Römische Geschichte Book 4
by
Theodor Mommsen

Part 9 out of 9

Beispiel die Entwicklung der Begriffe der boeswilligen und der fahrlaessigen
Verschuldung, des vorlaeufig schutzberechtigten Besitzes, war zur Zeit der
Zwoelf Tafeln noch nicht, wohl aber in der ciceronischen Zeit vorhanden und mag
der gegenwaertigen Epoche ihre wesentliche Ausbildung verdanken. Die
Rueckwirkung der politischen Verhaeltnisse auf die Rechtsentwicklung ist schon
mehrfach angedeutet worden; sie war nicht immer vorteilhaft. Durch die
Einrichtung des Erbschaftsgerichtshofs der Hundertmaenner zum Beispiel trat auch
in dem Vermoegensrecht ein Geschworenenkollegium auf, das gleich den
Kriminalbehoerden, statt das Gesetz einfach anzuwenden, sich ueber dasselbe
stellte und mit der sogenannten Billigkeit die rechtlichen Institutionen
untergrub; wovon unter anderm eine Folge die unvernuenftige Satzung war, dass es
jedem, den ein Verwandter im Testament uebergangen hat, freisteht, auf
Kassierung des Testaments vor dem Gerichtshof anzutragen, und das Gericht nach
Ermessen entscheidet. Bestimmter laesst die Entwicklung der juristischen
Literatur sich erkennen. Sie hatte bisher auf Formulariensammlungen und
Worterklaerungen zu den Gesetzen sich beschraenkt; in dieser Periode bildete
sich zunaechst eine Gutachtenliteratur, die ungefaehr unseren heutigen
Praejudikatensammlungen entspricht. Die Gutachten, die laengst nicht mehr bloss
von Mitgliedern des Pontifikalkollegiums, sondern von jedem, der Befrager fand,
zu Hause oder auf offenem Markt erteilt wurden, und an die schon rationelle und
polemische Eroerterungen und die der Rechtswissenschaft eigentuemlichen
stehenden Kontroversen sich anknuepften, fingen um den Anfang des siebenten
Jahrhunderts an, aufgezeichnet und in Sammlungen bekannt gemacht zu werden; es
geschah dies zuerst von dem juengeren Cato (+ um 600 150) und von Marcus Brutus
(etwa gleichzeitig), und schon diese Sammlungen waren, wie es scheint, nach
Materien geordnet 24. Bald schritt man fort zu einer eigentlich systematischen
Darstellung des Landrechts. Ihr Begruender war der Oberpontifex Quintus Mucius
Scaevola (Konsul 659, + 672 95, 82), in dessen Familie die Rechtswissenschaft
wie das hoechste Priestertum erblich war. Seine achtzehn Buecher 'vom Landrecht,
welche das positive juristische Material: die gesetzlichen Bestimmungen, die
Praejudikate und die Autoritaeten teils aus den aelteren Sammlungen, teils aus
der muendlichen Ueberlieferung in moeglichster Vollstaendigkeit zusammenfassten,
sind der Ausgangspunkt und das Muster der ausfuehrlichen roemischen
Rechtssysteme geworden; ebenso wurde seine resuemierende Schrift 'Definitionen'
(oros) die Grundlage der juristischen Kompendien und namentlich der
Regelbuecher. Obwohl diese Rechtsentwicklung natuerlich im wesentlichen von dem
Hellenismus unabhaengig vor sich ging, so hat doch die Bekanntschaft mit dem
philosophisch-praktischen Schematismus der Griechen im allgemeinen unzweifelhaft
auch zu der mehr systematischen Behandlung der Rechtswissenschaft den Anstoss
gegeben, wie denn der griechische Einfluss bei der zuletzt genannten Schrift
schon im Titel hervortritt. Dass in einzelnen mehr aeusserlichen Dingen die
roemische Jurisprudenz durch die Stoa bestimmt ward, ward schon bemerkt.
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24 Catos Buch fuehrte wohl den Titel 'De iuris disciplina' (Gell. 13, 20),
das des Brutus den 'De iure civili' (Cic. Cluent. 51, 141; De orat. 2, 55, 223);
dass es wesentlich Gutachtensammlungen waren, zeigt Cicero (De orat. 2, 33,
142).
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Die Kunst weist noch weniger erfreuliche Erscheinungen auf. In der
Architektur, Skulptur und Malerei breitete zwar das dilettantische Wohlgefallen
immer allgemeiner sich aus, aber die eigene Uebung ging eher rueck- als
vorwaerts. Immer gewoehnlicher ward es bei dem Aufenthalt in griechischen
Gegenden, die Kunstwerke sich zu betrachten, wofuer namentlich die
Winterquartiere der Sullanischen Armee in Kleinasien 670/71 (84/83)
epochemachend wurden. Die Kunstkennerschaft entwickelte sich auch in Italien.
Mit silbernem und bronzenem Geraet hatte man angefangen; um den Anfang dieser
Epoche begann man nicht bloss griechische Bildsaeulen, sondern auch griechische
Gemaelde zu schaetzen. Das erste im Rom oeffentlich aufgestellte Bild war der
Bakchos des Aristeides, den Lucius Mummius aus der Versteigerung der
korinthischen Beute zuruecknahm, weil Koenig Attalos bis zu 6000 Denaren (1827
Taler) darauf bot. Die Bauten wurden glaenzender, und namentlich kam der
ueberseeische, besonders der hymettische Marmor (Cipollin) dabei in Gebrauch -
die italischen Marmorbrueche waren noch nicht in Betrieb. Der prachtvolle, noch
in der Kaiserzeit bewunderte Saeulengang, den der Besieger Makedoniens, Quintus
Metellus (Konsul 611 143), auf dem Marsfelde anlegte, schloss den ersten
Marmortempel ein, den die Hauptstadt sah; bald folgten aehnliche Anlagen auf dem
Kapitol durch Scipio Nasica (Konsul 616 138), nahe dem Rennplatz durch Gnaeus
Octavius (Konsul 626 128). Das erste mit Marmorsaeulen geschmueckte Privathaus
war das des Redners Lucius Crassus (+ 663 91) auf dem Palatin. Aber wo man
pluendern und kaufen konnte, statt selber zu schaffen, da geschah es; es ist ein
schlimmes Armutszeugnis fuer die roemische Architektur, dass sie schon anfing,
die Saeulen der alten griechischen Tempel zu verwenden, wie zum Beispiel das
roemische Kapitol durch Sulla mit denen des Zeustempels in Athen geschmueckt
ward. Was dennoch in Rom gearbeitet ward, ging aus den Haenden von Fremden
hervor; die wenigen roemischen Kuenstler dieser Zeit, die namentlich erwaehnt
werden, sind ohne Ausnahme eingewanderte italische oder ueberseeische Griechen:
so der Architekt Hermodoros aus dem kyprischen Salamis, der unter anderm die
roemischen Docks wiederherstellte und fuer Quintus Metellus (Konsul 611 143) den
Tempel des Jupiter Stator in der von diesem angelegten Halle, fuer Decimus
Brutus (Konsul 616 138) den Marstempel im Flaminischen Circus baute; der
Bildhauer Pasiteles (um 665 89) aus Grossgriechenland, der fuer roemische Tempel
Goetterbilder aus Elfenbein lieferte; der Maler und Philosoph Metrodoros von
Athen, der verschrieben ward, um die Bilder fuer den Triumph des Lucius Paullus
(587 168) zu malen. Es ist bezeichnend, dass die Muenzen dieser Epoche im
Vergleich mit denen der vorigen zwar eine groessere Mannigfaltigkeit der Typen,
aber im Stempelschnitt eher einen Rueck- als einen Fortschritt zeigen.
Endlich Musik und Tanz siedelten in gleicher Weise von Hellas ueber nach
Rom, einzig, um daselbst zur Erhoehung des dekorativen Luxus verwandt zu werden.
Solche fremdlaendischen Kuenste waren allerdings nicht neu in Rom; der Staat
hatte seit alter Zeit bei seinen Festen etruskische Floetenblaeser und Taenzer
auftreten lassen und die Freigelassenen und die niedrigste Klasse des roemischen
Volkes auch bisher schon mit diesem Gewerbe sich abgegeben. Aber neu war es,
dass griechische Taenze und musikalische Auffuehrungen die stehende Begleitung
einer vornehmen Tafel wurden; neu war eine Tanzschule, wie Scipio Aemilianus in
einer seiner Reden sie voll Unwillen schildert, in der ueber fuenfhundert Knaben
und Maedchen, die Hefe des Volkes und Kinder von Maennern in Amt und Wuerden
durcheinander, von einem Ballettmeister Anweisung erhielten, zu wenig ehrbaren
Kastagnettentaenzen, zu entsprechenden Gesaengen und zum Gebrauch der verrufenen
griechischen Saiteninstrumente. Neu war es auch - nicht so sehr, dass ein
Konsular und Oberpontifex, wie Publius Scaevola (Konsul 621 133), auf dem
Spielplatz ebenso bebend die Baelle fing, wie er daheim die verwickeltsten
Rechtsfragen loeste, als dass vornehme junge Roemer bei den Festspielen Sullas
vor allem Volke ihre Jockeykuenste produzierten. Die Regierung versuchte wohl
einmal, diesem Treiben Einhalt zu tun; wie denn zum Beispiel im Jahre 639 (115)
alle musikalischen Instrumente mit Ausnahme der in Latium einheimischen
einfachen Floete von den Zensoren untersagt wurden. Aber Rom war kein Sparta;
das schlaffe Regiment signalisierte mehr die Uebelstaende durch solche Verbote,
als dass es durch scharfe und folgerichtige Anwendung ihnen abzuhelfen auch nur
versucht haette.
Werfen wir schliesslich einen Blick zurueck auf das Gesamtbild, das die
Literatur und die Kunst Italiens von dem Tode des Ennius bis auf den Anfang der
ciceronischen Zeit vor uns entfaltet, so begegnen wir auch hier in Vergleich mit
der vorhergehenden Epoche dem entschiedensten Sinken der Produktivitaet. Die
hoeheren Gattungen der Literatur sind abgestorben oder im Verkuemmern, so das
Epos, das Trauerspiel, die Geschichte. Was gedeiht, sind die untergeordneten
Arten, die Uebersetzung und die Nachbildung des Intrigenstuecks, die Posse, die
poetische und prosaische Broschuere; in diesem letzten, von der vollen
Windsbraut der Revolution durchrasten Gebiet der Literatur begegnen wir den
beiden groessten literarischen Talenten dieser Epoche, dem Gaius Gracchus und
dem Gaius Lucilius, die beide ueber eine Menge mehr oder minder mittelmaessiger
Schriftsteller emporragen, wie in einer aehnlichen Epoche der franzoesischen
Literatur ueber eine Unzahl anspruchsvoller Nullitaeten Courier und Beranger.
Ebenso ist in den bildenden und zeichnenden Kuensten die immer schwache
Produktivitaet jetzt voellig null. Dagegen gedeiht der rezeptive Kunst- und
Literaturgenuss; wie die Epigonen dieser Zeit auf dem politischen Gebiet die
ihren Vaetern angefallenen Erbschaften einziehen und ausnutzen, so finden wir
sie auch hier als fleissige Schauspielbesucher, als Literaturfreunde, als
Kunstkenner und mehr noch als Sammler. Die achtungswerteste Seite dieser
Taetigkeit ist die gelehrte Forschung, die vor allem in der Rechtswissenschaft
und in der Sprach- und Sachphilologie eigene geistige Anstrengung offenbart. Mit
der Begruendung dieser Wissenschaften, welche recht eigentlich in die
gegenwaertige Epoche faellt, und zugleich mit den ersten geringen Anfaengen der
Nachdichtung der alexandrinischen Treibhauspoesie kuendigt bereits die Epoche
des roemischen Alexandrinismus sich an. Alles, was diese Epoche geschaffen hat,
ist glatter, fehlerfreier, systematischer als die Schoepfungen des sechsten
Jahrhunderts; nicht ganz mit Unrecht sahen die Literaten und Literaturfreunde
dieser Zeit auf ihre Vorgaenger wie auf stuemperhafte Anfaenger herab. Aber wenn
sie die Mangelhaftigkeit jener Anfaengerarbeiten belaechelten oder beschalten,
so mochten doch auch eben die geistreichsten von ihnen sich es gestehen, dass
die Jugendzeit der Nation vorueber war, und vielleicht diesen oder jenen doch
wieder im stillen Grunde des Herzens die Sehnsucht beschleichen, den lieblichen
Irrtum der Jugend abermals zu irren.






 


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