Römische Geschichte Book 1
by
Theodor Mommsen

Part 3 out of 5



Polydeukes, Alexandros. Wie dumpf und rauh die Aussprache war, zeigt am
deutlichsten, dass o und u, b und p, c und g, d und t den Etruskern schon in
sehr frueher Zeit zusammenfielen. Zugleich wurde wie im Lateinischen und in den
rauheren griechischen Dialekten der Akzent durchaus auf die Anfangssilbe
zurueckgezogen. Aehnlich wurden die aspirierten Konsonanten behandelt; waehrend
die Italiker sie wegwarfen mit Ausnahme des aspirierten b oder des f, und die
Griechen umgekehrt mit Ausnahme dieses Lautes die uebrigen th ph ch
beibehielten, liessen die Etrusker den weichsten und lieblichsten, das ph
gaenzlich, ausser in Lehnwoertern fallen und bedienten sich dagegen der uebrigen
drei in ungemeiner Ausdehnung, selbst wo sie nicht hingehoerten, wie zum
Beispiel Thetis ihnen Thethis, Telephus Thelaphe, Odysseus Utuze oder Uthuze
heisst. Von den wenigen Endungen und Woertern, deren Bedeutung ermittelt ist,
entfernen die meisten sich weit von allen griechisch-italischen Analogien; so
die Zahlwoerter alle; so die Endung al zur Bezeichnung der Abstammung, haeufig
als Metronymikon, wie zum Beispiel Canial auf einer zwiesprachigen Inschrift von
Chiusi uebersetzt wird durch Cainnia natus; die Endung sa bei Frauennamen zur
Bezeichnung des Geschlechts, in das sie eingeheiratet haben, so dass zum
Beispiel die Gattin eines Licinius Lecnesa heisst. So ist cela oder clan mit dem
Kasus clensi Sohn; sech Tochter; ril Jahr; der Gott Hermes wird Turms, Aphrodite
Turan, Hephaestos Sethlans, Bakchos Fufluns. Neben diesen fremdartigen Formen
und Lauten finden sich allerdings einzelne Analogien zwischen dem Etruskischen
und den italischen Sprachen. Die Eigennamen sind im wesentlichen nach dem
allgemeinen italischen Schema gebildet: die haeufige gentilizische Endung enas
oder ena ^4 kehrt wieder in der auch in italischen, besonders sabellischen
Geschlechtsnamen haeufigen Endung enus, wie denn die etruskischen Namen Maecenas
und Spurinna den roemischen Maecius und Spurius genau entsprechen. Eine Reihe
von Goetternamen, die auf etruskischen Denkmaelern oder bei Schriftstellern als
etruskische vorkommen, sind dem Stamme und zum Teil auch der Endung nach so
durchaus lateinisch gebildet, dass, wenn diese Namen wirklich von Haus aus
etruskisch sind, die beiden Sprachen eng verwandt gewesen sein muessen: so Usil
(Sonne und Morgenroete, verwandt mit ausum, aurum, aurora, sol), Minerva
(menervare), Lasa (lascivus), Neptunus, Voltumna. Indes da diese Analogien erst
aus den spaeteren politischen und religioesen Beziehungen zwischen Etruskern und
Latinern und den dadurch veranlassten Ausgleichungen und Entlehnungen herruehren
koennen, so stossen sie noch nicht das Ergebnis um, zu dem die uebrigen
Wahrnehmungen hinfuehren, dass die tuskische Sprache von den saemtlichen
griechisch-italischen Idiomen mindestens so weit abstand wie die Sprache der
Kelten und der Slaven. So wenigstens klang sie den Roemern; "tuskisch und
gallisch" sind Barbarensprachen, "oskisch und volskisch" Bauernmundarten. Wenn
aber die Etrusker dem griechisch-italischen Sprachstamm fernstanden, so ist es
bis jetzt ebensowenig gelungen, sie einem andern bekannten Stamme
anzuschliessen. Auf die Stammesverwandtschaft mit dem etruskischen sind die
verschiedenartigsten Idiome, bald mit der einfachen, bald mit der peinlichen
Frage, aber alle ohne Ausnahme vergeblich befragt worden; selbst mit dem
baskischen, an das den geographischen Verhaeltnissen nach noch am ersten gedacht
werden koennte, haben entscheidende Analogien sich nicht herausgestellt.
Ebensowenig deuten die geringen Reste, die von der liturgischen Sprache in Orts-
und Personennamen auf uns gekommen sind, auf Zusammenhang mit den Tuskern. Nicht
einmal die verschollene Nation, die auf den Inseln des tuskischen Meeres,
namentlich auf Sardinien, jene raetselhaften Grabtuerme, Nurhagen genannt, zu
Tausenden aufgefuehrt hat, kann fueglich mit der etruskischen in Verbindung
gebracht werden, da im etruskischen Gebiet kein einziges gleichartiges Gebaeude
vorkommt. Hoechstens deuten einzelne, wie es scheint, ziemlich zuverlaessige
Spuren darauf hin, dass die Etrusker im allgemeinen den Indogermanen
beizuzaehlen sind. So ist namentlich mi im Anfang vieler aelterer Inschriften
sicher emi, eimi und findet die Genetivform konsonantischer Staemme veneruf,
rafuvuf im Altlateinischen genau sich wieder, entsprechend der alten
sanskritischen Endung as. Ebenso haengt der Name des etruskischen Zeus Tina oder
Tinia wohl mit dem sanskritischen dina = Tag zusammen wie Zan mit dem
gleichbedeutenden diwan. Aber selbst dies zugegeben erscheint das etruskische
Volk darum kaum weniger isoliert. "Die Etrusker", sagt schon Dionysios, "stehen
keinem Volke gleich an Sprache und Sitte"; und weiter haben auch wir nichts zu
sagen.
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^1 Ras-ennae mit der 1, 131 erwaehnten gentilizischen Endung.
^2 Dahin gehoeren z. B. Inschriften caeritischer Tongefaesse wie: minice
thumamimathumaramlisiaeipurenaietheeraisieepanaminethunastavhelefu oder: mi
ramuthas kaiufinaia.
^3 Wie die Sprache jetzt klingen mochte, davon kann einen Begriff geben zum
Beispiel der Anfang der grossen Perusiner Inschrift: eulat tanna larezu amevachr
lautn velthinase stlaafunas slelethcaru.
^4 So Maecenas, Porsena, Vivenna, Caecina, Spurinna. Der Vokal in der
vorletzten Silbe ist urspruenglich lang, wird aber infolge der Zurueckziehung
des Akzents auf die Anfangssilbe haeufig verkuerzt und sogar ausgestossen. So
finden wir neben Porsena, auch Porsena, neben Caecina Ceicne.
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Ebensowenig laesst sich bestimmen, von wo die Etrusker nach Italien
eingewandert sind; und hiermit ist nicht viel verloren, da diese Wanderung auf
jeden Fall der Kinderzeit des Volkes angehoert und dessen geschichtliche
Entwicklung in Italien beginnt und endet. Indes ist kaum eine Frage eifriger
verhandelt worden als diese, nach jenem Grundsatz der Archaeologen, vorzugsweise
nach dem zu forschen, was weder wissbar noch wissenswert ist, "nach der Mutter
der Hekabe", wie Kaiser Tiberius meinte. Da die aeltesten und bedeutendsten
etruskischen Staedte tief im Binnenlande liegen, ja unmittelbar am Meer keine
einzige namhafte etruskische Stadt begegnet ausser Populonia, von dem wir aber
eben sicher wissen, dass es zu den alten Zwoelf Staedten nicht gehoert hat; da
ferner in geschichtlicher Zeit die Etrusker von Norden nach Sueden sich bewegen,
so sind sie wahrscheinlich zu Lande nach der Halbinsel gekommen; wie denn auch
die niedere Kulturstufe, auf der wir sie zuerst finden, mit einer Einwanderung
ueber das Meer sich schlecht vertragen wuerde. Eine Meerenge ueberschritten
schon in fruehester Zeit die Voelker gleich einem Strom; aber eine Landung an
der italischen Westkueste setzt ganz andere Bedingungen voraus. Danach muss die
aeltere Heimat der Etrusker west- oder nordwaerts von Italien gesucht werden. Es
ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass die Etrusker ueber die raetischen Alpen
nach Italien gekommen sind, da die aeltesten in Graubuenden und Tirol
nachweisbaren Ansiedler, die Raeter, bis in die historische Zeit etruskisch
redeten und auch ihr Name auf den der Rasen anklingt; sie koennen freilich
Truemmer der etruskischen Ansiedlungen am Po, aber wenigstens ebenso gut auch
ein in den aelteren Sitzen zurueckgebliebener Teil des Volks sein.
Mit dieser einfachen und naturgemaessen Auffassung aber tritt in grellen
Widerspruch die Erzaehlung, dass die Etrusker aus Asien ausgewanderte Lyder
seien. Sie ist sehr alt: schon bei Herodot findet sie sich und kehrt dann in
zahllosen Wandlungen und Steigerungen bei den Spaeteren wieder, wenngleich
einzelne verstaendige Forscher, wie zum Beispiel Dionysios, sich nachdruecklich
dagegen erklaerten und darauf hinwiesen, dass in Religion, Gesetz, Sitte und
Sprache zwischen Lydern und Etruskern auch nicht die mindeste Aehnlichkeit sich
zeige. Es ist moeglich, dass ein vereinzelter kleinasiatischer Piratenschwarm
nach Etrurien gelangt ist und an dessen Abenteuer diese Maerchen anknuepfen;
wahrscheinlicher aber beruht die ganze Erzaehlung auf einem blossen Quiproquo.
Die italischen Etrusker oder die Turs-ennae - denn diese Form scheint die
urspruengliche und der griechischen Tyr-s/e/noi, Tyrr/e/noi, der umbrischen
Turs-ci, den beiden roemischen Tusci Etrusci zu Grunde zu liegen - begegneten
sich in dem Namen ungefaehr mit dem lydischen Volke der Torr/e/boi oder auch
wohl Tyrr-/e/noi, so genannt von der Stadt T?rra; und diese offenbar zufaellige
Namensvetterschaft scheint in der Tat die einzige Grundlage jener durch ihr
hohes Alter reicht besser gewordenen Hypothese und des ganzen babylonischen
Turmes darauf aufgefuehrter Geschichtsklitterungen zu sein. Indem man mit dem
lydischen Piratenwesen den alten etruskischen Seeverkehr verknuepfte und endlich
noch - zuerst nachweislich tut es Thukydides - die torrhebischen Seeraeuber mit
Recht oder Unrecht zusammenwarf mit dem auf allen Meeren pluendernden und
hausenden Flibustiervolk der Pelasger, entstand eine der heillosesten
Verwirrungen geschichtlicher Ueberlieferung. Die Tyrrhener bezeichnen bald die
lydischen Torrheber - so in den aeltesten Quellen, wie in den Homerischen
Hymnen; bald als Tyrrhener-Pelasger oder auch bloss Tyrrhener die pelasgische
Nation; bald endlich die italischen Etrusker, ohne dass die letzteren mit den
Pelasgern oder den Torrhebern je sich nachhaltig beruehrt oder gar die
Abstammung mit ihnen gemein haetten.
Von geschichtlichem Interesse ist es dagegen zu bestimmen, was die
nachweislich aeltesten Sitze der Etrusker waren und wie sie von dort aus sich
weiter bewegten. Dass sie vor der grossen keltischen Invasion in der Landschaft
noerdlich vom Padus sassen, oestlich an der Etsch grenzend mit den Venetern
illyrischen (albanesischen?) Stammes, westlich mit den Ligurern, ist vielfach
beglaubigt; vornehmlich zeugt dafuer der schon erwaehnte rauhe etruskische
Dialekt, den noch in Livius' Zeit die Bewohner der raetischen Alpen redeten,
sowie das bis in spaete Zeit tuskisch gebliebene Mantua. Suedlich vom Padus und
an den Muendungen dieses Flusses mischten sich Etrusker und Umbrer, jener als
der herrschende Stamm, dieser als der aeltere, der die alten Kaufstaedte Atria
und Spina gegruendet hatte, waehrend Felsina (Bologna) und Ravenna tuskische
Anlagen scheinen. Es hat lange gewaehrt, ehe die Kelten den Padus
ueberschritten; womit es zusammenhaengt, dass auf dem rechten Ufer desselben das
etruskische und umbrische Wesen weit tiefere Wurzeln geschlagen hat als auf dem
frueh aufgegebenen linken. Doch sind ueberhaupt die Landschaften noerdlich vom
Apennin zu rasch von einer Nation an die andere gelangt, als dass eine
dauerhafte Volksentwicklung sich hier haette gestalten koennen.
Weit wichtiger fuer die Geschichte wurde die grosse Ansiedelung der Tusker
in dem Lande, das heute noch ihren Namen traegt. Moegen auch Ligurer oder Umbrer
hier einstmals gewohnt haben, so sind doch ihre Spuren durch die etruskische
Okkupation und Zivilisation so gut wie vollstaendig ausgetilgt worden. In diesem
Gebiet, das am Meer von Pisae bis Tarquinii reicht und oestlich vom Apennin
abgeschlossen wird, hat die etruskische Nationalitaet ihre bleibende Staette
gefunden und mit grosser Zaehigkeit bis in die Kaiserzeit hinein sich behauptet.
Die Nordgrenze des eigentlich tuskischen Gebietes machte der Arnus; das Gebiet
von da nordwaerts bis zur Muendung der Macra und dem Apennin war streitiges
Grenzland, bald ligurisch, bald etruskisch, und groessere Ansiedlungen gediehen
deshalb daselbst nicht. Die Suedgrenze bildete anfangs wahrscheinlich der
Ciminische Wald, eine Huegelkette suedlich von Viterbo, spaeterhin der
Tiberstrom; es ward schon oben angedeutet, dass das Gebiet zwischen dem
Ciminischen Gebirg und dem Tiber mit den Staedten Sutrium, Nepete, Falerii,
Veii, Caere erst geraume Zeit spaeter als die noerdlicheren Distrikte,
moeglicherweise erst im zweiten Jahrhundert Roms, von den Etruskern eingenommen
zu sein scheint und dass die urspruengliche italische Bevoelkerung sich hier,
namentlich in Falerii, wenn auch in abhaengigem Verhaeltnis behauptet haben
muss.
Seitdem der Tiberstrom die Markscheide Etruriens gegen Umbrien und Latium
bildete, mag hier im ganzen ein friedliches Verhaeltnis eingetreten sein und
eine wesentliche Grenzverschiebung nicht stattgefunden haben, am wenigsten gegen
die Latiner. So lebendig in den Roemern das Gefuehl lebte, dass der Etrusker
ihnen fremd, der Latiner ihr Landsmann war, so scheinen sie doch vom rechten
Ufer her weit weniger Ueberfall und Gefahr befuerchtet zu haben als zum Beispiel
von den Stammesverwandten in Gabii und Alba; natuerlich, denn dort schuetzte
nicht bloss die Naturgrenze des breiten Stromes, sondern auch der fuer Roms
merkantile und politische Entwicklung folgenreiche Umstand, dass keine der
maechtigeren etruskischen Staedte unmittelbar am Fluss lag wie am latinischen
Ufer Rom. Dem Tiber am naechsten waren die Veienter, und sie waren es auch, mit
denen Rom und Latium am haeufigsten in ernste Konflikte gerieten, namentlich um
den Besitz von Fidenae, welches den Veientern auf dem linken Tiberufer, aehnlich
wie auf dem rechten den Roemern das Ianiculum, als eine Art Brueckenkopf diente
und bald in den Haenden der Latiner, bald in denen der Etrusker sich befand.
Dagegen mit dem etwas entfernteren Caere war das Verhaeltnis im ganzen weit
friedlicher und freundlicher, als es sonst unter Nachbarn in solchen Zeiten
vorzukommen pflegt. Es gibt wohl schwankende und in die graueste Fernzeit
gerueckte Sagen von Kaempfen zwischen Latium und Caere, wie denn der caeritische
Koenig Mezentius ueber die Latiner grosse Siege erfochten und denselben einen
Weinzins auferlegt haben soll; aber viel bestimmter als der einstmalige
Fehdestand erhellt aus der Tradition ein vorzugsweise enges Verhaeltnis zwischen
den beiden uralten Mittelpunkten des Handels- und Seeverkehrs in Latium und in
Etrurien. Sichere Spuren von einem Vordringen der Etrusker ueber den Tiber
hinaus auf dem Landweg mangeln ueberhaupt. Zwar werden in dem grossen
Barbarenheer, das Aristodemos im Jahre 230 (524) der Stadt unter den Mauern von
Kyme vernichtet, die Etrusker in erster Reihe genannt; indes selbst wenn man
diese Nachricht als bis ins einzelne glaubwuerdig betrachtet, folgt daraus nur,
dass die Etrusker an einem grossen Pluenderzuge teilnahmen. Weit wichtiger ist
es, dass suedwaerts vom Tiber keine auf dem Landweg gegruendete etruskische
Ansiedlung nachweisbar ist und dass namentlich von einer ernstlichen Bedraengung
der latinischen Nation durch die Etrusker gar nichts wahrgenommen wird. Der
Besitz des Ianiculum und der beiden Ufer der Tibermuendung blieb den Roemern,
soviel wir sehen, unangefochten. Was die Uebersiedlungen etruskischer
Gemeinschaften nach Rom anlangt, so findet sich ein vereinzelter, aus tuskischen
Annalen gezogener Bericht, dass eine tuskische Schar, welche Caelius Vivenna von
Volsinii und nach dessen Untergang der treue Genosse desselben, Mastarna,
angefuehrt habe, von dem letzteren nach Rom gefuehrt worden sei. Es mag dies
zuverlaessig sein, wenngleich die Herleitung des Namens des caelischen Berges
von diesem Caelius offenbar eine Philologenerfindung ist und nun gar der Zusatz,
dass dieser Mastarna in Rom Koenig geworden sei unter dem Namen Servius Tullius,
gewiss nichts ist als eine unwahrscheinliche Vermutung solcher Archaeologen, die
mit dem Sagenparallelismus sich abgaben. Auf etruskische Ansiedlungen in Rom
deutet weiter das "Tuskerquartier" unter dem Palatin.
Auch das kann schwerlich bezweifelt werden, dass das letzte
Koenigsgeschlecht, das ueber die Roemer geherrscht hat, das der Tarquinier, aus
Etrurien entsprossen ist, sei es nun aus Tarquinii, wie die Sage will, sei es
aus Caere, wo das Familiengrab der Tarchnas vor kurzem aufgefunden worden ist;
auch der in die Sage verflochtene Frauenname Tanaquil oder Tanchvil ist
unlateinisch, dagegen in Etrurien gemein. Allein die ueberlieferte Erzaehlung,
wonach Tarquinius der Sohn eines aus Korinth nach Tarquinii uebergesiedelten
Griechen war und in Rom als Metoeke einwanderte, ist weder Geschichte noch Sage
und die geschichtliche Kette der Ereignisse offenbar hier nicht bloss verwirrt,
sondern voellig zerrissen. Wenn aus dieser Ueberlieferung ueberhaupt etwas mehr
entnommen werden kann als die nackte und im Grunde gleichgueltige Tatsache, dass
zuletzt ein Geschlecht tuskischer Abkunft das koenigliche Szepter in Rom
gefuehrt hat, so kann darin nur liegen, dass diese Herrschaft eines Mannes
tuskischer Herkunft ueber Rom weder als eine Herrschaft der Tusker oder einer
tuskischen Gemeinde ueber Rom, noch umgekehrt als die Herrschaft Roms ueber
Suedetrurien gefasst werden darf. In der Tat ist weder fuer die eine noch fuer
die andere Annahme irgendein ausreichender Grund vorhanden; die Geschichte der
Tarquinier spielt in Latium, nicht in Etrurien, und soweit wir sehen, hat
waehrend der ganzen Koenigszeit Etrurien auf Rom weder in der Sprache noch in
Gebraeuchen einen wesentlichen Einfluss geuebt oder gar die ebenmaessige
Entwicklung des roemischen Staats oder des latinischen Bundes unterbrochen.
Die Ursache dieser relativen Passivitaet Etruriens gegen das latinische
Nachbarland ist wahrscheinlich teils zu suchen in den Kaempfen der Etrusker mit
den Kelten am Padus, den diese vermutlich erst nach der Vertreibung der Koenige
in Rom ueberschritten, teils in der Richtung der etruskischen Nation auf
Seefahrt und Meer- und Kuestenherrschaft, womit zum Beispiel die kampanischen
Ansiedelungen entschieden zusammenhaengen und wovon im folgenden Kapitel weiter
die Rede sein wird.
Die tuskische Verfassung beruht gleich der griechischen und latinischen auf
der zur Stadt sich entwickelnden Gemeinde. Die fruehe Richtung der Nation aber
auf Schiffahrt, Handel und Industrie scheint rascher, als es sonst in Italien
der Fall gewesen ist, hier eigentlich staedtische Gemeinwesen ins Leben gerufen
zu haben; zuerst von allen italischen Staedten wird in den griechischen
Berichten Caere genannt. Dagegen finden wir die Etrusker im ganzen minder
kriegstuechtig und kriegslustig als die Roemer und Sabeller; die unitalische
Sitte, mit Soeldnern zu fechten, begegnet hier sehr frueh. Die aelteste
Verfassung der Gemeinden muss in den allgemeinen Grundzuegen Aehnlichkeit mit
der roemischen gehabt haben; Koenige oder Lucumonen herrschten, die aehnliche
Insignien, also wohl auch aehnliche Machtfuelle besassen wie die roemischen;
Vornehme und Geringe standen sich schroff gegenueber; fuer die Aehnlichkeit der
Geschlechterordnung buergt die Analogie des Namensystems, nur dass bei den
Etruskern die Abstammung von muetterlicher Seite weit mehr Beachtung findet als
im roemischen Recht. Die Bundesverfassung scheint sehr lose gewesen zu sein. Sie
umschloss nicht die gesamte Nation, sondern es waren die noerdlichen und die
kampanischen Etrusker zu eigenen Eidgenossenschaften vereinigt ebenso wie die
Gemeinden des eigentlichen Etrurien; jeder dieser Buende bestand aus zwoelf
Gemeinden, die zwar eine Metropole, namentlich fuer den Goetterdienst, und ein
Bundeshaupt oder vielmehr einen Oberpriester anerkannten, aber doch im
wesentlichen gleichberechtigt gewesen zu sein scheinen und zum Teil wenigstens
so maechtig, dass weder eine Hegemonie sich bilden noch die Zentralgewalt zur
Konsolidierung gelangen konnte. Im eigentlichen Etrurien war die Metropole
Volsinii; von den uebrigen Zwoelfstaedten desselben kennen wir durch sichere
Ueberlieferung nur Perusia, Vetulonium, Volci und Tarquinii. Es ist indes ebenso
selten, dass die Etrusker wirklich gemeinschaftlich handeln, als das Umgekehrte
selten ist bei der latinischen Eidgenossenschaft; die Kriege fuehrt regelmaessig
eine einzelne Gemeinde, die von ihren Nachbarn wen sie kann ins Interesse zieht,
und wenn ausnahmsweise der Bundeskrieg beschlossen wird, so schliessen sich
dennoch sehr haeufig einzelne Staedte aus - es scheint den etruskischen
Konfoederationen mehr noch als den aehnlichen italischen Stammbuenden von Haus
aus an einer festen und gebietenden Oberleitung gefehlt zu haben.
10. Kapitel
Die Hellenen in Italien Seeherrschaft der Tusker und Karthager
Nicht auf einmal wird es hell in der Voelkergeschichte des Altertums; und
auch hier beginnt der Tag im Osten. Waehrend die italische Halbinsel noch in
tiefes Werdegrauen eingehuellt liegt, ist in den Landschaften am oestlichen
Becken des Mittelmeers bereits eine nach allen Seiten hin reich entwickelte
Kultur ans Licht getreten; und das Geschick der meisten Voelker, in den ersten
Stadien der Entwicklung an einem ebenbuertigen Bruder zunaechst den Meister und
Herrn zu finden, ist in hervorragendem Masse auch den Voelkern Italiens zuteil
geworden. Indes lag es in den geographischen Verhaeltnissen der Halbinsel, dass
eine solche Einwirkung nicht zu Lande stattfinden konnte. Von der Benutzung des
schwierigen Landwegs zwischen Italien und Griechenland in aeltester Zeit findet
sich nirgends eine Spur. In das transalpinische Land freilich mochten von
Italien aus schon in unvordenklich ferner Zeit Handelsstrassen fuehren: die
aelteste Bernsteinstrasse erreichte von der Ostsee aus das Mittelmeer an der
Pomuendung - weshalb in der griechischen Sage das Delta des Po als Heimat des
Bernsteins erscheint -, und an diese Strasse schloss sich eine andere quer durch
die Halbinsel ueber den Apennin nach Pisa fuehrende an; aber Elemente der
Zivilisation konnten von dort her den Italikern nicht zukommen. Es sind die
seefahrenden Nationen des Ostens, die nach Italien gebracht haben, was
ueberhaupt in frueher Zeit von auslaendischer Kultur dorthin gelangt ist.
Das aelteste Kulturvolk am Mittelmeergestade, die Aegypter, fuhren noch
nicht ueber Meer und haben daher auch auf Italien nicht eingewirkt. Ebensowenig
aber kann dies von den Phoenikern behauptet werden. Allerdings waren sie es, die
von ihrer engen Heimat am aeusseren Ostrand des Mittelmeers aus zuerst unter
allen bekannten Staemmen auf schwimmenden Haeusern in dasselbe, anfangs des
Fisch- und Muschelfangs, bald auch des Handels wegen, sich hinauswagten, die
zuerst den Seeverkehr eroeffneten und in unglaublich frueher Zeit das Mittelmeer
bis zu seinem aeussersten westlichen Ende befuhren. Fast an allen Gestaden
desselben erscheinen vor den hellenischen phoenikische Seestationen: wie in
Hellas selbst, auf Kreta und Kypros, in Aegypten, Libyen und Spanien, so auch im
italischen Westmeer. Um ganz Sizilien herum, erzaehlt Thukydides, hatten, ehe
die Griechen dorthin kamen, oder wenigstens, ehe sie dort in groesserer Anzahl
sich festsetzten, die Phoeniker auf den Landspitzen und Inselchen ihre
Faktoreien gegruendet, des Handels wegen mit den Eingeborenen, nicht um Land zu
gewinnen. Allein anders verhaelt es sich mit dem italischen Festland. Von
phoenikischen Niederlassungen daselbst ist bis jetzt nur eine einzige mit
einiger Sicherheit nachgewiesen worden, eine punische Faktorei bei Caere, deren
Andenken sich bewahrt hat teils in der Benennung der kleinen Ortschaft an der
caeritischen Kueste Punicum, teils in dem zweiten Namen der Stadt Caere selbst,
Agylla, welcher nicht, wie man fabelt, von den Pelasgern herruehrt, sondern
phoenikisch ist und die "Rundstadt" bezeichnet, wie eben vom Ufer aus gesehen
Caere sich darstellt. Dass diese Station und was von aehnlichen Gruendungen es
an den Kuesten Italiens noch sonst gegeben haben mag, auf jeden Fall weder
bedeutend noch von langem Bestande gewesen ist, beweist ihr fast spurloses
Verschwinden; aber es liegt auch nicht der mindeste Grund vor, sie fuer aelter
zu halten als die gleichartigen hellenischen Ansiedlungen an denselben Gestaden.
Ein unveraechtliches Anzeichen davon, dass wenigstens Latium die kanaanitischen
Maenner erst durch Vermittlung der Hellenen kennengelernt hat, ist ihre
latinische, der griechischen entlehnte Benennung der Poener. Vielmehr fuehren
alle aeltesten Beziehungen der Italiker zu der Zivilisation des Ostens
entschieden nach Griechenland; und es laesst sich das Entstehen der
phoenikischen Faktorei bei Caere, ohne auf die vorhellenische Periode
zurueckzugehen, sehr wohl aus den spaeteren wohlbekannten Beziehungen des
caeritischen Handelsstaats zu Karthago erklaeren. In der Tat lag, wenn man sich
erinnert, dass die aelteste Schiffahrt wesentlich Kuestenfahrt war und blieb,
den Phoenikern kaum eine Landschaft am Mittelmeer so fern wie der italische
Kontinent. Sie konnten ihn nur entweder von der griechischen Westkueste oder von
Sizilien aus erreichen; und es ist sehr glaublich, dass die hellenische Seefahrt
frueh genug aufbluehte, um den Phoenikern in der Befahrung der Adriatischen wie
der Tyrrhenischen See zuvorzukommen. Urspruenglichen unmittelbaren Einfluss der
Phoeniker auf die Italiker anzunehmen, ist deshalb kein Grund vorhanden; auf die
spaeteren Beziehungen der phoenikischen Seeherrschaft im westlichen Mittelmeer
zu den italischen Anwohnern der Tyrrhenischen See wird die Darstellung
zurueckkommen.
Allem Anschein nach sind es also die hellenischen Schiffer gewesen, die
zuerst unter den Anwohnern des oestlichen Beckens des Mittelmeers die italischen
Kuesten befuhren. Von den wichtigen Fragen indes, aus welcher Gegend und zu
welcher Zeit die griechischen Seefahrer dorthin gelangt sind, laesst nur die
erstere sich mit einiger Sicherheit und Vollstaendigkeit beantworten. Es war das
aeolische und ionische Gestade Kleinasiens, wo zuerst der hellenische Seeverkehr
sich grossartig entfaltete und von wo aus den Griechen wie das Innere des
Schwarzen Meeres so auch die italischen Kuesten sich erschlossen. Der Namen des
Ionischen Meeres, welcher den Gewaessern zwischen Epirus und Sizilien geblieben
ist, und der der Ionischen Bucht, mit welchem Namen die Griechen frueher das
Adriatische Meer bezeichneten, haben das Andenken an die einstmalige Entdeckung
der Sued- und Ostkueste Italiens durch ionische Seefahrer bewahrt. Die aelteste
griechische Ansiedlung in Italien, Kyme, ist dem Namen wie der Sage nach eine
Gruendung der gleichnamigen Stadt an der anatolischen Kueste. Nach
glaubwuerdiger hellenischer Ueberlieferung waren es die kleinasiatischen
Phokaeer, die zuerst von den Hellenen die entferntere Westsee befuhren. Bald
folgten auf den von den Kleinasiaten gefundenen Wegen andere Griechen nach:
Ionier von Naxos und von Chalkis auf Euboea, Achaeer, Lokrer, Rhodier,
Korinther, Megarer, Messener, Spartaner. Wie nach der Entdeckung Amerikas die
zivilisierten Nationen Europas wetteiferten, dorthin zu fahren und dort sich
niederzulassen; wie die Solidaritaet der europaeischen Zivilisation den neuen
Ansiedlern inmitten der Barbaren deutlicher zum Bewusstsein kam als in ihrer
alten Heimat, so war auch die Schiffahrt nach dem Westen und die Ansiedelung im
Westland kein Sondergut einer einzelnen Landschaft oder eines einzelnen Stammes
der Griechen, sondern Gemeingut der hellenischen Nation; und wie sich zu
Nordamerikas Schoepfung englische und franzoesische, hollaendische und deutsche
Ansiedlungen gemischt und durchdrungen haben, so ist auch das griechische
Sizilien und "Grossgriechenland" aus den verschiedenartigsten hellenischen
Stammschaften oft ununterscheidbar zusammengeschmolzen. Doch lassen sich, ausser
einigen mehr vereinzelt stehenden Ansiedlungen, wie die der Lokrer mit ihren
Pflanzstaedten Hipponion und Medama und die erst gegen Ende dieser Periode
gegruendete Niederlassung der Phokaeer Hyele (Velia, Elea) sind, im ganzen drei
Hauptgruppen unterscheiden: die unter dem Namen der chalkidischen Staedte
zusammengefasste urspruenglich ionische, zu der in Italien Kyme mit den uebrigen
griechischen Niederlassungen am Vesuv und Rhegion, in Sizilien Zankle (spaeter
Messana), Naxos, Katane, Leontini, Himera zaehlen; die achaeische, wozu Sybaris
und die Mehrzahl der grossgriechischen Staedte sich rechneten, und die dorische,
welcher Syrakus, Gela, Akragas, ueberhaupt die Mehrzahl der sizilischen
Kolonien, dagegen in Italien nur Taras (Tarentum) und dessen Pflanzstadt
Herakleia angehoeren. Im ganzen ueberwiegt in der Einwanderung die aeltere
hellenische Schicht der Ionier und der vor der dorischen Einwanderung im
Peloponnes ansaessigen Staemme; von den Dorern haben sich vorzugsweise nur die
Gemeinden gemischter Bevoelkerung, wie Korinth und Megara, die rein dorischen
Landschaften dagegen nur in untergeordnetem Grade beteiligt; natuerlich, denn
die Ionier waren ein altes Handels- und Schiffervolk, die dorischen Staemme aber
sind erst verhaeltnismaessig spaet von ihren binnenlaendischen Bergen in die
Kuestenlandschaften hinabgestiegen und zu allen Zeiten dem Seeverkehr ferner
geblieben. Sehr bestimmt treten die verschiedenen Einwanderergruppen
auseinander, besonders in ihrem Muenzfuss. Die phokaeischen Ansiedler praegen
nach dem in Asien herrschenden babylonischen Fuss. Die chalkidischen Staedte
folgen in aeltester Zeit dem aeginaeischen, das heisst dem urspruenglich im
ganzen europaeischen Griechenland vorherrschenden und zwar zunaechst derjenigen
Modifikation desselben, die wir dort auf Euboea wiederfinden. Die achaeischen
Gemeinden muenzen auf korinthische, die dorischen endlich auf diejenige
Waehrung, die Solon im Jahre 160 Roms (594) in Attika eingefuehrt hatte, nur
dass Taras und Herakleia sich in wesentlichen Stuecken vielmehr nach der
Waehrung ihrer achaeischen Nachbarn richten als nach der der sizilischen Dorer.
Die Zeitbestimmung der frueheren Fahrten und Ansiedlungen wird wohl fuer
immer in tiefes Dunkel eingehuellt bleiben. Zwar eine gewisse Folge darin tritt
auch fuer uns noch unverkennbar hervor. In der aeltesten Urkunde der Griechen,
welche, wie der aelteste Verkehr mit dem Westen, den kleinasiatischen Ioniern
eignet, in den Homerischen Gesaengen reicht der Horizont noch kaum ueber das
oestliche Becken des Mittelmeers hinaus. Vom Sturm in die westliche See
verschlagene Schiffer mochten von der Existenz eines Westlandes und etwa noch
von dessen Meeresstrudeln und feuerspeienden Inselbergen die Kunde nach
Kleinasien heimgebracht haben; allein zu der Zeit der Homerischen Dichtung
mangelte selbst in derjenigen griechischen Landschaft, welche am fruehesten mit
dem Westland in Verkehr trat, noch jede zuverlaessige Kunde von Sizilien und
Italien; und die Maerchenerzaehler und Dichter des Ostens konnten, wie
seinerzeit die okzidentalischen den fabelhaften Orient, ungestoert die leeren
Raeume des Westens mit ihren luftigen Gestalten erfuellen. Bestimmter treten
schon in den Hesiodischen Gedichten die Umrisse Italiens und Siziliens hervor;
sie kennen aus beiden einheimische Namen von Voelkerschaften, Bergen und
Staedten; doch ist ihnen Italien noch eine Inselgruppe. Dagegen in der gesamten
nachhesiodischen Literatur erscheint Sizilien und selbst das gesamte Gestade
Italiens als den Hellenen wenigstens im allgemeinen bekannt. Ebenso laesst die
Reihenfolge der griechischen Ansiedlungen mit einiger Sicherheit sich bestimmen.
Als die aelteste namhafte Ansiedlung im Westland galt offenbar schon dem
Thukydides Kyme; und gewiss hat er nicht geirrt. Allerdings lag dem griechischen
Schiffer mancher Landungsplatz naeher; allein vor den Stuermen wie vor den
Barbaren war keiner so geschuetzt wie die Insel Ischia, auf der die Stadt
urspruenglich lag; und dass solche Ruecksichten vor allem bei dieser Ansiedlung
leiteten, zeigt selbst die Stelle noch, die man spaeter auf dem Festland dazu
ausersah, die steile, aber geschuetzte Felsklippe, die noch heute den
ehrwuerdigen Namen der anatolischen Mutterstadt traegt. Nirgends in Italien sind
denn auch die Oertlichkeiten der kleinasiatischen Maerchen mit solcher
Festigkeit und Lebendigkeit lokalisiert wie in der kymaeischen Landschaft, wo
die fruehesten Westfahrer, jener Sagen von den Wundern des Westens voll, zuerst
das Fabelland betraten und die Spuren der Maerchenwelt, in der sie zu wandeln
meinten, in den Sirenenfelsen und dem zur Unterwelt fuehrenden Aornossee
zurueckliessen. Wenn ferner in Kyme zuerst die Griechen Nachbarn der Italiker
wurden, so erklaert es sich sehr einfach, weshalb der Name desjenigen italischen
Stammes, der zunaechst um Kyme angesessen war, der Name der Opiker, von ihnen
noch lange Jahrhunderte nachher fuer saemtliche Italiker gebraucht ward. Es ist
ferner glaublich ueberliefert, dass die massenhafte hellenische Einwanderung in
Unteritalien und Sizilien von der Niederlassung auf Kyme durch einen
betraechtlichen Zwischenraum getrennt war und dass bei jener Einwanderung wieder
die Ionier von Chalkis und von Naxos vorangingen und Naxos auf Sizilien die
aelteste aller durch eigentliche Kolonisierung in Italien und Sizilien
gegruendeten Griechenstaedte ist, worauf dann die achaeischen und dorischen
Kolonisationen erst spaeter erfolgt sind.
Allein es scheint voellig unmoeglich, fuer diese Reihe von Tatsachen auch
nur annaehernd sichere Jahreszahlen festzustellen. Die Gruendung der achaeischen
Stadt Sybaris im Jahre 33 (721) und die der dorischen Stadt Taras im Jahre 46
Roms (708) moegen die aeltesten Daten der italischen Geschichte sein, deren
wenigstens ungefaehre Richtigkeit als ausgemacht angesehen werden kann. Um
wieviel aber die Ausfuehrung der aelteren ionischen Kolonien jenseits dieser
Epoche zurueckliege, ist ebenso ungewiss wie das Zeitalter der Entstehung der
Hesiodischen und gar der Homerischen Gedichte. Wenn Herodot das Zeitalter Homers
richtig bestimmt hat, so war Italien den Griechen ein Jahrhundert vor der
Gruendung Roms (850) noch unbekannt; indes jene Ansetzung ist wie alle anderen
der Lebenszeit Homers kein Zeugnis, sondern ein Schluss, und wer die Geschichte
der italischen Alphabete sowie die merkwuerdige Tatsache erwaegt, dass den
Italikern das Griechenvolk bekannt ward, bevor der hellenische Stammname
aufgekommen war, und die Italiker ihre Bezeichnung der Hellenen von dem in
Hellas frueh verschollenen Stamm der Grai oder Graeci entlehnten ^1, wird
geneigt sein, den fruehesten Verkehr der Italiker mit den Griechen um ein
bedeutendes hoeher hinaufzuruecken.
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^1 Ob der Name der Graeker urspruenglich aus dem epirotischen Binnenland
und der Gegend von Dodone haftet oder vielmehr den frueher vielleicht bis an das
Westmeer reichenden Aetolern eigen war, mag dahingestellt bleiben; er muss in
ferner Zeit einem hervorragenden Stamm oder Komplex von Staemmen des
eigentlichen Griechenlands eigen gewesen und von diesen auf die gesamte Nation
uebergegangen sein. In den Hesiodischen Eoeen erscheint er als aelterer
Gesamtname der Nation, jedoch mit offenbarer Absichtlichkeit beiseite geschoben
und dem hellenischen untergeordnet, welcher letztere bei Homer noch nicht, wohl
aber, ausser bei Hesiod, schon bei Archilochos um das Jahr 50 Roms (704)
auftritt und recht wohl noch bedeutend frueher aufgekommen sein kann (M. L.
Duncker, Geschichte des Altertums. Berlin 1852-57. Bd. 3, S. 18, 556). Also
bereits vor dieser Zeit waren die Italiker mit den Griechen soweit bekannt, dass
jener in Hellas frueh verschollene Name bei ihnen als Gesamtname der
griechischen Nation blieb, auch als diese selbst andere Wege ging. Es ist dabei
nur in der Ordnung, dass den Auslaendern die Zusammengehoerigkeit der
hellenischen Staemme frueher und deutlicher zum Bewusstsein gekommen ist als
diesen selbst, und daher die Gesamtbenennung hier schaerfer sich fixierte als
dort, nicht minder, dass dieselbe nicht gerade den wohlbekannten
naechstwohnenden Hellenen entnommen ward. Wie man es damit vereinigen will, dass
noch ein Jahrhundert vor der Gruendung Roms Italien den kleinasiatischen
Griechen voellig unbekannt war, ist schwer abzusehen. Von dem Alphabet wird
unten die Rede sein; es ergibt dessen Geschichte vollkommen die gleichen
Resultate. Man wird es vielleicht verwegen nennen, auf solche Beobachtungen hin
die Herodotische Angabe ueber das Zeitalter Homers zu verwerfen; aber ist es
etwa keine Kuehnheit, in Fragen dieser Art der Ueberlieferung zu folgen?
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Die Geschichte der italischen und sizilischen Griechen ist zwar kein Teil
der italischen; die hellenischen Kolonisten des Westens blieben stets im engsten
Zusammenhang mit der Heimat und hatten teil an den Nationalfesten und Rechten
der Hellenen. Doch ist es auch fuer Italien wichtig, den verschiedenen Charakter
der griechischen Ansiedlungen daselbst zu bezeichnen und wenigstens gewisse
Grundzuege hervorzuheben, durch die der verschiedenartige Einfluss der
griechischen Kolonisierung auf Italien wesentlich bedingt worden ist.
Unter allen griechischen Ansiedlungen die intensivste und in sich am
meisten geschlossene war diejenige, aus der der Achaeische Staedtebund
hervorging, welchen die Staedte Siris, Pandosia, Metabus oder Metapontion,
Sybaris mit seinen Pflanzstaedten Poseidonia und Laos, Kroton, Kaulonia, Temesa,
Terina und Pyxus bildeten. Diese Kolonisten gehoerten, im grossen und ganzen
genommen, einem griechischen Stamm an, der an seinem eigentuemlichen, dem
dorischen naechst verwandten Dialekt sowie nicht minder, anstatt des sonst
allgemein in Gebrauch gekommenen juengeren Alphabets, lange Zeit an der
altnationalen hellenischen Schreibweise festhielt, und der seine besondere
Nationalitaet den Barbaren wie den andern Griechen gegenueber in einer festen
buendischen Verfassung bewahrte. Auch auf diese italischen Achaeer laesst sich
anwenden, was Polybios von der achaeischen Symmachie im Peloponnes sagt: "nicht
allein in eidgenoessischer und freundschaftlicher Gemeinschaft leben sie,
sondern sie bedienen sich auch gleicher Gesetze, gleicher Gewichte, Masse und
Muenzen sowie derselben Vorsteher, Ratmaenner und Richter".
Dieser Achaeische Staedtebund war eine eigentliche Kolonisation. Die
Staedte waren ohne Haefen - nur Kroton hatte eine leidliche Reede - und ohne
Eigenhandel; der Sybarite ruehmte sich, zu ergrauen zwischen den Bruecken seiner
Lagunenstadt, und Kauf und Verkauf besorgten ihm Milesier und Etrusker. Dagegen
besassen die Griechen hier nicht bloss die Kuestensaeume, sondern herrschten von
Meer zu Meer in dem "Wein-" und "Rinderland" (Oinotria, Italia) oder der
"grossen Hellas"; die eingeborene ackerbauende Bevoelkerung musste in Klientel
oder gar in Leibeigenschaft ihnen wirtschaften und zinsen. Sybaris - seiner Zeit
die groesste Stadt Italiens - gebot ueber vier barbarische Staemme und
fuenfundzwanzig Ortschaften und konnte am andern Meer Laos und Poseidonia
gruenden; die ueberschwenglich fruchtbaren Niederungen des Krathis und Bradanos
warfen den Sybariten und Metapontinern ueberreichen Ertrag ab - vielleicht ist
hier zuerst Getreide zur Ausfuhr gebaut worden. Von der hohen Bluete, zu welcher
diese Staaten in unglaublich kurzer Zeit gediehen, zeugen am lebendigsten die
einzigen auf uns gekommenen Kunstwerke dieser italischen Achaeer: ihre Muenzen
von strenger, altertuemlich schoener Arbeit - ueberhaupt die fruehesten
Denkmaeler von Kunst und Schrift in Italien, deren Praegung erweislich im Jahre
174 der Stadt (580) bereits begonnen hatte. Diese Muenzen zeigen, dass die
Achaeer des Westens nicht bloss teilnahmen an der eben um diese Zeit im
Mutterlande herrlich sich entwickelnden Bildnerkunst, sondern in der Technik
demselben wohl gar ueberlegen waren; denn statt der dicken, oft nur einseitig
gepraegten und regelmaessig schriftlosen Silberstuecke, welche um diese Zeit in
dem eigentlichen Griechenland wie bei den italischen Dorern ueblich waren,
schlugen die italischen Achaeer mit grosser und selbstaendiger Geschicklichkeit
aus zwei gleichartigen, teils erhaben teils vertieft geschnittenen Stempeln
grosse duenne, stets mit Aufschrift versehene Silbermuenzen, deren sorgfaeltig
vor der Falschmuenzerei jener Zeit - Plattierung geringen Metalls mit duennen
Silberblaettern - sich schuetzende Praegweise den wohlgeordneten Kulturstaat
verraet.
Dennoch trug diese schnelle Bluete keine Frucht. In der muehelosen, weder
durch kraeftige Gegenwehr der Eingeborenen noch durch eigene schwere Arbeit auf
die Probe gestellten Existenz versagte sogar den Griechen frueh die Spannkraft
des Koerpers und des Geistes. Keiner der glaenzenden Namen der griechischen
Kunst und Literatur verherrlicht die italischen Achaeer, waehrend Sizilien deren
unzaehlige, auch in Italien das chalkidische Rhegion den Ibykos, das dorische
Tarent den Archytas nennen kann; bei diesem Volk, wo stets sich am Herde der
Spiess drehte, gedieh nichts von Haus aus als der Faustkampf. Tyrannen liess die
strenge Aristokratie nicht aufkommen, die in den einzelnen Gemeinden frueh ans
Ruder gekommen war und im Notfall an der Bundesgewalt einen sicheren Rueckhalt
fand: wohl aber drohte die Verwandlung der Herrschaft der Besten in eine
Herrschaft der Wenigen, vor allem, wenn die bevorrechteten Geschlechter in den
verschiedenen Gemeinden sich untereinander verbuendeten und gegenseitig sich
aushalfen. Solche Tendenzen beherrschten die durch den Namen des Pythagoras
bezeichnete solidarische Verbindung der "Freunde", sie gebot, die herrschende
Klasse "gleich den Goettern zu verehren", die dienende "gleich den Tieren zu
unterwerfen", und rief durch solche Theorie und Praxis eine furchtbare Reaktion
hervor, welche mit der Vernichtung der pythagoreischen "Freunde" und mit der
Erneuerung der alten Bundesverfassung endigte. Allein rasende Parteifehden,
Massenerhebungen der Sklaven, soziale Missstaende aller Art, praktische
Anwendung unpraktischer Staatsphilosophie, kurz alle Uebel der entsittlichten
Zivilisation hoerten nicht auf, in den achaeischen Gemeinden zu wueten, bis ihre
politische Macht darueber zusammenbrach.
Es ist danach nicht zu verwundern, dass fuer die Zivilisation Italiens die
daselbst angesiedelten Achaeer minder einflussreich gewesen sind als die
uebrigen griechischen Niederlassungen. ueber die politischen Grenzen hinaus
ihren Einfluss zu erstrecken, lag diesen Ackerbauern ferner als den
Handelsstaaten; innerhalb ihres Gebiets verknechteten sie die Eingeborenen und
zertraten die Keime einer nationalen Entwicklung, ohne doch den Italikern durch
vollstaendige Hellenisierung eine neue Bahn zu eroeffnen. So ist in Sybaris und
Metapont, in Kroton und Poseidonia das griechische Wesen, das sonst allen
politischen Missgeschicken zum Trotz sich lebenskraeftig zu behaupten wusste,
schneller, spur- und ruhmloser verschwunden als in irgendeinem anderen Gebiet,
und die zwiesprachigen Mischvoelker, die spaeterhin aus den Truemmern der
eingeborenen Italiker und der Achaeer und den juengeren Einwanderern
sabellischer Herkunft hervorgingen, sind zu rechtem Gedeihen ebensowenig
gelangt. Indes, diese Katastrophe gehoert der Zeit nach in die folgende Periode.
Anderer Art und von anderer Wirkung auf Italien waren die Niederlassungen
der uebrigen Griechen. Auch sie verschmaehten den Ackerbau und Landgewinn
keineswegs; es war nicht die Weise der Hellenen, wenigstens seit sie zu ihrer
Kraft gekommen waren, sich im Barbarenland nach phoenikischer Art an einer
befestigten Faktorei genuegen zu lassen. Aber wohl waren alle diese Staedte
zunaechst und vor allem des Handels wegen begruendet und darum denn auch, ganz
abweichend von den achaeischen, durchgaengig an den besten Haefen und
Landungsplaetzen angelegt. Die Herkunft, die Veranlassung und die Epoche dieser
Gruendungen waren mannigfach verschieden; dennoch bestand zwischen ihnen eine
gewisse Gemeinschaft - so in dem allen jenen Staedten gemeinsamen Gebrauch
gewisser moderner Formen des Alphabets ^2 und selbst in dem Dorismus der
Sprache, der auch in diejenigen Staedte frueh eindrang, die, wie zum Beispiel
Kyme ^3, von Haus aus den weichen ionischen Dialekt sprachen. Fuer die
Entwicklung Italiens sind diese Niederlassungen in sehr verschiedenem Grade
wichtig geworden; es genuegt hier, derjenigen zu gedenken, welche entscheidend
in die Schicksale der Staemme Italiens eingegriffen haben, des dorischen Tarent
und des ionischen Kyme.
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^2 So sind die drei altorientalischen Formen des i, l und r, fuer die als
leicht zu verwechseln mit den Formen des s, g und p schon frueh die Zeichen
vorgeschlagen worden sind, in den achaeischen Kolonien entweder ausschliesslich
oder doch sehr vorwiegend in Gebrauch geblieben, waehrend die uebrigen Griechen
Italiens und Siziliens ohne Unterschied des Stammes sich ausschliesslich oder
doch sehr vorwiegend der juengeren Formen bedient haben.
^3 So zum Beispiel heisst es auf einem kymaeischen Tongefaess Tataies emi
leyqthos. Fos d'an me klephsei th?phlos estai.
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Den Tarentinern ist unter allen hellenischen Ansiedlungen in Italien die
glaenzendste Rolle zugefallen. Der vortreffliche Hafen, der einzige gute an der
ganzen Suedkueste, machte ihre Stadt zum natuerlichen Entrepot fuer den
sueditalienischen Handel, ja sogar fuer einen Teil des Verkehrs auf dem
Adriatischen Meer. Der reiche Fischfang in dem Meerbusen, die Erzeugung und
Verarbeitung der vortrefflichen Schafwolle sowie deren Faerbung mit dem Saft der
tarentinischen Purpurschnecke, die mit der tyrischen wetteifern konnte - beide
Industrien hierher eingebuergert aus dem kleinasiatischen Miletos -,
beschaeftigten Tausende von Haenden und fuegten zu dem Zwischen- noch den
Ausfuhrhandel hinzu. Die in groesserer Menge als irgendwo sonst im griechischen
Italien und ziemlich zahlreich selbst in Gold geschlagenen Muenzen sind noch
heute redende Beweise des ausgebreiteten und lebhaften tarentinischen Verkehrs.
Schon in dieser Epoche, wo Tarent noch mit Sybaris um den ersten Rang unter den
unteritalischen Griechenstaedten rang, muessen seine ausgedehnten
Handelsverbindungen sich angeknuepft haben; indes auf eine wesentliche
Erweiterung ihres Gebietes nach Art der achaeischen Staedte scheinen die
Tarentiner nie mit dauerndem Erfolg ausgegangen zu sein.
Wenn also die oestlichste der griechischen Ansiedlungen in Italien rasch
und glaenzend sich emporhob, so gediehen die noerdlichsten derselben am Vesuv zu
bescheidnerer Bluete. Hier waren von der fruchtbaren Insel Aenaria (Ischia) aus
die Kymaeer auf das Festland hinuebergegangen und hatten auf einem Huegel hart
am Meere eine zweite Heimat erbaut, von wo aus der Hafenplatz Dikaearchia
(spaeter Puteoli), und weiter die "Neustadt" Neapolis gegruendet wurden. Sie
lebten, wie ueberhaupt die chalkidischen Staedte in Italien und Sizilien, nach
den Gesetzen, welche Charondas von Katane (um 100 650) festgestellt hatte, in
einer demokratischen, jedoch durch hohen Zensus gemaessigten Verfassung, welche
die Macht in die Haende eines aus den Reichsten erlesenen Rates von Mitgliedern
legte - eine Verfassung, die sich bewaehrte und im ganzen von diesen Staedten
Usurpatoren wie Poebeltyrannei fern hielt. Wir wissen wenig von den aeusseren
Verhaeltnissen dieser kampanischen Griechen. Sie blieben, sei es aus Zwang oder
aus freier Wahl, mehr noch als die Tarentiner beschraenkt auf einen engen
Bezirk; indem sie von diesem aus nicht erobernd und unterdrueckend gegen die
Eingeborenen auftraten, sondern friedlich mit ihnen handelten und verkehrten,
erschufen sie sich selbst eine gedeihliche Existenz und nahmen zugleich den
ersten Platz unter den Missionaren der griechischen Zivilisation in Italien ein.
Wenn zu beiden Seiten der rheginischen Meerenge teils auf dem Festlande die
ganze suedliche und die Westkueste bis zum Vesuv, teils die groessere oestliche
Haelfte der sizilischen Insel griechisches Land war, so gestalteten dagegen auf
der italischen Westkueste nordwaerts vom Vesuv und auf der ganzen Ostkueste die
Verhaeltnisse sich wesentlich anders. An dem dem Adriatischen Meer zugewandten
italischen Gestade entstanden griechische Ansiedlungen nirgends; womit die
verhaeltnismaessig geringere Anzahl und untergeordnete Bedeutung der
griechischen Pflanzstaedte auf dem gegenueberliegenden illyrischen Ufer und den
zahlreichen demselben vorliegenden Inseln augenscheinlich zusammenhaengt. Zwar
wurden auf dem Griechenland naechsten Teil dieser Kueste zwei ansehnliche
Kaufstaedte, Epidamnos oder Dyrrhachion (jetzt Durazzo; 127 587) und Apollonia
(bei Avlona; um 167 627) noch waehrend der roemischen Koenigsherrschaft
gegruendet; aber weiter noerdlich ist, mit Ausnahme etwa der nicht bedeutenden
Niederlassung auf Schwarzkerkyra (Curzola; um 174? 580) keine alte griechische
Ansiedlung nachzuweisen. Es ist noch nicht hinreichend aufgeklaert, warum die
griechische Kolonisierung so duerftig gerade nach dieser Seite hin auftrat,
wohin doch die Natur selbst die Hellenen zu weisen schien und wohin in der Tat
seit aeltester Zeit von Korinth und mehr noch von der nicht lange nach Rom (um
44 710) gegruendeten Ansiedlung auf Kerkyra (Korfu) aus ein Handelszug bestand,
dessen Entrepots auf der italischen Kueste die Staedte an der Pomuendung, Spina
und Atria, waren. Die Stuerme der Adriatischen See, die Unwirtlichkeit
wenigstens der illyrischen Kuesten, die Wildheit der Eingeborenen reichen
offenbar allein nicht aus, um diese Tatsache zu erklaeren. Aber fuer Italien ist
es von den wichtigsten Folgen gewesen, dass die von Osten kommenden Elemente der
Zivilisation nicht zunaechst auf seine oestlichen Landschaften einwirkten,
sondern erst aus den westlichen in diese gelangten. Selbst in den Handelsverkehr
teilte sich mit Korinth und Kerkyra die oestlichste Kaufstadt
Grossgriechenlands, das dorische Tarent, das durch den Besitz von Hydrus
(Otranto) den Eingang in das Adriatische Meer auf der italischen Seite
beherrschte. Da ausser den Haefen an der Pomuendung an der ganzen Ostkueste
nennenswerte Emporien in jener Zeit nicht bestanden - Ankons Aufbluehen faellt
in weit spaetere Zeit und noch spaeter das Emporkommen von Brundisium -, ist es
wohl begreiflich, dass die Schiffer von Epidamnos und Apollonia haeufig in
Tarent loeschten. Auch auf dem Landwege verkehrten die Tarentiner vielfach mit
Apulien; auf sie geht zurueck, was sich von griechischer Zivilisation im
Suedosten Italiens vorfindet. Indes fallen in diese Zeit davon nur die ersten
Anfaenge; der Hellenismus Apuliens entwickelte sich erst in einer spaeteren
Epoche.
Dass dagegen die Westkueste Italiens auch noerdlich vom Vesuv in aeltester
Zeit von den Hellenen befahren worden ist und auf den Inseln und Landspitzen
hellenische Faktoreien bestanden, laesst sich nicht bezweifeln. Wohl das
aelteste Zeugnis dieser Fahrten ist die Lokalisierung der Odysseussage an den
Kuesten des Tyrrhenischen Meeres ^4. Wenn man in den Liparischen Inseln die des
Aeolos wiederfand, wenn man am Lacinischen Vorgebirge die Insel der Kalypso, am
Misenischen die der Sirenen, am Circeischen die der Kirke wies, wenn man das
ragende Grab des Elpenor in dem steilen Vorgebirge von Tarracina erkannte, wenn
bei Caieta und Formiae die Laestrygonen hausen, wenn die beiden Soehne des
Odysseus und der Kirke, Agrios, das heisst der Wilde, und Latinos, im "innersten
Winkel der heiligen Inseln" die Tyrrhener beherrschen oder in einer juengeren
Fassung Latinus der Sohn des Odysseus und der Kirke, Auson der Sohn des Odysseus
und der Kalypso heisst, so sind das alte Schiffmaerchen der ionischen Seefahrer,
welche der lieben Heimat auf der Tyrrhenischen See gedachten, und dieselbe
herrliche Lebendigkeit der Empfindung, wie sie in dem ionischen Gedicht von den
Fahrten des Odysseus waltet, spricht auch noch aus der frischen Lokalisierung
derselben Sage bei Kyme selbst und in dem ganzen Fahrbezirk der kymaeischen
Schiffer.
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^4 Die aeltesten griechischen Schriften, in denen uns diese tyrrhenische
Odysseussage erscheint, sind die Hesiodische 'Theogonie' in einem ihrer
juengeren Abschnitte und sodann die Schriftsteller aus der Zeit kurz vor
Alexander, Ephoros, aus dem der sogenannte Skymnos geflossen ist, und der
sogenannte Skylax. Die erste dieser Quellen gehoert einer Zeit an, wo Italien
den Griechen noch als Inselgruppe galt, und ist also sicher sehr alt; und es
kann danach die Entstehung dieser Sagen im ganzen mit Sicherheit in die
roemische Koenigszeit gesetzt werden.
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Andere Spuren dieser aeltesten Fahrten sind die griechischen Namen der
Insel Aethalia (Ilva, Elba), die naechst Aenaria zu den am fruehesten von
Griechen besetzten Plaetzen zu gehoeren scheint, und vielleicht auch des
Hafenplatzes Telamon in Etrurien; ferner die beiden Ortschaften an der
caeritischen Kueste Pyrgi (bei S. Severa) und Alsion (bei Palo), wo nicht bloss
die Namen unverkennbar auf griechischen Ursprung deuten, sondern auch die
eigentuemliche, von den caeritischen und ueberhaupt den etruskischen Stadtmauern
sich wesentlich unterscheidende Architektur der Mauern von Pyrgi. Aethalia, "die
Feuerinsel", mit ihren reichen Kupfer- und besonders Eisengruben mag in diesem
Verkehr die erste Rolle gespielt und hier die Altsiedlung der Fremden wie ihr
Verkehr mit den Eingeborenen seinen Mittelpunkt gehabt haben; um so mehr als das
Schmelzen der Erze auf der kleinen und nicht waldreichen Insel ohne Verkehr mit
dem Festland nicht geschehen konnte. Auch die Silbergruben von Populonia auf der
Elba gegenueberliegenden Landspitze waren vielleicht schon den Griechen bekannt
und von ihnen in Betrieb genommen.
Wenn die Fremden, wie in jenen Zeiten immer, neben dem Handel auch dem See-
und Landraub obliegend, ohne Zweifel es nicht versaeumten, wo die Gelegenheit
sich bot, die Eingeborenen zu brandschatzen und sie als Sklaven fortzufuehren,
so uebten auch die Eingeborenen ihrerseits das Vergeltungsrecht aus; und dass
die Latiner und Tyrrhener dies mit groesserer Energie und besserem Glueck getan
haben als ihre sueditalischen Nachbarn, zeigen nicht bloss jene Sagen an,
sondern vor allem der Erfolg. In diesen Gegenden gelang es den Italikern, sich
der Fremdlinge zu erwehren und nicht bloss Herren ihrer eigenen Kaufstaedte und
Kaufhaefen zu bleiben oder doch bald wieder zu werden, sondern auch Herren ihrer
eigenen See. Dieselbe hellenische Invasion, welche die sueditalischen Staemme
erdrueckte und denationalisierte, hat die Voelker Mittelitaliens, freilich sehr
wider den Willen der Lehrmeister, zur Seefahrt und zur Staedtegruendung
angeleitet. Hier zuerst muss der Italiker das Floss und den Nachen mit der
phoenikischen und griechischen Rudergaleere vertauscht haben. Hier zuerst
begegnen grosse Kaufstaedte, vor allem Caere im suedlichen Etrurien und Rom am
Tiber, die, nach den italischen Namen wie nach der Lage in einiger Entfernung
vom Meere zu schliessen, eben wie die ganz gleichartigen Handelsstaedte an der
Pomuendung, Spina und Atria, und weiter suedlich Ariminum, sicher keine
griechischen, sondern italische Gruendungen sind. Den geschichtlichen Verlauf
dieser aeltesten Reaktion der italischen Nationalitaet gegen fremden Eingriff
darzulegen sind wir begreiflicherweise nicht imstande; wohl aber laesst es noch
sich erkennen, was fuer die weitere Entwicklung Italiens von der groessten
Bedeutung ist, dass diese Reaktion in Latium und im suedlichen Etrurien einen
andern Gang genommen hat als in der eigentlichen tuskischen und den sich daran
anschliessenden Landschaften.
Schon die Sage setzt in bezeichnender Weise dem "wilden Tyrrhener" den
Latiner entgegen und dem unwirtlichen Strande der Volsker das friedliche Gestade
an der Tibermuendung. Aber nicht das kann hiermit gemeint sein, dass man die
griechische Kolonisierung in einigen Landschaften Mittelitaliens geduldet, in
andern nicht zugelassen haette. Nordwaerts vom Vesuv hat ueberhaupt in
geschichtlicher Zeit nirgends eine unabhaengige griechische Gemeinde bestanden,
und wenn Pyrgi dies einmal gewesen ist, so muss es doch schon vor dem Beginn
unserer Ueberlieferung in die Haende der Italiker, das heisst der Caeriten
zurueckgekehrt sein. Aber wohl ward in Suedetrurien, in Latium und ebenso an der
Ostkueste der friedliche Verkehr mit den fremden Kaufleuten geschuetzt und
gefoerdert, was anderswo nicht geschah. Vor allem merkwuerdig ist die Stellung
von Caere. "Die Caeriten", sagt Strabon, "galten viel bei den Hellenen wegen
ihrer Tapferkeit und Gerechtigkeit, und weil sie, so maechtig sie waren, des
Raubes sich enthielten." Nicht der Seeraub ist gemeint, den der caeritische
Kaufmann wie jeder andere sich gestattet haben wird; sondern Caere war eine Art
von Freihafen fuer die Phoeniker wie fuer die Griechen. Wir haben der
phoenikischen Station - spaeter Punicum genannt - und der beiden von Pyrgi und
Alsion bereits gedacht; diese Haefen waren es, die zu berauben die Caeriten sich
enthielten, und ohne Zweifel war es eben dies, wodurch Caere, das nur eine
schlechte Reede besitzt und keine Gruben in der Naehe hat, so frueh zu hoher
Bluete gelangt ist und fuer den aeltesten griechischen Handel noch groessere
Bedeutung gewonnen hat als die von der Natur zu Emporien bestimmten Staedte der
Italiker an den Muendungen des Tiber und des Po. Die hier genannten Staedte sind
es, welche in uraltem religioesen Verkehr mit Griechenland erscheinen. Der erste
unter allen Barbaren, der den olympischen Zeus beschenkte, war der tuskische
Koenig Arimnos, vielleicht ein Herr von Ariminum. Spina und Caere hatten in dem
Tempel des delphischen Apollon wie andere mit dem Heiligtum in regelmaessigem
Verkehr stehende Gemeinden ihre eigenen Schatzhaeuser; und mit der aeltesten
caeritischen und roemischen Ueberlieferung ist das delphische Heiligtum sowohl
wie das kymaeische Orakel verflochten. Diese Staedte, wo die Italiker friedlich
schalteten und mit dem fremden Kaufmann freundlich verkehrten, wurden vor allen
reich und maechtig und wie fuer die hellenischen Waren so auch fuer die Keime
der hellenischen Zivilisation die rechten Stapelplaetze.
Anders gestalteten sich die Verhaeltnisse bei den "wilden Tyrrhenern".
Dieselben Ursachen, die in der latinischen und in den vielleicht mehr unter
etruskischer Suprematie stehenden als eigentlich etruskischen Landschaften am
rechten Tiberufer und am unteren Po zur Emanzipierung der Eingeborenen von der
fremden Seegewalt gefuehrt hatten, entwickelten in dem eigentlichen Etrurien,
sei es aus anderen Ursachen, sei es infolge des verschiedenartigen, zu Gewalttat
und Pluenderung hinneigenden Nationalcharakters, den Seeraub und die eigene
Seemacht. Man begnuegte sich hier nicht, die Griechen aus Aethalia und Populonia
zu verdraengen; auch der einzelne Kaufmann ward, wie es scheint, hier nicht
geduldet, und bald durchstreiften sogar etruskische Kaper weithin die See und
machten den Namen der Tyrrhener zum Schrecken der Griechen - nicht ohne Ursache
galt diesen der Enterhaken als eine etruskische Erfindung und nannten die
Griechen das italische Westmeer das Meer der Tusker. Wie rasch und ungestuem
diese wilden Korsaren, namentlich im Tyrrhenischen Meere, um sich griffen, zeigt
am deutlichsten ihre Festsetzung an der latinischen und kampanischen Kueste.
Zwar behaupteten im eigentlichen Latium sich die Latiner und am Vesuv sich die
Griechen; aber zwischen und neben ihnen geboten die Etrusker in Antium wie in
Surrentum. Die Volsker traten in die Klientel der Etrusker ein; aus ihren
Waldungen bezogen diese die Kiele ihrer Galeeren, und wenn dem Seeraub der
Antiaten erst die roemische Okkupation ein Ende gemacht hat, so begreift man es
wohl, warum den griechischen Schiffern das Gestade der suedlichen Volsker das
laestrygonische hiess. Die hohe Landspitze von Sorrent, mit dem noch steileren,
aber hafenlosen Felsen von Capri eine rechte, inmitten der Buchten von Neapel
und Salern in die Tyrrhenische See hinausschauende Korsarenwarte, wurde frueh
von den Etruskern in Besitz genommen. Sie sollen sogar in Kampanien einen
eigenen Zwoelfstaedtebund gegruendet haben und etruskisch redende Gemeinden
haben hier noch in vollkommen historischer Zeit im Binnenlande bestanden;
wahrscheinlich sind diese Ansiedlungen mittelbar ebenfalls aus der Seeherrschaft
der Etrusker im kampanischen Meer und aus ihrer Rivalitaet mit den Kymaeern am
Vesuv hervorgegangen. Indes beschraenkten die Etrusker sich keineswegs auf Raub
und Pluenderung. Von ihrem friedlichen Verkehr mit griechischen Staedten zeugen
namentlich die Gold- und Silbermuenzen, die wenigstens vom Jahre 200 der Stadt
(550) an die etruskischen Staedte, besonders Populonia, nach griechischem Muster
und auf griechischen Fuss geschlagen haben; dass dieselben nicht den
grossgriechischen, sondern vielmehr attischen, ja kleinasiatischen Stempeln
nachgepraegt wurden, ist uebrigens wohl auch ein Fingerzeig fuer die feindliche
Stellung der Etrusker zu den italischen Griechen. In der Tat befanden sie sich
fuer den Handel in der guenstigsten Stellung und in einer weit vorteilhafteren
als die Bewohner von Latium. Von Meer zu Meer wohnend geboten sie am westlichen
ueber den grossen italischen Freihafen, am oestlichen ueber die Pomuendung und
das Venedig jener Zeit, ferner ueber die Landstrasse, die seit alter Zeit von
Pisa am Tyrrhenischen nach Spina am Adriatischen Meere fuehrte, dazu in
Sueditalien ueber die reichen Ebenen von Capua und Nola. Sie besassen die
wichtigsten italischen Ausfuhrartikel, das Eisen von Aethalia, das
volaterranische und kampanische Kupfer, das Silber von Populonia, ja den von der
Ostsee ihnen zugefuehrten Bernstein. Unter dem Schutze ihrer Piraterie,
gleichsam einer rohen Navigationsakte, musste ihr eigener Handel emporkommen;
und es kann ebensowenig befremden, dass in Sybaris der etruskische und
milesische Kaufmann konkurrierten, als dass aus jener Verbindung von Kaperei und
Grosshandel der mass- und sinnlose Luxus entsprang, in welchem Etruriens Kraft
frueh sich selber verzehrt hat.
Wenn also in Italien die Etrusker und, obgleich in minderem Grade, die
Latiner den Hellenen abwehrend und zum Teil feindlich gegenueberstanden, so
griff dieser Gegensatz gewissermassen mit Notwendigkeit in diejenige Rivalitaet
ein, die damals Handel und Schiffahrt auf dem Mittellaendischen Meere vor allem
beherrschte: in die Rivalitaet der Phoeniker und der Hellenen. Es ist nicht
dieses Orts, im einzelnen darzulegen, wie waehrend der roemischen Koenigszeit
diese beiden grossen Nationen an allen Gestaden des Mittelmeeres, in
Griechenland und Kleinasien selbst, auf Kreta und Kypros, an der afrikanischen,
spanischen und keltischen Kueste miteinander um die Oberherrschaft rangen;
unmittelbar auf italischem Boden wurden diese Kaempfe nicht gekaempft, aber die
Folgen derselben doch auch in Italien tief und nachhaltig empfunden. Die frische
Energie und die universellere Begabung des juengeren Nebenbuhlers war anfangs
ueberall im Vorteil; die Hellenen entledigten sich nicht bloss der phoenikischen
Faktoreien in ihrer europaeischen und asiatischen Heimat, sondern verdraengten
die Phoeniker auch von Kreta und Kypros, fassten Fuss in Aegypten und Kyrene und
bemaechtigten sich Unteritaliens und der groesseren oestlichen Haelfte der
sizilischen Insel. Ueberall erlagen die kleinen phoenikischen Handelsplaetze der
energischeren griechischen Kolonisation. Schon ward auch im westlichen Sizilien
Selinus (126 628) und Akragas (174 580) gegruendet, schon von den kuehnen
kleinasiatischen Phokaeern die entferntere Westsee befahren, an dem keltischen
Gestade Massalia erbaut (um 150 600) und die spanische Kueste erkundet. Aber
ploetzlich, um die Mitte des zweiten Jahrhunderts, stockt der Fortschritt der
hellenischen Kolonisation: und es ist kein Zweifel, dass die Ursache dieses
Stockens der Aufschwung war, den gleichzeitig, offenbar infolge der von den
Hellenen dem gesamten phoenikischen Stamme drohenden Gefahr, die maechtigste
ihrer Staedte in Libyen, Karthago nahm. War die Nation, die den Seeverkehr auf
dem Mittellaendischen Meere eroeffnet hatte, durch den juengeren Rivalen auch
bereits verdraengt aus der Alleinherrschaft ueber die Westsee, dem Besitze
beider Verbindungsstrassen zwischen dem oestlichen und dem westlichen Becken des
Mittelmeeres und dem Monopol der Handelsvermittlung zwischen Orient und
Okzident, so konnte doch wenigstens die Herrschaft der Meere westlich von
Sardinien und Sizilien noch fuer die Orientalen gerettet werden; und an deren
Behauptung setzte Karthago die ganze, dem aramaeischen Stamme eigentuemliche
zaehe und umsichtige Energie. Die phoenikische Kolonisierung wie der Widerstand
der Phoeniker nahmen einen voellig anderen Charakter an. Die aelteren
phoenikischen Ansiedlungen, wie die sizilischen, welche Thukydides schildert,
waren kaufmaennische Faktoreien; Karthago unterwarf sich ausgedehnte
Landschaften mit zahlreichen Untertanen und maechtigen Festungen. Hatten bisher
die phoenikischen Niederlassungen vereinzelt den Griechen gegenuebergestanden,
so zentralisierte jetzt die maechtige libysche Stadt in ihrem Bereiche die ganze
Wehrkraft ihrer Stammverwandten mit einer Straffheit, der die griechische
Geschichte nichts Aehnliches an die Seite zu stellen vermag. Vielleicht das
wichtigste Moment aber dieser Reaktion fuer die Folgezeit ist die enge
Beziehung, in welche die schwaecheren Phoeniker, um der Hellenen sich zu
erwehren, zu den Eingeborenen Siziliens und Italiens traten. Als Knidier und
Rhodier um das Jahr 175 (579) im Mittelpunkt der phoenikischen Ansiedlungen auf
Sizilien bei Lilybaeon sich festzusetzen versuchten, wurden sie durch die
Eingeborenen - Elymer von Segeste - und Phoeniker wieder von dort vertrieben.
Als die Phokaeer um 217 (537) sich in Alalia (Aleria) auf Korsika Caere
gegenueber niederliessen, erschien, um sie von dort zu vertreiben, die
vereinigte Flotte der Etrusker und der Karthager, hundertundzwanzig Segel stark;
und obwohl in dieser Seeschlacht - einer der aeltesten, die die Geschichte kennt
- die nur halb so starke Flotte der Phokaeer sich den Sieg zuschrieb, so
erreichten doch die Karthager und Etrusker, was sie durch den Angriff bezweckt
hatten: die Phokaeer gaben Korsika auf und liessen lieber an der weniger
ausgesetzten lukanischen Kueste in Hyele (Velia) sich nieder. Ein Traktat
zwischen Etrurien und Karthago stellte nicht bloss die Regeln ueber Wareneinfuhr
und Rechtsfolge fest, sondern schloss auch ein Waffenbuendnis (symmachia) ein,
von dessen ernstlicher Bedeutung eben jene Schlacht von Alalia zeugt.
Charakteristisch ist es fuer die Stellung der Caeriten, dass sie die
phokaeischen Gefangenen auf dem Markt von Caere steinigten und alsdann, um den
Frevel zu suehnen, den delphischen Apoll beschickten.
Latium hat dieser Fehde gegen die Hellenen sich nicht angeschlossen;
vielmehr finden sich in sehr alter Zeit freundliche Beziehungen der Roemer zu
den Phokaeern in Hyele wie in Massalia, und die Ardeaten sollen sogar
gemeinschaftlich mit den Zakynthiern eine Pflanzstadt in Spanien, das spaetere
Saguntum gegruendet haben. Doch haben die Latiner noch viel weniger sich auf die
Seite der Hellenen gestellt; dafuer buergen sowohl die engen Beziehungen
zwischen Rom und Caere als auch die Spuren alten Verkehrs zwischen den Latinern
und den Karthagern. Der Stamm der Kanaaniten ist den Roemern durch Vermittlung
der Hellenen bekannt geworden, da sie, wie wir sahen, ihn stets mit dem
griechischen Namen genannt haben; aber dass sie weder den Namen der Stadt
Karthago ^5 noch den Volksnamen der Afrer ^6 von den Griechen entlehnt haben,
dass tyrische Waren bei den aelteren Roemern mit dem ebenfalls die griechische
Vermittlung ausschliessenden Namen der sarranischen bezeichnet werden ^7,
beweist ebenso wie die spaeteren Vertraege den alten und unmittelbaren
Handelsverkehr zwischen Latium und Karthago.
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^5 Phoenikisch Karthada, griechisch Karchedon, roemisch Cartago.
^6 Der Name Afri, schon Ennius und Cato gelaeufig - man vergleiche Scipio
Africanus -, ist gewiss ungriechisch, hoechst wahrscheinlich stammverwandt mit
dem der Hebraeer.
^7 Sarranisch heissen den Roemern seit alter Zeit der tyrische Purpur und
die tyrische Floete, und auch als Beiname ist Sarranus wenigstens seit dem
Hannibalischen Krieg in Gebrauch. Der bei Ennius und Plautus vorkommende
Stadtname Sarra ist wohl aus Sarranus, nicht unmittelbar aus dem einheimischen
Namen Sor gebildet. Die griechische Form Tyrus, Tyrius moechte bei den Roemern
nicht vor Afranius (bei Festus p. 355 M.) vorkommen. Vgl. F. K. Movers, Die
Phoenicier. Bonn/Berlin 1840-56. Bd. 2, 1, S. 174.
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Der vereinigten Macht der Italiker und Phoeniker gelang es in der Tat, die
westliche Haelfte des Mittelmeeres im wesentlichen zu behaupten. Der
nordwestliche Teil von Sizilien mit den wichtigen Haefen Soloeis und Panormos an
der Nordkueste, Motye an der Afrika zugewandten Spitze blieb im unmittelbaren
oder mittelbaren Besitz der Karthager. Um die Zeit des Kyros und Kroesos, eben
als der weise Bias die Ionier zu bestimmen suchte, insgesamt aus Kleinasien
auswandernd in Sardinien sich niederzulassen (um 200 554), kam ihnen dort der
karthagische Feldherr Malchus zuvor und bezwang einen bedeutenden Teil der
wichtigen Insel mit Waffengewalt; ein halbes Jahrhundert spaeter erscheint das
ganze Gestade Sardiniens in unbestrittenem Besitz der karthagischen Gemeinde.
Korsika dagegen mit den Staedten Alalia und Nikaea fiel den Etruskern zu und die
Eingeborenen zinsten an diese von den Produkten ihrer armen Insel, dem Pech,
Wachs und Honig. Im Adriatischen Meer ferner sowie in den Gewaessern westlich
von Sizilien und Sardinien herrschten die verbuendeten Etrusker und Karthager.
Zwar gaben die Griechen den Kampf nicht auf. Jene von Lilybaeon vertriebenen
Rhodier und Knidier setzten auf den Inseln zwischen Sizilien und Italien sich
fest und gruendeten hier die Stadt Lipara (175 579). Massalia gedieh trotz
seiner Isolierung und monopolisierte bald den Handel von Nizza bis nach den
Pyrenaeen. An den Pyrenaeen selbst ward von Lipara aus die Pflanzstadt Rhoda
(jetzt Rosas) angelegt und auch in Saguntum sollen Zakynthier sich angesiedelt,
ja selbst in Tingis (Tanger) in Mauretanien griechische Dynasten geherrscht
haben. Aber mit dem Vorruecken war es denn doch fuer die Hellenen vorbei; nach
Akragas' Gruendung sind ihnen bedeutende Gebietserweiterungen am Adriatischen
wie am westlichen Meer nicht mehr gelungen, und die spanischen Gewaesser wie der
Atlantische Ozean blieben ihnen verschlossen. Jahr aus Jahr ein fochten die
Liparaeer mit den tuskischen "Seeraeubern", die Karthager mit den Massalioten,
den Kyrenaeern, vor allem den griechischen Sikelioten; aber nach keiner Seite
hin ward ein dauerndes Resultat erreicht und das Ergebnis der Jahrhunderte
langen Kaempfe war im ganzen die Aufrechterhaltung des Status quo.
So hatte Italien, wenn auch nur mittelbar, den Phoenikern es zu danken,
dass wenigstens die mittleren und noerdlichen Landschaften nicht kolonisiert
wurden, sondern hier, namentlich in Etrurien, eine nationale Seemacht ins Leben
trat. Es fehlt aber auch nicht an Spuren, dass die Phoeniker es schon der Muehe
wert fanden, wenn nicht gegen die latinischen, doch wenigstens gegen die
seemaechtigeren etruskischen Bundesgenossen diejenige Eifersucht zu entwickeln,
die aller Seeherrschaft anzuhaften pflegt: der Bericht ueber die von den
Karthagern verhinderte Aussendung einer etruskischen Kolonie nach den
Kanarischen Inseln, wahr oder falsch, offenbart die hier obwaltenden
rivalisierenden Interessen.
11. Kapitel
Recht und Gericht
Das Volksleben in seiner unendlichen Mannigfaltigkeit anschaulich zu
machen, vermag die Geschichte nicht allein; es muss ihr genuegen, die
Entwicklung der Gesamtheit darzustellen. Das Schaffen und Handeln, das Denken
und Dichten des einzelnen, wie sehr sie auch von dem Zuge des Volksgeistes
beherrscht werden, sind kein Teil der Geschichte. Dennoch scheint der Versuch,
diese Zustaende, wenn auch nur in den allgemeinsten Umrissen, anzudeuten, eben
fuer diese aelteste, geschichtlich so gut wie verschollene Zeit deswegen
notwendig, weil die tiefe Kluft, die unser Denken und Empfinden von dem der
alten Kulturvoelker trennt, sich auf diesem Gebiet allein einigermassen zum
Bewusstsein bringen laesst. Unsere Ueberlieferung mit ihren verwirrten
Voelkernamen und getruebten Sagen ist wie die duerren Blaetter, von denen wir
muehsam begreifen, dass sie einst gruen gewesen sind; statt die unerquickliche
Rede durch diese saeuseln zu lassen und die Schnitzel der Menschheit, die Choner
und Oenotrer, die Siculer und Pelasger zu klassifizieren, wird es sich besser
schicken zu fragen, wie denn das reale Volksleben des alten Italien im
Rechtsverkehr, das ideale in der Religion sich ausgepraegt, wie man
gewirtschaftet und gehandelt hat, woher die Schrift den Voelkern kam und die
weiteren Elemente der Bildung. So duerftig auch hier unser Wissen ist, schon
fuer das roemische Volk, mehr noch fuer das der Sabeller und das etruskische, so
wird doch selbst die geringe und lueckenvolle Kunde dem Leser statt des Namens
eine Anschauung oder doch eine Ahnung gewaehren. Das Hauptergebnis einer solchen
Betrachtung, um dies gleich hier vorwegzunehmen, laesst in dem Satze sich
zusammenfassen, dass bei den Italikern und insbesondere bei den Roemern von den
urzeitlichen Zustaenden verhaeltnismaessig weniger bewahrt worden ist als bei
irgendeinem anderen indogermanischen Stamm. Pfeil und Bogen, Streitwagen,
Eigentumunfaehigkeit der Weiber, Kauf der Ehefrau, primitive Bestattungsform,
Blutrache, mit der Gemeindegewalt ringende Geschlechtsverfassung, lebendiger
Natursymbolismus - alle diese und unzaehlige verwandte Erscheinungen muessen
wohl auch als Grundlage der italischen Zivilisation vorausgesetzt werden; aber
wo diese uns zuerst anschaulich entgegentritt, sind sie bereits spurlos
verschwunden, und nur die Vergleichung der verwandten Staemme belehrt uns ueber
ihr einstmaliges Vorhandensein. Insofern beginnt die italische Geschichte bei
einem weit spaeteren Zivilisationsabschnitt als zum Beispiel die griechische und
deutsche und traegt von Haus aus einen relativ modernen Charakter.
Die Rechtssatzungen der meisten italischen Staemme sind verschollen: nur
von dem latinischen Landrecht ist in der roemischen Ueberlieferung einige Kunde
auf uns gekommen.
Alle Gerichtsbarkeit ist zusammengefasst in der Gemeinde, das heisst in dem
Koenig, welcher Gericht oder "Gebot" (ius) haelt an den Spruchtagen (dies fasti)
auf der Richterbuehne (tribunal) der Dingstaette, sitzend auf dem Wagenstuhl
(sella curulis) ^1; ihm zur Seite stehen seine Boten (lictores), vor ihm der
Angeklagte oder die Parteien (rei). Zwar entscheidet zunaechst ueber die Knechte
der Herr, ueber die Frauen der Vater, Ehemann oder naechste maennliche
Verwandte; aber Knechte und Frauen galten auch zunaechst nicht als Glieder der
Gemeinde. Auch ueber hausuntertaenige Soehne und Enkel konkurrierte die
hausvaeterliche Gewalt mit der koeniglichen Gerichtsbarkeit; aber eine
eigentliche Gerichtsbarkeit war jene nicht, sondern lediglich ein Ausfluss des
dem Vater an den Kindern zustehenden Eigentumsrechts. Von einer eigenen
Gerichtsbarkeit der Geschlechter oder ueberhaupt von irgendeiner nicht aus der
koeniglichen abgeleiteten Gerichtsherrlichkeit treffen wir nirgends eine Spur.
Was die Selbsthilfe und namentlich die Blutrache anlangt, so findet sich
vielleicht noch ein sagenhafter Nachklang der urspruenglichen Satzung, dass die
Toetung des Moerders oder dessen, der ihn widerrechtlich beschuetzt, durch die
Naechsten des Ermordeten gerechtfertigt sei; aber eben dieselben Sagen schon
bezeichnen diese Satzung als verwerflich ^2 und es scheint demnach die Blutrache
in Rom sehr frueh durch das energische Auftreten der Gemeindegewalt unterdrueckt
worden zu sein. Ebenso ist weder von dem Einfluss, der den Genossen und dem
Umstand auf die Urteilsfaellung nach aeltestem deutschen Recht zukommt, in dem
aeltesten roemischen etwas wahrzunehmen, noch findet sich in diesem, was in
jenem so haeufig ist, dass der Wille selbst und die Macht einen Anspruch mit den
Waffen in der Hand zu vertreten als gerichtlich notwendig oder doch zulaessig
behandelt wird. Das Gerichtsverfahren ist Staats- oder Privatprozess, je nachdem
der Koenig von sich aus oder erst auf Anrufen des Verletzten einschreitet. Zu
jenem kommt es nur, wenn der gemeine Friede gebrochen ist, also vor allen Dingen
im Falle des Landesverrats oder der Gemeinschaft mit dem Landesfeind (proditio)
und der gewaltsamen Auflehnung gegen die Obrigkeit (perduellio). Aber auch der
arge Moerder (parricida), der Knabenschaender, der Verletzer der jungfraeulichen
oder Frauenehre, der Brandstifter, der falsche Zeuge, ferner wer die Ernte durch
boesen Zauber bespricht oder wer zur Nachtzeit auf dem der Hut der Goetter und
des Volkes ueberlassenen Acker unbefugt das Korn schneidet, auch sie brechen den
gemeinen Frieden und werden deshalb dem Hochverraeter gleich geachtet. Den
Prozess eroeffnet und leitet der Koenig und faellt das Urteil, nachdem er mit
den zugezogenen Ratsmaennern sich besprochen hat. Doch steht es ihm frei,
nachdem er den Prozess eingeleitet hat, die weitere Verhandlung und die
Urteilsfaellung an Stellvertreter zu uebertragen, die regelmaessig aus dem Rat
genommen werden; die spaeteren ausserordentlichen Stellvertreter, die
Zweimaenner fuer Aburteilung der Empoerung (duoviri perduellionis) und die
spaeteren staendigen Stellvertreter, die "Mordspuerer" (quaestores parricidii),
denen zunaechst die Aufspuerung und Verhaftung der Moerder, also eine gewisse
polizeiliche Taetigkeit oblag, gehoeren der Koenigszeit nicht an, moegen aber
wohl an gewisse Einrichtungen derselben anknuepfen. Untersuchungshaft ist Regel,
doch kann auch der Angeklagte gegen Buergschaft entlassen werden. Folterung zur
Erzwingung des Gestaendnisses kommt nur vor fuer Sklaven. Wer ueberwiesen ist,
den gemeinen Frieden gebrochen zu haben, buesst immer mit dem Leben; die
Todesstrafen sind mannigfaltig: so wird der falsche Zeuge vom Burgfelsen
gestuerzt, der Erntedieb aufgeknuepft, der Brandstifter verbrannt. Begnadigen
kann der Koenig nicht, sondern nur die Gemeinde; der Koenig aber kann dem
Verurteilten die Betretung des Gnadenweges (provocatio) gestatten oder
verweigern. Ausserdem kennt das Recht auch eine Begnadigung des verurteilten
Verbrechers durch die Goetter; wer vor dem Priester des Jupiter einen Kniefall
tut, darf an demselben Tag nicht mit Ruten gestrichen, wer gefesselt sein Haus
betritt, muss der Bande entledigt werden; und das Leben ist dem Verbrecher
geschenkt, welcher auf seinem Gang zum Tode einer der heiligen Jungfrauen der
Vesta zufaellig begegnet.
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^1 Dieser "Wagenstuhl" - eine andere Erklaerung ist sprachlich nicht wohl
moeglich (vgl. auch Serv. Aen. 1, 16) - wird wohl am einfachsten in der Weise
erklaert, dass der Koenig in der Stadt allein zu fahren befugt war, woher das
Recht spaeter dem hoechsten Beamten fuer feierliche Gelegenheiten blieb, und
dass er urspruenglich, solange es noch kein erhoehtes Tribunal gab, auf dem
Comitium oder wo er sonst wollte, vom Wagenstuhl herab Recht sprach.
^2 Die Erzaehlung von dem Tode des Koenigs Tatius, wie Plutarch (Rom. 23,
24) sie gibt: dass Verwandte des Tatius laurentinische Gesandte ermordet
haetten; dass Tatius den klagenden Verwandten der Erschlagenen das Recht
geweigert habe; dass dann Tatius von diesen erschlagen worden sei; dass Romulus
die Moerder des Tatius freigesprochen, weil Mord mit Mord gesuehnt sei; dass
aber infolge goettlicher ueber beide Staedte zugleich ergangener Strafgerichte
sowohl die ersten als die zweiten Moerder in Rom und in Laurentum nachtraeglich
zur gerechten Strafe gezogen seien - diese Erzaehlung sieht ganz aus wie eine
Historisierung der Abschaffung der Blutrache, aehnlich wie die Einfuehrung der
Provokation dem Horatiermythus zugrunde liegt. Die anderswo vorkommenden
Fassungen dieser Erzaehlung weichen freilich bedeutend ab, scheinen aber auch
verwirrt oder zurechtgemacht.
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Bussen an den Staat wegen Ordnungswidrigkeit und Polizeivergehen verhaengt
der Koenig nach Ermessen; sie bestehen in einer bestimmten Zahl (daher der Name
multa) von Rindern oder Schafen. Auch Rutenhiebe zu erkennen steht in seiner
Hand.
In allen uebrigen Faellen, wo nur der einzelne, nicht der gemeine Friede
verletzt war, schreitet der Staat nur ein auf Anrufen des Verletzten, welcher
den Gegner veranlasst, noetigenfalls mit handhafter Gewalt zwingt, sich mit ihm
persoenlich dem Koenig zu stellen. Sind beide Parteien erschienen und hat der
Klaeger die Forderung muendlich vorgetragen, der Beklagte deren Erfuellung in
gleicher Weise verweigert, so kann der Koenig entweder die Sache untersuchen
oder sie in seinem Namen durch einen Stellvertreter abmachen lassen. Als die
regelmaessige Form der Suehnung eines solchen Unrechts galt der Vergleich
zwischen dem Verletzer und dem Verletzten; der Staat trat nur ergaenzend ein,
wenn der Schaediger den Geschaedigten nicht durch eine ausreichende Suehne
(poena) zufriedenstellte, wenn jemand sein Eigentum vorenthalten oder seine
gerechte Forderung nicht erfuellt ward.
Was in dieser Epoche der Bestohlene von dem Dieb zu fordern berechtigt war
und wann der Diebstahl als ueberhaupt der Suehne faehig galt, laesst sich nicht
bestimmen. Billig aber forderte der Verletzte von dem auf frischer Tat
ergriffenen Diebe Schwereres als von dem spaeter entdeckten, da die Erbitterung,
welche eben zu suehnen ist, gegen jenen staerker ist als gegen diesen. Erschien
der Diebstahl der Suehne unfaehig oder war der Dieb nicht imstande, die von dem
Beschaedigten geforderte und von dem Richter gebilligte Schaetzung zu erlegen,
so ward er vom Richter dem Bestohlenen als eigener Mann zugesprochen.
Bei Schaedigung (iniuria) des Koerpers wie der Sachen musste in den
leichteren Faellen der Verletzte wohl unbedingt Suehne nehmen; ging dagegen
durch dieselbe ein Glied verloren, so konnte der Verstuemmelte Auge um Auge
fordern und Zahn um Zahn.
Das Eigentum hat, da das Ackerland bei den Roemern lange in
Feldgemeinschaft benutzt und erst in verhaeltnismaessig spaeter Zeit aufgeteilt
worden ist, sich nicht an den Liegenschaften, sondern zunaechst an dem "Sklaven-
und Viehstand" (familia pecuniaque) entwickelt. Als Rechtsgrund desselben gilt
nicht etwa das Recht des Staerkeren, sondern man betrachtet vielmehr alles
Eigentum als dem einzelnen Buerger von der Gemeinde zu ausschliesslichem Haben
und Nutzen zugeteilt, weshalb auch nur der Buerger und wen die Gemeinde in
dieser Beziehung dem Buerger gleich achtet, faehig ist, Eigentum zu haben. Alles
Eigentum geht frei von Hand zu Hand; das roemische Recht macht keinen
wesentlichen Unterschied zwischen beweglichem und unbeweglichem Gut, seit
ueberhaupt der Begriff des Privateigentums auf das letztere erstreckt war, und
kennt kein unbedingtes Anrecht der Kinder oder der sonstigen Verwandten auf das
vaeterliche oder Familienvermoegen. Indes ist der Vater nicht imstande, die
Kinder ihres Erbrechts willkuerlich zu berauben, da er weder die vaeterliche
Gewalt aufheben noch anders als mit Einwilligung der ganzen Gemeinde, die auch
versagt werden konnte und in solchem Falle gewiss oft versagt ward, ein
Testament errichten kann. Bei seinen Lebzeiten zwar konnte der Vater auch den
Kindern nachteilige Verfuegungen treffen; denn mit persoenlichen Beschraenkungen
des Eigentuemers war das Recht sparsam und gestattete im ganzen jedem
erwachsenen Mann die freie Verfuegung ueber sein Gut. Doch mag die Einrichtung,
wonach derjenige, welcher sein Erbgut veraeusserte und seine Kinder desselben
beraubte, obrigkeitlich gleich dem Wahnsinnigen unter Vormundschaft gesetzt
ward, wohl schon bis in die Zeit zurueckreichen, wo das Ackerland zuerst
aufgeteilt ward und damit das Privatvermoegen ueberhaupt eine groessere
Bedeutung fuer das Gemeinwesen erhielt. Auf diesem Wege wurden die beiden
Gegensaetze, unbeschraenktes Verfuegungsrecht des Eigentuemers und
Zusammenhaltung des Familiengutes, soweit moeglich, im roemischen Recht
miteinander vereinigt. Dingliche Beschraenkungen des Eigentums wurden, mit
Ausnahme der namentlich fuer die Landwirtschaft unentbehrlichen Gerechtigkeiten,
durchaus nicht zugelassen. Erbpacht und dingliche Grundrente sind rechtlich
unmoeglich; anstatt der Verpfaendung, die das Recht ebensowenig kennt, dient die
sofortige Uebertragung des Eigentums an dem Unterpfand auf den Glaeubiger
gleichsam als den Kaeufer desselben, wobei dieser sein Treuwort (fiducia) gibt,
bis zum Verfall der Forderung die Sache nicht zu veraeussern und sie nach
Rueckzahlung der vorgestreckten Summe dem Schuldner zurueckzustellen.
Vertraege, die der Staat mit einem Buerger abschliesst, namentlich die
Verpflichtung der fuer eine Leistung an den Staat eintretenden Garanten
(praevides, praedes), sind ohne weitere Foermlichkeit gueltig. Dagegen die
Vertraege der Privaten untereinander geben in der Regel keinen Anspruch auf
Rechtshilfe von Seiten des Staats; den Glaeubiger schuetzt nur das nach
kaufmaennischer Art hochgehaltene Treuwort und etwa noch bei dem haeufig
hinzutretenden Eide die Scheu vor den den Meineid raechenden Goettern. Rechtlich
klagbar sind nur das Verloebnis, infolgedessen der Vater, wenn er die
versprochene Braut nicht gibt, dafuer Suehne und Ersatz zu leisten hat, ferner
der Kauf (mancipatio) und das Darlehen (nexum). Der Kauf gilt als rechtlich
abgeschlossen dann, wenn der Verkaeufer dem Kaeufer die gekaufte Sache in die
Hand gibt (mancipare) und gleichzeitig der Kaeufer dem Verkaeufer den bedungenen
Preis in Gegenwart von Zeugen entrichtet; was, seit das Kupfer anstatt der
Schafe und Rinder der regelmaessige Wertmesser geworden war, geschah durch
Zuwaegen der bedungenen Quantitaet Kupfer auf der von einem Unparteiischen
richtig gehaltenen Waage ^3. Unter diesen Voraussetzungen muss der Verkaeufer
dafuer einstehen, dass er Eigentuemer sei, und ueberdies der Verkaeufer wie der
Kaeufer jede besonders eingegangene Beredung erfuellen; widrigenfalls buesst er
dem andern Teil aehnlich, wie wenn er die Sache ihm entwendet haette. Immer aber
bewirkt der Kauf eine Klage nur dann, wenn er Zug um Zug beiderseits erfuellt
war; Kauf auf Kredit gibt und nimmt kein Eigentum und begruendet keine Klage. In
aehnlicher Art wird das Darlehen eingegangen, indem der Glaeubiger dem Schuldner
vor Zeugen die bedungene Quantitaet Kupfer unter Verpflichtung (nexum) zur
Rueckgabe zuwaegt. Der Schuldner hat ausser dem Kapital noch den Zins zu
entrichten, welcher unter gewoehnlichen Verhaeltnissen wohl fuer das Jahr zehn
Prozent betrug ^4. In der gleichen Form erfolgte seinerzeit auch die
Rueckzahlung des Darlehens. Erfuellte ein Schuldner dem Staat gegenueber seine
Verbindlichkeit nicht, so wurde derselbe ohne weiteres mit allem, was er hatte,
verkauft; dass der Staat forderte, genuegte zur Konstatierung der Schuld. Ward
dagegen von einem Privaten die Vergewaltigung seines Eigentums dem Koenig
angezeigt (vindiciae), oder erfolgte die Rueckzahlung des empfangenen Darlehens
nicht, so kam es darauf an, ob das Sachverhaeltnis der Feststellung bedurfte,
was bei Eigentumsklagen regelmaessig der Fall war, oder schon klar vorlag, was
bei Darlehensklagen nach den geltenden Rechtsnormen mittels der Zeugen leicht
bewerkstelligt werden konnte. Die Feststellung des Sachverhaeltnisses geschah in
Form einer Wette, wobei jede Partei fuer den Fall des Unterliegens einen Einsatz
(sacramentum) machte: bei wichtigen Sachen von mehr als zehn Rindern Wert einen
von fuenf Rindern, bei geringeren einen von fuenf Schafen. Der Richter entschied
sodann, wer recht gewettet habe, worauf der Einsatz der unterliegenden Partei
den Priestern zum Behuf der oeffentlichen Opfer zufiel. Wer also unrecht
gewettet hatte, und, ohne den Gegner zu befriedigen, dreissig Tage hatte
verstreichen lassen; ferner, wessen Leistungspflicht von Anfang an feststand,
also regelmaessig der Darlehensschuldner, wofern er nicht Zeugen fuer die
Rueckzahlung hatte, unterlag dem Exekutionsverfahren "durch Handanlegung" (manus
iniectio), indem ihn der Klaeger packte, wo er ihn fand, und ihn vor Gericht
stellte, lediglich um die anerkannte Schuld zu erfuellen. Verteidigen durfte der
Ergriffene sich selber nicht; ein Dritter konnte zwar fuer ihn auftreten und
diese Gewalttat als unbefugte bezeichnen (vindex), worauf dann das Verfahren
eingestellt ward; allein diese Vertretung machte den Vertreter persoenlich
verantwortlich, weshalb auch fuer den steuerzahlenden Buerger der Proletarier
nicht Vertreter sein konnte. Trat weder Erfuellung noch Vertretung ein, so
sprach der Koenig den Ergriffenen dem Glaeubiger so zu, dass dieser ihn
abfuehren und halten konnte gleich einem Sklaven. Waren alsdann sechzig Tage
verstrichen, war waehrend derselben der Schuldner dreimal auf dem Markt
ausgestellt und dabei ausgerufen worden, ob jemand seiner sich erbarme, und dies
alles ohne Erfolg geblieben, so hatten die Glaeubiger das Recht, ihn zu toeten
und sich in seine Leiche zu teilen, oder auch ihn mit seinen Kindern und seiner
Habe als Sklaven in die Fremde zu verkaufen, oder auch ihn bei sich an Sklaven
Statt zu halten; denn freilich konnte er, so lange er im Kreis der roemischen
Gemeinde blieb, nach roemischem Recht nicht vollstaendig Sklave werden. So ward
Habe und Gut eines jeden von der roemischen Gemeinde gegen den Dieb und
Schaediger sowohl wie gegen den unbefugten Besitzer und den zahlungsunfaehigen
Schuldner mit unnachsichtlicher Strenge geschirmt.
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^3 Die Manzipation in ihrer entwickelten Gestalt ist notwendig juenger als
die Servianische Reform, wie die auf die Feststellung des Bauerneigentums
gerichtete Auswahl der manzipablen Objekte beweist, und wie selbst die Tradition
angenommen haben muss, da sie Servius zum Erfinder der Waage macht. Ihrem
Ursprung nach muss aber die Manzipation weit aelter sein, denn sie passt
zunaechst nur auf Gegenstaende, die durch Ergreifen mit der Hand erworben werden
und muss also in ihrer aeltesten Gestalt der Epoche angehoeren, wo das Vermoegen
wesentlich in Sklaven und Vieh (familia pecuniaque) bestand. Die Aufzaehlung
derjenigen Gegenstaende, die manzipiert werden mussten, wird demnach eine
Servianische Neuerung sein; die Manzipation selbst und also auch der Gebrauch
der Waage und des Kupfers sind aelter. Ohne Zweifel ist die Manzipation
urspruenglich allgemeine Kaufform und noch nach der Servianischen Reform bei
allen Sachen vorgekommen; erst spaeteres Missverstaendnis deutete die
Vorschrift, dass gewisse Sachen manzipiert werden muessten, dahin um, dass nur
diese Sachen und keine anderen manzipiert werden koennten.
^4 Naemlich fuer das zehnmonatliche Jahr den zwoelften Teil des Kapitals
(uncia), also fuer das zehnmonatliche Jahr 8 1/3, fuer das zwoelfmonatliche zehn
vom Hundert.
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Ebenso schirmte man das Gut der nicht wehrhaften, also auch nicht zur
Schirmung des eigenen Vermoegens faehigen Personen, der Unmuendigen und der
Wahnsinnigen und vor allem das der Weiber, indem man die naechsten Erben zu der
Hut desselben berief.
Nach dem Tode faellt das Gut den naechsten Erben zu, wobei alle
Gleichberechtigten, auch die Weiber gleiche Teile erhalten und die Witwe mit den
Kindern auf einen Kopfteil zugelassen wird. Dispensieren von der gesetzlichen
Erbfolge kann nur die Volksversammlung, wobei noch vorher wegen der an dem
Erbgang haftenden Sakralpflichten das Gutachten der Priester einzuholen ist;
indes scheinen solche Dispensationen frueh sehr haeufig geworden zu sein, und wo
sie fehlte, konnte bei der vollkommen freien Disposition, die einem jeden ueber
sein Vermoegen bei seinen Lebzeiten zustand, diesem Mangel dadurch einigermassen
abgeholfen werden, dass man sein Gesamtvermoegen einem Freund uebertrug, der
dasselbe nach dem Tode dem Willen des Verstorbenen gemaess verteilte.
Die Freilassung war dem aeltesten Recht unbekannt. Der Eigentuemer konnte
freilich der Ausuebung seines Eigentumsrechts sich enthalten; aber die zwischen
dem Herrn und dem Sklaven bestehende Unmoeglichkeit gegenseitiger
Verbindlichmachung wurde hierdurch nicht aufgehoben, noch weniger dem letzteren
der Gemeinde gegenueber das Gast- oder gar das Buergerrecht erworben. Die
Freilassung kann daher anfangs nur Tatsache, nicht Recht gewesen sein und dem
Herrn nie die Moeglichkeit abgeschnitten haben, den Freigelassenen wieder nach
Gefallen als Sklaven zu behandeln. Indes ging man hiervon ab in den Faellen, wo
sich der Herr nicht bloss dem Sklaven, sondern der Gemeinde gegenueber
anheischig gemacht hatte, denselben im Besitze der Freiheit zu lassen. Eine
eigene Rechtsform fuer eine solche Bindung des Herrn gab es jedoch nicht - der
beste Beweis, dass es anfaenglich eine Freilassung nicht gegeben haben kann -,
sondern es wurden dafuer diejenigen Wege benutzt, welche das Recht sonst darbot:
das Testament, der Prozess, die Schatzung. Wenn der Herr entweder bei Errichtung
seines letzten Willens in der Volksversammlung den Sklaven freigesprochen hatte
oder wenn er dem Sklaven verstattet hatte, ihm gegenueber vor Gericht die
Freiheit anzusprechen oder auch sich in die Schatzungsliste einzeichnen zu
lassen, so galt der Freigelassene zwar nicht als Buerger, aber wohl als frei
selbst dem frueheren Herrn und dessen Erben gegenueber und demnach anfangs als
Schutzverwandter, spaeterhin als Plebejer. Auf groessere Schwierigkeiten als die
Freilassung des Knechts stiess diejenige des Sohnes; denn wenn das Verhaeltnis
des Herrn zum Knecht zufaellig und darum willkuerlich loesbar ist, so kann der
Vater nie aufhoeren Vater zu sein. Darum musste spaeterhin der Sohn, um von dem
Vater sich zu loesen, erst in die Knechtschaft eintreten, um dann aus dieser
entlassen zu werden; in der gegenwaertigen Periode aber kann es eine
Emanzipation ueberhaupt noch nicht gegeben haben.
Nach diesem Rechte lebten in Rom die Buerger und die Schutzverwandten,
zwischen denen, soweit wir sehen, von Anfang an vollstaendige privatrechtliche
Gleichheit bestand. Der Fremde dagegen, sofern er sich nicht einem roemischen
Schutzherrn ergeben hat und also als Schutzverwandter lebt, ist rechtlos, er wie
seine Habe. Was der roemische Buerger ihm abnimmt, das ist ebenso recht erworben
wie die am Meeresufer aufgelesene herrenlose Muschel; nur, das Grundstueck, das
ausserhalb der roemischen Grenze liegt, kann der roemische Buerger wohl faktisch
gewinnen, aber nicht im Rechtssinn als dessen Eigentuemer gelten; denn die
Grenze der Gemeinde vorzuruecken, ist der einzelne Buerger nicht befugt. Anders
ist es im Kriege; was der Soldat gewinnt, der unter dem Heerbann ficht,
bewegliches wie unbewegliches Gut, faellt nicht ihm zu, sondern dem Staat, und
hier haengt es denn auch von diesem ab, die Grenze vorzuschieben oder
zurueckzunehmen.
Ausnahmen von diesen allgemeinen Regeln entstehen durch besondere
Staatsvertraege, die den Mitgliedern fremder Gemeinden innerhalb der roemischen
gewisse Rechte sichern. Vor allem erklaerte das ewige Buendnis zwischen Rom und
Latium alle Vertraege zwischen Roemern und Latinern fuer rechtsgueltig und
verordnete zugleich fuer diese einen beschleunigten Zivilprozess vor
geschworenen "Wiederschaffern" (reciperatores), welche, da sie, gegen den
sonstigen roemischen Gebrauch einem Einzelrichter die Entscheidung zu
uebertragen, immer in der Mehrheit und in ungerader Zahl sitzen, wohl als ein
aus Richtern beider Nationen und einem Obmann zusammengesetztes Handels- und
Messgericht zu denken sind. Sie urteilen am Ort des abgeschlossenen Vertrages
und muessen spaetestens in zehn Tagen den Prozess beendigt haben. Die Formen, in
denen der Verkehr zwischen Roemern und Latinern sich bewegte, waren natuerlich
die allgemeinen, in denen auch Patrizier und Plebejer miteinander verkehrten;
denn die Manzipation und das Nexum sind urspruenglich gar keine Formalakte,
sondern der praegnante Ausdruck der Rechtsbegriffe, deren Herrschaft reichte
wenigstens so weit man lateinisch sprach.
In anderer Weise und anderen Formen ward der Verkehr mit dem eigentlichen
Ausland vermittelt. Schon in fruehester Zeit muessen mit den Caeriten und
anderen befreundeten Voelkern Vertraege ueber Verkehr und Rechtsfolge
abgeschlossen und die Grundlage des internationalen Privatrechts (ius gentium)
geworden sein, das sich in Rom allmaehlich neben dem Landrecht entwickelt hat.
Eine Spur dieser Rechtsbildung ist das merkwuerdige mutuum, der "Wandel" (von
mutare; wie dividuus); eine Form des Darlehens, die nicht wie das Nexum auf
einer ausdruecklich vor Zeugen abgegebenen bindenden Erklaerung des Schuldners,
sondern auf dem blossen Uebergang des Geldes aus einer Hand in die andere beruht
und die so offenbar dem Verkehr mit Fremden entsprungen ist wie das Nexum dem
einheimischen Geschaeftsverkehr. Es ist darum charakteristisch, dass das Wort
als moiton im sizilischen Griechisch wiederkehrt; womit zu verbinden ist das
Wiedererscheinen des lateinischen carcer in dem sizilischen karkaron. Da es
sprachlich feststeht, dass beide Woerter urspruenglich latinisch sind, so wird
ihr Vorkommen in dem sizilischen Lokaldialekt ein wichtiges Zeugnis fuer den
haeufigen Verkehr der latinischen Schiffer auf der Insel, welcher sie
veranlasste, dort Geld zu borgen und der Schuldhaft, die ja ueberall in den
aelteren Rechten die Folge des nicht bezahlten Darlehens ist, sich zu
unterwerfen. Umgekehrt ward der Name des syrakusanischen Gefaengnisses,
"Steinbrueche" oder latomiai, in alter Zeit auf das erweiterte roemische
Staatsgefaengnis, die lautumiae uebertragen.
Werfen wir noch einen Blick zurueck auf die Gesamtheit dieser
Institutionen, die im wesentlichen entnommen sind der aeltesten, etwa ein halbes
Jahrhundert nach der Abschaffung des Koenigtums veranstalteten Aufzeichnung des
roemischen Gewohnheitsrechts und deren Bestehen schon in der Koenigszeit sich
wohl fuer einzelne Punkte, aber nicht im ganzen bezweifeln laesst, so erkennen
wir darin das Recht einer weit vorgeschrittenen, ebenso liberalen als
konsequenten Acker- und Kaufstadt. Hier ist die konventionelle Bildersprache,
wie zum Beispiel die deutschen Rechtssatzungen sie aufzeigen, bereits voellig
verschollen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass eine solche auch bei den
Italikern einmal vorgekommen sein muss; merkwuerdige Belege dafuer sind zum
Beispiel die Form der Haussuchung, wobei der Suchende nach roemischer wie nach
deutscher Sitte ohne Obergewand im blossen Hemd erscheinen musste, und vor allem
die uralte latinische Formel der Kriegserklaerung, worin zwei, wenigstens auch
bei den Kelten und den Deutschen vorkommende Symbole begegnen: das "reine Kraut"
(herba pura, fraenkisch chrene chruda) als Symbol des heimischen Bodens und der
angesengte blutige Stab als Zeichen der Kriegseroeffnung. Mit wenigen Ausnahmen
aber, in denen religioese Ruecksichten die altertuemlichen Gebraeuche schuetzten
- dahin gehoert ausser der Kriegserklaerung durch das Fetialenkollegium
namentlich noch die Konfarreation -, verwirft das roemische Recht, das wir
kennen, durchaus und prinzipiell das Symbol und fordert in allen Faellen nicht
mehr und nicht weniger als den vollen und reinen Ausdruck des Willens. Die
Uebergabe der Sache, die Aufforderung zum Zeugnis, die Eingebung der Ehe sind
vollzogen, so wie die Parteien die Absicht in verstaendlicher Weise erklaert
haben; es ist zwar ueblich, dem neuen Eigentuemer die Sache in die Hand zu
geben, den zum Zeugnis Geladenen am Ohre zu zupfen, der Braut das Haupt zu
verhuellen und sie in feierlichem Zuge in das Haus des Mannes einzufuehren; aber
alle diese uralten Uebungen sind schon nach aeltestem roemischen Landrecht
rechtlich wertlose Gebraeuche. Vollkommen analog wie aus der Religion alle
Allegorie und damit alle Personifikation beseitigt ward, wurde auch aus dem
Rechte jede Symbolik grundsaetzlich ausgetrieben. Ebenso ist hier jener aelteste
Zustand, den die hellenischen wie die germanischen Institutionen uns darstellen,
wo die Gemeindegewalt noch ringt mit der Autoritaet der kleineren, in die
Gemeinde aufgegangenen Geschlechts- oder Gaugenossenschaften, gaenzlich
beseitigt; es gibt keine Rechtsallianz innerhalb des Staates zur Ergaenzung der
unvollkommenen Staatshilfe durch gegenseitigen Schutz und Trutz, keine
ernstliche Spur der Blutrache oder des die Verfuegung des einzelnen
beschraenkenden Familieneigentums. Auch dergleichen muss wohl einmal bei den
Italikern bestanden haben; es mag in einzelnen Institutionen des Sakralrechts,
zum Beispiel in dem Suehnbock, den der unfreiwillige Totschlaeger den naechsten
Verwandten des Getoeteten zu geben verpflichtet war, davon eine Spur sich
finden; allein schon fuer die aelteste Periode Roms, die wir in Gedanken
erfassen koennen, ist dies ein laengst ueberwundener Standpunkt. Zwar vernichtet
ist das Geschlecht, die Familie in der roemischen Gemeinde nicht; aber die
ideelle wie die reale Allmacht des Staates auf dem staatlichen Gebiet ist durch
sie ebensowenig beschraenkt wie durch die Freiheit, die der Staat dem Buerger
gewaehrt und gewaehrleistet. Der letzte Rechtsgrund ist ueberall der Staat: die
Freiheit ist nur ein anderer Ausdruck fuer das Buergerrecht im weitesten Sinn;
alles Eigentum beruht auf ausdruecklicher oder stillschweigender Uebertragung
von der Gemeinde auf den einzelnen; der Vertrag gilt nur, insofern die Gemeinde
in ihren Vertretern ihn bezeugt, das Testament nur, insofern die Gemeinde es
bestaetigt. Scharf und klar sind die Gebiete des oeffentlichen und des
Privatrechts voneinander geschieden: die Vergehen gegen den Staat, welche
unmittelbar das Gericht des Staates herbeirufen und immer Lebensstrafe nach sich
ziehen; die Vergehen gegen den Mitbuerger oder den Gast, welche zunaechst auf
dem Wege des Vergleichs durch Suehne oder Befriedigung des Verletzten erledigt
und niemals mit dem Leben gebuesst werden, sondern hoechstens mit dem Verlust
der Freiheit. Hand in Hand gehen die groesste Liberalitaet in Gestattung des
Verkehrs und das strengste Exekutionsverfahren; ganz wie heutzutage in
Handelsstaaten die allgemeine Wechselfaehigkeit und der strenge Wechselprozess
zusammen auftraten. Der Buerger und der Schutzgenosse stehen sich im Verkehr
vollkommen gleich; Staatsvertraege gestatten umfassende Rechtsgleichheit auch
dem Gast; die Frauen sind in der Rechtsfaehigkeit mit den Maennern voellig auf
eine Linie gestellt, obwohl sie im Handeln beschraenkt sind; ja der kaum
erwachsene Knabe bekommt sogleich das umfassendste Dispositionsrecht ueber sein
Vermoegen, und wer ueberhaupt verfuegen kann, ist in seinem Kreise so souveraen,
wie im oeffentlichen Gebiet der Staat. Hoechst charakteristisch ist das
Kreditsystem: ein Bodenkredit existiert nicht, sondern anstatt der
Hypothekarschuld tritt sofort ein, womit heutzutage das Hypothekarverfahren
schliesst, der Uebergang des Eigentums vom Schuldner auf den Glaeubiger; dagegen
ist der persoenliche Kredit in der umfassendsten, um nicht zu sagen
ausschweifendsten Weise garantiert, indem der Gesetzgeber den Glaeubiger befugt,
den zahlungsunfaehigen Schuldner dem Diebe gleich zu behandeln und ihm
dasjenige, was Shylock sich von seinem Todfeind halb zum Spott ausbedingt, hier
in vollkommen legislatorischem Ernste einraeumt, ja den Punkt wegen des
Zuvielabschneidens sorgfaeltiger verklausuliert, als es der Jude tat. Deutlicher
konnte das Gesetz es nicht aussprechen, dass es zugleich unabhaengige, nicht
verschuldete Bauernwesen und kaufmaennischen Kredit herzustellen, alles
Scheineigentum aber wie alle Wortlosigkeit mit unerbittlicher Energie zu
unterdruecken beabsichtige. Nimmt man dazu das frueh anerkannte
Niederlassungsrecht saemtlicher Latiner und die gleichfalls frueh ausgesprochene
Gueltigkeit der Zivilehe, so wird man erkennen, dass dieser Staat, der das
Hoechste von seinen Buergern verlangte und den Begriff der Untertaenigkeit des
einzelnen unter die Gesamtheit steigerte, wie keiner vor oder nach ihm, dies nur
tat und nur tun konnte, weil er die Schranken des Verkehrs selber niederwarf und
die Freiheit ebensosehr entfesselte, wie er sie beschraenkte. Gestattend oder
hemmend tritt das Recht stets unbedingt auf: wie der unvertretene Fremde dem
gehetzten Wild, so steht der Gast dem Buerger gleich; der Vertrag gibt
regelmaessig keine Klage, aber wo das Recht des Glaeubigers anerkannt wird, da
ist es so allmaechtig, dass dem Armen nirgends eine Rettung, nirgends eine
menschliche und billige Beruecksichtigung sich zeigt; es ist, als faende das
Recht eine Freude daran, ueberall die schaerfsten Spitzen hervorzukehren, die
aeussersten Konsequenzen zu ziehen, das Tyrannische des Rechtsbegriffs gewaltsam
dem bloedesten Verstande aufzudraengen. Die poetische Form, die gemuetliche
Anschaulichkeit, die in den germanischen Rechtsordnungen anmutig walten, sind
dem Roemer fremd, in seinem Recht ist alles klar und knapp, kein Symbol
angewandt, keine Institution zuviel. Es ist nicht grausam; alles Noetige wird
vollzogen ohne Umstaende, auch die Todesstrafe; dass der Freie nicht gefoltert
werden kann, ist ein Ursatz des roemischen Rechts, den zu gewinnen andere
Voelker Jahrtausende haben ringen muessen. Aber es ist schrecklich, dies Recht
mit seiner unerbittlichen Strenge, die man sich nicht allzusehr gemildert denken
darf durch eine humane Praxis, denn es ist ja Volksrecht - schrecklicher als die
Bleidaecher und die Marterkammern, jene Reihe lebendiger Begraebnisse, die der
Arme in den Schuldtuermen der Vermoegenden klaffen sah. Aber darin eben ist die
Groesse Roms beschlossen und begruendet, dass das Volk sich selber ein Recht
gesetzt und ein Recht ertragen hat, in dem die ewigen Grundsaetze der Freiheit
und der Botmaessigkeit, des Eigentums und der Rechtsfolge unverfaelscht und
ungemildert walteten und heute noch walten.
12. Kapitel
Religion
Die roemische Goetterwelt ist, wie schon frueher angedeutet ward,
hervorgegangen aus der Widerspiegelung des irdischen Rom in einem hoeheren und
idealen Anschauungsgebiet, in dem sich mit peinlicher Genauigkeit das Kleine wie
das Grosse wiederholte. Der Staat und das Geschlecht, das einzelne Naturereignis
wie die einzelne geistige Taetigkeit, jeder Mensch, jeder Ort und Gegenstand, ja
jede Handlung innerhalb des roemischen Rechtskreises kehren in der roemischen
Goetterwelt wieder; und wie der Bestand der irdischen Dinge flutet im ewigen
Kommen und Gehen, so schwankt auch mit ihm der Goetterkreis. Der Schutzgeist,
der ueber der einzelnen Handlung waltet, dauert nicht laenger als diese Handlung
selbst, der Schutzgeist des einzelnen Menschen lebt und stirbt mit dem Menschen;
und nur insofern kommt auch diesen Goetterwesen ewige Dauer zu, als aehnliche
Handlungen und gleichartige Menschen und damit auch gleichartige Geister immer
aufs neue sich erzeugen. Wie die roemischen ueber der roemischen, walten ueber
jeder auswaertigen Gemeinde deren eigene Gottheiten; wie schroff auch der
Buerger dem Nichtbuerger, der roemische dem fremden Gott entgegentreten mag, so
koennen fremde Menschen wie fremde Gottheiten dennoch durch Gemeindebeschluss in
Rom eingebuergert werden, und wenn aus der eroberten Stadt die Buerger nach Rom
uebersiedelten, wurden auch wohl die Stadtgoetter eingeladen, in Rom eine neue
Staette sich zu bereiten.
Den urspruenglichen Goetterkreis, wie er in Rom vor jeder Beruehrung mit
den Griechen sich gestaltet hat, lernen wir kennen aus dem Verzeichnis der
oeffentlichen und benannten Festtage (feriae publicae) der roemischen Gemeinde,
das in dem Kalender derselben erhalten und ohne Frage die aelteste aller aus dem
roemischen Altertum auf uns gekommenen Urkunden ist. Den Vorrang in demselben
nehmen die Goetter Jupiter und Mars nebst dem Doppelgaenger des letzteren, dem
Quirinus, ein. Dem Jupiter sind alle Vollmondstage (idus) heilig, ausserdem die
saemtlichen Weinfeste und verschiedene andere, spaeter noch zu erwaehnende Tage;
seinem Widerspiel, dem "boesen Jovis" (Vediovis), ist der 21. Mai (agonalia)
gewidmet. Dem Mars dagegen gehoert das Neujahr des 1. Maerz und ueberhaupt das
grosse Kriegerfest in diesem, von dem Gotte selbst benannten Monat, das,
eingeleitet durch das Pferderennen (equirria) am 27. Februar, im Maerz selbst an
den Tagen des Schildschmiedens (equirria oeder Mamuralia, 14. Maerz), des
Waffentanzes auf der Dingstaette (quinquatrus, 19. Maerz) und der Drommetenweihe
(tubilustrium, 23. Maerz) seine Hochtage hatte. Wie, wenn ein Krieg zu fuehren
war, derselbe mit diesem Feste begann, so folgte nach Beendigung des Feldzuges
im Herbst wiederum eine Marsfeier, das Fest der Waffenweihe (armilustrium, 19.
Oktober). Dem zweiten Mars endlich, dem Quirinus, war der 17. Februar
(Quirinalia) eigen. Unter den uebrigen Festtagen nehmen die auf den Acker- und
Weinbau bezueglichen die erste Stelle ein, woneben die Hirtenfeste eine
untergeordnete Rolle spielen. Hierher gehoert vor allem die grosse Reihe der
Fruehlingsfeste im April, wo am 15. der Tellus, das ist der naehrenden Erde
(fordicidia, Opfer der traechtigen Kuh), und am 19. der Ceres, das ist der
Goettin des sprossenden Wachstums (Cerialia), dann am 21. der befruchtenden
Herdengoettin Pales (Parilia), am 23. dem Jupiter als dem Schuetzer der Reben
und der an diesem Tage zuerst sich oeffnenden Faesser von der vorjaehrigen Lese
(Vinalia), am 25. dem boesen Feinde der Saaten, dem Roste (Robigus: Robigalia)
Opfer dargebracht werden. Ebenso wird nach vollendeter Arbeit und gluecklich
eingebrachtem Feldersegen dem Gott und der Goettin des Einbringens und der
Ernte, dem Consus (von condere) und der Ops ein Doppelfest gefeiert: zunaechst
unmittelbar nach vollbrachtem Schnitt (21. August, Consualia; 25. August,
Opiconsiva), sodann im Mittwinter, wo der Segen der Speicher vor allem offenbar
wird (15. Dezember, Consualia; 19. Dezember, Opalia), zwischen welchen letzteren
beiden Feiertagen die sinnige Anschauung der alten Festordner das Fest der
Aussaat (Saturnalia von Sa‰turnus oder Saturnus, 17. Dezember), einschaltete.
Gleichermassen wird das Most- oder Heilefest (meditrinalia, 11. Oktober), so
benannt, weil man dem jungen Most heilende Kraft beilegte, dem Jovis als dem
Weingott nach vollendeter Lese dargebracht, waehrend die urspruengliche
Beziehung des dritten Weinfestes (Vinalia, 19. August) nicht klar ist. Zu diesen
Festen kommen weiter am Jahresschluss das Wolfsfest (Lupercalia, 17. Februar)
der Hirten zu Ehren des guten Gottes, des Faunus, und das Grenzsteinfest
(Terminalia, 23. Februar) der Ackerbauer, ferner das zweitaegige sommerliche
Hainfest (Lucaria, 19., 21. Juli) das den Waldgoettern (Silvani) gegolten haben
mag, die Quellfeier (Fontinalia, 13. Oktober) und das Fest des kuerzesten Tages,
der die neue Sonne herauffuehrt (An-geronalia, Divalia, 21. Dezember).
Von nicht geringer Bedeutung sind ferner, wie das fuer die Hafenstadt
Latiums sich nicht anders erwarten laesst, die Schifferfeste der Gottheiten der
See (Neptunalia, 23. Juli), des Hafens (Portunalia, 17. August) und des
Tiberstromes (Volturnalia, 27. August). Handwerk und Kunst dagegen sind in
diesem Goetterkreis nur vertreten durch den Gott des Feuers und der
Schmiedekunst, den Vulcanus, welchem ausser dem nach seinem Namen benannten Tag
(Volcanalia, 23. August) auch das zweite Fest der Drommetenweihe (tubilustrium,
23. Mai) gewidmet ist, und allenfalls noch durch das Fest der Carmentis
(Carmentalia, 11., 15. Januar), welche wohl urspruenglich als die Goettin der
Zauberformel und des Liedes und nur folgeweise als Schuetzerin der Geburten
verehrt ward.
Dem haeuslichen und Familienleben ueberhaupt galten das Fest der Goettin
des Hauses und der Geister der Vorratskammer, der Vesta und der Penaten
(Vestalia, 9. Juni); das Fest der Geburtsgoettin ^1 (Matralia, 11. Juni), das
Fest des Kindersegens, dem Liber und der Libera gewidmet (Liberalia, 17. Maerz),
das Fest der abgeschiedenen Geister (Feralia, 21. Februar) und die dreitaegige
Gespensterfeier (Lemuria, 9., 11., 13. Mai), waehrend auf die buergerlichen
Verhaeltnisse sich die beiden uebrigens fuer uns nicht klaren Festtage der
Koenigsflucht (Regifugium, 24. Februar) und der Volksflucht (Poplifugia, 5.
Juli), von denen wenigstens der letzte Tag dem Jupiter zugeeignet war, und das
Fest der sieben Berge (Agonia oder Septimontium, 11. Dezember) bezogen. Auch dem
Gott des Anfangs, dem Janus, war ein eigener Tag (agonia, 9. Januar) gewidmet.
Einige andere Tage, der der Furrina (25. Juli) und der dem Jupiter und der Acca
Larentia gewidmete der Larentalien, vielleicht ein Larenfest (23. Dezember),
sind ihrem Wesen nach verschollen.
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^1 Das ist allem Anschein nach das urspruengliche Wesen der "Morgenmutter"
oder Mater matuta; wobei man sich wohl daran zu erinnern hat, dass, wie die
Vornamen Lucius und besonders Manius beweisen, die Morgenstunde fuer die Geburt
als glueckbringend galt. Zur See- und Hafengoettin ist die Mater matuta wohl
erst spaeter unter dem Einfluss des Leukotheamythus geworden; schon dass die
Goettin vorzugsweise von den Frauen verehrt ward, spricht dagegen, sie
urspruenglich als Hafengoettin zu fassen.
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Diese Tafel ist vollstaendig fuer die unbeweglichen oeffentlichen Feste;
und wenn auch neben diesen stehenden Festtagen sicher seit aeltester Zeit
Wandel- und Gelegenheitsfeste vorgekommen sind, so oeffnet doch diese Urkunde,
in dem, was sie sagt, wie in dem, was sie auslaesst, uns den Einblick in eine
sonst fuer uns beinahe gaenzlich verschollene Urzeit. Zwar die Vereinigung der
altroemischen Gemeinde und der Huegelroemer war bereits erfolgt, als diese
Festtafel entstand, da wir in ihr neben dem Mars den Quirinus finden; aber noch
stand der kapitolinische Tempel nicht, als sie aufgesetzt ward, denn es fehlen
Juno und Minerva; noch war das Dianaheiligtum auf dem Aventin nicht errichtet;
noch war den Griechen kein Kultbegriff entlehnt. Der Mittelpunkt nicht bloss des
roemischen, sondern ueberhaupt des italischen Gottesdienstes in derjenigen
Epoche, wo der Stamm noch sich selber ueberlassen auf der Halbinsel hauste, war
allen Spuren zufolge der Gott Maurs oder Mars, der toetende Gott ^2, vorwiegend
gedacht als der speerschwingende, die Herde schirmende, den Feind niederwerfende
goettliche Vorfechter der Buergerschaft - natuerlich in der Art, dass eine jede
Gemeinde ihren eigenen Mars besass und ihn fuer den staerksten und heiligsten
unter allen achtete, demnach auch jeder zu neuer Gemeindebegruendung
auswandernde heilige Lenz unter dem Schutz seines eigenen Mars zog. Dem Mars ist
sowohl in der - sonst goetterlosen - roemischen Monatstafel wie auch
wahrscheinlich in den saemtlichen uebrigen latinischen und sabellischen der
erste Monat geheiligt; unter den roemischen Eigennamen, die sonst ebenfalls
keiner Goetter gedenken, erscheinen Marcus, Mamercus, Mamurius seit uralter Zeit
in vorwiegendem Gebrauch; an den Mars und seinen heiligen Specht knuepft sich
die aelteste italische Weissagung; der Wolf, das heilige Tier des Mars, ist auch
das Wahrzeichen der roemischen Buergerschaft, und was von heiligen Stammsagen
die roemische Phantasie aufzubringen vermocht hat, geht ausschliesslich zurueck
auf den Gott Mars und seinen Doppelgaenger, den Quirinus. In dem
.Festverzeichnis nimmt allerdings der Vater Diovis, eine reinere und mehr
buergerliche als kriegerische Widerspiegelung des Wesens der roemischen
Gemeinde, einen groesseren Raum ein als der Mars, ebenso wie der Priester des
Jupiter an Rang den beiden Priestern des Kriegsgottes vorgeht; aber eine sehr
hervorragende Rolle spielt doch auch der letztere in demselben, und es ist sogar
ganz glaublich, dass, als diese Festordnung festgestellt wurde, Jovis neben Mars
stand wie Ahuramazda neben Mithra und dass der wahrhafte Mittelpunkt der
Gottesverehrung in der streitbaren roemischen Gemeinde auch damals noch der
kriegerische Todesgott und dessen Maerzfest war, wogegen gleichzeitig nicht der
durch die Griechen spaeter eingefuehrte "Sorgenbrecher", sondern der Vater Jovis
selbst als der Gott galt des herzerfreuenden Weines.
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^2 Aus Maurs, was die aelteste ueberlieferte Form ist, entwickeln sich
durch verschiedene Behandlung des u Mars, Mavors, mors; der Uebergang in o
(aehnlich wie Paula, Pola und dergleichen mehr) erscheint auch in der Doppelform
Mar-Mor (vgl. Ma-murius) neben Mar-Mar und Ma-Mers.
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Es ist nicht die Aufgabe dieser Darstellung, die roemischen Gottheiten im
einzelnen zu betrachten; aber wohl ist es auch geschichtlich wichtig, ihren
eigentuemlichen, zugleich niedrigen und innigen Charakter hervorzuheben.
Abstraktion und Personifikation sind das Wesen der roemischen wie der
hellenischen Goetterlehre; auch der hellenische Gott ruht auf einer
Naturerscheinung oder einem Begriff, und dass dem Roemer eben wie dem Griechen
jede Gottheit als Person erscheint, dafuer zeugt die Auffassung der einzelnen
als maennlicher oder weiblicher und die Anrufung an die unbekannte Gottheit:
"bist du Gott oder Goettin, Mann oder auch Weib"; dafuer der tiefhaftende
Glaube, dass der Name des eigentlichen Schutzgeistes der Gemeinde
unausgesprochen bleiben muesse, damit nicht ein Feind ihn erfahre und, den Gott
bei seinem Namen rufend, ihn ueber die Grenzen hinueberlocke. Ein Ueberrest
dieser maechtig sinnlichen Auffassung haftet namentlich der aeltesten und
nationalsten italischen Goettergestalt, dem Mars, an. Aber wenn die Abstraktion,
die jeder Religion zu Grunde liegt, anderswo zu weiten und immer weiteren
Konzeptionen sich zu erheben, tief und immer tiefer in das Wesen der Dinge
einzudringen versucht, so verhalten sich die roemischen Glaubensbilder auf einer
unglaublich niedrigen Stufe des Anschauens und des Begreifens. Wenn dem Griechen
jedes bedeutsame Motiv sich rasch zur Gestaltengruppe, zum Sagen- und Ideenkreis
erweitert, so bleibt dem Roemer der Grundgedanke in seiner urspruenglichen
nackten Starrheit stehen. Der apollinischen Religion irdisch sittlicher
Verklaerung, dem goettlichen dionysischen Rausche, den tiefsinnigen und
geheimnisvollen chthonischen und Mysterienkulten hat die roemische Religion
nichts auch nur entfernt aehnliches entgegenzustellen, das ihr eigentuemlich
waere. Sie weiss wohl auch von einem "schlimmen Gott" (Ve-diovis), von
Erscheinungen und Gespenstern (lemures), spaeterhin auch von Gottheiten der
boesen Luft, des Fiebers, der Krankheiten, vielleicht sogar des Diebstahls
(laverna); aber den geheimnisvollen Schauer, nach dem das Menschenherz doch auch
sich sehnt, vermag sie nicht zu erregen, nicht sich zu durchdringen mit dem
Unbegreiflichen und selbst dem Boesartigen in der Natur und dem Menschen,
welches der Religion nicht fehlen darf, wenn der ganze Mensch in ihr aufgehen
soll. Es gab in der roemischen Religion kaum etwas Geheimes als etwa die Namen
der Stadtgoetter, der Penaten; das Wesen uebrigens auch dieser Goetter war jedem
offenbar.
Die nationalroemische Theologie sucht nach allen Seiten hin die wichtigen
Erscheinungen und Eigenschaften begreiflich zu fassen, sie terminologisch
auszupraegen und schematisch - zunaechst nach der auch dem Privatrecht zu Grunde
liegenden Einteilung von Personen und Sachen - zu klassifizieren, um darnach die
Goetter und Goetterreihen selber richtig anzurufen und ihre richtige Anrufung
der Menge zu weisen (indigitare). In solchen aeusserlich abgezogenen Begriffen
von der einfaeltigsten, halb ehrwuerdigen, halb laecherlichen Schlichtheit ging
die roemische Theologie wesentlich auf; Vorstellungen wie Saat (sa‰turnus) und
Feldarbeit (ops), Erdboden (tellus) und Grenzstein (terminus) gehoeren zu den
aeltesten und heiligsten roemischen Gottheiten. Vielleicht die eigentuemlichste
unter allen roemischen Goettergestalten und wohl die einzige, fuer die ein
eigentuemlich italisches Kultbild erfunden ward, ist der doppelkoepfige Janus;
und doch liegt in ihm eben nichts als die fuer die aengstliche roemische
Religiositaet bezeichnende Idee, dass zur Eroeffnung eines jeden Tuns zunaechst
der "Geist der Eroeffnung" anzurufen sei, und vor allem das tiefe Gefuehl davon,
dass es ebenso unerlaesslich war, die roemischen Goetterbegriffe in Reihen
zusammenzufuegen, wie die persoenlicheren Goetter der Hellenen notwendig jeder
fuer sich standen ^3. Vielleicht der innigste unter allen roemischen ist der
Kult der in und ueber dem Hause und der Kammer waltenden Schutzgeister, im
oeffentlichen Gottesdienst der der Vesta und der Penaten, im Familienkult der
der Wald- und Flurgoetter, der Silvane und vor allem der eigentlichen
Hausgoetter, der Lasen oder Laren, denen regelmaessig von der Familienmahlzeit
ihr Teil gegeben ward, und vor denen seine Andacht zu verrichten noch zu des
aelteren Cato Zeit des heimkehrenden Hausvaters erstes Geschaeft war. Aber in
der Rangordnung der Goetter nahmen diese Haus- und Feldgeister eher den letzten
als den ersten Platz ein; es war, wie es bei einer auf Idealisierung
verzichtenden Religion nicht anders sein konnte, nicht die weiteste und
allgemeinste, sondern die einfachste und individuellste Abstraktion, in der das
fromme Herz die meiste Nahrung fand.
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^3 Dass Tor und Tuere und der Morgen (ianus matutinus) dem Janus heilig ist
und er stets vor jedem anderen Gott angerufen ja selbst in der Muenzreihe noch
vor dem Jupiter und den anderen Goettern aufgefuehrt wird, bezeichnet ihn
unverkennbar als die Abstraktion der Oeffnung und Eroeffnung. Auch der nach zwei
Seiten schauende Doppelkopf haengt mit dem nach zwei Seiten hin sich oeffnenden
Tore zusammen. Einen Sonnen- und Jahresgott darf man um so weniger aus ihm
machen, als der von ihm benannte Monat urspruenglich der elfte, nicht der erste
ist; vielmehr scheint dieser Monat seinen Namen davon zu fuehren, dass in dieser
Zeit nach der Rast des Mittwinters der Kreislauf der Feldarbeiten wieder von
vorn beginnt. Dass uebrigens, namentlich seit der Januarius an der Spitze des
Jahres stand, auch die Eroeffnung des Jahres in den Bereich des Janus
hineingezogen ward, versteht sich von selbst.
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Hand in Hand mit dieser Geringhaltigkeit der idealen Elemente ging die
praktische und utilitarische Tendenz der roemischen Religion, wie sie in der
oben eroerterten Festtafel deutlich genug sich darlegt. Vermoegensmehrung und
Guetersegen durch Feldbau und Herdengewinn, durch Schiffahrt und Handel - das
ist es, was der Roemer von seinen Goettern begehrt; es stimmt dazu recht wohl,
dass der Gott des Worthaltens (deus fidius), die Zufalls- und Gluecksgoettin
(fors fortuna) und der Handelsgott (mercurius), alle aus dem taeglichen Verkehr
hervorgegangen, zwar noch nicht in jener uralten Festtafel, aber doch schon sehr
frueh weit und breit von den Roemern verehrt auftreten. Strenge
Wirtschaftlichkeit und kaufmaennische Spekulation waren zu tief im roemischen
Wesen begruendet, um nicht auch dessen goettliches Abbild bis in den innersten
Kern zu durchdringen.
Von der Geisterwelt ist wenig zu sagen. Die abgeschiedenen Seelen der
sterblichen Menschen, die "Guten" (manes) lebten schattenhaft weiter, gebannt an
den Ort, wo der Koerper ruhte (dii inferi), und nahmen von den Ueberlebenden
Speise und Trank. Allein sie hausten in den Raeumen der Tiefe und keine Bruecke
fuehrte aus der unteren Welt weder zu den auf der Erde waltenden Menschen noch
empor zu den oberen Goettern. Der griechische Heroenkult ist den Roemern voellig
fremd und wie jung und schlecht die Gruendungssage von Rom erfunden ist, zeigt
schon die ganz unroemische Verwandlung des Koenigs Romulus in den Gott Quirinus.
Numa, der aelteste und ehrwuerdigste Name in der roemischen Sage, ist in Rom nie
als Gott verehrt worden wie Theseus in Athen.
Die aeltesten Gemeindepriestertuemer beziehen sich auf den Mars: vor allem
auf Lebenszeit ernannte Priester des Gemeindegottes, der "Zuender des Mars"
(flamen Martialis), wie er vom Darbringen der Brandopfer benannt ward, und die
zwoelf "Springer" (salii), eine Schar junger Leute, die im Maerz den Waffentanz
zu Ehren des Mars auffuehrten und dazu sangen. Dass die Verschmelzung der
Huegelgemeinde mit der palatinischen die Verdoppelung des roemischen Mars und
damit die Einfuehrung eines zweiten Marspriesters - des flamen Quirinalis - und
einer zweiten Taenzergilde - der salii collini - herbeifuehrte, ist bereits
frueher auseinandergesetzt worden.
Hierzu kamen andere oeffentliche, zum Teil wohl ihrem Ursprung nach weit
ueber Roms Entstehung hinaufreichende Verehrungen, fuer welche entweder
Einzelpriester angestellt waren -solche gab es zum Beispiel der Carmentis, des
Volcanus, des Hafen- und des Flussgottes - oder deren Begehung einzelnen
Genossenschaften oder Geschlechtern im Namen des Volkes uebertragen war. Eine
derartige Genossenschaft war vermutlich die der zwoelf "Ackerbrueder" (fratres
arvales), welche die "schaffende Goettin" (dea dia) im Mai anriefen fuer das
Gedeihen der Saaten; obwohl es sehr zweifelhaft ist, ob dieselbe bereits in
dieser Epoche dasjenige besondere Ansehen genoss, welches wir ihr in der
Kaiserzeit beigelegt finden. Ihnen schloss die titische Bruederschaft sich an,
die den Sonderkult der roemischen Sabiner zu bewahren und zu besorgen hatte,
sowie die fuer die Herde der dreissig Kurien eingesetzten dreissig Kurienzuender
(flamines curiales). Das schon erwaehnte "Wolfsfest" (lupercalia) wurde fuer die
Beschirmung der Herden dem "guenstigen Gotte" (faunus) von dem
Quinctiergeschlecht und den nach dem Zutritt der Huegelroemer ihnen zugegebenen
Fabiern im Monat Februar gefeiert - ein rechtes Hirtenkarneval, bei dem die
"Woelfe" (luperci) nackt mit dem Bocksfell umguertet herumsprangen und wen sie
trafen mit Riemen klatschten. Ebenso mag noch bei andern gentilizischen Kulten
zugleich die Gemeinde gedacht sein als mitvertreten.
Zu diesem aeltesten Gottesdienst der roemischen Gemeinde traten allmaehlich
neue Verehrungen hinzu. Die wichtigste darunter ist diejenige, welche auf die
neu geeinigte und durch den grossen Mauer- und Burgbau gleichsam zum zweitenmal
gegruendete Stadt sich bezieht: in ihr tritt der hoechste beste Jovis vom
Burghuegel, das ist der Genius des roemischen Volkes, an die Spitze der gesamten
roemischen Goetterschaft, und sein fortan bestellter Zuender, der Flamen Dialis,
bildet mit den beiden Marspriestern die heilige oberpriesterliche Dreiheit.
Gleichzeitig beginnt der Kultus des neuen einigen Stadtherdes - der Vesta - und
der dazu gehoerige der Gemeindepenaten. Sechs keusche Jungfrauen versahen,
gleichsam als die Haustoechter des roemischen Volkes, jenen frommen Dienst und
hatten das heilsame Feuer des Gemeindeherdes den Buergern zum Beispiel und zum
Wahrzeichen stets lodernd zu unterhalten. Es war dieser haeuslich-oeffentliche
Gottesdienst der heiligste aller roemischen, wie er denn auch von allem
Heidentum am spaetesten in Rom der christlichen Verfemung gewichen ist. Ferner
wurde der Aventin der Diana angewiesen als der Repraesentantin der latinischen
Eidgenossenschaft, aber eben darum eine besondere roemische Priesterschaft fuer
sie nicht bestellt; und zahlreichen anderen Goetterbegriffen gewoehnte
allmaehlich die Gemeinde sich in bestimmter Weise durch allgemeine Feier oder
durch besonders zu ihrem Dienst bestimmte stellvertretende Priesterschaften zu
huldigen, wobei sie einzelnen - zum Beispiel der Blumen (Flora) und der
Obstgoettin (Pomona) - auch wohl einen eigenen Zuender bestellte, sodass deren
zuletzt fuenfzehn gezaehlt wurden. Aber sorgfaeltig unterschied man unter ihnen
jene drei "grossen Zuender" (flamines maiores), die bis in die spaeteste Zeit
nur aus den Altbuergern genommen werden konnten, ebenso wie die alten
Genossenschaften der palatinischen und quirinalischen Salier stets den Vorrang
vor allen uebrigen Priesterkollegien behaupteten. Also wurden die notwendigen
und stehenden Leistungen an die Goetter der Gemeinde bestimmten Genossenschaften
oder staendigen Dienern vom Staat ein fuer allemal uebertragen und zur Deckung
der vermutlich nicht unbetraechtlichen Opferkosten teils den einzelnen Tempeln
gewisse Laendereien, teils die Bussen angewiesen.
Dass der oeffentliche Kult der uebrigen latinischen und vermutlich auch der
sabellischen Gemeinden im wesentlichen gleichartig war, ist nicht zu bezweifeln;
nachweislich sind die Flamines, Sauer, Luperker und Vestalinnen nicht spezifisch
roemische, sondern allgemein latinische Institutionen gewesen und wenigstens die
drei ersten Kollegien scheinen in den stammverwandten Gemeinden nicht erst nach
roemischem Muster gebildet zu sein.
Endlich kann, wie der Staat fuer den Goetterkreis des Staats, so auch der
einzelne Buerger innerhalb seines individuellen Kreises aehnliche Anordnungen
treffen und seinen Goettern nicht bloss Opfer darbringen, sondern auch Staetten
und Diener ihnen weihen.
Also gab es Priestertum und Priester in Rom genug; indes wer ein Anliegen
an den Gott hat, wendet sich nicht an den Priester, sondern an den Gott. Jeder
Flehende und Fragende redet selber zu der Gottheit, die Gemeinde natuerlich
durch den Mund des Koenigs wie die Kurie durch den Curio und die Ritterschaft
durch ihre Obristen; und keine priesterliche Vermittlung durfte das
urspruengliche und einfache Verhaeltnis verdecken oder verdunkeln. Allein es ist
freilich nicht leicht, mit dem Gotte zu verkehren. Der Gott hat seine eigene
Weise zu sprechen, die nur dem kundigen Manne verstaendlich ist; wer es aber
recht versteht, der weiss den Willen des Gottes nicht bloss zu ermitteln,
sondern auch zu lenken, sogar im Notfall ihn zu ueberlisten oder zu zwingen.
Darum ist es natuerlich, dass der Verehrer des Gottes regelmaessig kundige Leute
zuzieht und deren Rat vernimmt; und hieraus sind die religioesen
Sachverstaendigenvereine hervorgegangen, eine durchaus national-italische
Institution, die auf die politische Entwicklung weit bedeutender eingewirkt hat
als die Einzelpriester und die Priesterschaften. Mit diesen sind sie oft
verwechselt worden, allein mit Unrecht. Den Priesterschaften liegt die Verehrung
einer bestimmten Gottheit ob, diesen Genossenschaften aber die Bewahrung der
Tradition fuer diejenigen allgemeineren gottesdienstlichen Verrichtungen, deren
richtige Vollziehung eine gewisse Kunde voraussetzte und fuer deren treue
Ueberlieferung zu sorgen im Interesse des Staates lag. Diese geschlossenen und
sich selbst, natuerlich aus den Buergern, ergaenzenden Genossenschaften sind
dadurch die Depositare der Kunstfertigkeiten und Wissenschaften geworden. In der
roemischen und ueberhaupt der latinischen Gemeindeverfassung gibt es solcher
Kollegien urspruenglich nur zwei: das der Augurn und das der Pontifices ^4. Die
sechs "Voegelfuehrer" (augures) verstanden die Sprache der Goetter aus dem Flug
der Voegel zu deuten, welche Auslegungskunst sehr ernstlich betrieben und in ein
gleichsam wissenschaftliches System gebracht ward. Die sechs "Brueckenbauer"
(pontifices) fuehrten ihren Namen von dem ebenso heiligen wie politisch
wichtigen Geschaeft, den Bau und das Abbrechen der Tiberbruecke zu leiten. Es
waren die roemischen Ingenieure, die das Geheimnis der Masse und Zahlen
verstanden; woher ihnen auch die Pflicht zukam, den Kalender des Staats zu
fuehren, dem Volke Neu- und Vollmond und die Festtage abzurufen und dafuer zu
sorgen, dass jede gottesdienstliche wie jede Gerichtshandlung am rechten Tage
vor sich gehe. Da sie also vor allen andern den Ueberblick ueber den ganzen
Gottesdienst hatten, ging auch, wo es noetig war, bei Ehe, Testament und
Arrogation an sie die Vorfrage, ob das beabsichtigte Geschaeft nicht gegen das
goettliche Recht irgendwie verstosse, und ging von ihnen die Feststellung und
Bekanntmachung der allgemeinen exoterischen Sakralvorschriften aus, die unter
dem Namen der Koenigsgesetze bekannt sind. So gewannen sie, wenn auch in voller
Ausdehnung vermutlich erst nach Abschaffung des Koenigtums, die allgemeine
Oberaufsicht ueber den roemischen Gottesdienst und was damit zusammenhing - und
was hing nicht damit zusammen? Sie selbst bezeichneten als den Inbegriff ihres
Wissens "die Kunde goettlicher und menschlicher Dinge". In der Tat sind die
Anfaenge der geistlichen und weltlichen Rechtswissenschaft wie die der
Geschichtsaufzeichnung aus dem Schoss dieser Genossenschaft hervorgegangen. Denn
wie alle Geschichtsschreibung an den Kalender und das Jahrzeitbuch anknuepft,
musste auch die Kunde des Prozesses und der Rechtssaetze, da nach der Errichtung
der roemischen Gerichte in diesen selbst die Ueberlieferung nicht entstehen
konnte, in dem Kollegium der Pontifices traditionell werden, das ueber
Gerichtstage und religioese Rechtsfragen ein Gutachten zu geben allein kompetent
war.
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^4 Am deutlichsten zeigt sich dies darin, dass in den nach dem latinischen
Schema geordneten Gemeinden Augurn und Pontifices ueberall vorkommen (z. B. Cic.
leg. agr. 2, 35, 96 und zahlreiche Inschriften), ebenso der pater patratus der
Fetialen in Laurentum (Orelli 2276), die uebrigen Kollegien aber nicht. Jene
also stehen auf einer Linie mit der Zehnkurienverfassung, den Flamines, Saliern,
Luperkern als aeltestes latinisches Stammgut; wogegen die Duovirn sacris
faciundis und die anderen Kollegien, wie die dreissig Kurien und die
Servianischen Tribus und Zenturien, in Rom entstanden und darum auch auf Rom
beschraenkt geblieben sind. Nur der Name des zweiten Kollegiums, der Pontifices,
ist wohl entweder durch roemischen Einfluss in das allgemein latinische Schema
anstatt aelterer, vielleicht mannigfaltiger Namen eingedrungen, oder es
bedeutete urspruenglich, was sprachlich manches fuer sich hat, pons nicht
Bruecke, sondern Weg ueberhaupt, pontifex also den Wegebauer.
Die Angaben ueber die urspruengliche Zahl namentlich der Augurn schwanken.
Dass die Zahl derselben ungerade sein musste, widerlegt Cicero (leg. agr. 2, 35,
96); und auch Livius (10, 6) sagt wohl nicht dies, sondern nur, dass die Zahl
der roemischen Augurn durch drei teilbar sein und insofern auf eine ungerade
Grundzahl zurueckgehen muesse. Nach Livius (a.a.O.) war die Zahl bis zum
Ogulnischen Gesetz sechs, und eben das sagt wohl auch Cicero (rep. 2, 9 14),
indem er Romulus vier, Numa zwei Augurstellen einrichten laesst. Ueber die Zahl
der Pontifices vgl. Roemisches Staatsrecht, Bd. 2, S. 20.
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Gewissermassen laesst diesen beiden aeltesten und ansehnlichsten
Genossenschaften geistlicher Sachverstaendigen das Kollegium der zwanzig
Staatsboten (fetiales, ungewisser Ableitung) sich anreihen, bestimmt als
lebendiges Archiv das Andenken an die Vertraege mit den benachbarten Gemeinden
durch Ueberlieferung zu bewahren, ueber angebliche Verletzungen des vertragenen
Rechts gutachtlich zu entscheiden und noetigenfalls den Suehneversuch und die
Kriegserklaerung zu bewirken. Sie waren durchaus fuer das Voelkerrecht, was die
Pontifices fuer das Goetterrecht, und hatten daher auch wie diese die Befugnis,
Recht zwar nicht zu sprechen, aber doch zu weisen.
Aber wie hochansehnlich immer diese Genossenschaften waren und wie wichtige
und umfassende Befugnisse sie zugeteilt erhielten, nie vergass man, und am
wenigsten bei den am hoechsten gestellten, dass sie nicht zu befehlen, sondern
sachverstaendigen Rat zu erteilen, die Antwort der Goetter nicht unmittelbar zu
erbitten, sondern die erteilte dem Frager auszulegen hatten. So steht auch der
vornehmste Priester nicht bloss im Rang dem Koenig nach, sondern er darf
ungefragt nicht einmal ihn beraten. Dem Koenig steht es zu, zu bestimmen, ob und
wann er die Voegel beobachten will; der Vogelschauer steht nur dabei und
verdolmetscht ihm, wenn es noetig ist, die Sprache der Himmelsboten. Ebenso kann
der Fetialis und der Pontifex in das Staats- und das Landrecht nicht anders
eingreifen als wenn die Beikommenden es von ihm begehren, und mit unerbittlicher
Strenge hat man trotz aller Froemmigkeit festgehalten an dem Grundsatz, dass in
dem Staat der Priester in vollkommener Machtlosigkeit zu verbleiben und, von
allen Befehlen ausgeschlossen, gleich jedem anderen Buerger dem geringsten
Beamten Gehorsam zu leisten hat. Die latinische Gottesverehrung beruht
wesentlich auf dem Behagen des Menschen am Irdischen und nur in untergeordneter
Weise auf der Furcht vor den wilden Naturkraeften; sie bewegt sich darum auch
vorwiegend in Aeusserungen der Freude, in Liedern und Gesaengen, in Spielen und
Taenzen, vor allem aber in Schmaeusen. Wie ueberall bei den ackerbauenden,
regelmaessig von Vegetabilien sich naehrenden Voelkerschaften war auch in
Italien das Viehschlachten zugleich Hausfest und Gottesdienst; das Schwein ist
den Goettern das wohlgefaelligste Opfer nur darum, weil es der gewoehnliche
Festbraten ist. Aber alle Verschwendung wie alle Ueberschwenglichkeit des Jubels
ist dem gehaltenen roemischen Wesen zuwider. Die Sparsamkeit gegen die Goetter
ist einer der hervortretendsten Zuege des aeltesten latinischen Kultes; und auch
das freie Walten der Phantasie wird durch die sittliche Zucht, in der die Nation
sich selber haelt, mit eiserner Strenge niedergedrueckt. Infolgedessen sind die
Auswuechse, die von solcher Masslosigkeit unzertrennlich sind, den Latinern
ferngeblieben. Wohl liegt der tief sittliche Zug des Menschen, irdische Schuld
und irdische Strafe auf die Goetterwelt zu beziehen und jene als ein Verbrechen
gegen die Gottheit, diese als deren Suehnung aufzufassen, im innersten Wesen
auch der latinischen Religion. Die Hinrichtung des zum Tode verurteilten
Verbrechers ist ebenso ein der Gottheit dargebrachtes Suehnopfer wie die im
gerechten Krieg vollzogene Toetung des Feindes; der naechtliche Dieb der
Feldfruechte buesst der Ceres am Galgen wie der boese Feind auf dem Schlachtfeld
der Mutter Erde und den guten Geistern. Auch der tiefe und furchtbare Gedanke
der Stellvertretung begegnet hierbei: wenn die Goetter der Gemeinde zuernen,
ohne dass auf einen bestimmten Schuldigen gegriffen werden kann, so mag sie
versoehnen, wer sich freiwillig hingibt (devovere se), wie denn giftige
Erdspalten sich schliessen, halbverlorene Schlachten sich in Siege wandeln, wenn
ein braver Buerger sich als Suehnopfer in den Schlund oder in die Feinde
stuerzt. Auf aehnlicher Anschauung beruht der heilige Lenz, indem den Goettern
dargebracht wird, was der bestimmte Zeitraum an Vieh und Menschen geboren werden
laesst. Will man dies Menschenopfer nennen, so gehoert solches freilich zum Kern
des latinischen Glaubens; aber man muss hinzufuegen, dass, soweit unser Blick in
die Ferne irgend zuruecktraegt, diese Opferung, insofern sie das Leben fordert,
sich beschraenkt auf den Schuldigen, der vor dem buergerlichen Gericht
ueberwiesen ist, und den Unschuldigen, der freiwillig den Tod waehlt.
Menschenopfer anderer Art laufen dem Grundgedanken der Opferhandlung zuwider und
beruhen wenigstens bei den indogermanischen Staemmen ueberall, wo sie vorkommen,
auf spaeterer Ausartung und Verwilderung. Bei den Roemern haben sie nie Eingang
gefunden; kaum dass einmal in Zeiten hoechster Not auch hier Aberglaube und
Verzweiflung ausserordentlicherweise im Greuel Rettung suchten. Von
Gespensterglauben, Zauberfurcht und Mysterienwesen finden sich bei den Roemern
verhaeltnismaessig sehr geringe Spuren. Das Orakel- und Prophetentum hat in
Italien niemals die Bedeutung erlangt wie in Griechenland und nie vermocht, das
private und oeffentliche Leben ernstlich zu beherrschen. Aber auf der andern
Seite ist dafuer auch die latinische Religion in eine unglaubliche Nuechternheit
und Trockenheit verfallen und frueh eingegangen auf einen peinlichen und
geistlosen Zeremonialdienst. Der Gott des Italikers ist, wie schon gesagt ward,
vor allen Dingen ein Hilfsinstrument zur Erreichung sehr konkreter irdischer
Zwecke; wie denn den religioesen Anschauungen des Italikers durch seine Richtung
auf das Fassliche und Reelle diese Wendung ueberhaupt gegeben wird und nicht
minder scharf noch in dem heutigen Heiligenkult der Italiener hervortritt. Die
Goetter stehen dem Menschen voellig gegenueber wie der Glaeubiger dem Schuldner;
jeder von ihnen hat ein wohlerworbenes Recht auf gewisse Verrichtungen und
Leistungen, und da die Zahl der Goetter so gross war wie die Zahl der Momente
des irdischen Lebens und die Vernachlaessigung oder verkehrte Verehrung eines
jeden Gottes in dem entsprechenden Moment sich raechte, so war es eine muehsame
und bedenkliche Aufgabe, seiner religioesen Verpflichtungen auch nur sich
bewusst zu werden, und so mussten wohl die des goettlichen Rechtes kundigen und
dasselbe weisenden Priester, die Pontifices, zu ungemeinem Einfluss gelangen.
Denn der rechtliche Mann erfuellt die Vorschriften des heiligen Rituals mit
derselben kaufmaennischen Puenktlichkeit, womit er seinen irdischen
Verpflichtungen nachkommt und tut auch wohl ein Uebriges, wenn der Gott es
seinerseits getan hat. Auch auf Spekulation laesst man mit dem Gotte sich ein:
das Geluebde ist der Sache wie dem Namen nach ein foermlicher Kontrakt zwischen
dem Gotte und dem Menschen, wodurch dieser jenem fuer eine gewisse Leitung eine
gewisse Gegenleistung zusichert, und der roemische Rechtssatz, dass kein
Kontrakt durch Stellvertretung abgeschlossen werden kann, ist nicht der letzte
Grund, weshalb in Latium bei den religioesen Anliegen der Menschen alle
Priestervermittlung ausgeschlossen blieb. Ja wie der roemische Kaufmann, seiner
konventionellen Rechtlichkeit unbeschadet, den Vertrag bloss dem Buchstaben nach
zu erfuellen befugt ist, so ward auch, wie die roemischen Theologen lehren, im
Verkehr mit den Goettern das Abbild statt der Sache gegeben und genommen. Dem
Herrn des Himmelsgewoelbes brachte man Zwiebel- und Mohnkoepfe dar, um auf deren
statt auf der Menschen Haeupter seine Blitze zu lenken; dem Vater Tiberis wurden
zur Loesung der jaehrlich von ihm erheischten Opfer jaehrlich dreissig von
Binsen geflochtene Puppen in die Wellen geworfen ^5. Die Ideen goettlicher Gnade
und Versoehnbarkeit sind hier ununterscheidbar gemischt mit der frommen
Schlauigkeit, welche es versucht, den gefaehrlichen Herrn durch scheinhafte
Befriedigung zu beruecken und abzufinden. So ist die roemische Gottesfurcht wohl
von gewaltiger Macht ueber die Gemueter der Menge, aber keineswegs jenes Bangen
vor der allwaltenden Natur oder der allmaechtigen Gottheit, das den
pantheistischen und monotheistischen Anschauungen zu Grunde liegt, sondern sehr
irdischer Art und kaum wesentlich verschieden von demjenigen Zagen, mit dem der
roemische Schuldner seinem gerechten, aber sehr genauen und sehr maechtigen
Glaeubiger sich naht. Es ist einleuchtend, dass eine solche Religion die
kuenstlerische und die spekulative Auffassung viel mehr zu erdruecken als zu
zeitigen geeignet war. Indem der Grieche die naiven Gedanken der Urzeit mit
menschlichem Fleisch und Blut umhuellte, wurden diese Goetterideen nicht bloss
die Elemente der bildenden und der dichtenden Kunst, sondern sie erlangten auch
die Universalitaet und die Elastizitaet, welche die tiefste Eigentuemlichkeit
der Menschennatur und eben darum der Kern aller Weltreligion ist. Durch sie
konnte die einfache Naturanschauung zu kosmogonischen, der schlichte
Moralbegriff zu allgemein humanistischen Anschauungen sich vertiefen; und lange
Zeit hindurch vermochte die griechische Religion die physischen und
metaphysischen Vorstellungen, die ganze ideale Entwicklung der Nation in sich zu
fassen und mit dem wachsenden Inhalt in Tiefe und Weite sich auszudehnen, bevor
die Phantasie und die Spekulation das Gefaess, das sie gehegt hatte,
zersprengten. Aber in Latium blieb die Verkoerperung der Gottheitsbegriffe so
vollkommen durchsichtig, dass weder der Kuenstler noch der Dichter daran sich
heranzubilden vermochte und die latinische Religion der Kunst stets fremd, ja
feindlich gegenueberstand. Da der Gott nichts war und nichts sein durfte als die
Vergeistigung einer irdischen Erscheinung, so fand er eben in diesem irdischen
Gegenbild seine Staette (templum) und sein Abbild; Waende und Idole, von
Menschenhand gemacht, schienen die geistigen Vorstellungen nur zu trueben und zu
befangen. Darum war der urspruengliche roemische Gottesdienst ohne Gottesbilder
und Gotteshaeuser; und wenngleich auch in Latium, vermutlich nach griechischem
Vorbild, schon in frueher Zeit der Gott im Bilde verehrt und ihm ein Haeuschen
(aedicula) gebaut ward, so galt doch diese bildliche Darstellung als den
Gesetzen Numas zuwiderlaufend und ueberhaupt als unrein und fremdlaendisch. Mit
Ausnahme etwa des doppelkoepfigen Janus hat die roemische Religion kein ihr
eigentuemliches Goetterbild aufzuweisen und noch Varro spottete ueber die nach
Puppen und Bilderchen verlangende Menge. Der Mangel aller zeugenden Kraft in der
roemischen Religion ist gleichfalls die letzte Ursache, warum die roemische
Poesie und noch mehr die roemische Spekulation so vollstaendig nicht waren und
blieben.
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^5 Hierin konnte nur unueberlegte Auffassung Ueberreste alter Menschenopfer
finden.
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Aber auch auf dem praktischen Gebiet offenbart sich derselbe Unterschied.
Der praktische Gewinn, welcher der roemischen Gemeinde aus ihrer Religion
erwuchs, war ein von den Priestern, namentlich den Pontifices entwickeltes,
formuliertes Moralgesetz, welches teils in dieser - der polizeilichen
Bevormundung des Buergers durch den Staat noch fernstehenden - Zeit die Stelle
der Polizeiordnung vertrat, teils die sittlichen Verpflichtungen vor das Gericht
der Goetter zog und sie mit goettlicher Strafe belegte. Zu den Bestimmungen der
ersteren Art gehoerte ausser der religioesen Einschaerfung der Heiligung des
Feiertags und eines kunstmaessigen Acker- und Rebenbaus, die wir unten
kennenlernen werden, zum Beispiel der auch mit gesundheitspolizeilichen
Ruecksichten zusammenhaengende Herd- oder Larenkult und vor allem die bei den
Roemern ungemein frueh, weit frueher als bei den Griechen, durchgefuehrte
Leichenverbrennung, welche eine rationelle Auffassung des Lebens und Sterbens
voraussetzt, wie sie der Urzeit und selbst unserer Gegenwart noch fremd ist. Man
wird es nicht gering anschlagen duerfen, dass die latinische Landesreligion
diese und aehnliche Neuerungen durchzusetzen vermocht hat. Wichtiger aber noch
war ihre sittlichende Wirkung. Wenn der Mann die Ehefrau, der Vater den
verheirateten Sohn verkaufte; wenn das Kind oder die Schnur den Vater oder den
Schwiegervater schlug; wenn der Schutzvater gegen den Gast oder den zugewandten
Mann die Treupflicht verletzte; wenn der ungerechte Nachbar den Grenzstein
verrueckte oder der Dieb sich bei naechtlicher Weile an der dem Gemeinfrieden
anvertrauten Halmfrucht vergriff, so lastete fortan der goettliche Fluch auf dem
Haupt des Frevlers. Nicht als waere der also Verwuenschte (sacer) vogelfrei
gewesen; eine solche, aller buergerlichen Ordnung zuwiderlaufende Acht ist nur
ausnahmsweise als Schaerfung des religioesen Bannfluchs in Rom waehrend des
staendischen Haders vorgekommen. Nicht dem einzelnen Buerger oder gar dem
voellig machtlosen Priester kommt die Vollstreckung solchen goettlichen Fluches
zu. Zunaechst ist der also Gebannte dem goettlichen Strafgericht anheim
gefallen, nicht der menschlichen Willkuer, und schon der fromme Volksglaube, auf
dem dieser Bannfluch fusst, wird selbst ueber leichtsinnige und boesartige
Naturen Macht gehabt haben. Aber die Bannung beschraenkt darauf sich nicht;
vielmehr ist der Koenig befugt und verpflichtet, den Bann zu vollstrecken und,
nachdem die Tatsache, auf welche das Recht die Bannung setzt, nach seiner
gewissenhaften Ueberzeugung festgestellt worden ist, den Gebannten der
verletzten Gottheit gleichwie ein Opfertier zu schlachten (supplicium) und also
die Gemeinde von dem Verbrechen des einzelnen zu reinigen. Ist das Vergehen
geringerer Art, so tritt an die Stelle der Toetung des Schuldigen die Loesung
durch Darbringung eines Opfertiers oder aehnlicher Gaben. So ruht das ganze
Kriminalrecht in seinem letzten Grunde auf der religioesen Idee der Suehnung.
Weitere Leistungen aber als dergleichen Foerderungen buergerlicher Ordnung
und Sittlichkeit hat die Religion in Latium auch nicht verrichtet. Unsaeglich
viel hat hier Hellas vor Latium voraus gehabt - dankt es doch seiner Religion
nicht bloss seine ganze geistige Entwicklung, sondern auch seine nationale
Einigung, soweit sie ueberhaupt erreicht ward; um Goetterorakel und
Goetterfeste, um Delphi und Olympia, um die Toechter des Glaubens, die Musen,
bewegt sich alles, was im hellenischen Leben gross, und alles, was darin
nationales Gemeingut ist. Und dennoch knuepfen eben hier auch Latiums Vorzuege
vor Hellas an. Die latinische Religion, herabgedrueckt wie sie ist auf das Mass
der gewoehnlichen Anschauung, ist jedem vollkommen verstaendlich und allen
insgemein zugaenglich; und darum bewahrte die roemische Gemeinde ihre
buergerliche Gleichheit, waehrend Hellas, wo die Religion auf der Hoehe des
Denkens der Besten stand, von fruehester Zeit an unter allem Segen und Unsegen
der Geistesaristokratie gestanden hat. Auch die latinische Religion ist wie jede
andere urspruenglich hervorgegangen aus der unendlichen Glaubensvertiefung; nur
der oberflaechlichen Betrachtung, die ueber die Tiefe des Stromes sich taeuscht,
weil er klar ist, kann ihre durchsichtige Geisterwelt flach erscheinen. Dieser
innige Glaube verschwindet freilich im Laufe der Zeiten so notwendig wie der
Morgentau vor der hoeher steigenden Sonne und auch die latinische Religion ist
also spaeterhin verdorrt; aber laenger als die meisten Voelker haben die Latiner
die naive Glaeubigkeit sich bewahrt, und vor allem laenger als die Griechen. Wie
die Farben die Wirkungen, aber auch die Truebungen des Lichtes sind, so sind
Kunst und Wissenschaft nicht bloss die Geschoepfe, sondern auch die Zerstoerer
des Glaubens; und so sehr in dieser zugleich Entwicklung und Vernichtung die
Notwendigkeit waltet, so sind doch durch das gleiche Naturgesetz auch der naiven
Epoche gewisse Erfolge vorbehalten, die man spaeter vergeblich sich bemueht zu
erringen. Eben die gewaltige geistige Entwicklung der Hellenen, welche jene
immer unvollkommene religioese und literarische Einheit erschuf, machte es ihnen
unmoeglich, zu der echten politischen Einigung zu gelangen; sie buessten damit
die Einfalt, die Lenksamkeit, die Hingebung, die Verschmelzbarkeit ein, welche


 


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