Mein Leben und Streben
by
Karl May

Part 2 out of 6



Knöpfe und einen Hut mit weißer Feder. Das zieht
Zuschauer herbei. Es wird bekannt gemacht. Wird das
"Haus" voll, so gibt der Herr Direktor dir fünf
Neugroschen; wird es aber nicht voll, so bekommst du nichts.
Morgen vormittag 11 Uhr ist Probe."

Es versteht sich ganz von selbst, daß ich in Wonne
schwamm. Zigeunertambour! Eine Grafentochter! Blanke
Knöpfe! Weiße Feder! Dreimal um die ganze Bühne
herum! Fünf Neugroschen! Ich schlief in der folgenden
Nacht sehr wenig und stellte mich mit meiner Trommel
sehr pünktlich zur Probe ein. Sie verlief sehr gut. Ich
gefiel sämtlichen Künstlerinnen und Künstlern. Die Frau
Direktorin streichelte mir die Wange. Der Herr Direktor
lobte mein intelligentes Gesicht, meinen Mut und mein
schnelles Begriffsvermögen. Meine Rolle sei aber auch sehr
leicht. Vielleicht täte ich es für vierzig Pfennige; schon mit
dreißig Pfennigen sei dieses Honorar splendid zu nennen.
Aber Vater war mit dabei und ging um keinen Pfennig
herunter, denn er hatte meinen künstlerischen Wert erkannt
und ließ nicht mit sich handeln. Ich hatte für die fünfzig
Pfennige nur einmal aufzutreten, um dem großen Zigeunerumzug
voranzumarschieren. Ich stand an einer Kulisse,
die Zigeuner alle hinter mir. Mir gegenüber in der
jenseitigen Kulisse stand der Regisseur, der den alten
Schloßvogt Pedro spielte. Wenn der die rechte Hand
emporhob, so war dies das Zeichen für mich, meinen Marsch
sofort zu beginnen und nach einem dreimaligen, strammen
Umgang in derselben Kulisse wieder zu verschwinden.
Das war so kinderleicht; man konnte gar nicht irren.
Die blanken Knöpfe bekam ich gleich nach der Probe mit.
Mutter mußte sie mir anflicken. Es waren über dreißig
Stück; sie gingen fast gar nicht ganz auf meine Weste.
Im Laufe des Nachmittages brachte man mir den Hut
mit der weißen Feder. Der wurde als Reklame zum
Fenster hinausgehängt und hat seine Wirkung getan. Ich
hatte mich eine Viertelstunde vor Beginn der Vorstellung
einzustellen. Da wurde ich von der Frau Direktorin
strahlenden Angesichtes empfangen, denn der Zuschauerraum
war schon jetzt derart gefüllt, daß schnell ganz vorn
noch einige "Logen" eingerichtet wurden mit dem Preise
von zehn Neugroschen pro Platz. Auch die waren rasch
verkauft. Vater, Mutter und Großmutter hatten
Freiplätze bekommen. Ich war eben an diesem Tage ein
höchst wertvolles Menschenkind. Diese Erkenntnis hatte
sich so allgemein verbreitet, daß die Frau Direktorin sich
bewogen fühlte, mir meine fünf Neugroschen schon ehe
der Vorhang zum ersten Male aufging, in die rechte Hosentasche
zu stecken. Das erhöhte meine Sicherheit und meine
künstlerische Begeisterung bedeutend.

Und nun waren sie da, die großen, erhabenen Augenblicke
meines ersten Bühnendebüts. Der erste Akt spielte
in Madrid. Da hatte ich nichts zu tun. Ich saß in
der Ankleidekammer und horchte auf das, was auf der
Bühne gesprochen wurde. Da wurde ich geholt. Ich
schnallte die Trommel an, setzte den Federhut auf und ging
nach meiner Kulisse. Don Fernando und Donna Klara
und noch irgend wer standen auf der Bühne. In der
gegenüberliegenden Kulisse lehnte der Schloßvogt Pedro,
der mir das Zeichen zu geben hatte. Er sah mich mit
einem so energischen Schritte kommen, daß er glaubte,
ich wollte gleich und direkt hinaus auf das Podium.
Darum hob er schnell die rechte Hand, um dem abzuwehren.
Ich aber nahm das ganz selbstverständlich für das
verabredete Zeichen, obgleich die Zigeuner noch nicht hinter
mir standen, begann meinen Wirbel zu schlagen und
marschierte hinaus, rund um die Bühne herum. Don
Fernando und Donna Klara standen vor Schreck ganz
starr. "Lausbub!" schrie mir der Schloßvogt zu, als ich
an ihm vorüberschritt. Er griff aus der Kulisse heraus,
um mich zu fassen und zu sich hineinzuziehen, aber schon
war ich an ihm vorüber. Aus allen Kulissen winkte
man mir, doch aufzuhalten und hineinzukommen; ich aber
bestand auf dem, was ausgemacht worden war, nämlich
dreimal rund um die Bühne herum. "Lausbub!" brüllte
der Schloßvogt, als ich zum zweiten Mal an ihm
vorüberkam, und zwar tat er das so laut, daß es trotz des
Trommelwirbels auch hinaus- und über den ganzen Zuschauerraum
schallte. Lautes Gelächter antwortete von dorther;
ich aber begann meine dritte Runde. "Bravo, bravo!"
erklangen die Beifallsrufe des Publikums. Da kam endlich
Bewegung in den erschrockenen Herrn Direktor, der
den Don Fernando spielte. Er sprang auf mich zu, faßte
meine beiden Arme, so daß ich stehenbleiben und die
Trommelschlegel ruhen lassen mußte und donnerte mich an:

"Junge, bist du denn ganz toll geworden? So halte
doch auf!

"Nein, nicht aufhalten, sondern weiter, immer weiter!"
rief man im Zuschauerraum lachend.

"Ja, weiter, immer weiter!" antwortete auch ich, indem
ich mich von ihm losriß. "Die Zigeuner haben zu kommen!
Raus mit der Bande, raus mit der Bande!"

"Ja, raus mit der Bande, raus mit der Bande!"
schrie, brüllte und johlte das Publikum.

Ich aber marschierte weiter und begann meinen Wirbel
von neuem. Und da kam sie, die Bande, wenn auch
nur notgedrungen, voran Vianda, die alte Zigeunermutter,
und dann die Andern alle hinterdrein. Nun begann erst
der eigentliche Umzug, dreimal rund um und dann zu
meiner Kulisse wieder hinein. Aber damit gab sich das
Publikum nicht zufrieden. Es rief: "Heraus mit der
Bande, heraus!" und wir mußten den Umzug von neuem
beginnen und immer wieder von neuem. Und am Schluß
des Aktes mußte ich noch zweimal heraus. War das
ein Gaudium! Sodann hatte ich eigentlich nichts mehr
zu tun und konnte gehen, aber der Herr Direktor ließ
mich nicht fort. Er schrieb mir eine kurze Ansprache auf,
die ich jetzt auswendig lernen und am Schlusse der
Vorstellung halten sollte. Für den Fall, daß ich meine Sache
gut machen würde, versprach er mir noch weitere fünfzig
Pfennige. Das wirkte äußerst anregend auf mein
Gedächtnis. Als das Stück zu Ende war und der Beifall
zu verklingen begann, marschierte ich noch einmal
trommelwirbelnd hinaus, um dann ganz vorn an der Rampe
die "hohen Herrschaften" zu bitten, sich noch nicht gleich
zu entfernen, weil die Frau Direktorin erscheinen und
von Platz zu Platz gehen werde, um Abonnementsbilletts
zu verkaufen, so billig, wie sie morgen, übermorgen und
auch fernerhin unmöglich abgegeben werden könnten. Als
Reminiszenz auf den Wortlaut des heutigen Beifalles
hatte der Herr Direktor dem Schlusse dieser Ansprache
folgende Fassung gegeben: "Also rrrrein mit der Hand
in den Beutel! Und rrrraus mit den Moneten, rrrraus!"

Das wurde nicht etwa übel-, sondern mit gutwilligem
Lachen entgegengenommen und hatte den gewünschten
Erfolg. Alle Gesichter strahlten, sowohl diejenigen der
hohen Direktion als auch diejenigen aller übrigen
Künstlerinnen und Künstler, das meinige nicht ausgeschlossen,
denn ich bekam nicht nur meine weiteren fünf Neugroschen,
sondern dazu auch noch ein Freibillett, welches für den
ganzen, diesmaligen Aufenthalt der Truppe bei uns galt.
Ich habe es wiederholt benutzt, und zwar für Stücke,
in welche Vater mich gehen lassen konnte. Uebrigens gab
es bei dieser braven Truppe wohl kaum eine sittliche
Gefahr für die Zuhörerschaft, denn als der Herr Direktor
sich eines Tages mit am Kegelschieben beteiligte und bei
dieser Gelegenheit gefragt wurde, warum er alle zärtlichen
Liebesszenen so ängstlich aus seinen Stücken streiche,
antwortete er: "Teils aus moralischem Pflichtgefühl und teils
aus kluger Erwägung. Unsere erste und einzige Liebhaberin
ist zu alt und auch zu häßlich für solche Rollen."

In den Stücken, die ich da besuchte, forschte ich nach
dem Kreuz und nach den Fäden, an denen die Puppen
hangen. Ich war zu jung, sie zu finden. Das blieb
einer späteren Zeit vorbehalten. Auch wollte es mir nicht
gelingen, den Gott, den Teufel und den Menschen
herauszufinden. Das passiert mir sogar noch heut sehr häufig,
obwohl diese drei Foktoren [sic] nicht nur die bedeutendsten,
sondern sogar die einzigen sind, aus deren Zusammenwirken
sich ein Drama aufzubauen hat. Das sage ich
jetzt, als Mann, als Greis. Damals, als Kind, verstand
ich nichts davon und ließ mir von der leeren, hohlen
Oberflächlichkeit gewaltig imponieren, wie jedes andere
größere oder kleinere Kind. Die Menschen, die solche
Stücke schrieben, die auf die Bühne gegeben wurden,
kamen mir wie Götter vor. Wäre ich ein so bevorzugter
Mensch, so würde ich nicht von geraubten Zigeunerinnen
erzählen, sondern von meinem herrlichen Sitara-Märchen,
von Ardistan und Dschinnistan, von der Geisterschmiede
von Kulub, von der Erlösung aus der Erdenqual und
allen anderen, ähnlichen Dingen! Man sieht, ich befand
mich hier wieder an einem jener Punkte, an denen ich
aus dem Halt, den andere Kinder haben und der auch
mir so nötig war, in eine Welt emporgerissen wurde, in
die ich nicht gehörte, weil sie nur von auserwählten
Männern in reifen Jahren betreten werden darf. Und noch
Anderes kam hinzu.

Meine Eltern waren evangelisch-lutherisch. Demgemäß
war ich evangelisch-lutherisch getauft worden,
genoß evangelisch-lutherischen Religionsunterricht und
wurde, als ich vierzehn Jahre alt geworden war,
evangelisch-lutherisch konfirmiert. Aber zu einer
Stellungnahme gegen Andersgläubige führte das keineswegs.
Wir hielten uns weder für besser noch für berufener als
sie. Unser alter Pfarrer war ein lieber, menschenfreundlicher
Herr, dem es gar nicht in den Sinn kam, im Bereiche
seines Kirchenamtes religiösen Haß zu säen. Unsere
Lehrer dachten ebenso. Und die, auf die es hier am
meisten ankam, nämlich Vater, Mutter und Großmutter,
die waren alle drei ursprünglich tief religiös aber von
jener angeborenen, nicht angelehrten Religiosität, die sich
in keinen Streit einläßt und einem jeden vor allen Dingen
die Aufgabe stellt, ein guter Mensch zu sein. Ist er das,
so kann er sich dann um so leichter auch als guter Christ
erweisen. Ich hörte einst den Herrn Pastor mit dem
Herrn Rektor über religiöse Differenzen sprechen. Da
sagte der erstere: "Ein Eiferer ist niemals ein guter
Diplomat." Das habe ich mir gemerkt. Ich habe bereits
gesagt, daß ich an jedem Sonn- und Feiertag zweimal
in die Kirche ging, doch ohne bigott zu sein oder mir dies
gar als Verdienst anzurechnen. Ich habe täglich gebetet,
in jeder Lage meines Lebens, und bete noch heut.
Seitdem ich lebe, ist es mir keinen Augenblick lang
beigekommen, an Gott, an seiner Allmacht, seiner Weisheit,
Liebe und Gerechtigkeit, zu zweifeln. Ich bin auch heut
noch unerschütterlich in diesem meinem felsenfesten Glauben.

Ich habe stets eine Hinneigung zum Symbolismus
gehabt, und zwar nicht nur zum religiösen. Eine jede
Person und eine jede Handlung, die etwas Gutes, Edles,
Tiefes bedeutet, ist mir heilig. Darum machten einige
religiöse Gebräuche, an denen ich mich als Knabe zu
beteiligen hatte, auf mich einen ganz besonderen Eindruck.
Der eine dieser Gebräuche war folgender: Die Konfirmanden,
welche am Palmsonntag eingesegnet worden waren,
beteiligten sich am darauf folgenden grünen Donnerstag
zum ersten Male in ihrem Leben an der heiligen
Kommunion. Nur während dieser einen Abendmalsdarreichung,
sonst während des ganzen Jahres nicht,
standen die ersten vier Kurrendaner je zwei und zwei zu
beiden Seiten des Altares, um Handreichung zu tun.
Sie waren genau wie Pfarrer gekleidet, Priesterrock,
Bäffchen [sic] und weißes Halstuch. Sie standen zwischen
dem Geistlichen und den paarweise herantretenden Kommunikanten
und hielten schwarze, goldgeränderte Schutztücher
empor, damit ja nichts von der dargereichten heiligen
Speise verloren gehe. Da ich sehr jung zur Kurrende
gekommen war, hatte ich dieses Amtes mehrere
Male zu walten, ehe ich selbst zur Einsegnung kam. Diese
frommen, gottesgläubigen Augenblicke vor dem Altare
wirken noch heute, nach so vielen Jahren, in mir fort.

Ein anderer dieser Gebräuche war der, daß am
ersten Weihnachtsfeiertage jedes Jahres während des
Hauptgottesdienstes der erste Knabe der Kurrende die
Kanzel zu besteigen hatte, um die Weissagung des Jesaias
Kap. 9 Vers 2 bis mit Vers 7 zu singen. Er tat dies
ganz allein, mit milder, leiser Orgelbegleitung. Es gehörte
Mut dazu, und es kam nicht selten vor, daß der Organist
dem kleinen Sänger zur Hilfe zu kommen hatte, um ihn
vor dem Steckenbleiben zu bewahren. Auch ich habe
diese Weissagung gesungen, und genauso, wie die Gemeinde
sie von mir hörte, so wirkt sie noch heute in mir
fort und klingt von mir hinaus bis in die fernsten Kreise
meiner Leser, wenn auch in andern Worten, zwischen
den Zeilen meiner Bücher. Wer als kleiner Schulknabe
auf der Kanzel gestanden und mit fröhlich erhobener
Stimme vor der lauschenden Gemeinde gesungen hat,
daß ein helles Licht erscheine und von nun an des Friedens
kein Ende sein werde, den begleitet, wenn er sich
nicht absolut dagegen sträubt, jener Stern von Bethlehem
durch das Leben, der selbst dann noch weiterleuchtet, wenn
alle andern Sterne verlöschen.

Wer nicht gewöhnt ist, tiefer zu blicken, der wird
jetzt wahrscheinlich sagen, daß ich auch hier wieder auf
einen der Punkte gestoßen sei, an denen mir ein fester
Halt nach dem andern unter den Füßen hinweggenommen
wurde, so daß ich schließlich seelisch ganz nur in der Luft
zu schweben hatte. Es ist aber grad das Gegenteil der
Fall. Es wurde mir nichts genommen, sondern viel, sehr
viel gegeben, zwar kein Halt und kein Unterschlupf in der
Richtung nach der Erde zu, dafür aber ein Tau, stark
und fest genug, mich an ihm emporzuretten, wenn unter
mir der Abgrund sich öffnen sollte, dem ich, wie
Fatalisten behaupten würden, von allem Anfang verfallen
war. Indem ich nun von diesem Abgrund zu sprechen
beginne, betrete ich diejenigen Gegenden meiner sogenannten
Jugend, in welcher die Sümpfe lagen und heut noch
liegen, aus denen alle die Nebel und alle die Gifte stiegen,
durch welche mein Leben mir zu einer ununterbrochenen,
endlosen Qual geworden ist.

Dieser Abgrund heißt, damit ich ihn gleich beim
richtigen Namen nenne -- -- Lektüre. Ich bin ihn nicht
etwa hinabgestürzt, plötzlich, jählings und unerwartet,
sondern ich bin ihn hinabgestiegen, Schritt um Schritt,
langsam und absichtlich, sorgsam geleitet von der Hand
meines Vaters. Freilich ahnte dieser ebensowenig wie
ich, wohin dieser Weg uns führte. Meine erste Lektüre
bildeten die Märchen, das Kräuterbuch und die Bilderbibel
mit den Anmerkungen unserer Vorfahren. Hierauf
folgten die verschiedenen Schulbücher der Vergangenheit
und Gegenwart, die es im Städtchen gab. Dann alle
möglichen anderen Bücher, die Vater sich zusammenborgte.
Nebenbei die Bibel. Nicht etwa eine Auswahl biblischer
Geschichten, sondern die ganze, volle Bibel, die ich als
Knabe wiederholt durchgelesen habe, vom ersten bis zum
letzten Worte, mit allem, was drin steht. Vater hielt
das für gut, und keiner meiner Lehrer widersprach ihm
da, auch der Pfarrer nicht. Er duldete nicht, daß ich,
wenn auch nur scheinbar, müßig stand. Und er war
gegen alle Beteiligung an den "Unarten" anderer Knaben.
Er erzog mich, wie man Muster herausarbeitet, um sie
andern anzupreisen. Ich mußte stets zu Hause sein, um
zu schreiben, zu lesen und zu "lernen"! Von dem
Handschuhnähen wurde ich nach und nach befreit. Auch wenn
er ausging, brachte mir das keine Erlösung, sondern er
nahm mich mit. Wenn ich meine Altersgenossen auf
dem Markte springen, tollen, spielen und lachen sah,
wagte ich es nur selten, den Wunsch auszusprechen, mittun
zu dürfen, denn wenn Vater keine gute Laune hatte,
war dies höchst gefährlich. Saß ich dann betrübt oder
gar mit heimlichen Tränen bei meinem Buche, so kam
es vor, daß Mutter mich leise zur Tür hinaussteckte und
erbarmend sagte: "So geh schnell ein bißchen hinaus;
aber komme ja in zehn Minuten wieder, sonst schlägt er
dich. Ich sag, ich habe dich wohingeschickt!" O, diese
Mutter, diese einzig gute, arme, stille Mutter! Wer da
wissen will, wie und was ich noch heut über sie denke, der
schlage in meinen "Himmelsgedanken" das Gedicht auf Seite
105 auf. Und das auf Seite 109 bezieht sich auf meine
Großmutter, aus deren Seele die Gestalt meiner Marah Durimeh
herausgewachsen ist, jener orientalischen Königstochter, die
für mich und meine Leser als "Menschheitsseele" gilt.

Als ich so ziemlich alles, was sich in Hohenstein-Ernsttal
von Büchern jeden Genres in Privathänden befand,
zusammengelesen und auch viel, sehr viel davon
abgeschrieben resp. notiert hatte, sah Vater sich nach neuen
Quellen um. Es gab deren drei, nämlich die Bibliotheken
des Herrn Kantors, des Herrn Rektors und des
Herrn Pastors. Der Herr Kantor zeigte sich auch hier
als der Vernünftigste von allen. Er sagte, Bücher zur
Unterhaltung habe er nicht, sondern nur Bücher zum
Lernen, und für diese letzteren sei ich jetzt noch viel zu
jung. Aber er gab doch eines von ihnen her, denn er
meinte, für mich als Kurrendaner sei es sehr nützlich, den
lateinischen Text unserer Kirchengesänge in die deutsche
Sprache übersetzen zu lernen. Dieses Buch war eine
lateinische Grammatik, von welcher das Titelblatt fehlte,
doch auf dem nächsten Blatte stand zu lesen:

"Ein buer [sic] lernen muß,
Wenn er will werden dominus,
Lernt er aber mit Verdruß,
So wird er ein asinus!"

Vater war ganz entzückt über diesen Vierzeiler und
meinte, ich solle nur ja dafür sorgen, daß ich kein asinus,
sondern ein dominus werde. Also nun schnell und fleißig
lateinisch lernen!

Bald darauf faßten einige Ernsttaler Familien den
Entschluß, im nächsten Jahre nach Amerika auszuwandern.
Darum sollten ihre Kinder während dieser Frist so viel
wie möglich englisch lernen. Da verstand es sich ganz
von selbst, daß ich mitzutun hatte! Und sodann geriet
auf irgend eine, ich weiß nicht mehr, welche Weise ein
Buch in unsern Besitz, welches französische Freimaurerlieder
mit Text und Melodie enthielt. Es war im Jahre
1782 in Berlin gedruckt und "Seiner Königlichen Hoheit,
Friedrich Wilhelm, Prinz von Preußen" gewidmet.
Darum mußte es gut und von sehr hohem Werte sein!
Der Titel lautete: "Chansons maçonniques", und zu der
Melodie, die mir am besten gefiel, waren sieben vierzeilige
Strophen zu singen, deren erste hierhergesetzt sein mag:

"Nons vénérous de l'Arabie
La sage et noble antiquité,
Et la célèbre Confrairie [sic]
Transmise à la postérité".

Das Wort "Freimaurerlieder" reizte ganz besonders.
Welch eine Wonne, in die Geheimnisse der Freimaurerei
eindringen zu können! Glücklicherweise erteilte der Herr
Rektor für Privatschüler auch französischen Unterricht.
Er gestattete mir, in diesem "Zirkle" einzutreten, und so
kam es, daß ich mich jetzt mit dem Lateinischen, Englischen
und Französischen zugleich zu befassen hatte.

Der Herr Rektor war in Beziehung auf das Bücherverleihen
weniger zurückhaltend als der Herr Kantor.
Sein Lieblingsfach war Geographie. Er besaß hunderte
von geographischen und ethnographischen Werken, die er
meinem Vater alle für mich zur Verfügung stellte. Ich
fiel über diesen Schatz mit wahrer Begeisterung her, und
der gute Herr freute sich darüber, ohne irgendein doch
so naheliegendes Bedenken zu hegen. Obgleich er auf
eine Pfarrstelle reflektierte, war er in seinem Innern
mehr Philosoph als Theolog und einer freieren Richtung
zugeneigt. Das sprach sich aber weniger in seinen Worten,
als vielmehr in den Büchern aus, die er besaß. Zu derselben
Zeit öffnete mir auch der Herr Pastor seine Bibliothek.
Er war ganz und gar nicht Philosoph, sondern
nur und nur und nur Theolog, weiter nichts. Ich meine
mit ihm nicht unsern alten, guten Pfarrer, von dem ich
schon gesprochen habe, sondern dessen Nachfolger, der mir
zunächst alle seine Traktätchen zu lesen gab und hierzu
dann allerlei Erweckungs-, Erbauungs- und Jugendschriften
von Redenbacher und andern guten Menschen fügte. So
kam es, daß ich vom Rektor z. B. eine begeisterte Schilderung
der islamitischen Wohltätigkeit vor mir liegen hatte
und vom Herrn Pastor daneben einen Missionsbericht,
in welchem über das offensichtliche Nachlassen der
christlichen Barmherzigkeit bittere Klage geführt wurde. In
der Bibliothek des einen lernte ich Humboldt, Bonpland
und alle jene "Großen" kennen, welche der Wissenschaft
mehr als der Religion vertrauen, und in der Bibliothek
des zweiten alle jene andern "Großen", denen die religiöse
Offenbarung himmelhoch über jedem wissenschaftlichen
Ergebnisse steht. Und dabei war ich nicht etwa ein
Erwachsener, sondern ein dummer, ein ganz dummer Junge;
aber noch viel törichter als ich waren die, welche mich
in diese Konflikte fallen und sinken ließen, ohne zu wissen,
was sie taten. Alles, was in diesen so verschiedenen
Büchern stand, konnte gut, ja konnte vortrefflich sein;
mir aber mußte es zum Gifte werden.

Aber es kam noch Schlimmeres. Der sprachliche
Privatunterricht, den ich jetzt bekam, mußte bezahlt werden,
und ich war es, der sich dieses Geld auf irgendeine Weise
zu verdienen hatte. Wir sahen uns um. Für eine Hohensteiner
Schankwirtschaft wurde ein gewandter, ausdauernder
Kegelaufsetzer gesucht. Ich meldete mich, obwohl ich keine
Uebung besaß, und bekam die Stelle. Da habe ich freilich
Geld verdient, sehr viel Geld, aber wie! Durch welche
Qualen! Und was habe ich noch außerdem dafür geopfert!
Der Kegelschub war ein vielbesuchter, zugebauter und
heizbarer, so daß er zur Sommer- und zur Winterszeit und
bei jeder Witterung benutzt werden konnte. Es wurde
täglich geschoben. Von jetzt an hatte ich keine freie
Viertelstunde mehr, besonders auch keinen Sonntagnachmittag.
Da ging es gleich nach der Kirche los und dauerte bis
zur späten Abendstunde. Der Haupttag aber war der
Montag, denn dieser war der Tag des Wochenmarktes,
an dem die Landbewohner zur Stadt kamen, um ihre
Erzeugnisse zu bringen, ihre Einkäufe zu machen und --
last not least -- eine Partie Kegel zu schieben. Aus
dieser einen aber wurden fünf, wurden zehn, wurden
zwanzig, und es kam an diesen Montagen vor, daß ich
mich von Mittags zwölf Uhr an bis nach Mitternacht
zu schinden hatte, ohne auch nur fünf Minuten ausruhen
zu können. Zur Stärkung bekam ich des Nachmittags
und des Abends ein Butterbrod [sic] und ein Glas abgestandenes,
zusammengegossenes Bier. Es kam auch vor, daß ein
mitleidiger Kegler, welcher sah, daß ich kaum mehr konnte,
mir ein Glas Schnaps herausbrachte, um meine Lebensgeister
anzuregen. Ich habe mich ob dieser übermäßigen
Anstrengungen daheim niemals beklagt, weil ich sah, wie
notwendig man das, was ich verdiente, brauchte. Der
Betrag, den ich da wöchentlich zusammenbrachte, war gar
nicht unbedeutend. Ich bekam pro Stunde ein Fixum
und außerdem für jedes Honneur, welches geschoben wurde,
einen festbestimmten Satz. Wurde nicht gespielt, sondern
frei gewettet oder gar hasardiert, so bekam dieser Satz
eine doppelte oder dreifache Höhe. Es hat Montage
gegeben, an denen ich über zwanzig Groschen nach Hause
brachte, dafür aber vor Müdigkeit die Treppe zu unserer
Wohnung mehr hinaufstürzte als hinaufstieg.

Welchen Gewinn aber hatte ich in seelischer Beziehung?
Nicht den geringsten, sondern nur Verlust. Es wurde
zwar nur einfaches, billiges Bier, aber besonders viel
Schnaps getrunken. Ich werde an anderer Stelle nachweisen,
daß es sich hier nicht um Leute handelte, welche
das kannten, was man unter Rücksicht oder gar Zartgefühl
versteht. Man platzte mit allem, was auf die Zunge
kam, ohne Scheu heraus. Man kann sich denken, was
ich da alles zu hören bekam! Der langgestreckte, zugebaute
Kegelschub wirkte wie ein Hörrohr. Jedes Wort, welches
da vorn bei den Spielern gesprochen wurde, klang deutlich
heraus zu mir. Alles, was Großmutter und Mutter
in mir aufgebaut hatten, der Herr Kantor und der Herr
Rektor auch, das empörte sich gegen das, was ich hier
zu hören bekam. Es war viel Schmutz und auch viel Gift
dabei. Es gab da nicht jene kräftige, kerngesunde
Fröhlichkeit wie z. B. bei einem oberbayrischen Kegelschieben,
sondern es handelte sich um Leute, welche aus der
brusttötenden Atmosphäre ihres Webstuhles direkt in die
Schnapswirtschaft kamen, um sich für einige Stunden
ein Vergnügen vorzutäuschen, welches aber nichts weniger
als ein Vergnügen war, für mich jedenfalls eine Qual,
körperlich sowohl als auch seelisch.

Und doch gab es in dieser Schankwirtschaft ein noch
viel schlimmeres Gift als Bier und Branntwein und ähnliche
böse Sachen, nämlich eine Leihbibliothek, und zwar
was für eine! Niemals habe ich eine so schmutzige, innerlich
und äußerlich geradezu ruppige, äußerst gefährliche
Büchersammlung, wie diese war, nochmals gesehen! Sie rentierte
sich außerordentlich, denn sie war die einzige, die es in
den beiden Städtchen gab. Hinzugekauft wurde nichts.
Die einzige Veränderung, die sie erlitt, war die, daß die
Einbände immer schmutziger und die Blätter immer schmieriger
und abgegriffener wurden. Der Inhalt aber wurde
von den Lesern immer wieder von neuem verschlungen,
und ich muß der Wahrheit die Ehre geben und zu meiner
Schande gestehen, daß auch ich, nachdem ich einmal
gekostet hatte, dem Teufel, der in diesen Bänden steckte,
gänzlich verfiel. Was für ein Teufel das war, mögen
einige Titel zeigen: Rinaldo Rinaldini, der
Räuberhauptmann, von Vulpius, Goethes Schwager. Sallo
Sallini, der edle Räuberhauptmann. Himlo Himlini,
der wohltätige Räuberhauptmann. Die Räuberhöhle auf
dem Monte Viso. Bellini, der bewunderswürdige [sic] Bandit.
Die schöne Räuberbraut oder das Opfer des ungerechten
Richters. Der Hungerturm oder die Grausamkeit der
Gesetze. Bruno von Löweneck, der Pfaffenvertilger. Hans
von Hunsrück oder der Raubritter als Beschützer der
Armen. Emilia, die eingemauerte Nonne. Botho von
Tollenfels, der Retter der Unschuldigen. Die Braut am
Hochgericht. Der König als Mörder. Die Sünden des
Erzbischofs u. s. w. u. s. w.

Wenn ich zum Kegelaufsetzen kam und noch keine
Spieler da waren, gab mir der Wirt eines dieser Bücher,
einstweilen darin zu lesen. Später sagte er mir, ich könne
sie alle lesen, ohne dafür bezahlen zu müssen. Und ich las
sie; ich verschlang sie; ich las sie drei- und viermal durch!
Ich nahm sie mit nach Haus. Ich saß ganze Nächte
lang, glühenden Auges über sie gebeugt. Vater hatte
nichts dagegen. Niemand warnte mich, auch die nicht,
die gar wohl verpflichtet gewesen wären, mich zu warnen.
Sie wußten gar wohl, was ich las; ich machte kein Hehl
daraus. Und welche Wirkung das hatte! Ich ahnte
nicht, was dabei in mir geschah. Was da alles in mir
zusammenbrach. Daß die wenigen Stützen, die ich, der
seelisch in der Luft schwebende Knabe, noch hatte, nun
auch noch fielen, eine einzige ausgenommen, nämlich mein
Glaube an Gott und mein Vertrauen zu ihm.

Die Psychologie ist gegenwärtig in einer Umwandlung
begriffen. Man beginnt immer mehr, zwischen Geist und
Seele zu unterscheiden. Man versucht, sie beide
auseinanderzuhalten, sie scharf zu definieren, ihre Unterschiede
nachzuweisen. Man behauptet, daß der Mensch nicht
Einzelwesen, sondern Drama sei. Soll ich mich dem
anschließen, so darf ich das, was auf meinen kleinen, erst
im Entstehen begriffenen Geist und das, was auf meine
kindliche Seele wirkte, nicht miteinander verwechseln.
Die ganze Vielleserei, zu der ich bisher gezwungen gewesen
war, hatte meiner Seele nichts, gar nichts gebracht; nur
das winzige Geisterlein hatte die Wirkung davon
gehabt, aber was für eine Wirkung! Es war zu einem
kleinen, monströs dicken, wasserköpfigen Ungeheuer
aufgestopft und aufgenudelt worden. Der sehr gut, ja
vielleicht außergewöhnlich veranlagte Knabe hatte sich zu
einer unartikulierten geistigen Mißgestalt verwandelt, die
nichts Wirkliches besaß als nur ihre Hilflosigkeit. Und
seelisch war ich ohne Heimat, ohne Jugend, hing nach
oben nur an dem erwähnten starken, unzerreißbaren Tau
und wurde nach unten nur dadurch an der Erde
festgehalten, daß ich für König und Vaterland, Gesetz und
Gerechtigkeit diejenige mehr poetisch als materielle
Hochachtung empfand, die aus den Tagen stammte, an
denen die elf Heldenkompagnieen Ernsttals sich gebildet
hatten, den schwer bedrängten Monarchen Sachsens und
seine Regierung von dem Untergange zu erretten. Nun
aber wurde mir auch dieser Halt genommen, und zwar
durch die Lektüre dieser schändlichen Leihbibliothek. Alle
die Räuberhauptleute, Banditen und Raubritter, von denen
ich da las, waren edle Menschen. Was sie jetzt waren,
das waren sie durch schlechte Menschen, besonders durch
ungerechte Richter und durch die grausame Obrigkeit geworden.
Sie besaßen wahre Frömmigkeit, glühende Vaterlandsliebe,
eine grenzenlose Wohltätigkeit und warfen sich
zum Ritter und Retter aller Armen, aller Bedrückten und
Bedrängten auf. Sie zwangen die Leser zur Hochachtung
und Bewunderung; alle Gegner dieser herrlichen Männer
aber waren zu verachten, also besonders die Obrigkeit, der
Schnippchen auf Schnippchen geschlagen wurde. Und vor
allen Dingen die Fülle des Lebens, der Tätigkeit, der
Bewegung, die in diesen Büchern herrschte! Auf jeder Seite
geschah etwas, und zwar etwas Hochinteressantes, irgend
eine große, schwere, kühne Tat, die man zu bewundern
hatte. Was dagegen war in all den Büchern geschehen,
die ich bisher gelesen hatte? Was geschah in den Traktätchen
des Pfarrers? In seinen langweiligen, nichtssagenden
Jugendschriften? Und was geschah in den sonst
ganz guten und brauchbaren Büchern des Herrn Rektors?
Da waren große, weite und ferne Länder beschrieben,
aber es ereignete sich nichts dabei. Da wurden fremde
Menschen und Völker geschildert; aber sie bewegten sich
nicht, sie taten nichts. Das war alles nur Geographie,
nur Geographie, weiter nichts; jede Handlung fehlte.
Und nur Ethnographie, nur Ethnographie; aber die Puppen
standen still. Es war kein Gott, kein Mensch und auch
kein Teufel da, das Kreuz mit den Fäden in die Hand
zu nehmen und die toten Figuren zu beleben! Und es
gibt doch Einen, der diese Belebung ganz unbedingt
verlangt, nämlich der Leser. Und auf den kommt doch alles
an, weil er allein es ist, für den die Bücher geschrieben
werden. Die Seele des Lesers wendet sich von jeder
Bewegungslosigkeit ab, denn diese bedeutet für sie den Tod.
Welch ein Reichtum des Lebens dagegen in dieser
Leihbibliothek! Und welch ein Eingehen auf die Eigenheiten
und Bedürfnisse dessen, der so ein Buch in die Hände nimmt!
Kaum fühlt er während des Lesens einen Wunsch, so
wird dieser auch schon erfüllt. Und welche bewundernswerte,
unwandelbare Gerechtigkeit gibt es da. Jeder
gute, ehrenhafte Mensch, mag er zehnmal Räuberhauptmann
sein, wird unbedingt belohnt. Und jeder böse
Mensch, jeder Sünder, mag er zehnmal König, Feldherr,
Bischof oder Staatsanwalt sein, wird unbedingt bestraft.
Das ist wirkliche Gerechtigkeit; das ist göttliche
Gerechtigkeit! Mag Goethe noch so viel über die Herrlichkeit
und Unumstößlichkeit der göttlichen und der menschlichen
Gesetze dichten und schreiben, so hat er doch unrecht!
Recht hat nur sein Schwager Vulpius, denn der hat den
Rinaldo Rinaldini geschrieben!

Das Schlimmste an dieser Lektüre war, daß sie in
meine spätere Knabenzeit fiel, wo alles, was sich in meiner
Seele festsetzte, für immer festgehalten wurde. Hierzu kam
die mir angeborene Naivität, die ich selbst heute noch in
hohem Grade besitze. Ich glaubte an das, was ich da
las, und Vater, Mutter und Geschwister glaubten es mit.
Nur Großmutter schüttelte den Kopf, und zwar je länger,
desto mehr; sie wurde aber von uns andern überstimmt.
Es war uns in unserer Armut ein Hochgenuß, von "edlen"
Menschen zu lesen, die immerfort Reichtümer verschenkten.
Daß sie diese Reichtümer vorher andern abgestohlen und
abgeraubt hatten, das war ihre Sache; uns irritierte das
nicht! Wenn wir lasen, wieviel bedürftige Menschen durch
so einen Räuberhauptmann unterstützt und gerettet worden
seien, so freuten wir uns darüber und bildeten uns ein,
wie schön es wäre, wenn so ein Himlo Himlini plötzlich
hier bei uns zur Tür hereinträte, zehntausend blanke Taler
auf den Tisch zählte und dabei sagte; "Das ist für euren
Knaben; er mag studieren und ein Dichter werden, der
Theaterstücke schreibt!" Das letztere war mir nämlich,
seit ich den "Faust" gesehen hatte, zum Ideal geworden.

Ich muß bekennen, daß ich diese verderblichen Bücher
nicht nur las, sondern auch vorlas, nämlich zunächst
meinen Eltern und Geschwistern und sodann auch in anderen
Familien, die ganz versessen darauf waren. Es ist
gar nicht zu sagen, welchen unendlichen Schaden eine
einzige solche Scharteke herbeiführen kann. Alles Positive
geht verloren, und schließlich bleibt nur die traurige
Negation zurück. Die Rechtsbegriffe und Rechtsanschauungen
verändern sich; die Lüge wird zur Wahrheit, die
Wahrheit zur Lüge. Das Gewissen stirbt. Die Unterscheidung
zwischen gut und bös wird immer unzuverlässiger!
das führt schließlich zur Bewunderung der verbotenen Tat,
die scheinbar Hilfe bringt. Damit ist man aber nicht
etwa schon ganz unten im Abgrunde angelangt, sondern
es geht noch tiefer, immer tiefer, bis zum äußersten
Verbrechertum.

Das war zur Zeit, als bestimmt werden mußte, was
nach der Konfirmation aus mir zu werden hatte. Ich
wollte so unendlich gern auf das Gymnasium, dann auf
die Universität. Aber hierzu fehlten nicht mehr als alle
Mittel. Ich mußte mit meinen Wünschen weit herunter
und kam zuletzt beim Volksschullehrer an. Aber auch hierzu
waren wir zu arm. Wir sahen uns nach Hilfe um. Der
Herr Kaufmann Friedrich Wilhelm Layritz, mit dem
Herrn Stadtrichter gleichen Namens, aber nicht mit ihm
verwandt, war ein sehr reicher und sehr frommer Mann.
Man hatte ihm zwar noch keine Wohltat nachweisen
können, aber er versäumte keinen Kirchgang, sprach gern
von Humanität und Nächstenliebe und war unser
Gevatter. Wir hatten uns nach allem erkundigt und uns
einen Ueberschlag gemacht. Wenn wir recht arbeiteten,
recht sparten, recht hungerten und ich auf dem Seminar
keinen Pfennig unnütz ausgab, so bedurften wir nur eines
Zuschusses von fünf bis zehn Talern pro Jahr. Das
hatten wir ausgerechnet. Freilich stimmte es nicht; aber
wir glaubten, daß es stimme. Meine Eltern hatten nie
auch nur einen Pfennig geborgt; jetzt waren sie mir zu
Liebe zu einer Anleihe entschlossen. Mutter ging zum
Herrn Layritz. Er setzte sich in den Lehnstuhl, faltete
die Hände und ließ sich ihr Anliegen vortragen. Sie
schilderte ihm alles und bat, uns fünf Taler zu borgen,
nicht gleich jetzt, sondern dann, wenn wir sie brauchten,
also wenn ich die Aufnahmeprüfung bestanden haben
würde. Bis dahin aber war noch lange, lange Zeit.
Da antwortete er, ohne sich lange zu besinnen: "Meine
liebe Frau Gevatter, es ist wahr, ich bin reich, und Sie
sind arm, sehr arm. Aber Sie haben denselben Gott,
den auch ich habe, und wie er mir bis hierher geholfen
hat, wo wird er auch Ihnen weiterhelfen. Ich habe auch
Kinder wie Sie und muß für sie sorgen. Ich kann Ihnen
also die fünf Taler nicht leihen. Aber gehen Sie getrost
nach Hause, und beten Sie recht fleißig, so wird sich ganz
gewiß zur rechten Zeit jemand finden, der sie übrig hat
und sie Ihnen gibt!"

Das war abends. Ich saß da und las in einem
Räuberbuche. Da kam Mutter heim und erzählte, was
Herr Layritz gesagt hatte. Sie weinte mehr aus
Empörung über solche Art der Frömmigkeit, als über die
Abweisung selbst. Vater saß lange Zeit still; dann stand
er auf und ging. Unter der Tür aber sagte er: "Einen
solchen Versuch machen wir nicht mehr! Karl geht auf
das Seminar, und wenn ich mir die Hände blutig arbeiten
soll!" Als er fort war, saßen wir andern noch
lange Zeit traurig beisammen. Dann gingen wir schlafen.
Ich schlief aber nicht, sondern ich wachte. Ich sann auf
Hilfe. Ich rang nach einem Entschlusse. Das Buch,
in dem ich gelesen hatte, führte den Titel "Die
Räuberhöhle an der Sierra Morena oder der Engel aller
Bedrängten." Als Vater nach Hause gekommen und dann
eingeschlafen war, stieg ich aus dem Bett schlich mich
aus der Kammer und zog mich an. Dann schrieb ich
einen Zettel: "Ihr sollt euch nicht die Hände blutig
arbeiten; ich gehe nach Spanien; ich hole Hilfe!" Diesen
Zettel legte ich auf den Tisch, steckte ein Stückchen
trockenes Brot in die Tasche, dazu einige Groschen von
meinem Kegelgeld, stieg die Treppe hinab, öffnete die
Tür, atmete da noch einmal tief und schluchzend auf,
aber leise, leise, damit ja niemand es höre, und ging dann
gedämpften Schrittes den Marktplatz hinab und die
Niedergasse hinaus, den Lungwitzer Weg, der über
Lichtenstein nach Zwickau führte, nach Spanien zu, nach
Spanien, dem Lande der edlen Räuber, der Helfer aus
der Not. -- -- --

_________


IV.
Seminar- und Lehrerzeit.

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Keine Pflanze zieht das, was sie in ihren Zellen und
in ihren Früchten aufzuspeichern hat, aus sich selbst
heraus, sondern aus dem Boden, dem sie entsprossen ist,
und aus der Atmosphäre, in der sie atmet. Pflanze ist in
dieser Beziehung auch der Mensch. Körperlich ist er freilich
nicht angewachsen, aber geistig und seelisch wurzelt
er, und zwar tief, sehr tief, tiefer als mancher Baumriese
in kalifornischer Erde. Darum ist kein Mensch für das,
was er in seiner Entwicklungszeit tut, in vollem Maße
verantwortlich zu machen. Ihm alle seine Fehler vollauf
anzurechnen, würde ebenso falsch sein wie die Behauptung,
daß er alle seine Vorzüge nur allein sich selbst verdanke.
Nur wer den Heimatboden und die Jugendatmosphäre
eines "Gewordenen" genau kennt und richtig zu
beurteilen weiß, ist imstande, einigermaßen nachzuweisen,
welche Teile eines Lebensschicksales aus den gegebenen
Verhältnissen und welche Teile aus dem rein persönlichen
Willen des Betreffenden geflossen sind. Es war eine der
größten Grausamkeiten der Vergangenheit, jedem armen
Teufel, den die Verhältnisse zur Verletzung der Gesetze
führten, zu seiner eigenen, vielleicht geringen Schuld auch
noch die ganze, schwere Last dieser Verhältnisse mit
aufzubürden. Es gibt leider auch heute mehr als genug
Menschen, welche diese Grausamkeit sogar jetzt noch
begehen, ohne zu ahnen, daß sie selbst es sind, die, wenn
es hier Gesetze gäbe, mit verantwortlich gemacht werden
müßten. Und gewöhnlich sind es nicht etwa die
Fernstehenden, sondern grad die lieben "Nächsten", welche
Stein um Stein auf den andern werfen, obgleich die
Einflüsse, denen er unterlegen ist, besonders auch von ihnen
mit ausgegangen sind. Sie tragen also an der Schuld,
die sie auf ihn werfen, selbst mit Schuld.

Wenn ich es hier unternehme, die Verhältnisse, aus
denen ich erwuchs, einer ungefärbten Prüfung zu unterwerfen,
so geschieht das nicht etwa in der Absicht, irgend
welchen Teil meiner eigenen Schuld von mir ab und auf
andere zu werfen, sondern nur, um einmal durch ein laut
sprechendes Beispiel zu zeigen, wie vorsichtig man sein
muß, wenn man sich die Aufgabe stellt, eine menschliche
Existenz nach ihrer Entstehung und Entwicklung hin genau
zu untersuchen.

Hohenstein und Ernsttal waren damals zwei so nahe
bei einander liegende Städtchen, daß sie stellenweise ihre
Gäßchen wie die Finger zweier gefalteter Hände zwischen
einander hineinschoben. In Hohenstein wurde der
Naturphilosoph Gotthilf Heinrich von Schubert geboren, dessen
Werke zunächst unter Schellingschem Einflusse entstanden,
dann aber sich dem pietistisch-asketischen Mystizismus
zuwendeten. Seine Vaterstadt hat ihm ein Denkmal gesetzt.
Aus Ernsttal stammt der verdienstvolle Philosoph und
Publizist Pölitz, dessen Bibliothek über 30 000 Bände
zählte, die er der Stadt Leipzig vermachte. Ich habe es
hier weniger mit Hohenstein als vielmehr mit Ernsttal
zu tun, in dem ich, wie der Hobble-Frank sich auszudrücken
pflegt, "das erste Licht der Welt erblickte". Die
ersten und ältesten Eindrücke meiner Kindheit sind
diejenigen einer beklagenswerten Armut, und zwar nicht nur
in materieller, sondern auch in anderer Beziehung.
Niemals in meinem Leben habe ich so viel geistige
Anspruchslosigkeit beisammen gesehen wie damals. Der
Bürgermeister war ein unstudierter Mann. Es gab zwar einen
Nachtwächter, aber die Bewohner hatten sich reihum an
der Nachtwache zu beteiligen. Die Hauptbeschäftigung
bildete die Weberei. Der Verdienst war kärglich, ja oft
überkärglich zu nennen. Zu gewissen Zeiten gab es
wochen-, zuweilen sogar monatelang wenig oder gar keine
Arbeit. Da sah man Frauen in den Wald gehen und
Körbe voll Reisig heimschleppen, um im Winter Feuerung
zu haben. Des Nachts konnte man auf einsamen Pfaden
Männern begegnen, welche Baumstämme nach Hause trugen,
die noch während der Nacht zu Feuerholz zersägt und
zerhackt werden mußten, damit, wenn die Haussuchung
kam, nichts gefunden werden könne. Es galt für die
armen Weber, fleißig zu sein, um den Hunger abzuwehren.
Am Sonnabend war Zahltag. Da trug ein jeder sein
"Stück zu Markte". Für jeden Fehler, der sich zeigte,
gab es einen bestimmten Lohnabzug. Da brachte gar
mancher weniger heim, als er erwartet hatte. Dann
wurde ausgeruht. Der Sonnabend Abend war der
Heiterkeit und -- -- -- dem Schnaps gewidmet. Man
fand sich beim Nachbar ein. Da ging die Bulle rundum.
Bulle ist Abkürzung von Bouteille. In einigen Familien
sang man dazu, aber was für Lieder oft! In andern
regierte die Karte. Da wurde "gelumpt", "geschafkopft"
oder gar "getippt". Das letztere ist ein verbotenes
Glücksspiel, dem mancher den Verdienst der ganzen Woche opferte.
Man trank dazu aus einem einzigen Glas. Dieses ging
von Hand zu Hand, von Mund zu Mund. Auch während
der Sonntagsausgänge und überhaupt bei jedem
Gang in das Freie war man mit Branntwein versehen.
Da saß man im Grünen und trank. Schnaps war
überall dabei; man mochte ihn nicht entbehren. Man
betrachtete ihn als den einzigen Sorgenbrecher und nahm
seine schlimmen Wirkungen hin, als ob sich das so ganz
von selbst verstände.

Freilich gab es auch sogenannte bessere Familien, über
die der Alkohol keine Macht besaß, aber die waren in
ganz geringer Zahl. Patriziergeschlechter gab es in beiden
Städtchen nicht. In Hohenstein wohnten einige Familien,
die man höher schätzte als andere, in Ernsttal aber nicht.
Die Pfarrer und die Aerzte waren die einzigen akademisch
gebildeten Personen, hierzu kam vielleicht ein Rechtsanwalt,
dessen Liquidationen absolut nicht das Geschick besaßen,
sich in klingende Einnahmen zu verwandeln. So war
die ganze Lebensführung überhaupt eine ungemein niedrige
und der allgemeine Umgangston auf eine Note gestimmt,
die man jetzt kaum mehr für möglich hält. Im persönlichen
Verkehr waren Spitznamen oft gebräuchlicher als
die wirklichen, richtigen Namen. Als einziges Beispiel,
welches ich da anführe, diene der Name Wolf. Es gab
einen Weißkopfwolf, einen Rotkopfwolf, einen Daniellobwolf,
einen Schlagwolf und noch eine Menge andersgenannter
Wölfe. Die Häuser waren klein, die Gassen
eng. Ein jeder konnte in die Fenster des andern sehen
und alles beobachten, was geschah. So wurde es fast
zur Unmöglichkeit, Geheimnisse voreinander zu haben. Und
da kein Mensch ohne Fehler ist, so hatte ein jeder seinen
Nachbar im Sacke. Man wußte alles, aber man schwieg.
Nur zuweilen, wenn man es für nötig hielt, ließ man
ein Wörtchen fallen, und das war genug. Man kam
dadurch zur immerwährenden, aber stillen Hechelei [sic], zur
niedrigen Ironie, zu einem scheinbar gutmütigen Sarkasmus,
welcher aber nichts Reelles an sich hatte. Das
war ungesund und griff immer weiter um sich, ohne daß
man es beachtete. Das ätzte; das wirkte wie Gift. So
hatte sich aus den sonnabendlichen Kartenspielen ein
lichtscheues Unternehmen gebildet, welches den Zweck verfolgte,
verbotenes, ja sogar falsches, betrügerisches Kartenspiel
zu pflegen. Die Betreffenden kamen zusammen, um
sich in der Zubereitung und im Gebrauch von falschen
Karten zu üben. Sie etablierten sich in einer vor der
Stadt gelegenen Wirtschaft. Sie schickten Zubringer
aus, um Opfer einzufangen. Da saß man nächtelang
und spielte um hohe Einsätze. Mancher kam da mit
vollen Taschen und ging mit leeren fort. Dieses Treiben
war im Städtchen wohlbekannt. Man erzählte sich von
jedem neuen Coup, der gemacht worden war. Man
sprach von den erbeuteten Summen, und man freute sich
darüber, anstatt daß man diese Betrügereien verwarf.
Man verkehrte mit den Falschspielern wie mit ehrlichen
Leuten. Man leistete ihnen Vorschub. Ja, man achtete,
man rühmte ihre Pfiffigkeit, und man verriet nicht das
geringste von allem, was man von ihnen wußte. Daß
hierdurch eigentlich das ganze Städtchen an dem Betruge
gegen die herbeigeschleppten Opfer beteiligt wurde und
daß jedermann, der von diesen Gaunereien wußte, sich,
streng genommen, als Hehler zu betrachten hatte, das
leuchtete keinem Menschen ein. Wer damals gesagt hätte,
daß dies einen beklagenswerten, allgemeinen moralischen
Tiefstand bedeute, der wäre wohl ausgelacht worden, oder
gar noch Schlimmeres. Das allgemeine Rechtsgefühl war
irregeführt. Man bewunderte die Falschspieler, wie man
die Rinaldo Rinaldini's und die Himlo Himlini's der
alten Leihbibliothek bewunderte, deren Bände man
verschlang, weil sie die einzige war, die es in den beiden
Städtchen gab. Ich habe niemals gehört, daß der
Bürgermeister, der Pfarrer oder ein sonst hierzu berufener
Beamter einen dieser Falschspieler zu sich kommen ließ, um
ihn zu verwarnen, und von dem bösen Beispiele, welches der
ganzen Gemeinde gegeben wurde, abzulassen. Man duldete
es. Man ging schweigend darüber hinweg. Die Jugend
aber, die das alles mit ansah und mit anhörte, mußte
den Eindruck gewinnen, daß diese Betrügereien
bewundernswerte und sehr gut lohnende Taten seien, und
so ein Eindruck wird nie wieder verwischt. Mir wurde
einst von einem Juristen gesagt, ich sei in einem Sumpf
geboren worden. Ob dieser Herr wohl recht gehabt hat
oder nicht?

Zwei eigenartige Gewächse dieses Sumpfes waren
die beiden Namen "Batzendorf" und die "Lügenschmiede".
Der erstere leitet sich auf die bekannte, alte süddeutsche
und schweizer Scheidemünze, Batzen genannt, zurück.
Batzendorf war eine fingierte Dorfgemeinde, der jeder
Einwohner Ernsttals beitreten konnte. Es war ein Jux,
aber ein Jux, der häufig zum Ausarten kam. Batzendorf
hatte seinen eigenen Gemeindevorstand, seinen eigenen
Pfarrer, seine eigene Gemeindeverwaltung, das alles
aber von der heiter sein sollenden Seite genommen. Das
allerkleinste Häuschen Ernsttals, das der alten
Gemüsehändlerin Dore Wendelbrück, wurde zum Batzendorfer
Rathause erhoben. Eines Morgens stand ein Turm darauf,
den man aus Latten und Zigarrenkistchen gezimmert
und der alten Dore auf das Dach gesetzt hatte, ohne sie
zu fragen. Sie war aber sehr stolz darauf. Die Wirtin
zum Meisterhaus war Dorfnachtwächter. Sie mußte die
Stunden ansagen und tuten. Jede Behörde und jede
Charge war vertreten, bis tief herunter zum Kartoffel-
und zum Schotenwächter, auch das alles in das Komische
gezogen. Des Sonnabends war Versammlungstag. Da
kam die Gemeinde zusammen, und es wurden die tollsten
Sachen ausgeheckt, um dann wirklich ausgeführt zu
werden: Taufen fünfzigjähriger Säuglinge, Verheiratung
zweier Witwen miteinander, eine Spritzenprobe ohne
Wasser, Neuwahl einer Gemeindegans, öffentliche Prüfung
eines neuen Bandwurmmittels und ähnliche tolle, oft
sogar sehr tolle Sachen. Der Herr Stadtrichter Layritz
war alt geworden und duldete das. Der Herr Pastor
war noch älter und glaubte von allem das Beste. Er
sagte immer: "Nur nicht übertreiben, nur nicht übertreiben!"
Damit glaubte er, seiner Pflicht genügt zu haben.
Der Herr Kantor schüttelte den Kopf. Er war zu bescheiden,
öffentlich mit einem Tadel hervorzutreten. Aber
unter vier Augen hatte er den Mut, meinen Vater zu
warnen: "Machen Sie nicht mit, Herr Nachbar, machen
Sie ja nicht mit! Es ist nicht gut für Sie und auch nicht
gut für den Karl. Was man da treibt, ist alles weiter
nichts als Persiflage, Ironie, Verhöhnung und
Verspottung von Dingen, an deren Heiligkeit ja niemand
rühren soll! Und zumal Kinder sollen so etwas nie zu
sehen noch zu hören bekommen!"

Er hatte sehr, sehr Recht. Dieses "Batzendorf",
in dem man nur mit Batzengeld zahlen durfte, hat eine
ganze Reihe von Jahren bestanden und manche stille,
heimliche, doch um so bösere Wirkung gehabt. Da lockerten
sich "die Bande frommer Scheu". Da gab es wöchentlich
etwas Neues. Wir Kinder verfolgten die Albernheiten
der Erwachsenen mit riesigem Interesse und höhnten
und persiflierten mit, freilich ohne uns dessen bewußt
zu werden. Das ging so fort, bis ein neuer, strammer
Zug in die Ortsverwaltung und in die Kirchenleitung
kam, und Batzendorf an sich selbst zugrunde ging. Aber
einen Nutzen hatte es keinem Menschen gebracht. Es war
eine Versumpfung, in welche nicht nur die Alten gestiegen
sind, sondern wir Jungen wurden auch mit hinein geführt
und haben sehr viel von unserer Kindlichkeit drin
stecken lassen müssen. Dem Unbegabten schadet das weniger;
in dem Begabten aber wirkt es fort und nimmt in seinem
Innern Dimensionen an, die später, wenn sie zutage
treten, nicht mehr einzudämmen sind.

Die "Lügenschmiede" war etwas neueren Datums.
Indem ich von ihr spreche, nenne ich absichtlich keine
Namen. Ich will das, was ich sage, nur gegen die Sache
selbst, nicht aber gegen Personen richten. Es gab in
Ernsttal einige jüngere Leute, welche außerordentlich
satirisch begabt waren. An sich sehr achtbare, liebenswürdige
Menschen, hätten sie in andern, größeren Verhältnissen
durch diese Begabung ihr Glück machen können,
so aber blieben sie unten in den kleinen Verhältnissen
hangen und konnten also auch nur Kleinliches und
Gewöhnliches, oft sogar nur sehr Triviales leisten. Es war
wirklich schade um sie!

Einer von ihnen, vielleicht der Unternehmendste und
Witzigste, brachte es zum Hausbesitzer und hatte die
Kühnheit, in diesem Ernsttal, wo so wenig Sinn und
Mittel für Delikatessen vorhanden waren, ein Delikatessengeschäft
zu errichten, aber natürlich mit Restauration,
denn ohne diese wäre es ganz unmöglich gegangen. Diese
Restauration hatte zunächst keinen besonderen Namen;
aber nicht lange, so wurde ihr einer gegeben, und zwar
ein sehr bezeichnender. Man nannte sie die Lügenschmiede
und ihren Besitzer, den Wirt, den Lügenschmied.
Weshalb? Sowohl dem Wirte als auch seinen Stammgästen
saß allen der Schalk im Nacken. Ein Anderer
konnte öfters dort verkehren, ohne daß er etwas davon
bemerkte. Aber plötzlich brach es über ihn los, plötzlich,
ganz unerwartet und mit einer Sicherheit, der nicht zu
widerstehen war. Er wurde "gemacht", wie man es
nannte. Man hatte seine schwächste Seite und seinen
stärksten Nagel entdeckt und hing an diesem irgend eine
wohlausgedachte Lüge auf, die er glauben mußte, er
mochte wollen oder nicht. An dieser Lüge blamierte er
sich, mochte er sich noch so sehr dagegen sträuben und
mochte er zehnmal und hundertmal klüger sein, als alle
die, welche beschlossen hatten, ihn zum Falle zu bringen.
Diese Lügenschmiede wurde weithin bekannt. Tausende
von Fremden kamen, um da einzukehren, und ein jeder,
dem es etwa einfiel, mit dem Wirt und seinen Stammgästen
anzubinden, nahm seine Backpfeife mit und zog
beschämt von dannen.

Gewöhnliche Gäste kaufte man sich billig. Verlangte
einer ein Glas Bier, so bekam er einen Kognak. Begehrte
er einen Schnaps, so erhielt er Limonade. Wollte er
einen marinierten Hering essen, so setzte man ihm
Kartoffeln in der Schale und Apfelmus vor. Und keiner
weigerte sich, dies zu nehmen und zu bezahlen, denn
Jeder wußte, die Blamage kommt dann hinterher. Bessere
Gäste hatten keine so gewöhnlichen Witze zu befürchten.
Die ließ man warten. "Der muß erst noch reif werden,"
pflegte der Lügenschmied zu sagen. Und Jeder wurde
reif, Jeder, mochte er sein, wer oder was er wollte, ob
studiert oder nicht studiert, ob hochgestellt oder niedrig.
Es gab da oft geradezu geniale Witze, immer aber mit einem
Einschlag aus dem Gewöhnlichen heraus. Einem Gast,
der sich rasieren lassen wollte, wurde gesagt, der Barbier
sei nicht zu Hause, sondern er sitze grad hier neben ihm.
Dieser war aber kein Barbier, sondern ein Bäckermeister.
Er seifte den Betreffenden mit Anilinwasser ein und
rasierte ihn, ohne daß einer der Anwesenden eine Miene
dabei verzog. Der Rasierte bezahlte und ging dann
vergnügt von dannen, vollständig blau im Gesicht. Er
konnte sich wochenlang nicht sehen lassen, zur Strafe
dafür, daß er in der Lügenschmiede behauptet hatte, er sei
gescheiter als alle, ihn könne niemand foppen. Einem
andern Gaste wurde weisgemacht, sein Bruder sei heut'
Vormittag auf dem Jahrmarkt verunglückt. Er sei einem
Riesenleierkasten zu nahe gekommen und mit dem rechten
Bein in das Räderwerk geraten; man habe ihm infolgedessen
das Bein unterhalb des Knies abnehmen müssen.
Der Mann sprang erschrocken auf und rannte fort, kam
aber sehr bald lachend und mit seinem vollständig
gesunden Bruder zurück. Auch die Herren von der
Behörde verkehrten sehr gern in der Lügenschmiede, doch
nur zu Zeiten, in denen sie sich dort allein und unbeobachtet
wußten. Sie ließen sich auch einen Ulk gefallen,
und oft hatte der Lügenschmied es nur ihrem Einflusse
zu verdanken, daß seine oft zu weitgehenden Witze ohne
unangenehme Folgen blieben. Denn die Sache artete,
wie Alles, was unten aus dem Niedrigen stammt, nach
und nach aus. Die Witze wurden gewöhnlicher; sie
verloren den Reiz. Man hatte sich verausgabt. Und ein
Jeder, der die Lügenschmiede betrat, glaubte, Lügen
machen und Unwahrheiten präsentieren zu dürfen. Der
Geist ging aus. Was früher wirklicher Humor, wirkliche
Schalkhaftigkeit und wirklicher Scherz und Schwank gewesen
war, das wurde jetzt zur Zote, zur Zweideutigkeit,
zur Unwahrheit, zur Fälschung, zur unvorsichtigen
Klatscherei und Lüge. Die Lügenschmiede ist jetzt
verschwunden. Das Haus wurde der Erde gleichgemacht.
Leider aber sind die Folgen dieser unangebrachten
Witzbolderei nicht auch verschwunden. Sie existieren noch
heute. Sie wirken fort. Auch das war ein Sumpf, und
zwar ein unter hellem Grün und winkenden Blumen
verborgener Sumpf. Nicht nur die Ortsseele hat unter
ihm gelitten, sondern seine Miasmen sind auch im weiten
Umkreise rund über das Land gegangen, und leider,
leider bin auch ich einer von denen, die sehr und schwer
darunter zu leiden hatten und noch heutigen Tages
leiden müssen. Daß meine Gegner es wagen konnten,
den Karl May, der ich in Wirklichkeit und Wahrheit
bin, in die verlogenste aller Karikaturen zu verwandeln
und mich sogar als Marktweiberbandit und Räuberhauptmann
durch alle Zeitungen zu schleppen, das wurde zum
größten Teil durch die Lügenschmiede ermöglicht, deren
Stammgäste gar nicht bedachten, was sie an mir
begingen, als sie einander mit immer neuen Erfindungen
über meine angeblichen Abenteuer und Missetaten
traktierten. Ich komme hierauf an anderer Stelle zurück
und habe hier noch ganz kurz zu sagen: Was ich über
jene Falschspielergesellschaft, über "Batzendorf" und über
die "Lügenschmiede" zu berichten hatte, sind nur einige
kurze Einblicke in die damaligen Verhältnisse meiner
Vaterstadt. Ich könnte diese Einblicke noch überaus
erweitern und vertiefen, um nachzuweisen, daß es wirklich
und wahrhaft ein sehr verseuchter Boden gewesen ist, in
den meine Seele gezwungen war, ihre Wurzeln zu schlagen,
will dies aber gern und mit Vergnügen unterlassen,
weil ich kürzlich zu meiner Freude gesehen habe, wieviel
sich dort verändert hat. Ich hatte meine Vaterstadt
schon lange Zeit gemieden und wollte sie auch ferner
meiden, als ich durch eine Rechtssache gezwungen wurde,
sie noch einmal aufzusuchen. Ich wurde angenehm enttäuscht.
Das meine ich nicht äußerlich, sondern innerlich.
Ich habe der Städte und Orte genug gesehen; da
kann mich nichts überraschen und auch nichts enttäuschen.
Wie ich bei jeder Begegnung mit einem mir bisher fremden
Menschen zunächst und vor allen Dingen seine Seele
kennenzulernen suche, so auch die Seele eines jeden
Ortes, den ich neu betrete. Und die Seele Hohenstein-Ernsttals
war zwar noch die alte; das sah ich sofort;
aber sie hatte sich gehoben; sie hatte sich gereinigt; sie
hatte ein anderes, besseres und würdigeres Aussehen
bekommen. Ich hatte Gelegenheit, sie einige Tage lang
beobachten zu können, und darf wohl sagen, daß mir
diese Beobachtungen Freude bereiteten. Ich fand
Intelligenz, wo es früher keine gegeben hatte. Ich
begegnete einem regen Rechtsgefühl, welches nicht so leicht wie
früher irrezuleiten war. Es gab mehr Gemeindesinn,
mehr Zusammenhangsgefühl. Ja, die materiellen Verhältnisse
zeigten überall schon einen Aufblick hinauf in
das Ideale. Der Boden, auf dem man lebte, hatte sich
gehoben und zeigte die Fähigkeit, sich auch fernerhin und
zusehends zu veredeln. Ich begegnete alten Bekannten,
aus denen in Wirklichkeit "Etwas geworden" war. Das
war mir eine Genugtuung, die ich nicht erwartet hatte.
Da gab es nicht mehr jene alten, indolenten Gesichter
mit dem Ausdruck unangenehmer Bauernpfiffigkeit, sondern
die Züge sprachen von Einsicht und Fähigkeit, von
gesunder Klugheit und überlegsamer Urteilskraft. War
dies etwa nur eine Folge des Zuzuges von außen her?
Gewiß nicht ausschließlich, obwohl nicht abgeleugnet werden
kann, daß fremdes Blut auch im Gemeindeleben auffrischend,
stärkend und verbessernd wirkt. Ich gestehe
aufrichtig, daß ich seit jenem Besuche und seit jenen
Beobachtungen mit meiner Vaterstadt wieder sympathisiere
und von Herzen wünsche, daß der jetzt so deutlich sichtbare
Fortschritt auch nach geistigen Zielen ein dauernder
sein möge. Der Beweis ist erbracht, daß die alten Zeiten
vorüber sind. Man hat sich aufgerafft und steigt mit
jugendlicher Energie empor; das bringt Erfolg, und mit
dem Erfolg kommt auch der Segen.

Nach diesen allgemeinen Bemerkungen kann ich nun
zu mir selbst zurückkehren und zu jener Morgenfrühe, in
der ich aus Ernsttal fortging, um mir bei einem edeln
spanischen Räuberhauptmann Hilfe zu holen. Man glaube
ja nicht, daß dies eine "verrückte" Idee gewesen sei. Ich
war geistig kerngesund. Meine Logik war zwar noch
kindlich, aber doch schon wohlgeübt. Der Fehler lag
daran, daß ich infolge des verschlungenen Leseschundes den
Roman für das Leben hielt und darum das Leben nun
einfach als Roman behandelte. Die überreiche Phantasie,
mit der mich die Natur begabte, machte die Möglichkeit
dieser Verwechslung zur Wirklichkeit.

Meine Reise nach Spanien dauerte nur einen Tag.
In der Gegend von Zwickau wohnten Verwandte von
uns. Bei ihnen kehrte ich ein. Sie nahmen mich freundlich
auf und veranlaßten mich, zu bleiben. Inzwischen
hatte man daheim meinen Zettel gefunden und gelesen.
Vater wußte, nach welcher Richtung hin Spanien liegt.
Er dachte sofort an die erwähnten Verwandten und
machte sich in der Ueberzeugung, mich sicher dort
anzutreffen, sofort auf den Weg. Als er kam, saßen wir
rund um den Tisch, und ich erzählte in aller
Herzensaufrichtigkeit, wohin ich wollte, zu wem und auch warum.
Die Verwandten waren arme, einfache, ehrliche Webersleute.
Von Phantasie gab es bei ihnen keine Spur. Sie
waren über mein Vorhaben einfach entsetzt. Hilfe bei
einem Räuberhauptmann suchen! Sie wußten sich zunächst
keinen Rat, was sie mit mir anfangen sollten,
und da war es wie eine Erlösung für sie, als sie meinen
Vater hereintreten sahen. Er, der jähzornige, leicht
überhitzige Mann, verhielt sich ganz anders als gewöhnlich.
Seine Augen waren feucht. Er sagte mir kein einziges
Wort des Zornes. Er drückte mich an sich und sagte:
"Mach so Etwas niemals wieder, niemals!" Dann ging
er nach kurzem Ausruhen mit mir fort -- -- wieder heim.

Der Weg betrug fünf Stunden. Wir sind in dieser
Zeit still nebeneinander hergegangen; er führte mich an
der Hand. Nie habe ich deutlicher gefühlt wie damals,
wie lieb er mich eigentlich hatte. Alles, was er vom
Leben wünschte und hoffte, das konzentrierte er auf mich.
Ich nahm mir heilig vor, ihn niemals wieder ein solches
Leid, wie das heutige, an mir erleben zu lassen. Und
er? Was mochten das wohl für Gedanken sein, die jetzt
in ihm erklangen? Er sagte nichts. Als wir nach
Hause kamen, mußte ich mich niederlegen, denn ich kleiner
Kerl war zehn Stunden lang gelaufen und außerordentlich
müde. Von meinem Ausflug nach Spanien wurde
nie ein Wort gesprochen; aber das Kegelaufsetzen und
das Lesen jener verderblichen Romane hörte auf. Als
dann die Zeit gekommen war, stellte sich die nötige Hilfe
ein, ohne aus dem Lande der Kastanien geholt werden
zu müssen. Der Herr Pastor legte ein gutes Wort für
mich bei unserem Kirchenpatron, dem Grafen von Hinterglauchau,
ein, und dieser gewährte mir eine Unterstützung
von fünfzehn Talern pro Jahr, eine Summe, die man für
mich für hinreichend hielt, das Seminar zu besuchen. Zu
Ostern 1856 wurde ich konfirmiert. Zu Michaelis bestand
ich die Aufnahmeprüfung für das Proseminar zu
Waldenburg und wurde dort interniert.

Also nicht Gymnasiast, sondern nur Seminarist!
Nicht akademisches Studium, sondern nur Lehrer werden!
Nur? Wie falsch! Es gibt keinen höheren Stand als
den Lehrerstand, und ich dachte, fühlte und lebte mich
derart in meine nunmehrige Aufgabe hinein, daß mir
Alles Freude machte, was sich auf sie bezog. Freilich
stand diese Aufgabe nur im Vordergrund. Im Hintergrunde,
hoch über sie hinausragend, hob sich das über
alles Andere empor, was mir seit jenem Abende, an dem
ich den Faust gesehen hatte, zum Ideal geworden war:
Stücke für das Theater schreiben! Ueber das Thema
Gott, Mensch und Teufel! Konnte ich das als Lehrer
nicht ebenso gut wie als gewesener Akademiker? Ganz
gewiß, vorausgesetzt freilich, daß die Gabe dazu nicht
fehlte. Wie stolz ich war, als ich zum ersten Male die
grüne Mütze trug! Wie stolz auch meine Eltern und
Geschwister! Großmutter drückte mich an sich und bat:

"Denk immer an unser Märchen! Jetzt bist du
noch in Ardistan; du sollst aber hinauf nach Dschinnistan.
Dieser Weg wird heut beginnen. Du hast zu steigen.
Kehre dich niemals an die, welche dich zurückhalten
wollen!"

"Und die Geisterschmiede?" fragte ich. "Muß ich
da hinein?"

"Bist du es wert, so kannst du sie nicht umgehen,"
antwortete sie. "Bist du es aber nicht wert, so wird
dein Leben ohne Kampf und ohne Qual verlaufen."

"Ich will aber hinein; ich will!" rief ich mutig aus.

Da legte sie mir ihre Hand auf das Haupt und
sagte lächelnd:

"Das steht bei Gott. Vergiß ihn nicht! Vergiß
ihn nie in deinem Leben!"

Diesem Rat bin ich gehorsam gewesen, muß aber,
falls ich ehrlich sein will, eingestehen, daß mir das
niemals schwer geworden ist. Ich kann mich nicht besinnen,
daß ich je mit dem Zweifel oder gar mit dem Unglauben
zu ringen gehabt hätte. Die Ueberzeugung, daß es einen
Gott gebe, der auch über mich wachen und mich nie verlassen
werde, ist, sozusagen, zu jeder Zeit eine feste,
unveräußerliche Ingredienz meiner Persönlichkeit gewesen,
und ich kann es mir also keineswegs als ein Verdienst
anrechnen, daß ich diesem meinem lichten, schönen
Kinderglauben niemals untreu geworden bin. Freilich, so ganz
ohne alle innere Störung ist es auch bei mir nicht
abgegangen; aber diese Störung kam von außen her und
wurde nicht in der Weise aufgenommen, daß sie sich hätte
festsetzen können. Sie hatte ihre Ursache in der ganz
besonderen Art, in welcher die Theologie und der
Religionsunterricht am Seminar behandelt wurde. Es gab
täglich Morgen- und Abendandachten, an denen jeder
Schüler unweigerlich teilnehmen mußte. Das war ganz
richtig. Wir wurden sonn- und feiertäglich in corpore
in die Kirche geführt. Das war ebenso richtig. Es gab
außerdem bestimmte Feierlichkeiten für Missions- und
ähnliche Zwecke. Auch das war gut und zweckentsprechend.
Und es gab für sämtliche Seminarklassen einen
wohldurchdachten, sehr reichlich ausfallenden Unterricht in
Religions-, Bibel- und Gesangbuchslehre. Das war ganz
selbstverständlich. Aber es gab bei alledem Eines nicht,
nämlich grad das, was in allen religiösen Dingen die
Hauptsache ist; nämlich es gab keine Liebe, keine Milde,
keine Demut, keine Versöhnlichkeit. Der Unterricht war
kalt, streng, hart. Es fehlte ihm jede Spur von Poesie.
Anstatt zu beglücken, zu begeistern, stieß er ab. Die
Religionsstunden waren diejenigen Stunden, für welche
man sich am allerwenigsten zu erwärmen vermochte.
Man war immer froh, wenn der Zeiger die Zwölf
erreichte. Dabei wurde dieser Unterricht von Jahr zu
Jahr in genau denselben Absätzen und genau denselben
Worten und Ausdrücken geführt. Was es am heutigen
Datum gab, das gab es im nächsten Jahre an demselben
Tage ganz unweigerlich wieder. Das ging wie eine alte
Kuckucksuhr; das klang alles so sehr nach Holz, und
das sah alles so aus wie gemacht, wie fabriziert. Jeder
einzelne Gedanke gehörte in sein bestimmtes Dutzend und
durfte sich beileibe nicht an einer andern Stelle sehen
lassen. Das ließ keine Spur von Wärme aufkommen;
das tötete innerlich ab. Ich habe unter allen meinen
Mitschülern keinen einzigen gekannt, der jemals ein
sympathisches Wort über diese Art des Religionsunterrichts
gesagt hätte. Und ich habe auch keinen gekannt, der so
religiös gewesen wäre, aus freien Stücken einmal die
Hände zu falten, um zu beten. Ich selbst habe stets und
bei jeder Veranlassung gebetet; ich tue das auch noch
heut, ohne mich zu genieren; aber damals im Seminar
habe ich das geheim gehalten, weil ich das Lächeln meiner
Mitschüler fürchtete.

Ich hätte gern über diese religiösen Verhältnisse
geschwiegen, durfte dies aber nicht, weil ich die Aufgabe
habe, Alles aufrichtig zu sagen, was auf meinen inneren
und äußeren Werdegang von Einfluß war. Dieses
Seminarchristentum kam mir ebenso seelenlos wie streitbar
vor. Es befriedigte nicht und behauptete trotzdem,
die einzige reine, wahre Lehre zu sein. Wie arm und
wie gottverlassen man sich da fühlte! Die Andern nahmen
das gar nicht etwa als ein Unglück hin; sie waren gleichgültig;
ich aber mit meiner religiösen Liebesbedürftigkeit
fühlte mich erkältet und zog mich in mich selbst zurück.
Ich vereinsamte auch hier, und zwar mehr, viel mehr
als daheim. Und ich wurde hier noch klassenfremder,
als ich es dort gewesen war. Das lag teils in den
Verhältnissen, teils aber auch an mir selbst.

Ich wußte viel mehr als meine Mitschüler. Das
darf ich sagen, ohne in den Verdacht der Prahlerei
zu fallen. Denn was ich wußte, das war eben nichts
weiter als nur Wust, eine regellose, ungeordnete
Anhäufung von Wissensstoff, der mir nicht den geringsten
Nutzen brachte, sondern mich nur beschwerte. Wenn ich
mir ja einmal von dieser meiner unfruchtbaren
Vielwisserei etwas merken ließ, sah man mich staunend an
und lächelte darüber. Man fühlte instinktiv heraus, daß
ich weniger beneidens- als vielmehr beklagenswert sei.
Die andern, meist Lehrersöhne, hatten zwar nicht so viel
gelernt, aber das, was sie gelernt hatten, lag wohlaufgespeichert
und wohlgeordnet in den Kammern ihres Gedächtnisses,
stets bereit, benutzt zu werden. Ich fühlte,
daß ich gegen sie sehr im Nachteil stand, und sträubte
mich doch, dies mir und ihnen einzugestehen. Meine
stille und fleißige Hauptarbeit war, vor allen Dingen
Ordnung in meinem armen Kopf zu schaffen, und das
ging leider nicht so schnell, wie ich es wünschte. Das,
was ich aufbaute, fiel immer wieder ein. Es war
wie ein mühsames Graben durch einen Schneehaufen
hindurch, dessen Massen immer wieder nachrutschten. Und
dabei gab es einen Gegensatz, der sich absolut nicht
beseitigen lassen wollte. Nämlich den Gegensatz zwischen
meiner außerordentlich fruchtbaren Phantasie und der
Trockenheit und absoluten Poesielosigkeit des hiesigen
Unterrichts. Ich war damals noch viel zu jung, als
daß ich eingesehen hätte, woher diese Trockenheit kam.
Man lehrte nämlich weniger das, was zu lernen war,
als vielmehr die Art und Weise, in der man zu lernen
hatte. Man lehrte uns das Lernen. Hatten wir das
begriffen, so war das Fernere leicht. Man gab uns
lauter Knochen; daher die geradezu schmerzende Trockenheit
des Unterrichts. Aber aus diesen Knochen fügte
man die Skelette der einzelnen Wissenschaften zusammen,
deren Fleisch dann später hinzuzufügen war. Bei mir
aber hatte sich bisher grad das Umgekehrte ereignet: Ich
hatte mir zwar eine Unmasse von Fleisch zusammengeschleppt,
aber keinen einzigen tragenden, stützenden
Knochen dazu. In meinem Wissen fehlte das feste
Gerippe. Ich war in Beziehung auf das, was ich geistig
besaß, eine Qualle, die weder innerlich noch äußerlich
einen Halt besaß und darum auch keinen Ort, an dem
sie sich daheim zu fühlen vermochte. Und das Schlimmste
hierbei war: das knochenlose Fleisch dieser Qualle war
nicht gesund, sondern krank, schwer krank; es war von
den Schundromanen des Kegelhausbesitzers vergiftet. Das
begann ich jetzt erst eigentlich einzusehen und fühlte mich
umso unglücklicher dabei, als ich mit keinem Menschen
davon sprechen konnte, ohne mich dadurch bloßzustellen.
Grad die Trockenheit und, ich muß wohl sagen, die
Seelenlosigkeit dieses Seminarunterrichtes war es, welche
mich zu der Erkenntnis meiner Vergiftung führte. Ich
fand für die Skelette, die uns geboten wurden, damit
wir sie beleben möchten, kein gesundes Fleisch in mir.
Alles, was ich zusammenfügte und was ich mir innerlich
aufzubauen versuchte, wurde formlos, wurde häßlich,
wurde unwahr und ungesetzlich. Ich begann, Angst vor
mir zu bekommen, und arbeitete unausgesetzt an meiner
seelischen Gestalt herum, mich innerlich zu säubern, zu
reinigen, zu ordnen und zu heben, ohne fremde Hilfe in
Anspruch nehmen zu müssen, die es ja auch gar nicht
gab. Ich hätte mich wohl gern einem unserer Lehrer
anvertraut, aber die waren ja alle so erhaben, so kalt,
so unnahbar, und vor allen Dingen, das fühlte ich heraus,
keiner von ihnen hätte mich verstanden; sie waren keine
Psychologen. Sie hätten mich befremdet angesehen und
einfach stehen lassen.

Hierzu kam der angeborene, unwiderstehliche Drang
nach geistiger Betätigung. Ich lernte sehr leicht und
hatte demzufolge viel Zeit übrig. So dichtete ich im
Stillen; ja, ich komponierte. Die paar Pfennige, die ich
erübrigte, wurden in Schreibpapier angelegt. Aber was
ich schrieb, das sollte keine Schülerarbeit werden, sondern
etwas Brauchbares, etwas wirklich Gutes. Und was
schrieb ich da? Ganz selbstverständlich eine
Indianergeschichte! Wozu? Ganz selbstverständlich, um gedruckt
zu werden! Von wem? Ganz selbstverständlich von der
"Gartenlaube", die vor einigen Jahren gegründet worden
war, aber schon von Jedermann gelesen wurde. Da war
ich sechzehn Jahre alt. Ich schickte das Manuskript ein.
Als sich eine ganze Woche lang nichts hierauf ereignete,
bat ich um Antwort. Es kam keine. Darum schrieb
ich nach weiteren vierzehn Tagen in einem strengeren
Tone, und nach weiteren zwei Wochen verlangte ich mein
Manuskript zurück, um es an eine andere Redaktion zu
senden. Es kam. Dazu ein Brief von Ernst Keil selbst
geschrieben, vier große Quartseiten lang. Ich war fern
davon, dies so zu schätzen, wie es zu schätzen war. Er
kanzelte mich zunächst ganz tüchtig herunter, so daß ich
mich wirklich aufrichtig schämte, denn er zählte mir höchst
gewissenhaft alle Missetaten auf, die ich, natürlich ohne
es zu ahnen, in der Erzählung begangen hatte. Gegen
den Schluß hin milderten sich die Vorwürfe, und am
Ende reichte er mir, dem dummen Jungen, vergnügt die
Hand und sagte mir, daß er nicht übermäßig entsetzt
sein werde, wenn sich nach vier oder fünf Jahren wieder
eine Indianergeschichte von mir bei ihm einstellen sollte.
Er hat keine bekommen; aber daran trage nicht ich die
Schuld, sondern die Verhältnisse gestatteten es nicht. Das
war der erste literarische Erfolg, den ich zu verzeichnen
habe. Damals freilich hielt ich es für einen absoluten
Mißerfolg und fühlte mich sehr unglücklich darüber.
Inzwischen verging die Zeit. Ich stieg aus dem Proseminar
in die vierte, dritte und zweite Seminarklasse, und in
dieser zweiten Klasse war es, wo mich jenes Schicksal
überfiel, aus welchem meine Gegner so überklingendes
Kapital geschlagen haben.

Es herrschte im Seminar der Gebrauch, daß die
Angelegenheiten jeder Klasse reihum zu besorgen waren, von
jedem eine Woche lang. Darum wurde der Betreffende
als "Wochner" bezeichnet. Außerdem gab es in der ersten
Klasse einen "Ordnungswochner" und in der zweiten einen
"Lichtwochner", welch letzterer die Beleuchtung der
Klassenzimmer zu übersehen hatte. Diese Beleuchtung geschah
damals mit Hilfe von Talglichtern, von denen, wenn eines
niedergebrannt war, ein anderes neu aufgesteckt wurde.
Der Lichtwochner hatte täglich die Säuberung der alten,
wertlosen Leuchter vorzunehmen und insbesondere die
Dillen von den steckengebliebenen Docht- und Talgresten
zu reinigen. Diese Reste wurden entweder einfach
weggeworfen oder von dem Hausmanne zu Stiefel- oder
anderer Schmiere zusammengeschmolzen. Sie waren
allgemein als wertlos anzusehen.

Es war anfangs der Weihnachtswoche, als die Reihe,
Lichtwochner zu sein, an mich kam. Ich besorgte diese
Arbeit wie jeder andere. Am Tage vor dem
Weihnachtsheiligenabende begannen unsere Ferien. Am Tage
vorher kam eine meiner Schwestern, um meine Wäsche
abzuholen und das wenige Gepäck, welches ich mit in die
Ferien zu nehmen hatte. Sie tat dies stets, so oft es
Ferien gab. Der Weg, den sie da von Ernsttal nach
Waldenburg machte, war zwei Stunden lang. So auch
jetzt. Als sie dieses Mal kam, war ich grad beim Reinigen
der Leuchter. Sie war traurig. Es stand nicht gut
daheim. Es gab keine Arbeit und darum keinen Verdienst.
Mutter pflegte, wie selbst die ärmsten Leute, für das
Weihnachtsfest wenigstens einige Kuchen zu backen. Das
hatte sie heuer kaum erschwingen können. Aber bescheert [sic]
werden konnte nichts, gar nichts, denn es fehlte das Geld
dazu. Es gab keine Lichter für den Weihnachtsleuchter.
Sogar die hölzernen Engel der kleineren Schwestern sollten
ohne Lichte sein. Zu diesen Engeln gehörten drei kleine
Lichte, das Stück für fünf oder sechs Pfennige; aber
wenn diese achtzehn Pfennige zu andern, notwendigeren
Dingen gebraucht wurden, so hatte man sich eben zu
fügen. Das tat mir wehe. Der Schwester stand das
Weinen hinter den Augen. Sie sah die Talgreste, die ich
soeben aus den Dillen und von den Leuchtern herabgekratzt
hatte. "Könnte man denn nicht daraus einige
Pfenniglichte machen?" fragte sie. "Ganz leicht,"
antwortete ich. "Man braucht dazu eine Papierröhre und
einen Docht, weiter nichts. Aber brennen würde es schlecht,
denn dieses Zeug ist nur noch höchstens für Schmiere zu
gebrauchen." "Wenn auch, wenn auch! Wir hätten doch
eine Art von Licht für die drei Engel. Wem gehört
dieser Abfall?" "Eigentlich Niemandem. Ich habe ihn
zum Hausmann zu schaffen. Ob der ihn wegwirft oder
nicht, ist seine Sache." "Also wäre es wohl nicht
gestohlen, wenn wir uns ein bißchen davon mit nach Hause
nähmen?" "Gestohlen. Lächerlich! Fällt keinem
Menschen ein! Der ganze Schmutz ist nicht drei Pfennige
wert. Ich wickle dir ein wenig davon ein. Daraus
machen wir drei kleine Weihnachtslichte."

Gesagt, getan! Wir waren nicht allein. Ein anderer
Seminarist stand dabei. Einer aus der ersten Klasse,
also eine Klasse über mir. Es widerstrebt mir, seinen
Namen zu nennen. Sein Vater war Gendarm. Dieser
wackere Mitschüler sah alles mit an. Er warnte mich
nicht etwa, sondern er war ganz freundlich dabei, ging
fort und -- -- -- zeigte mich an. Der Herr Direktor
kam in eigener Person, den "Diebstahl" zu untersuchen.
Ich gestand sehr ruhig ein, was ich getan hatte, und gab
den "Raub", den ich begangen hatte, zurück. Ich dachte
wahrhaftig nichts Arges. Er aber nannte mich einen
"infernalischen Charakter" und rief die Lehrerkonferenz
zusammen, über mich und meine Strafe zu entscheiden.
Schon nach einer halben Stunde wurde sie mir verkündet.
Ich war aus dem Seminar entlassen und konnte
gehen, wohin es mir beliebte. Ich ging gleich mit der
Schwester -- -- -- in die heiligen Christferien -- --
-- ohne Talg für die Weihnachtsengel -- -- -- es waren
das sehr trübe, dunkle Weihnachtsfeiertage. Ich habe
wohl überhaupt schon gesagt, daß grad Weihnacht für
mich oft eine Zeit der Trauer, nicht der Freude gewesen
sei. An diesen Weihnachtstagen löschten heilige Flammen
in mir aus, Lichter, die mir wert gewesen waren. Ich
lernte zwischen Christentum und seinen Bekennern
unterscheiden. Ich hatte Christen kennengelernt, die
unchristlicher gegen mich verfahren waren, als Juden, Türken
und Heiden verfahren würden.

Glücklicherweise zeigte sich das Ministerium des Kultus
und öffentlichen Unterrichtes, an welches ich mich wendete,
verständiger und humaner als die Seminardirektion. Ich
erlangte ohne weiteres die Genehmigung, meine unterbrochenen
Studien auf dem Seminar in Plauen fortzusetzen.
Ich kam dort in dieselbe Klasse, also in die zweite,
und bestand nach zurückgelegter erster Klasse das Lehrerexamen,
worauf ich meine erste Stelle in Glauchau erhielt,
bald aber nach Altchemnitz kam, und zwar in eine
Fabrikschule, deren Schüler ausschließlich aus ziemlich
erwachsenen Fabrikarbeitern bestanden. Hier haben meine
Bekenntnisse zu beginnen. Ich lege sie ab, ohne Scheu,
der Wahrheit gemäß, als ob ich mich nicht mit mir selbst,
sondern mit einer andern, mir fremden Person beschäftigte.

Ich komme auf die Armut meiner Eltern zurück.
Das Examen hatte einen Frackanzug erfordert, für unsere
Verhältnisse eine kostspielige Sache. Hierzu kam, da ich
als Lehrer nicht mehr wie als Schüler herumlaufen
konnte, eine wenn auch noch so bescheidene
Ausstattung an Wäsche und andern notwendigen Dingen.
Das konnten meine Eltern nicht bezahlen; ich mußte es
auf mein Konto nehmen; das heißt, ich borgte es mir,
um es von meinem Gehalte nach und nach abzuzahlen.
Da hieß es sparsam sein und jeden Pfennig umdrehen,
ehe er ausgegeben wurde! Ich beschränkte mich auf das
Aeußerste und verzichtete auf jede Ausgabe, die nicht
absolut notwendig war. Ich besaß nicht einmal eine Uhr,
die doch für einen Lehrer, der sich nach Minuten zu
richten hat, fast unentbehrlich ist.

Der Fabrikherr, dessen Schule mir anvertraut worden
war, hatte kontraktlich für Logis für mich zu sorgen. Er
machte sich das leicht. Einer seiner Buchhalter besaß
auch freies Logis, Stube mit Schlafstube. Er hatte bisher
beides allein besessen, nun wurde ich zu ihm einquartiert;
er mußte mit mir teilen. Hierdurch verlor er
seine Selbständigkeit und seine Bequemlichkeit; ich genierte
ihn an allen Ecken und Enden, und so läßt es sich gar
wohl begreifen, daß ich ihm nicht sonderlich willkommen
war und ihm der Gedanke nahelag, sich auf irgend eine
Weise von dieser Störung zu befreien. Im übrigen kam
ich ganz gut mit ihm aus. Ich war ihm möglichst gefällig
und behandelte ihn, da ich sah, daß er das wünschte,
als den eigentlichen Herrn des Logis. Das verpflichtete
ihn zur Gegenfreundlichkeit. Die Gelegenheit hierzu fand
sich sehr bald. Er hatte von seinen Eltern eine neue
Taschenuhr bekommen. Seine alte, die er nun nicht mehr
brauchte, hing unbenutzt an einem Nagel an der Wand.
Sie hatte einen Wert von höchstens zwanzig Mark. Er
bot sie mir zum Kaufe an, weil ich keine besaß; ich lehnte
aber ab, denn wenn ich mir einmal eine Uhr kaufte, so
sollte es eine neue, bessere sein. Freilich stand dies noch
in weitem Felde, weil ich zuvor meine Schulden abzuzahlen
hatte. Da machte er selbst mir den Vorschlag,
seine alte Uhr, wenn ich in die Schule gehe, zu mir zu
stecken, da ich doch zur Pünktlichkeit verpflichtet sei. Ich
ging darauf ein und war ihm dankbar dafür. In der
ersten Zeit hing ich die Uhr, sobald ich aus der Schule
zurückkehrte, sofort an den Nagel zurück. Später unterblieb
das zuweilen; ich behielt sie noch stundenlang in der
Tasche, denn eine so auffällige Betonung, daß sie nicht
mir gehöre, kam mir nicht gewissenhaft, sondern lächerlich
vor. Schließlich nahm ich sie sogar auf Ausgängen
mit und hing sie erst am Abende, nach meiner Heimkehr,
an Ort und Stelle. Ein wirklich freundschaftlicher oder
gar herzlicher Umgang fand nicht zwischen uns statt. Er
duldete mich notgedrungen und ließ es mich zuweilen
absichtlich merken, daß ihm die Teilung seiner Wohnung
nicht behage.

Da kam Weihnacht. Ich teilte ihm mit, daß ich
die Feiertage bei den Eltern zubringen würde, und
verabschiedete mich von ihm, weil ich nach Schluß der Schule
gleich abreisen wollte, ohne erst in die Wohnung
zurückzukehren. Als die letzte Schulstunde vorüber war, fuhr
ich nach Ernsttal, nur eine Bahnstunde lang, also gar
nicht weit. Die Uhr zurückzulassen, daran hatte ich in
meiner Ferienfreude nicht gedacht. Als ich bemerkte; daß
sie sich in meiner Tasche befand, war mir das sehr
gleichgültig. Ich war mir ja nicht der geringsten unlautern
Absicht bewußt. Dieser Abend bei den Eltern war ein
so glücklicher. Ich hatte die Schülerzeit hinter mir; ich
besaß ein Amt; ich bekam Gehalt. Der Anfang zum
Aufstieg war da. Morgen war heiliger Abend. Wir
begannen schon heut die Christbescherung vorzubereiten.
Dabei sprach ich über meine Zukunft, über meine Ideale,
die für mich alle im hellsten Weihnachtsglanze standen.
Der Vater schwärmte mit. Die Mutter war stillglücklich.
Großmutters alte, treue Augen strahlten. Als wir
endlich zur Ruhe gegangen waren, lag ich noch lange Zeit
wach im Bette und hielt Rechenschaft über mich. Meine
innere Unklarheit wurde mir zum ersten Male wirklich
bewußt. Ich sah die Abgründe hinter mir gähnen, vor
mir aber keinen mehr, denn mein Weg schien zwar schwer
und mühevoll, aber völlig frei zu sein: Schriftsteller
werden; Großes leisten, aber vorher Großes lernen! Alle
inneren Fehler, welche die Folgen meiner verkehrten
Erziehung waren, nach und nach herauswerfen, damit Platz
für Neues, Besseres, Richtigeres, Edles werde! In diesen
Gedanken schlief ich ein, und als ich früh erwachte, war
der Vormittag schon fast vorüber, und ich mußte nach
dem Hohensteiner Christmarkt, um noch einige kleine
Einkäufe zur Bescherung für die Schwestern zu machen.
Dort traf ich einen Gendarm, der mich fragte, ob ich
der Lehrer May sei. Als ich dies bejahte, forderte er
mich auf, mit ihm nach dem Rathause zu kommen, zur
Polizei, wo man eine Befragung für mich habe. Ich
ging mit, vollständig ahnungslos. Ich wurde zunächst
in die Wohnstube geführt, nicht in das Bureau. Da saß
eine Frau und nähte. Wessen Frau, darüber bitte ich,
schweigen zu dürfen. Sie war eine gute Bekannte meiner
Mutter, eine Schulkameradin von ihr, und sah mich mit
angstvollen Augen an. Der Gendarm gebot mir, mich
niederzusetzen, und ging für kurze Zeit hinaus, seine
Meldung zu machen. Das benutzte die Frau, mich hastig
zu fragen:

"Sie sind arretiert! Wissen Sie das?"

"Nein," antwortete ich, tödlich erschrocken.
"Warum?"

"Sie sollen Ihrem Mietkameraden seine Taschenuhr
gestohlen haben! Wenn man sie bei Ihnen findet,
bekommen Sie Gefängnis und werden als Lehrer
abgesetzt!"

Mir flimmerten die Augen. Ich hatte das Gefühl,
als habe mich jemand mit einer Keule auf den Kopf
geschlagen. Ich dachte an den gestrigen Abend, an meine
Gedanken vor dem Einschlafen, und nun plötzlich Absetzung
und Gefängnis!

"Aber die ist ja gar nicht gestohlen, sondern nur
geborgt!" stammelte ich, indem ich sie aus der Tasche zog.

"Das glaubt man Ihnen nicht! Weg damit! Geben
Sie sie ihm heimlich wieder, doch lassen Sie sie jetzt nicht
sehen! Schnell, schnell!"

Meine Bestürzung war unbeschreiblich. Ein einziger
klarer, ruhiger Gedanke hätte mich gerettet, aber er blieb
aus. Ich brauchte die Uhr einfach nur vorzuzeigen und
die Wahrheit zu sagen, so war alles gut; aber ich stand
vor Schreck wie im Fieber und handelte wie im Fieber.
Die Uhr verschwand, nicht wieder in der Tasche, sondern
im Anzuge, wohin sie nicht gehörte, und kaum war dies
geschehen, so kehrte der Gendarm zurück, um mich
abzuholen. Mache ich es mit dem, was nun geschah, so
kurz wie möglich! Ich beging den Wahnsinn, den Besitz
der Uhr in Abrede zu stellen; sie wurde aber, als man
nach ihr suchte, gefunden. So vernichtete mich also die
Lüge, anstatt daß sie mich rettete; das tut sie ja immer;
ich war ein -- -- -- Dieb! Ich wurde nach Chemnitz
vor den Untersuchungsrichter geschafft, brachte die
Weihnachtsfeiertage anstatt bei den Eltern hinter Schloß und
Riegel zu und wurde zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt.
Ob und womit ich mich verteidigt habe; ob ich
zur Berufung, zur Appellation, zu irgendeinem Rechtsmittel,
zu einem Gnadengesuche, zu einem Anwalt meine
Zuflucht nahm, das weiß ich nicht zu sagen. Jene Tage
sind aus meinem Gedächtnisse entschwunden, vollständig
entschwunden. Ich möchte aus wichtigen psychologischen
Gründen gern Alles so offen und ausführlich wie möglich
erzählen, kann das aber leider nicht, weil das Alles infolge
ganz eigenartiger, seelischer Zustände, über die ich
im nächsten Kapitel zu berichten haben werde, aus meiner
Erinnerung ausgestrichen ist. Ich weiß nur, daß ich
mich vollständig verloren hatte und daß ich mich dann
in der Pflege der Eltern und besonders der Großmutter
wiederfand. Als ich mich mühsam erholt hatte und wieder
kräftig genug auf den Beinen war, bin ich nach Altchemnitz
gegangen, um mein beschädigtes Gedächtnis wieder
aufzufrischen. Es war in Beziehung auf die Oertlichkeiten
vergebens; ich erkannte nichts, weder die Fabrik,
noch meine damalige Wohnung, noch irgendeine Stelle,
an der ich ganz unbedingt gewesen war. Aber plötzlich
stand er vor mir, mein Wohnungsgenosse, der Buchhalter.
Er kam mir auf der Straße entgegen und hielt den
Schritt an, als wir uns erreichten. Den erkannte ich
sofort, er mich auch, obgleich er versicherte, daß ich ganz
anders aussehe als früher, so außerordentlich leidend.
Er gab mir die Hand und bat mich, ihm zu verzeihen.
So, wie es gekommen sei, das habe er keineswegs gewollt.
Es tue ihm unendlich leid, mir meine Karriere verdorben
zu haben! Ich sah ihn groß an. Mir meine Karriere
verdorben? Hätte das überhaupt Jemand gekonnt?
Selbst wenn der Staat mich nicht mehr anstellen will,
gibt es doch Privatstellen genug, die besser bezahlt werden
als diejenigen des Staates. Und meine Absicht war es
ja niemals gewesen, Volks- oder gar Fabrikschullehrer zu
bleiben; ich hatte ganz Anderes geplant und plante das
auch noch heut. Ich ließ den Mann mitten auf der
Straße stehen und entfernte mich, ohne ihm einen
Vorwurf zu machen.

Ja, ich ging fort, aber wohin?! Das ahnte ich
damals nicht. Ich habe im letzten Verlaufe dieser
Darstellung gesagt, daß die Abgründe hinter mir lagen, vor
mir aber keine, und daß ich die Absicht hegte, Großes zu
leisten, vorher aber Großes zu lernen. Das Erstere war
falsch. Die Abgründe lagen ganz im Gegenteile nicht
hinter mir, sondern vor mir. Und das Große, was ich
zu lernen und zu leisten hatte, war, in diese Abgründe
zu stürzen, ohne zu zerschmettern, und jenseits frei
hinaufzusteigen, ohne jemals wieder zurückzufallen. Dies ist die
schwerste Aufgabe, die es für einen Sterblichen gibt, und
ich glaube, ich habe sie gelöst. -- -- --

_________


V.
Im Abgrunde.

_____

Ich komme nun zu der Zeit, welche für mich und für jeden
Menschenfreund die schrecklichste, für den Psychologen
aber die interessanteste ist. Es liegt mir in der schreibenden
Hand und in der Feder, der vorliegenden Darstellung
jene psychologische oder gar kriminalpsychologische Färbung
zu geben, welche am besten geeignet wäre, das, was damals
in mir vorgegangen ist, für den Fachmann begreiflich
zu machen; aber ich schreibe hier nicht für den seelenkundigen
Spezialisten, sondern für die Welt, in der meine
Bücher gelesen werden, und habe mich also aller Versuche,
Psychologie zu treiben, zu enthalten. Ich werde infolge
dessen alle Fachausdrücke vermeiden und lieber einen
bildlichen Ausdruck in Anwendung bringen als einen, der
nicht allgemein verständlich ist.

Die im letzten Kapitel erzählte Begebenheit hatte wie
ein Schlag auf mich gewirkt, wie ein Schlag über den
Kopf, unter dessen Wucht man in sich selbst zusammenbricht.
Und ich brach zusammen! Ich stand zwar wieder
auf, doch nur äußerlich; innerlich blieb ich in dumpfer
Betäubung liegen; wochenlang, ja monatelang. Daß es
grad zur Weihnachtszeit geschehen war, hatte die Wirkung
verdoppelt. Ob ich mich an einen Rechtsanwalt wendete,
ob ich Berufung eingelegt, appelliert oder sonst irgend ein
Rechtsmittel ergriffen habe, das weiß ich nicht. Ich weiß
nur noch, daß ich sechs Wochen lang in einer Zelle wohnte,
zwei andere Männer mit mir. Sie waren Untersuchungsgefangene.
Man schien mich also für ungefährlich zu
halten, sonst hätte man mich nicht mit Personen
zusammengesperrt, die noch nicht abgeurteilt waren. Der Eine
war ein Bankbeamter, der Andere ein Hotelier. Weshalb
sie in Untersuchung saßen, das kümmerte mich nicht. Sie
zeigten sich lieb zu mir und gaben sich Mühe, mich aus
dem Zustande innerlicher Versteinerung, in dem ich mich
befand, emporzuheben, doch vergeblich. Ich verließ die
Zelle nach Beendigung meiner Haft mit derselben
Empfindungslosigkeit, in der ich sie betreten hatte. Ich ging
heim, zu den Eltern.

Weder dem Vater noch der Mutter noch der Großmutter
noch den Schwestern fiel es ein, mir Vorwürfe
zu machen. Und das war geradezu entsetzlich! Als ich
damals in meinem kindlichen Unverstand nach Spanien
wollte und Vater mich heimholte, hatte ich mir vorgenommen,
ihn niemals wieder mit Aehnlichem zu betrüben, und es
war so ganz anders und so viel schlimmer gekommen!
Um meine Zukunft oder um eine Anstellung war es mir
nicht; die hätte ich zu jeder Zeit erhalten können. Nun
da es so stand, handelte es sich für mich darum, nicht
erst seitwärts abzuschweifen, sondern gleich jetzt und für
immer in den Weg einzubiegen, an dessen anderem Ende
die Ideale lagen, die ich seit meiner Knabenzeit im tiefsten
Herzen trug. Schriftsteller werden, Dichter werden! Lernen,
lernen, lernen! Am Großen, Schönen, Edlen mich
emporarbeiten aus der jetzigen tiefen Niedrigkeit! Die Welt
als Bühne kennen lernen, und die Menschheit, die sich
auf ihr bewegt! Und am Schlusse dieses schweren,
arbeitsreichen Lebens für die andere Bühne schreiben, für das
Theater, um dort die Rätsel zu lösen, die mich schon seit
frühester Kindheit umfangen hatten und die ich heut zwar
fühlte, aber noch lange, lange, lange nicht begriff!

Dieser sich in mir vollziehende Gedanken- oder Willensvorgang
war nicht etwa ein klarer, kurz und bündig sich
aussprechender, o nein, denn es herrschte jetzt in mir das
strikte Gegenteil von Klarheit; es war Nacht; es gab
nur wenige freie Augenblicke, in denen ich weitersah,
als grad der heutige Tag mich sehen ließ. Diese Nacht
war nicht ganz dunkel; sie hatte Dämmerlicht. Und
sonderbar, sie erstreckte sich nur auf die Seele, nicht auch
auf den Geist. Ich war seelenkrank, aber nicht geisteskrank.
Ich besaß die Fähigkeit zu jedem logischen Schlusse,
zur Lösung jeder mathematischen Aufgabe. Ich hatte
den schärfsten Einblick in alles, was außer mir lag; aber
sobald es sich mir näherte, um zu mir in Beziehung zu
treten, hörte diese Einsicht auf. Ich war nicht imstande,
mich selbst zu betrachten, mich selbst zu verstehen, mich
selbst zu führen und zu lenken. Nur zuweilen kam ein
Augenblick, der mir die Fähigkeit brachte, zu wissen, was
ich wollte, und dann wurde dieses Wollen festgehalten bis
zum nächsten Augenblicke. Es war ein Zustand, wie ich
ihn noch bei keinem Menschen gesehen und in keinem
Buche gelesen hatte. Und ich war mir dieses seelischen
Zustandes geistig sehr wohl bewußt, besaß aber nicht
die Macht, ihn zu ändern oder gar zu überwinden. Es
bildete sich bei mir das Bewußtsein heraus, daß ich kein
Ganzes mehr sei, sondern eine gespaltene Persönlichkeit,
ganz dem neuen Lehrsatze entsprechend, nicht Einzelwesen,
sondern Drama ist der Mensch. In diesem Drama gab
es verschiedene, handelnde Persönlichkeiten, die sich bald
gar nicht, bald aber auch sehr genau voneinander
unterschieden.

Da war zunächst ich selbst, nämlich ich, der ich das
Alles beobachtete. Aber wer dieses Ich eigentlich war
und wo es steckte, das vermochte ich nicht zu sagen. Es
besaß große Aehnlichkeit mit meinem Vater und hatte
alle seine Fehler. Ein zweites Wesen in mir stand stets
nur in der Ferne. Es glich einer Fee, einem Engel,
einer jener reinen, beglückenden Gestalten aus Großmutters
Märchenbuche. Es mahnte; es warnte. Es lächelte,
wenn ich gehorchte, und es trauerte, wenn ich ungehorsam
war. Die dritte Gestalt, natürlich nicht körperliche, sondern
seelische Gestalt, war mir direkt widerlich. Fatal, häßlich,
höhnisch, abstoßend, stets finster und drohend; anders habe
ich sie nie gesehen, und anders habe ich sie nie gehört.
Denn ich sah sie nicht nur, sondern ich hörte sie auch; sie
sprach. Sie sprach oft ganze Tage und ganze Nächte
lang in einem fort zu mir. Und sie wollte nie das Gute,
sondern stets nur das, was bös und ungesetzlich war.
Sie war mir neu; ich hatte sie nie gesehen, sondern erst
jetzt, seitdem ich innerlich gespalten war. Aber wenn sie
einmal still war und ich darum Zeit fand, sie unbemerkt
und aufmerksam zu betrachten, dann kam sie mir so vertraut
und so bekannt vor, als ob ich sie schon tausendmal
gesehen hätte. Dann wechselte ihre Gestalt, und es wechselte
auch ihr Gesicht. Bald stammte sie aus Batzendorf,
aus dem Kegelschub oder aus der Lügenschmiede. Heut
sah sie aus wie Rinaldo Rinaldini, morgen wie der
Raubritter Kuno von der Eulenburg und übermorgen
wie der fromme Seminardirektor, als er vor meinem
Talgpapiere stand.

Diese inneren Beobachtungen machte ich nicht mit
einem Male, sondern nach und nach. Es vergingen viele,
viele Monate, bis sie sich in mir so weit entwickelt hatten,
daß ich sie mit dem geistigen Auge fassen und durch das
Gedächtnis festhalten konnte. Und da begann ich zu
begreifen, um was es sich eigentlich handelte. Was sich in
jedem Menschen vollzieht, ohne daß er es bemerkt oder
auch nur ahnt, das vollzog sich in mir, indem ich es sah
und hörte. War dies ein Vorzug, eine Gottesgnade?
Oder war ich verrückt? Dann aber jedenfalls nicht geistig,
sondern seelisch verrückt, denn ich machte diese Beobachtungen
mit einer Objektivität und Kaltblütigkeit, als ob es sich
nicht um mich selbst, sondern um einen ganz anderen, mir
vollständig fremden Menschen handle. Und ich lebte das
gewöhnliche, alltägliche Leben ganz so, wie jede gesunde
Person es lebt, die von derartigen psychologischen
Vorgängen nicht angefochten wird. Es kehrte mir die Kraft
und der Wille zum Leben zurück. Ich arbeitete. Ich
gab Unterricht in Musik und fremden Sprachen. Ich
dichtete; ich komponierte. Ich bildete mir eine kleine
Instrumentalkapelle, um das, was ich komponierte,
einzuüben und auszuführen. Es leben noch heut Mitglieder
dieser Kapelle. Ich wurde Direktor eines Gesangvereins,
mit dem ich öffentliche Konzerte gab, trotz meiner Jugend.
Und ich begann, zu schriftstellern. Ich schrieb erst
Humoresken, dann "Erzgebirgische Dorfgeschichten". Ich hatte
nicht die geringste Not, Verleger zu finden. Gute, packende
Humoresken sind äußerst selten und werden hoch bezahlt.
Die meinigen gingen aus einer Zeitung in die andere.
Es war eine Freude, zu sehen, wie sich das so vortrefflich
entwickelte. Aber diese Freude wurde in der grausamsten
Weise durch eine andere Entwicklung vergällt, die sich
zu gleicher Zeit und dem konform in meinem Innern
vollzog. Die Spaltung dort griff weiter um sich. Jede
Empfindung, jedes Gefühl schien Form annehmen zu
wollen. Es wimmelte von Gestalten in mir, die mitsorgen,
mitarbeiten, mitschaffen, mitdichten und mitkomponieren
wollten. Und jede dieser Gestalten sprach; ich mußte sie
hören. Es war zum Wahnsinnigwerden! Wie es früher
außer mir selbst nur zwei Gestalten gegeben hatte, die
helle und die dunkle, so jetzt außer mir zwei Gruppen.
Und je länger es dauerte, daß sie sich von einander
unterschieden, um so deutlicher erkannte ich sie. Es kämpften
da zwei einander feindliche Heerlager gegen einander:
Großmutters helle, lichte Bibel- und Märchengestalten
gegen die schmutzigen Dämonen jener unglückseligen Hohensteiner
Leihbibliothek. Ardistan gegen Dschinnistan. Die
übererbten Gedanken des Sumpfes, in dem ich geboren
wurde, gegen die beglückenden Ideen des Hochlandes,
nach dem ich strebte. Die Miasmen einer vergifteten
Kinder- und Jugendzeit gegen die reinen, beseligenden
Wünsche und Hoffnungen, mit denen ich in die Zukunft
schaute, die Lüge gegen die Wahrheit, das Laster gegen
die Tugend, die eingeborene menschliche Bestie gegen die
Wiedergeburt, nach der jeder Sterbliche zu streben hat,
um zum Edelmenschen zu werden.

Solche innere Kämpfe hat jeder denkende Mensch,
der vorwärts strebt, durchzumachen. Bei ihm sind es
Gedanken und Empfindungen, die gegeneinander streiten.
Bei mir aber hatten diese Gedanken und Regungen sich
zu sichtbaren und hörbaren Gestalten verdichtet. Ich sah
sie bei geschlossenen Augen, und ich hörte sie, bei Tag und
bei Nacht; sie störten mich aus der Arbeit; sie weckten
mich aus dem Schlafe. Die dunklen waren mächtiger
als die hellen; gegen ihre Zudringlichkeit gab es keinen
Widerstand. In gewöhnlichen Stunden herrschte Ruhe
in mir; da gab es keinen Konflikt. Sobald ich aber zu
arbeiten begann, erwachte Gestalt um Gestalt. Eine jede
wollte die Arbeit so, wie sie es wünschte. Auch kam
es sehr auf das Thema an, welches ich behandelte. Gegen
eine lustige Humoreske hatte niemand etwas. Die konnte
ich ohne Streit und Störung vollenden. Bei einer ernsten
Dorfgeschichte aber erhoben sich zahlreiche Stimmen für
und gegen mich. In diesen Dorfgeschichten wies ich
regelmäßig nach, daß Gott nicht mit sich spotten läßt,
sondern genauso straft, wie man sündigt. Hiergegen
empörten sich gewisse Gestalten in mir. Den größten
Widerstand aber fand ich, sobald ich in meinen Arbeiten
oder meiner Lektüre noch höhere Linien bestieg. Wenn
ich mir ein religiös oder ethisch oder ästhetisch hohes
Thema stellte, empörte sich die dunkle Gestalt in mir mit
aller Macht dagegen und bereitete mir Qualen, die ganz
unaussprechlich sind. Um zu zeigen, in welcher Weise
das vor sich ging und was für Qualen das waren, will
ich ein erläuterndes Beispiel bringen: Ich hatte den Auftrag
erhalten, eine Parodie von "des Sängers Fluch"
von Uhland zu schreiben. Ich tat es. Die Parodie bekam
den Titel "des Schneiders Fluch". Ein Schneider
verfluchte einen Schuster, sein baufälliges Häuschen und
winziges Gärtchen, in dem nur zwei Stachelbeerbüsche
standen. Bei der Verfluchung des Häuschens kam es
zu folgenden Zeilen:

"Die Hypotheken lauern
Schon heut auf euern Sturz.
Ihr hörts, verruchte Mauern,
Ich mach' es mit euch kurz!"

Diese Parodie dichtete ich, ohne innerlich dabei gestört zu
sein. Gegen so niedrige Sachen gab es nicht die geringste
Empörung in mir. Nur die lichte Gestalt verschwand;
sie trauerte, denn mein Können reichte zu Besserem und
Edlerem aus. Einige Zeit später hatte ich ein Lehrgedicht
zu schreiben, von dem mir jetzt nur noch folgende Strophen
gegenwärtig sind:

"Wenn ihr erst selbst das Wort verstanden,
Das euer Heiland euch gelehrt
Und es in euren eig'nen Landen
Befolgt und mit Gehorsam ehrt,
Dann einet sich zu einem Strome
Die Menschheit all von nah und fern
Und kniet anbetend in dem Dome
Der Schöpfung vor dem einen Herrn.
Dann wird der Glaube triumphieren,
Der einen Gott und Vater kennt;
Die Namen sinken, und es führen
Die Wege all zum Firmament."

Kaum hatte ich mich hingesetzt, um die Disposition zu
diesem hochstrebenden Gedicht niederzuschreiben, so trat
eine seltene Klarheit in mir ein, ich sah das frohe Lächeln
der lichten Gestalt, und hundert schöne, edle Gedanken
eilten herbei, um von mir aufgenommen zu werden. Ich griff
zur Feder. Da aber war es plötzlich, als ob ein schwarzer
Vorhang in mir niederfalle. Die Klarheit war vorüber;
die lichte Gestalt verschwand; die dunkle tauchte auf,
höhnisch lachend, und überall, durch mein ganzes inneres
Wesen, erscholl es wie mit hundert Stimmen "des
Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch, des Schneiders
Fluch u. s. w.!" So klang es stunden- und stundenlang
in mir fort, endlos, unaufhörlich und ohne die geringste
Pause, nicht etwa nur in der Einbildung, sondern wirklich,
wirklich. Es war, als ob diese Stimmen nicht in mir,
sondern grad vor meinem äußern Ohr ertönten. Ich
gab mir alle Mühe, sie zum Schweigen zu bringen, doch
war das, solange ich die Feder in der Hand hielt und
zum Schreiben sitzen blieb, vergeblich. Auch als ich
aufstand, klangen sie fort, und nur als mir der Gedanke kam,
auf das Lehrgedicht zu verzichten, trat augenblicklich
Schweigen ein. Da ich aber mein Versprechen, es anzufertigen,
halten mußte, so griff ich bald wieder zur Feder.
Sofort erklang der Stimmenchor von neuem "des
Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch!" und als ich
trotzdem alle meine Gedanken auf meine Aufgaben konzentrierte,
kamen die lautgebrüllten Sätze hinzu "Die Hypotheken
lauern, die Hypotheken lauern; ihr hörts, verruchte
Mauern, ihr hörts, verruchte Mauern!" Das ging den
ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch und auch dann
noch immer weiter. Kein anderer Mensch sah und hörte
es; Niemand ahnte, was und wie furchtbar ich litt.
Jeder Andere hätte das als Wahnsinn bezeichnet, ich aber
nicht. Ich blieb kaltblütig und beobachtete mich. Ich
setzte es trotz aller Gegenwehr durch, daß mein Gedicht
zur vereinbarten Zeit fertig wurde. Aber derartige Siege
hatte ich immer sehr teuer zu bezahlen; ich brach dann
innerlich zusammen.

Leider erstreckte sich diese gewalttätige Verhinderung
meiner guten Vorsätze nicht nur auf meine Studien und
Arbeiten, sondern noch viel mehr und ganz besonders auch
auf meine Lebensführung, auf mein alltägliches Tun.
Es war, als ob ich aus jener Zelle, in der ich sechs
Wochen lang eingekerkert gewesen war, eine ganze Menge
unsichtbarer Verbrecherexistenzen mit heimgebracht hätte,
die es nun als ihre Aufgabe betrachteten, sich bei mir
einzunisten und mich ihnen gleichgesinnt zu machen. Ich
sah sie nicht; ich sah nur die finstere, höhnische
Hauptgestalt aus dem heimatlichen Sumpf und den Hohensteiner
Schundromanen; aber sie sprachen auf mich ein; sie
beeinflußten mich. Und wenn ich mich dagegen sträubte,
so wurden sie lauter, um mich zu betäuben und so zu
ermüden, daß ich die Kraft zum Widerstand verlor. Die


 


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