerden
sogar verschiedene Verfasser biblischer Buecher als
literarische Diebe bezeichnet werden muessen. So koennte ich
noch eine ganze, lange Reihe von Beispielen weiterfuehren,
will mich aber damit begnuegen, nur noch unsern
Allergroessten, den Altmeister Goethe und den erfolgreichsten
Romanzier der Neuzeit, Alexander Dumas anzufuehren.
Dumas entlehnte ausserordentlich viel. Er konnte ohne
fremde Hilfe nicht bestehen und ging damit sehr weit
ueber das Mass des literarisch Erlaubten hinaus. So ist
es bekannt, dass er die Erzaehlung von Edgar Poe "Der
Goldkaefer" zu den spannendsten Stellen in seinem "Grafen
Monte Christo" ausgebeutet hat. Und was Goethe betrifft,
so zitiere ich einen kurzen Artikel, der kuerzlich
unter der Ueberschrift "Goethe ueber das Plagiat" durch
die Zeitungen ging:

"Fuer einen Plagiator gehalten zu werden, ist heutzutage
sehr leicht. Es darf ein Autor bloss versaeumen,
absichtlich oder unabsichtlich, die Quelle zu zitieren, der
er diese oder jene Stelle entnommen hat. Einen lieben
Freund hat Jedermann, der den gluecklich entdeckten
Plagiator an den vermeintlichen Pranger stellt. Richard
von Kralik ist unlaengst des Plagiates beschuldigt worden,
weil er -- ohne seine Schuld -- mangelhaft zitiert
worden ist. Solchen Plagiatschnuefflern moechten wir die
Ansicht Goethes ueber das Plagiat in das Gedaechtnis
rufen. Der Gegenstand des Gespraeches zwischen ihm und
Eckermann am 18. Januar 1825 waren Lord Byrons
angebliche Plagiate. Siehe "Eckermanns Gespraeche mit
Goethe", 3. Auflage Band I S. 133. Da sagte Goethe:
"Byron weiss sich auch gegen dergleichen, ihn selbst
betreffende unverstaendige Angriffe seiner eigenen Nation
nicht zu helfen; er haette sich staerker dagegen ausdruecken
sollen. _Was_da_ist,_das_ist_mein,_ haette er sagen
sollen. _Ob_ich_es_aus_dem_Leben_oder_aus_dem_
_Buche_genommen_habe,_das_ist_gleichviel;_es_
_kam_bloss_darauf_an,_dass_ich_es_richtig_gebrauchte!_
Walter Scott brauchte eine Szene aus meinem
"Egmont", und er hatte ein Recht dazu, _und_weil_es_
_mit_Verstand_geschah,_so_ist_er_zu_loben._ So
hat er auch den Charakter meiner "Mignon" in einem
seiner Romane nachgebildet, ob aber mit ebenso viel
Weisheit, ist eine andere Frage. Lord Byrons "verwandelter
Teufel" ist ein fortgesetzter Mephistopheles,
und das ist recht. Haette er aus origineller Grille
ausweichen wollen, so haette er es schlechter machen muessen.
So singt mein Mephistopheles ein Lied von Shakespeare,
und warum sollte er das nicht? Warum sollte ich mir
die Muehe geben, ein eigenes zu erfinden, wenn das von
Shakespeare eben recht war und eben das sagte, was es
sollte? Hat daher auch die Exposition meines "Faust"
mit der des "Hiob" einige Aehnlichkeit, so ist das
wiederum ganz recht, und ich bin deswegen eher zu loben als
zu tadeln."

Soweit diese kurze Auswahl von Gewaehrsnamen.
Was haben unsere Beruehmtesten getan, ohne dass man
sie beschimpfte? Und was habe ich getan, dass man mich
als den niedrigsten aller Betrueger und Diebe behandelt?
Ich habe, ohne mir etwas dabei zu denken, einige meiner
kleinen, asiatischen Erzaehlungen mit ganz nebensaechlichen
geographischen und ethnographischen Arabesken verziert,
welche ich in Buechern fand, die laengst der Allgemeinheit
angehoeren. Das ist erlaubt. Das ist sogar mein gutes
Recht. Was aber sagt Pater Poellmann dazu? Er beschimpft
mich oeffentlich als einen _"Freibeuter_auf_
_schriftstellerischem_Gebiete,_fuer_ewige_Zeiten_das_
_Musterbeispiel_eines_literarischen_Diebes!_ Emerson,
der Beruehmtesten und Edelsten einer in Amerika,
sagt: "Der groesste Genius ist zugleich auch der groesste
Entlehner". Und Goethe sagt: "Was da ist, das ist
mein. Ob ich es aus dem Leben oder aus dem Buche
nehme, das ist gleich!" Wie haette da wohl das
entsprechende Urteil Pater Poellmanns ueber diese beiden
Heroen zu lauten? Sie haetten fuer ihn "fuer ewige Zeiten
die schlimmsten aller literarischen Bestien" zu sein, stinkend
vor Raubgier und Verworfenheit! Eine Kritik, die so
unwissend, so unerfahren, so selbstueberhebend und so
wenig masshaltend ist wie diese hier, die bildet eine
Gefahr nicht nur fuer die Literatur, sondern fuer das ganze
Volk.

Ich habe in diesen meinen "Reiseerzaehlungen" genau
so geschrieben, wie ich es mir einst vorgenommen hatte,
fuer die Menschenseele zu schreiben, fuer die Seele, nur
fuer sie allein. Und nur sie allein, fuer die es geschrieben
ist, soll es lesen, denn nur sie allein kann mich verstehen
und begreifen. Fuer seelenlose Leser ruehre ich keine Feder.
Ein Musterschriftsteller, der Mustergeschichten fuer
Musterleser schreibt, bin ich nicht und mag es auch niemals
sein und niemals werden. Haben wir es erst so weit
gebracht, dass wir nur noch Musterautoren, Musterleser
und Musterbuecher haben, dann ist das Ende da! Ich
bin so kuehn, zu behaupten, dass wir uns nicht die
vorhandenen Musterbuecher, sondern den vorhandenen Schund
zum Muster zu nehmen haben, wenn wir erreichen wollen,
was die wahren Freunde des Volkes zu erreichen streben.
Schreiben wir nicht wie die Langweiligen, die man nicht
liest, sondern schreiben wir wie die Schundschriftsteller,
die es verstehen, Hunderttausende und Millionen
Abonnenten zu machen! Aber unsere Sujets sollen edel
sein, so edel, wie unsere Zwecke und Ziele. Schreibt
fuer die grosse Seele! Schreibt nicht fuer die kleinen
Geisterlein, fuer die Ihr Eure Kraft verzettelt und
verkruemelt, ohne dass sie es Euch danken. Denn gebt Ihr
Euch noch so viel Muehe, ihren Beifall zu erringen, so
behaupten sie doch, es besser zu koennen als Ihr, obgleich
sie gar nichts koennen! Und schreibt nichts Kleines,
wenigstens nichts irdisch Kleines. Sondern hebt Eure Augen
empor zu den grossen Zusammenhaengen. Dort gibt es
zwar auch Kleines, aber hinter und in diesem Kleinen
wohnt das wahrhaft Grosse. Und wenn Ihr dabei auch
Fehler macht, so viele Fehler und so grosse Fehler wie
Karl May, das schadet nichts. Es ist besser, auf dem
Wege zur Hoehe zuweilen zu stolpern und diese Hoehe aber
doch zu erreichen, als auf dem Wege zur Tiefe nicht zu
stolpern und ihr verfallen zu sein. Oder gar erhobenen
Hauptes und stolzen Schrittes auf seinem eigenen Aequator
immer rundum zu laufen und immer wieder bei sich selbst
anzukommen, ohne ueber irgendeine Hoehe gestiegen zu
sein. Denn Berge muessen wir haben, Ideale,
hochgelegene Haltepunkte und Ziele.

Vielleicht habe ich allzuviele Ideale und Ziele und
laufe darum Gefahr, kein einziges von ihnen zu erreichen;
aber ich befuerchte nicht, dass es so ist. Was ich will und
was ich erstrebe, das habe ich bereits gesagt; ich brauche
es nicht zu wiederholen. Und ich habe schon so viele
steile Hoehen zu ueberwinden gehabt, dass ich mich unmoeglich
fuer einen jener armen Teufel halten kann, die immer
auf ihrem eigenen, ebenen Aequator bleiben. Es gibt
Leute, welche meinen Stil als Muster hinstellen; es gibt
Andere, welche sagen, ich habe keinen Stil; und es gibt
Dritte, die behaupten, dass ich allerdings einen Stil habe,
aber es sei ein ausserordentlich schlechter. Die Wahrheit
ist, dass ich auf meinen Stil nicht im Geringsten achte.
Ich schreibe nieder, was mir aus der Seele kommt, und
ich schreibe es so nieder, wie ich es in mir klingen hoere.
Ich veraendere nie, und ich feile nie. Mein Stil ist also
meine Seele, und nicht mein "Stil", sondern meine Seele
soll zu den Lesern reden. Auch befleissige ich mich keiner
sogenannten kuenstlerischen Form. Mein schriftstellerisches
Gewand wurde von keinem Schneider zugeschnitten, genaeht
und dann gar gebuegelt. Es ist Naturtuch. Ich
werfe es ueber und drapiere es nach Bedarf oder nach
der Stimmung, in der ich schreibe. Darum wirkt das,
was ich schreibe, direkt, nicht aber durch huebsche
Aeusserlichkeiten, die keinen innern Wert besitzen. Ich will nicht
fesseln, nicht den Leser von aussen festhalten, sondern ich
will eindringen, will Zutritt nehmen in seine Seele, in
sein Herz, in sein Gemuet. Da bleibe ich, denn da kann
und darf ich bleiben, weil ich weder stoerende Formen
noch stoerendes Gewand mitbringe und genauso bin, wie
mich die Seele wuenscht. Dass dies das Richtige ist, das
haben mir jahrzehntelange, schoene Erfahrungen bestaetigt.
Diese aufrichtige Natuerlichkeit muss, kann und darf ich
mir gestatten, weil ich das, was ich erreichen will, nur
allein durch sie zu bewirken vermag, weil ich an meine
Leser nicht andere oder gar hoehere kuenstlerische Ansprueche
stelle als an mich selbst und weil die Zeit, in der ich meinen
Arbeiten auch aeusserlich eine aesthetisch hoehere Form zu
geben habe, noch nicht gekommen ist. Jetzt skizziere ich
noch, und Skizzen pflegt man zu nehmen, wie sie sind.

Es gibt, die Humoresken und erzgebirgischen Dorfgeschichten
abgerechnet, in meinen Werken keine einzige
Gestalt, die ich kuenstlerisch durchgefuehrt und vollendet
hatte, selbst Winnetou und Hadschi Halef Omar nicht,
ueber die ich doch am meisten geschrieben habe. Ich bin
ja mit mir selbst noch nicht fertig, bin ein Werdender.
Es ist in mir noch Alles in Vorwaertsbewegung, und
alle meine inneren Gestalten, alle meine Sujets bewegen
sich mit mir. Ich kenne mein Ziel; aber bis ich es erreicht
habe, bin ich noch unterwegs, und alle meine Gedanken
sind noch unterwegs. Freilich hat keiner unserer
Dichter und Kuenstler, vor allen Dingen keiner unserer
grossen Klassiker, mit seinen Arbeiten gewartet, bis er
innerlich reif geworden ist, aber ich bin auch in dieser
Beziehung als Outsider zu betrachten, werde von Vielen
sogar als Outlaw oder Outcast bezeichnet und darf mir
darum noch lange nicht erlauben, was Andere sich
gestatten. Was bei Andern selbstverstaendlich ist, das ist
bei mir entweder schlecht oder laecherlich, und was bei
Andern als Grund der Entschuldigung, der Verzeihung
gilt, das wird bei mir verschwiegen. Ich habe ein
einziges Mal etwas kuenstlerisches schreiben wollen, mein
"Babel und Bibel". Was war die Folge? Es ist als
"elendes Machwerk" bezeichnet und derart mit Spott und
Hohn ueberschuettet worden, als ob es von einem Harlekin
oder Affen verfasst worden sei. Da weicht man zurueck
und wartet auf seine Zeit. Und diese kommt gewiss.
Man kann wohl literarische Hanswuerste beseitigen, nicht
aber Geistesbewegungen unterdruecken, die unbesiegbar
sind. Es faellt mir nicht ein, hier Anklagen aufzustellen,
denen doch keine Folge gegeben wuerde. Unterlassen aber
darf ich es trotzdem nicht, zur Beleuchtung des hier
beruehrten Punktes ein Beispiel anzufuehren, ein einziges,
welches so deutlich spricht, dass ich ohne Weiteres auf
alle andern Belege verzichten kann. Naemlich ein Verein,
dessen Zweck in der Anlegung von Volksbibliotheken und
Verbreitung von Buechern besteht, hat bisher jaehrlich
mehrere tausend Baende von mir vertrieben. Ploetzlich
stellte er das ein, und um Auskunft gebeten, gab die
Zentralstelle dieses Vereines folgende, in den Zeitungen
kursierende Auskunft: "Hierseits wird zwar von dem
weitern Vertrieb der Mayschen Schriften Abstand
genommen, und werden die Buecher nicht mehr durch unsere
Verzeichnisse angeboten, damit wollen wir aber nicht
sagen, dass der Inhalt der Mayschen Reiseerzaehlungen
zu verwerfen ist, und wir muten auch den Vorstaenden
unserer Vereine nicht zu, nunmehr diese Buecher aus den
Bibliotheken zu entfernen. Unsere jetzige ablehnende
Stellungnahme gilt nicht den _Schriften,_ sondern der
_Persoenlichkeit_ des Verfassers. _Sie_koennen_also_ohne_
_Bedenken_die_Baende_weiter_ausleihen."_ Das genuegt
gewiss! Meinen Buechern ist nichts anzuhaben; meine
Person aber wird an den Pranger gestellt! Warum?
Infolge jener "Mache", von der ich schon weiter oben
sprach. Denn man glaube ja nicht, dass die "Karl
May-Hetze", oder, ein wenig anstaendiger ausgedrueckt, das
"Karl May-Problem" eine literarische Angelegenheit sei.
Es handelt sich hier keineswegs um schriftstellerische oder
gar um ethische Gruende, sondern, die Sache beim richtigen
Namen genannt, um eine rein persoenliche Abschlachtung
aus moralisch ganz niedrigen, prozessualen
Gruenden. Was man da von sittlichen und journalistischen
Notwendigkeiten sagt, ist nichts als Spiegelfechterei, um
die Wahrheit zu verstecken. Wollte man hierueber einen
Roman schreiben, so koennte dieser der sensationellste aller
Kolportageromane werden, und die Hauptpersonen wuerden
folgende sein: Der Hauptredakteur a. D. Dr. Hermann
Cardauns in Bonn, die Kolporteuse a. D. Pauline Muenchmeyer
in Dresden, der Franziskanermoench Dr. Expeditus
Schmidt in Muenchen, der aus der christlichen Kirche
ausgetretene Sozialdemokrat a. D. Rudolf Lebius in
Charlottenburg, der Benediktinerpater Ansgar Poellmann in
Beuron und der Rechtsanwalt der Kolporteuse Muenchmeyer,
Dr. Gerlach in Niederloessnitz bei Dresden. Dieser
Roman wuerde fuer die Beleuchtung der gegenwaertigen
Gesetzgebung ein hoechst wichtiger sein und auch ueber andere
Verhaeltnisse, gesellschaftliche, geschaeftliche, psychologische,
ueberraschende Streiflichter werfen. Es wuerde da
viel Schmutz, sehr viel Schmutz zu sehen sein, der nichts
weniger als appetitlich ist, und so will ich, da ich ihn
auch hier zu erwaehnen und zu zeigen habe, mich bemuehen,
so schnell wie moeglich ueber ihn hinwegzukommen.

_________


VIII.
Meine Prozesse.

_____

Joergensen, den meine Leser wahrscheinlich kennen, sagt
in seiner Parabel "Der Schatten" zum Dichter: "Sie
wissen nicht, was Sie tun, wenn Sie hier sitzen und
schreiben und Ihre Seele von der Macht des Weines
und der Nacht anschwillt. Sie wissen nicht, wie viele
Menschenschicksale Sie durch eine einzige Zeile auf dem
weissen Papier umbilden, erschaffen, veraendern. Sie
wissen nicht, wie manches Menschenglueck Sie toeten, wie
manches Todesurteil Sie unterschreiben, hier, in Ihrer
stillen Einsamkeit, bei der friedlichen Lampe, zwischen den
Blumenglaesern und der Burgunderflasche. Bedenken Sie,
_dass_wir_Andern_das_leben,_was_Ihr_Dichter_
_schreibt._ Wir sind, wie Ihr uns bildet. Die Jugend
dieses Reiches wiederholt wie ein Schatten Eure Dichtung.
Wir sind keusch, wenn Ihr es seid; wir sind unsittlich,
wenn Ihr es wollt. Die jungen Maenner glauben
je nach Eurem Glauben oder Eurer Verleugnung. Die
jungen Maedchen sind zuechtig oder leichtfertig, wie es die
Weiber sind, die Ihr verherrlicht."

Joergensen hat hier vollstaendig Recht. Seine Ansicht
ist ganz die meinige. Ja, ich gehe sogar noch weit ueber
die seinige hinaus. Der Dichter und Schriftsteller hat
einen weit groessern, entweder schaffenden oder zerstoerenden,
reinigenden oder beschmutzenden Einfluss, als die meisten
Menschen ahnen. Wenn es wahr ist, was die neuere
Psychologie behauptet, naemlich "Nicht Einzelwesen, Drama
ist der Mensch", so darf man die Taetigkeit des Schriftstellers
unter Umstaenden sogar eine schoepferische, anstatt
nur eine schaffende nennen. Weil ich mir dessen wohlbewusst
bin, bin ich mir auch der ungeheuern Verantwortung
bewusst, welche auf uns Schreibenden ruht, sobald
wir zur Feder greifen. So oft ich dieses Letztere
tue, tue ich es in der aufrichtigen Absicht, als Schaffender
nur Gutes, niemals aber Boeses zu schaffen. Man kann
sich also denken, wie erstaunt ich war, als ich erfuhr,
dass ich im Verlage von H. G. Muenchmeyer "abgrundtief
unsittliche" Buecher geschrieben haben solle. Der
Ausdruck "abgrundtief unsittlich" ist von Cardauns, dessen
Eigenheit es bekanntlich ist, sich als Gegner in den
uebertriebensten Verschaerfungen zu ergehen. Bei ihm ist dann
Alles nicht nur erwiesen, sondern "zur Evidenz erwiesen",
nicht ausgesonnen, sondern "raffiniert ausgesonnen",
nicht entstellt, sondern "bis zur Unkenntlichkeit entstellt".
Darum genuegte bei diesen Muenchmeyerschen Romanen,
weil sie angeblich von mir waren, das einfache Wort
"unsittlich" nicht, sondern es war ganz selbstverstaendlich,
dass sie gleich "abgrundtief unsittlich" sein mussten.

Die erste Spur von diesen meinen "Unsittlichkeiten"
tauchte drueben in den Vereinigten Staaten auf.
Kommerzienrat Pustet, welcher da drueben Filialen besitzt,
schrieb mir von diesem Geruecht und wuenschte, dass ich
mich darueber aeussere. Das tat ich. Ich antwortete ihm,
dass ich von Unsittlichkeiten nichts wisse und die Sache
untersuchen lassen werde, wenn es sein muesse sogar
gerichtlich. Das Resultat werde ich ihm dann mitteilen.
Damit war fuer ihn die Sache abgemacht. Er war ein
Ehrenmann, ein Mann von Geist und Herz, dem es
niemals eingefallen waere, durch Hintertueren zu verkehren.
Wir hatten einander gern. Auf ihn faellt ganz gewiss
auch nicht die geringste Spur von Schuld an der
unbeschreiblich schmutzigen und widerlich leidenschaftlichen
Hetze gegen mich. Weil das Geruecht aus Amerika kam,
hatte ich zunaechst drueben zu recherchieren. Das erforderte
lange Zeit, und es war mir unmoeglich, etwas
Bestimmtes zu erfahren. Ich wusste nur, dass sich das
Geruecht auf meine Muenchmeyerschen Romane bezog,
doch fand ich Niemand, der imstande war, mir die
Kapitel oder Stellen zu bezeichnen, in denen die Unsittlichkeit
lag. Und auf ein blosses, vages Geruecht hin alle
fuenf Romane, also ungefaehr achthundert Druckbogen nach
Dingen, die ich gar nicht kannte, muehsam durchzuforschen,
dazu hatte ich keine ueberfluessige Zeit, und das war mir
auch gar nicht zuzumuten. Wer den Mut besass, mich
anzuklagen, der musste die unsittlichen Stellen genau
kennen und war verpflichtet, sie mir anzugeben. Darauf
wartete ich. Es meldete sich aber Keiner, der es tat.
Auch Pustet tat es nicht. Wahrscheinlich kannte er die
angeblichen Unsittlichkeiten ebenso wenig als ich. Leider


 


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