Römische Geschichte Book 8
by
Theodor Mommsen

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der Einverleibung weniger schwer empfand, weil sie selbst dieselbe
herbeigefuehrt hatte. Auch soll nicht behauptet werden, dass die Einziehung des
Landes fuer die Bewohner ohne Bedrueckung abging und dass sie keinen Grund
hatten, sich zu beschweren; diese Einrichtungen sind nirgends ohne
Schwierigkeiten und Ruhestoerungen durchgefuehrt worden. Ebenso wird die Anzahl
der Unrechtfertigkeiten und Gewalttaetigkeiten, welche einzelne Statthalter
begingen, in Judaea nicht geringer gewesen sein als anderswo. Schon im Anfang
der Regierung des Tiberius klagten die Juden wie die Syrer ueber Steuerdruck;
insbesondere der langjaehrigen Verwaltung des Pontius Pilatus werden von einem
nicht unbilligen Beurteiler alle ueblichen Beamtenfrevel zur Last gelegt. Aber
Tiberius hat, wie derselbe Jude sagt, in den dreiundzwanzig Jahren seiner
Regierung die althergebrachten heiligen Gebraeuche aufrecht gehalten und in
keinem Teil sie beseitigt oder verletzt. Es ist dies um so mehr anzuerkennen,
als derselbe Kaiser im Okzident so nachdruecklich wie kein anderer gegen die
Juden einschritt und also die in Judaea von ihm bewiesene Langmut und
Zurueckhaltung nicht auf persoenliche Beguenstigung des Judentums
zurueckgefuehrt werden kann.
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^14 An der Marmorschranke (dr?phaktos), welche den inneren Tempelraum
abgrenzte, standen deswegen Warnungstafeln in lateinischer und griechischer
Sprache (Ios. bel. Iud. 5, 5, 2; 6, 2, 4; ant. Iud. 15, 11, 5). Eine der
letzteren, die kuerzlich wiedergefunden ist (Revue archeologique 23, 1872, S.
220) und jetzt in dem oeffentlichen Museum von Konstantinopel sich befindet,
lautet: m/e/th? ena allogen/e/ eispore?esthai entos to? peri to ieron tryphaktoy
kai periboloy. os d'an l/e/phd/e/, eayt/o/ aitios estai dia to exakoloythein
thanaton. Das Iota im Dativ ist vorhanden, die Schrift gut und passend fuer
fruehe Kaiserzeit. Diese Tafeln sind schwerlich von den juedischen Koenigen
gesetzt, die kaum einen lateinischen Text hinzugefuegt haben wuerden und auch
keine Ursache hatten, mit dieser sonderbaren Anonymitaet den Tod in Aussicht zu
stellen. Wenn sie von der roemischen Regierung aufgestellt wurden, erklaert sich
beides; auch sagt Titus bei Ios. bel. Iud. 6, 2, 4 in einer Ansprache an die
Juden: oych /e/meis to?s yperbantas ymin anairein epetrepsamen, kan R/o/maios
tis /e/; - Traegt die Tafel wirklich Spuren von Axthieben, so stammen diese von
den Soldaten des Titus.
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Trotz allem dem entwickelten sich gegen die roemische Regierung die
prinzipielle Opposition wie die gewaltsame Selbsthilfe der Glaeubigen beide
schon in dieser Zeit des Friedens. Die Steuerzahlung ward nicht etwa bloss, weil
sie drueckte, sondern als gottlos angefochten. "Ist es erlaubt", fragt der Rabbi
im Evangelium, "dem Caesar den Zensus zu zahlen?" Die ironische Antwort, die er
empfing, genuegte doch nicht allen; es gab Heilige, wenn auch wohl nicht in
grosser Zahl, welche sich verunreinigt meinten, wenn sie eine Muenze mit dem
Kaiserbild anruehrten. Dies war etwas Neues, ein Fortschritt der
Oppositionstheologie; die Koenige Seleukos und Antiochos waren doch auch nicht
beschnitten gewesen und hatten ebenfalls Tribut empfangen in Silberstuecken
ihres Bildnisses. Also war die Theorie; die praktische Anwendung davon machte
allerdings nicht der hohe Rat von Jerusalem, in welchem unter dem Einfluss der
Reichsregierung die gefuegigeren Vornehmen des Landes stimmfuehrend waren, aber
Judas der Galilaeer aus Gamala am See von Genezareth, welcher, wie Gamaliel
diesem hohen Rat spaeter in Erinnerung brachte, "in den Tagen der Schatzung
aufstand, und hinter ihm erhob sich das Volk zum Abfall". Er sprach es aus, was
alle dachten, dass die sogenannte Schatzung die Knechtschaft und es eine Schande
sei fuer den Juden, einen anderen Herrn ueber sich zu erkennen als den Herrn
Zebaoth; dieser aber helfe nur denen, die sich selber huelfen. Wenn nicht viele
seinem Ruf zu den Waffen folgten, und er nach wenigen Monaten auf dem
Blutgeruest endigte, so war der heilige Tote den unheiligen Siegern
gefaehrlicher als der Lebende. Er und die Seinigen gelten den spaeteren Juden
neben den Sadduzaeern, Pharisaeern und Essaeern als die vierte "Schule"; damals
hiessen sie die Eiferer, spaeter nennen sie sich die Sicarier, die
Messermaenner. Ihre Lehre ist einfach: Gott allein ist Herr, der Tod
gleichgueltig, die Freiheit eines und alles. Diese Lehre blieb, und des Judas
Kinder und Enkel wurden die Fuehrer der spaeteren Insurrektionen.
Wenn die roemische Regierung der Aufgabe, diese explosiven Elemente nach
Moeglichkeit niederzuhalten, unter den ersten beiden Regenten im ganzen genommen
geschickt und geduldig genuegt hatte, so fuehrte der zweite Thronwechsel hart an
die Katastrophe. Derselbe ward wie im ganzen Reich, so auch von den Juden in
Jerusalem wie in Alexandreia mit Jubel begruesst und nach dem menschenscheuen
und unbeliebten Greise der neue jugendliche Herrscher Gaius dort wie hier in
ueberschwenglicher Weise gefeiert. Aber rasch entwickelte sich aus
nichtswuerdigen Anlaessen ein furchtbares Zerwuerfnis. Ein Enkel des ersten
Herodes und der schoenen Mariamne, nach dem Beschuetzer und Freunde seines
Grossvaters Herodes Agrippa genannt, unter den zahlreichen in Rom lebenden
orientalischen Fuerstensoehnen ungefaehr der geringfuegigste und
heruntergekommenste, aber dennoch oder eben darum der Guenstling und der
Jugendfreund des neuen Kaisers, bis dahin lediglich bekannt durch seine
Liederlichkeit und seine Schulden, hatte von seinem Beschuetzer, dem er zuerst
die Nachricht von dem Tode des Tiberius hatte ueberbringen koennen, eines der
vakanten juedischen Kleinfuerstentuemer zum Geschenk und dazu den Koenigstitel
erhalten. Dieser kam im Jahre 38 auf der Reise in sein neues Reich nach der
Stadt Alexandreia, wo er wenige Monate vorher als ausgerissener Wechselschuldner
versucht hatte, bei den juedischen Bankiers zu borgen. Als er im Koenigsgewand
mit seinen praechtig staffierten Trabanten sich dort oeffentlich zeigte, regte
dies begreiflicherweise die nichtjuedische und den Juden nichts weniger als
wohlwollende Bewohnerschaft der grossen spott- und skandallustigen Stadt zu
einer entsprechenden Parodie an, und bei dieser blieb es nicht. Es kam zu einer
grimmigen Judenhetze. Die zerstreut liegenden Judenhaeuser wurden ausgeraubt und
verbrannt, die im Hafen liegenden juedischen Schiffe gepluendert, die in den
nicht juedischen Quartieren betroffenen Juden misshandelt und erschlagen. Aber
gegen die rein juedischen Quartiere vermochte man mit Gewalt nichts
auszurichten. Da gerieten die Fuehrer auf den Einfall, die Synagogen, auf die es
vor allem abgesehen war, soweit sie noch standen, saemtlich zu Tempeln des neuen
Herrschers zu weihen und Bildsaeulen desselben in allen, in der Hauptsynagoge
eine solche auf einem Viergespann, aufzustellen. Dass Kaiser Gaius so ernsthaft,
wie sein verwirrter Geist es vermochte, sich fuer einen wirklichen und
leibhaftigen Gott hielt, wusste alle Welt, und die Juden und der Statthalter
auch. Dieser, Avillius Flaccus, ein tuechtiger Mann und unter Tiberius ein
vortrefflicher Verwalter, aber jetzt gelaehmt durch die Ungnade, in welcher er
bei dem neuen Kaiser stand und jeden Augenblick der Abberufung und der Anklage
gewaertig, verschmaehte es nicht, die Gelegenheit zu seiner Rehabilitierung zu
benutzen ^15. Er befahl nicht bloss durch Edikt, der Aufstellung der Statuen in
den Synagogen kein Hindernis in den Weg zu legen, sondern er ging geradezu auf
die Judenhetze ein. Er verordnete die Abschaffung des Sabbaths. Er erklaerte
weiter in seinen Erlassen, dass diese geduldeten Fremden sich unerlaubter Weise
des besten Teils der Stadt bemaechtigt haetten; sie wurden auf ein einziges der
fuenf Quartiere beschraenkt und alle uebrigen Judenhaeuser dem Poebel
preisgegeben, waehrend die ausgetriebenen Bewohner massenweise obdachlos am
Strande lagen. Kein Widerspruch wurde auch nur angehoert; achtunddreissig
Mitglieder des Rats der Aeltesten, welcher damals anstatt des Ethnarchen der
Judenschaft vorstand ^16, wurden im offenen Circus vor allem Volke gestaeupt.
Vierhundert Haeuser lagen in Truemmern; Handel und Wandel stockte; die Fabriken
standen still. Es blieb keine Hilfe als bei dem Kaiser. Vor ihm erschienen die
beiden alexandrinischen Deputationen, die der Juden gefuehrt von dem frueher
erwaehnten Philon, einem Gelehrten der neujuedischen Richtung und mehr
sanftmuetigen als tapferen Herzens, der aber doch fuer die Seinen in dieser
Bedraengnis getreulich eintrat; die der Judenfeinde gefuehrt von Apion, auch
einem alexandrinischen Gelehrten und Schriftsteller, der "Weltschelle", wie
Kaiser Tiberius ihn nannte, voll grosser Worte und noch groesserer Luegen, von
dreistester Allwissenheit ^17 und unbedingtem Glauben an sich selbst, wenn nicht
der Menschen, doch ihrer Nichtswuerdigkeit kundig, ein gefeierter Meister der
Rede wie der Volksverfuehrung, schlagfertig, witzig, unverschaemt und unbedingt
loyal. Das Ergebnis der Verhandlung stand von vornherein fest; der Kaiser liess
die Parteien vor, waehrend er die Anlagen in seinen Gaerten besichtigte, aber
statt den Flehenden Gehoer zu geben, legte er ihnen spoettische Fragen vor, die
die Judenfeinde, aller Etikette zum Trotz, mit lautem Gelaechter begleiteten,
und da er bei guter Laune war, beschraenkte er sich darauf, sein Bedauern
auszusprechen, dass diese im uebrigen guten Leute so ungluecklich organisiert
seien, seine angeborene Gottesnatur nicht begreifen zu koennen, womit es ihm
ohne Zweifel ernst war. Apion also bekam Recht, und ueberall, wo es den
Judenfeinden beliebte, wandelten die Synagogen sich um in Tempel des Gaius.
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^15 Der besondere Hass des Gaius gegen die Juden (Philo leg. 20) ist nicht
die Ursache, sondern die Folge der alexandrinischen Judenhetze gewesen. Da also
auch das Einverstaendnis der Fuehrer der Judenhetze mit dem Statthalter (Philo
in Flacc. 4) so, wie die Juden meinten, nicht bestanden haben kann, weil der
Statthalter nicht fueglich glauben konnte, durch Preisgebung der Juden sich dem
neuen Kaiser zu empfehlen, so entsteht allerdings die Frage, warum die Fuehrer
der Judenfeinde eben diesen Moment fuer die Judenhetze waehlten und vor allem,
warum der Statthalter, dessen Trefflichkeit Philo so nachdruecklich anerkennt,
dieselbe zuliess und wenigstens in ihrem weiteren Verlauf sich an ihr
beteiligte. Wahrscheinlich sind die Dinge so hergegangen, wie sie oben erzaehlt
sind: der Judenhass und Judenneid gaerten seit langem in Alexandreia (Ios. bel.
Iud. 2, 18, 9; Philo leg. 18); der Wegfall des alten strengen Regiments und die
augenscheinliche Ungnade, in welcher der Praefekt bei Gaius stand, gaben Raum
fuer den Krawall; die Ankunft Agrippas gab den Anlass; die geschickte
Verwandlung der Synagogen in Tempel des Gaius stempelte die Juden zu
Kaiserfeinden, und nachdem dies geschehen war, wird Flaccus allerdings die
Verfolgung aufgegriffen haben, um sich dadurch bei dem Kaiser zu rehabilitieren.
^16 Als Strabon in Aegypten war in der frueheren augusteischen Zeit,
standen die Juden in Alexandreia unter einem Ethnarchen (geogr. 17, 1, 13 p. 798
und bei Ios. ant. Iud. 14, 7, 2). Als dann unter Augustus der Ethnarchos oder
Genarchos, wie er auch heisst, starb, trat an seine Stelle ein Rat der Aeltesten
(Philo leg. 10); doch "untersagte Augustus", wie Claudius angibt (Ios. ant. Iud.
19, S, 2), "den Juden nicht die Bestellung von Ethnarchen", was wohl heissen
soll, dass die Wahl eines Einzelvorstehers nur fuer diesmal unterlassen, nicht
ein fuer allemal abgeschafft ward. Unter Gaius gab es offenbar nur Aelteste der
Judenschaft; und auch unter Vespasian begegnen diese (Ios. bel. Iud. 7, 10, 1).
Ein Archon der Juden in Antiocheia wird genannt bei Ios. bel. Iud. 7, 3, 3.
^17 Apion redete und schrieb ueber alles und jedes, ueber die Metalle und
die roemischen Buchstaben, ueber die Magie und von den Hetaeren, ueber
aegyptische Urgeschichte und Apicius' Kochrezepte, vor allem aber machte er
Glueck mit seinen Vortraegen ueber Homer, die ihm das Ehrenbuergerrecht in
zahlreichen griechischen Staedten erwarben. Er hatte entdeckt, dass Homeros
darum mit dem unpassenden Worte m/e/nis seine Ilias begonnen habe, weil die
ersten beiden Buchstaben als Ziffern die Buecherzahl der beiden von ihm zu
schreibenden Epen darstellen; er nannte den Gastfreund in Ithaka, bei dem er das
Brettspiel der Freier erkundet habe; ja er hatte Homeros selbst aus der
Unterwelt beschworen, um ihn um seine Heimat zu befragen, derselbe sei auch
gekommen und habe sie ihm gesagt, aber ihn verpflichtet, sie anderen nicht zu
verraten.
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Aber es blieb nicht bei diesen durch die alexandrinische Strassenjugend
eingeleiteten Dedikationen. Im Jahre 39 bekam der Statthalter von Syrien,
Publius Petronius, vom Kaiser den Befehl, mit seinen Legionen in Jerusalem
einzuruecken und in dem Tempel die Bildsaeule des Kaisers aufzurichten. Der
Statthalter, ein ehrbarer Beamter aus der Schule des Tiberius, erschrak; die
Juden aus dem ganzen Lande, Maenner und Frauen, Greise und Kinder, stroemten zu
ihm, erst nach Ptolemais in Syrien, dann nach Tiberias in Galilaea, ihn um seine
Vermittlung anzuflehen, dass das Entsetzliche unterbleiben moege; die Aecker im
ganzen Lande wurden nicht bestellt, und die verzweifelten Massen erklaerten,
lieber den Tod durch das Schwert oder den Hunger dulden, als diesen Greuel mit
Augen sehen zu wollen. In der Tat wagte der Statthalter die Ausfuehrung zu
verzoegern und Gegenvorstellungen zu machen, obwohl er wusste, dass es dabei um
seinen Kopf ging. Zugleich ging jener Koenig Agrippa persoenlich nach Rom, um
von seinem Freunde die Ruecknahme des Befehls zu erwirken. In der Tat stand der
Kaiser von seinem Begehren ab, man sagt infolge einer von dem juedischen
Fuersten geschickt benutzten Weinlaune. Aber er beschraenkte zugleich die
Konzession auf den einzigen Tempel von Jerusalem und sandte nichtsdestoweniger
dem Statthalter wegen seines Ungehorsams das Todesurteil zu, das allerdings,
zufaellig verspaetet, nicht mehr zur Ausfuehrung kam. Gaius war entschlossen,
die Renitenz der Juden zu brechen; das angeordnete Einruecken der Legionen
zeigt, dass er diesmal die Folgen seines Befehls im Voraus erwogen hatte. Seit
jenen Vorgaengen hatten die bereitwillig gottglaeubigen Aegypter seine volle
Liebe, so wie die stoerrigen und einfaeltigen Juden den entsprechenden Hass;
hinterhaeltig wie er war und gewohnt zu begnadigen, um spaeter zu widerrufen,
musste das Aergste nur verschoben erscheinen. Er war im Begriff, nach
Alexandreia abzugehen, um dort persoenlich den Weihrauch seiner Altaere
entgegenzunehmen, und an der Statue, die er in Jerusalem sich aufzustellen
gedachte, wurde, so sagt man, in aller Stille gearbeitet, als im Januar 41 der
Dolch des Chaerea unter anderem auch den Tempel des Jehova von dem Unhold
befreite.
Aeussere Folgen hinterliess die kurze Leidenszeit nicht; mit dem Gott
sanken seine Altaere. Aber dennoch sind die Spuren davon nach beiden Seiten hin
geblieben. Die Geschichte, die hier erzaehlt wird, ist die des steigenden Hasses
zwischen Juden und Nichtjuden, und darin bezeichnet die dreijaehrige
Judenverfolgung unter Gaius einen Abschnitt und einen Fortschritt. Der Judenhass
und die Judenhetzen sind so alt wie die Diaspora selbst; diese privilegierten
und autonomen orientalischen Gemeinden innerhalb der hellenischen mussten sie so
notwendig entwickeln wie der Sumpf die boese Luft. Aber eine Judenhetze wie die
alexandrinische des Jahres 38, motiviert durch das mangelhafte Hellenentum und
dirigiert zugleich von der hoechsten Behoerde und dem niedrigen Poebel, hat die
aeltere griechische wie roemische Geschichte nicht aufzuweisen. Der weite Weg
vom boesen Wollen des Einzelnen zur boesen Tat der Gesamtheit war hiermit
durchschritten, und es war gezeigt, was die also Gesinnten zu wollen und zu tun
hatten und unter Umstaenden auch zu tun vermochten. Dass diese Offenbarung auch
auf juedischer Seite empfunden ward, ist nicht zu bezweifeln, obwohl wir dies
mit Dokumenten nicht zu belegen vermoegen ^18. Aber weit tiefer als die
alexandrinische Judenhetze haftete in den Gemuetern der Juden die Bildsaeule des
Gottes Gaius im Allerheiligsten. Es war das schon einmal dagewesen: auf das
gleiche Unterfangen des Koenigs von Syrien, Antiochos Epiphanes, war die
Makkabaeererhebung gefolgt und die siegreiche Wiederherstellung des freien
nationalen Staats. Jener Epiphanes, der Antimessias, welcher den Messias
herbeifuehrt, wie der Prophet Daniel ihn, allerdings nachtraeglich, gezeichnet
hatte, war seitdem jedem Juden das Urbild der Greuel; es war nicht
gleichgueltig, dass die gleiche Vorstellung mit gleichem Recht sich an einen
roemischen Kaiser knuepfte oder vielmehr an das Bild des roemischen Herrschers
ueberhaupt. Seit jenem verhaengnisvollen Erlass kam die Sorge nicht zur Ruhe,
dass ein anderer Kaiser das Gleiche befehlen koenne, und insofern allerdings mit
Recht, als nach der Ordnung des roemischen Staatswesens diese Verfuegung
lediglich von dem augenblicklichen Gutfinden des augenblicklich Regierenden
abhing. Mit gluehenden Farben zeichnet sich dieser juedische Hass des
Kaiserkultus und des Kaisertums selbst in der Apokalypse Johannis, fuer die
hauptsaechlich deswegen Rom das feile Weib von Babylon und der gemeine Feind der
Menschheit ist ^19. Noch minder gleichgueltig war die naheliegende Parallele der
Konsequenzen. Mattathias von Modein war auch nicht mehr gewesen als Judas der
Galilaeer, die Erhebung der Patrioten gegen den Syrerkoenig ungefaehr ebenso
hoffnungslos wie die Insurrektion gegen das Untier jenseits des Meeres.
Historische Parallelen in praktischer Anwendung sind gefaehrliche Elemente der
Opposition; nur zu rasch geriet der Bau langjaehriger Regierungsweisheit ins
Schwanken.
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^18 Die Schriften Philons, welche diese ganze Katastrophe uns mit
unvergleichlicher Aktualitaet vorfuehren, schlagen diesen Ton nirgends an; aber
auch abgesehen davon, dass dieser reiche und bejahrte Mann mehr ein guter Mensch
als ein guter Hasser war, versteht es sich von selbst, dass diese Konsequenzen
der Vorgaenge von juedischer Seite nicht oeffentlich dargelegt wurden. Was die
Juden dachten und fuehlten, wird man nicht nach dem beurteilen duerfen, was sie
namentlich in ihren griechisch geschriebenen Schriften zu sagen zweckmaessig
fanden. Wenn das Buch der Weisheit und das dritte Makkabaeerbuch in der Tat
gegen die alexandrinische Judenverfolgung gerichtet sind (Hausrath,
Neutestamentliche Zeitgeschichte. Bd. 2, S. 259 f.), was uebrigens nichts
weniger als gewiss ist, so sind sie womoeglich noch zahmer gehalten als die
Schriften Philons.
^19 Dies duerfte die richtige Auffassung der juedischen Vorstellungen sein,
in denen ueberhaupt die positiven Tatsachen regelmaessig ins Allgemeine
verfliessen. In den Erzaehlungen vom Antimessias und vom Antichrist finden sich
keine positiven Momente, die auf Kaiser Gaius passten; den Namen Armillus, den
der Targum jenem beilegt, darauf zurueckzufuehren, dass Kaiser Gaius zuweilen
Frauenarmbaender (armillae) trug (Suet. Gai. 52), kann ernsthaft nicht vertreten
werden. In der Johanneischen Apokalypse, der klassischen Offenbarung juedischen
Selbstgefuehls und Roemerhasses, knuepft sich das Bild des Antimessias vielmehr
an Nero, der sein Bild nicht ins Allerheiligste hat stellen lassen. Diese
Schrift gehoert bekanntlich einer Zeit und einer Richtung an, fuer die das
Christentum noch wesentlich eine juedische Sekte war; die Auserwaehlten und vom
Engel Gezeichneten sind alle Juden, je 12000 aus jedem der zwoelf Staemme, und
haben den Vortritt vor der "grossen Menge der sonstigen Gerechten", das heisst
der Judengenossen (Offbg. 7; vgl. 12, 1). Geschrieben ist sie erwiesenermassen
nach Neros Sturz, und als dessen Rueckkehr aus dem Orient erwartet wurde. Nun
trat freilich ein falscher Nero unmittelbar nach dem Tode des wirklichen auf und
wurde im Anfang des folgenden Jahres hingerichtet (Tac. hist. 2, 8. 9); aber an
diesen denkt Johannes nicht, da der recht genaue Bericht nicht, wie Johannes,
dabei der Parther erwaehnt, und fuer Johannes zwischen dem Sturze Neros und
seiner Rueckkehr ein betraechtlicher Zeitraum, auch die letztere noch in der
Zukunft liegt. Sein Nero ist derjenige, der unter Vespasian im Euphratgebiet
Anhang fand, den Koenig Artabanos unter Titus anerkannte und sich anschickte,
mit Heeresmacht in Rom wieder einzusetzen, und den endlich die Parther um das
Jahr 88 nach laengeren Verhandlungen an Domitian auslieferten. Auf diese
Vorgaenge passt die Apokalypse mit voelliger Genauigkeit. Andererseits kann in
einer Schrift dieses Schlages daraus, dass nach 11, 1, 2 nur der Vorhof, nicht
aber das Allerheiligste des Tempels von Jerusalem in die Gewalt der Heiden
gegeben ist, unmoeglich auf den damaligen Stand der Belagerung geschlossen
werden; hier ist im einzelnen alles Phantasmagorie und dies gewiss entweder
beliebig gegriffen oder, wenn man das vorzieht, angesponnen etwa an eine den
roemischen Soldaten, die nach der Zerstoerung in Jerusalem lagerten, gegebene
Order, das ehemalige Allerheiligste nicht zu betreten. Die Grundlage der
Apokalypse ist unbestritten die Zerstoerung des irdischen Jerusalem und die
dadurch erst gegebene Aussicht auf dessen dereinstige ideale Wiederherstellung;
unmoeglich laesst sich an die Stelle der erfolgten Schleifung der Stadt die
blosse Erwartung der Einnahme setzen. Wenn also es von den sieben Koepfen des
Drachen heisst: basileis epta eisin. oi pente epesan, o eis estin, o allos
o?p/o/ /e/lthen, kai otan elth/e/ oligon dei meinai (17, 10), so sind vermutlich
die fuenf Augustus, Tiberius, Gaius, Claudius, Nero, der sechste Vespasian, der
siebente unbestimmt; "das Tier, welches war und nicht ist, und selber der achte,
aber aus den sieben ist", ist natuerlich Nero. Der unbestimmte Siebente ist
ungeschickt, wie so vieles in dieser grandiosen, aber widerspruchsvollen und oft
sich uebel verwickelnden Phantasmagorie, ist aber hingesetzt, nicht, weil die
Siebenzahl gebraucht ward, die ja leicht durch Caesar zu gewinnen war, sondern
weil der Schreiber Bedenken trug, das kurze Regiment des letzten Herrschers und
dessen Sturz durch den rueckkehrenden Nero unmittelbar von dem regierenden
Kaiser auszusagen. Unmoeglich aber kann man, wie es nach anderen Renan tut, mit
Einrechnung Caesars in dem sechsten Kaiser, "welcher ist", Nero erkennen, der
gleich nachher bezeichnet wird als der, welcher "war und nicht ist", und in dem
siebenten, welcher "noch nicht gekommen ist und nicht lange herrschen wird",
sogar den nach Renans Ansicht zur Zeit herrschenden hochbejahrten Galba. Dass
dieser ueberhaupt so wenig, wie Otho und Vitellius, in eine solche Reihe
gehoert, leuchtet ein.
Aber wichtiger ist es, der gangbaren Auffassung entgegenzutreten, als
richte sich die Polemik gegen die Neronische Christenverfolgung und die
Belagerung oder die Zerstoerung Jerusalems, waehrend sie doch durchaus ihre
Spitze kehrt gegen das roemische Provinzialregiment ueberhaupt und insbesondere
den Kaiserkultus. Wenn von den sieben Kaisern Nero allein (mit seinem
Zahlenausdruck) genannt wird, so geschieht dies nicht, weil er der schlimmste
der sieben war, sondern weil die Nennung des regierenden Kaisers unter
Prophezeihung eines baldigen Endes seiner Regierung in einer publizierten
Schrift ihr Bedenkliches hatte und einige Ruecksicht gegen den einen "der ist"
sich auch fuer einen Propheten ziemt. Neros Name war preisgegeben, ueberdies die
Legende seiner Heilung und seiner Wiederkehr in aller Munde; dadurch ist er fuer
die Apokalypse der Repraesentant der roemischen Kaiserherrschaft und der
Antichrist geworden. Was das Untier des Meeres und sein Ebenbild und Werkzeug,
das Untier des Landes, verschulden, ist nicht die Vergewaltigung der Stadt
Jerusalem (11, 2), welche nicht als ihre Missetat erscheint, sondern vielmehr
als ein Stueck des Weltgerichts (wobei auch die Ruecksicht auf den regierenden
Kaiser im Spiel gewesen sein kann), sondern die goettliche Verehrung, welche die
Heiden dem Untier des Meeres zollen (13, 8: proskyn/e/soysin ayton pantes oi
katoiko?ntes epi t/e/s g/e/s) und welche das Untier des Landes - das darum auch
der Pseudoprophet heisst - fuer das des Meeres fordert und erzwingt (13, 12:
:poiei t/e/n g/e/n kai to?s kateyko?ntas en ayt/e/ ina proskyn/e/soysin to
th/e/rion to pr/o/ton, o? etherape?th/e/ /e/ pl/e/g/e/ t/e/s machair/e/s epi
t/e/s g/e/s); vor allem wird ihm vorgerueckt das Begehren, jenem ein Bild zu
machen (13, 14: leg/o/n tois katoiko?sin epi t/e/s g/e/s poi/e/sai ekonan t/o/
th/e/ri/o/ os echei t/e/n pl/e/g/e/n t/e/s machair/e/s kai ez/e/sen, vgl. 14, 9;
16, 2; 19, 20). Das ist deutlich teils das Kaiserregiment jenseits des Meeres,
teils die Statthalterschaft auf dem asiatischen Kontinent, nicht dieser oder
jener Provinz oder gar dieser oder jener Person, sondern die Kaiservertretung
ueberhaupt, wie die Provinzialen Asiens und Syriens sie kannten. Wenn Handel und
Wandel geknuepft erscheint an den Gebrauch des charagma des Untiers des Meeres
(13, 16, 17), so liegt der Abscheu gegen Bild und Schrift des Kaisergeldes
deutlich zugrunde, allerdings phantastisch umgestaltet, wie ja auch der Satanas
das Kaiserbildnis reden macht. Eben diese Statthalter erschienen nachher (17)
als die zehn Hoerner, welche dem Untier an seinem Abbild beigelegt werden, und
heissen hier ganz richtig die "zehn Koenige, welche die Koenigswuerde nicht
haben, aber Macht wie die Koenige"; mit der Zahl, die aus der Vision Daniels
uebernommen ist, darf man es freilich nicht genau nehmen. Bei den Blutgerichten,
die ueber die Gerechten ergangen sind, denkt Johannes an die regulaere Justiz
wegen verweigerter Anbetung des Kaiserbildes, wie die Briefe des Plinius sie
schildern (13, 15: poi/e/s/e/ ina osoi ean m/e/ proskyn/e/s/o/sin t/e/n eikona
to? th/e/rioy apoktanth/o/sin; vgl. 6, 9; 20, 4). Wenn hervorgehoben wird, dass
diese Blutgerichte besonders haeufig in Rom vollzogen wurden (17, 6; 18, 24), so
ist damit die Vollstreckung der Verurteilung zum Fecht- oder zum Tierkampf
gemeint, welche am Gerichtsort oft nicht stattfinden konnte und bekanntlich
vorzugsweise eben in Rom erfolgte (Mod. dig. 48, 19, 31); die Neronischen
Hinrichtungen wegen angeblicher Brandstiftung gehoeren formell nicht einmal zu
den Religionsprozessen, und nur Voreingenommenheit kann das in Rom vergossene
Maertyrerblut, von dem Johannes spricht, auf diese Vorgaenge ausschliesslich
oder vorzugsweise beziehen. Die gangbaren Vorstellungen von den sogenannten
Christenverfolgungen leiden unter der mangelhaften Anschauung der im Roemischen
Reich bestehenden Rechtsnorm und Rechtspraxis; in der Tat war die Verfolgung der
Christen stehend wie die der Raeuber, und kamen nur diese Bestimmungen bald
milder oder auch nachlaessiger, bald schaerfer zur Anwendung, wurden auch wohl
einmal von oben herab besonders eingeschaerft. Den "Krieg gegen die Heiligen"
haben erst die Spaeteren, denen Johannes' Worte nicht genuegten,
hineininterpoliert (13, 7). Die Apokalypse ist ein merkwuerdiges Zeugnis des
nationalen und religioesen Hasses der Juden gegen das okzidentalische Regiment;
aber man verschiebt und verflacht die Tatsachen, wenn man, wie dies namentlich
Renan tut, den Neronischen Schauerroman mit diesen Farben illustriert. Der
juedische Volkshass wartete, um zu entstehen, nicht auf die Eroberung von
Jerusalem und machte, wie billig, keinen Unterschied zwischen dem guten und dem
schlechten Caesar; sein Antimessias heisst wohl Nero, aber nicht minder
Vespasianus oder Marcus.
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Die Regierung des Claudius lenkte nach beiden Seiten hin in die Bahnen des
Tiberius ein. In Italien wiederholte sich zwar nicht gerade die Ausweisung der
Juden, da man von der Undurchfuehrbarkeit dieser Massregel sich ueberzeugen
musste, aber doch das Verbot der gemeinschaftlichen Ausuebung ihres Kultus ^20,
was freilich ungefaehr auf dasselbe hinaus und wohl ebensowenig zur
Durchfuehrung kam. Neben diesem Intoleranzedikt wurden im entgegengesetzten Sinn
durch eine das ganze Reich umfassende Verfuegung die Juden von denjenigen
oeffentlichen Verpflichtungen befreit, welche mit ihren religioesen
Ueberzeugungen sich nicht vertrugen, womit namentlich hinsichtlich des
Kriegsdienstes wohl nur nachgegeben ward, was auch bisher schon nicht hatte
erzwungen werden koennen. Die in diesem Erlass am Schluss ausgesprochene Mahnung
an die Juden, nun auch ihrerseits groessere Maessigung zu beobachten und sich
der Beschimpfung Andersglaeubiger zu enthalten, zeigt, dass es auch von
juedischer Seite an Ausschreitungen nicht gefehlt hatte. In Aegypten wie in
Palaestina wurden die religioesen Ordnungen wenigstens im ganzen so, wie sie vor
Gaius bestanden hatten, wiederum hergestellt, wenn auch in Alexandreia die Juden
schwerlich alles, was sie besessen hatten, zurueck erhielten ^21; die
aufstaendischen Bewegungen, die dort wie hier ausgebrochen oder doch im
Ausbrechen waren, verschwanden damit von selbst. In Palaestina ging Claudius
sogar ueber das System des Tiberius hinaus und ueberwies wieder das ganze
ehemalige Gebiet des Herodes einem einheimischen Fuersten, eben jenem Agrippa,
der zufaellig auch mit Claudius befreundet und bei den Krisen seines Antritts
ihm nuetzlich geworden war. Es war sicher Claudius' Absicht, das zur Zeit des
Herodes befolgte System wieder aufzunehmen und die Gefahren der unmittelbaren
Beruehrung zwischen Roemern und Juden zu beseitigen. Aber Agrippa, leichtlebig
und auch als Fuerst in steter Finanzbedraengnis, uebrigens gutmuetig und mehr
darauf bedacht, es seinen Untertanen als dem fernen Schutzherrn recht zu machen,
gab mehrfach bei der Regierung Anstoss, zum Beispiel durch die Verstaerkung der
Mauern von Jerusalem, deren Weiterfuehrung ihm untersagt ward; und die mit den
Roemern haltenden Staedte Caesarea und Sebaste sowie die roemisch organisierten
Truppen waren ihm abgeneigt. Als er frueh und ploetzlich im Jahre 44 starb,
erschien es bedenklich, die politisch wie militaerisch wichtige Stellung seinem
einzigen, siebzehnjaehrigen Sohn zu uebertragen, und die eintraeglichen
Prokurationen aus der Hand zu geben, entschlossen die Maechtigen des Kabinetts
sich auch nicht gern. Die Claudische Regierung hatte hier, wie anderswo, das
Richtige gefunden, aber nicht die Energie, dasselbe von Nebenruecksichten
absehend durchzufuehren. Ein juedischer Fuerst mit juedischen Soldaten konnte
das Regiment in Judaea fuer die Roemer handhaben; der roemische Beamte und die
roemischen Soldaten verletzten wahrscheinlich noch oefter durch Unkunde der
juedischen Anschauungen als durch absichtliches Zuwiderhandeln, und was sie
immer beginnen mochten, von ihnen war es den Glaeubigen ein Aergernis und der
gleichgueltigste Vorgang ein Religionsfrevel. Die Forderung, sich gegenseitig zu
verstehen und zu vertragen, war nach beiden Seiten hin ebenso gerechtfertigt an
sich wie die Ausfuehrung unmoeglich. Vor allen Dingen aber war ein Konflikt
zwischen dem juedischen Landesherrn und seinen Untertanen fuer das Reich
ziemlich indifferent; jeder Konflikt zwischen den Roemern und den Juden in
Jerusalem erweiterte den Abgrund, der sich zwischen den Voelkern des Okzidents
und den mit ihnen zusammenlebenden Hebraeern auftat; und nicht in den Haendeln
Palaestinas, sondern in der Unvertraeglichkeit der vom Schicksal nun doch einmal
zusammengekoppelten Reichsgenossen verschiedener Nationalitaet lag die Gefahr.
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^20 Dass Suetonius (Claud. 25) als Anstifter der bestaendigen Unruhen in
Rom, die diese Massregel (nach ihm die Ausweisung aus Rom; im Gegensatz zu Dio
60, 6) zunaechst hervorgerufen haetten, einen gewissen Chrestus nennt, ist
aufgefasst worden als Missverstaendnis der durch Christus unter Juden und
Judengenossen hervorgerufenen Bewegung, ohne zureichenden Grund. Die
Apostelgeschichte (18, 2) spricht nur von Ausweisung der Juden. Allerdings ist
es nicht zu bezweifeln dass bei der damaligen Stellung der Christen zum Judentum
auch sie unter das Edikt fielen.
^21 Wenigstens scheinen die Juden daselbst spaeter nur das vierte der fuenf
Stadtquartiere in Besitz gehabt zu haben (Ios. bel. Iud. 2, 18, 8). Auch wuerden
wohl, wenn die geschleiften 400 Haeuser ihnen in so eklatanter Weise wieder
zurueckgegeben worden waeren, die alle den Juden erwiesenen kaiserlichen
Beguenstigungen betonenden juedischen Schriftsteller Philon und Josephus
darueber nicht schweigen.
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So trieb das Schiff unaufhaltsam in den Strudel hinein. Bei dieser
unseligen Fahrt halfen alle Beteiligten, die roemische Regierung und ihre
Verwalter, die juedischen Behoerden und das juedische Volk. Die erstere bewies
freilich fortwaehrend den Willen, allen billigen und unbilligen Anspruechen der
Juden so weit wie moeglich entgegenzukommen. Als im Jahre 44 der Prokurator
wieder in Jerusalem eintraf, wurde die Ernennung des Hohenpriesters und die
Verwaltung des Tempelschatzes, die mit dem Koenigtum und insofern auch mit der
Prokuratur verbunden waren, ihm abgenommen und einem Bruder des verstorbenen
Koenigs Agrippa, dem Koenig Herodes von Chalkis, sowie nach dessen Tode im Jahre
48 seinem Nachfolger, dem schon genannten juengeren Agrippa, uebertragen. Einen
roemischen Soldaten, der bei der befohlenen Pluenderung eines juedischen Dorfes
eine Thorarolle zerrissen hatte, liess der roemische Oberbeamte auf die Klage
der Juden hin hinrichten. Selbst die hoeheren Beamten traf nach Umstaenden die
ganze Schwere der roemischen Kaiserjustiz; als zwei nebeneinander fungierende
Prokuratoren bei dem Hader der Samariter und der Galilaeer sich fuer und wider
beteiligt und ihre Soldaten gegeneinander gefochten hatten, wurde der
kaiserliche Statthalter von Syrien, Ummidius Quadratus, mit ausserordentlicher
Vollmacht nach Palaestina geschickt, um zu strafen und zu richten, und in der
Tat der eine der Schuldigen in die Verbannung gesandt, ein roemischer
Kriegstribun namens Celer in Jerusalem selbst oeffentlich enthauptet. Aber neben
diesen Exempeln der Strenge stehen andere der mitschuldigen Schwaeche; in eben
diesem Prozess entging der zweite mindestens ebenso schuldige Prokurator
Antonius Felix der Bestrafung, weil er der Bruder des maechtigen Bedienten
Pallas war und der Gemahl der Schwester des Koenigs Agrippa. Mehr noch als die
Amtsmissbraeuche einzelner Verwalter muss es der Regierung zur Last gelegt
werden, dass sie die Beamtenmacht und die Truppenzahl in einer so beschaffenen
Provinz nicht verstaerkte und fortfuhr, die Besatzung fast ausschliesslich aus
der Provinz zu rekrutieren. Unbedeutend wie die Provinz war, war es eine arge
Kopflosigkeit und eine uebel angebrachte Sparsamkeit, sie nach der hergebrachten
Schablone zu behandeln; rechtzeitige Entfaltung einer erdrueckenden Uebermacht
und unnachsichtige Strenge, ein Statthalter hoeheren Ranges und ein Legionslager
haetten der Provinz wie dem Reiche grosse Opfer an Geld und Blut und Ehre
erspart.
Aber mindestens nicht geringer ist die Schuld der Juden. Das
Hohenpriesterregiment, so weit es reichte - und die Regierung war nur zu
geneigt, in allen inneren Angelegenheiten ihm freie Hand zu lassen -, ist, auch
nach den juedischen Berichten, zu keiner Zeit so gewalttaetig und nichtswuerdig
gefuehrt worden wie in der von Agrippas Tod bis zum Ausbruch des Krieges. Der
bekannteste und einflussreichste dieser Priesterherrscher ist Ananias, des
Nebedaeus Sohn, die "uebertuenchte Wand", wie Paulus ihn nannte, als dieser
geistliche Richter seine Schergen ihn auf den Mund schlagen hiess, weil er sich
vor dem Gericht zu verteidigen wagte. Es wird ihm zur Last gelegt, dass er den
Statthalter bestach und dass er durch entsprechende Interpretation der Schrift
den niedrigen Geistlichen die Zehntgarben entfremdete ^22. Als einer der
Hauptanstifter des Krieges zwischen den Samaritern und den Galilaeern hat er vor
dem roemischen Richter gestanden. Nicht weil die ruecksichtslosen Fanatiker in
den herrschenden Kreisen ueberwogen, sondern weil diesen Anzettlern der
Volksauflaeufe und Anordnern der Ketzergerichte die moralische und religioese
Autoritaet abging, wodurch die Gemaessigten in besseren Zeiten die Menge gelenkt
hatten, und weil sie die Nachgiebigkeit der roemischen Behoerden in den inneren
Angelegenheiten missverstanden und missbrauchten, vermochten sie es nicht,
zwischen der Fremdherrschaft und der Nation in friedlichem Sinn zu vermitteln.
Eben unter ihrem Schalten wurden die roemischen Behoerden mit den wildesten und
unvernuenftigsten Forderungen bestuermt und kam es zu Volksbewegungen von
grausiger Laecherlichkeit. Der Art ist jene Sturmpetition, welche das Blut eines
roemischen Soldaten wegen einer zerrissenen Gesetzrolle verlangte und erhielt.
Ein anderes Mal entstand ein Volksauflauf, der vielen Menschen das Leben
kostete, weil ein roemischer Soldat dem Tempel einen Koerperteil in
unschicklicher Entbloessung gezeigt hatte. Auch der beste der Koenige haette
dergleichen Wahnwitz nicht unbedingt abwenden koennen; aber selbst der geringste
Fuerst wuerde der fanatischen Menge nicht so voellig steuerlos
gegenuebergestanden haben, wie diese Priester.
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^22 Es handelte sich, wie es scheint, darum, ob die Gabe der zehnten Garbe
an Aaron den Priester (Num. 18, 28), dem Priester ueberhaupt oder dem
Hohenpriester zukomme (H. Ewald; Geschichte des Volkes Israel. 3. Aufl.
Goettingen 1864-68. Bd. 6, S. 635).
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Das eigentliche Ergebnis war das stetige Anschwellen der neuen Makkabaeer.
Man hat sich gewoehnt, den Ausbruch des Krieges in das Jahr 66 zu setzen; mit
gleichem und vielleicht besserem Recht koennte man dafuer das Jahr 44 nennen.
Seit dem Tode Agrippas haben die Waffen in Judaea nicht geruht, und neben den
oertlichen Fehden, die Juden und Juden miteinander ausfechten, geht bestaendig
der Krieg her der roemischen Truppen gegen die ausgetretenen Leute in den
Gebirgen, die Eifrigen, wie die Juden sie nannten, nach roemischer Bezeichnung
die Raeuber. Die Benennungen trafen beide zu; auch hier spielten neben den
Fanatikern die verkommenen oder verkommenden Elemente der Gesellschaft ihre
Rolle - war es doch nach dem Sieg einer der ersten Schritte der Zeloten, die im
Tempel bewahrten Schuldbriefe zu verbrennen. Jeder der tuechtigeren
Prokuratoren, von dem ersten Cuspius Fadus an, saeubert von ihnen das Land, und
immer ist die Hydra gewaltiger wieder da. Fadus' Nachfolger Tiberius Julius
Alexander, selbst einer juedischen Familie entsprossen, ein Neffe des oben
genannten alexandrinischen Gelehrten Philon, liess zwei Soehne Judas' des
Galilaeers, Jakob und Simon, an das Kreuz schlagen; das war der Same des neuen
Mattathias. Auf den Gassen der Staedte predigten die Patrioten laut den Krieg,
und nicht wenige folgten in die Wueste; den Friedfertigen aber und
Verstaendigen, die sich weigerten mitzutun, zuendeten diese Banden die Haeuser
an. Griffen die Soldaten dergleichen Banditen auf, so fuehrten sie wieder
angesehene Leute als Geiseln in die Berge; und sehr oft verstand die Behoerde
sich dazu, jene zu entlassen, um diese zu befreien. Gleichzeitig begannen in der
Hauptstadt die "Messermaenner" ihr unheimliches Handwerk; sie mordeten wohl auch
um Geld - als ihr erstes Opfer wird der Priester Jonathan genannt, als ihr
Auftraggeber dabei der roemische Prokurator Felix -, aber womoeglich zugleich
als Patrioten roemische Soldaten oder roemisch gesinnte Landsleute. Wie haetten
bei diesen Stimmungen die Wunder und Zeichen ausbleiben sollen und diejenigen,
die betrogen oder betruegend die Massen damit fanatisierten? Unter Cuspius Fadus
fuehrte der Wundermann Theudas seine Getreuen dem Jordan zu, versichernd, dass
die Wasser vor ihnen sich spalten wuerden und die nachsetzenden roemischen
Reiter verschlingen, wie zu den Zeiten des Koenigs Pharao. Unter Felix verhiess
ein anderer Wundertaeter, nach seiner Heimat der Aegypter genannt, dass die
Mauern Jerusalems einstuerzen wuerden, wie auf Josuas Posaunenstoss die von
Jericho; und daraufhin folgten ihm 4000 Messermaenner bis auf den Oelberg. Eben
in der Unvernunft lag die Gefahr. Die grosse Masse der juedischen Bevoelkerung
waren kleine Bauern, die im Schweisse ihres Angesichts ihre Felder pfluegten und
ihr Oel pressten, mehr Dorfleute als Staedter, von geringer Bildung und
gewaltigem Glauben, eng verwachsen mit den Freischaren in den Gebirgen und voll
Ehrfurcht vor Jehova und seinen Priestern in Jerusalem wie voll Abscheu gegen
die unreinen Fremden. Der Krieg war da, nicht ein Krieg zwischen Macht und Macht
um die Uebergewalt, nicht einmal eigentlich ein Krieg der Unterdrueckten gegen
die Unterdruecker um Wiedergewinnung der Freiheit; nicht verwegene Staatsmaenner
^23, fanatische Bauern haben ihn begonnen und gefuehrt und mit ihrem Blute
bezahlt. Es ist eine weitere Etappe in der Geschichte des nationalen Hasses; auf
beiden Seiten schien das fernere Zusammenleben unmoeglich und begegnete man sich
in dem Gedanken der gegenseitigen Ausrottung.
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^23 Es ist nichts als eitel Schwindel, wenn der Staatsmann Josephus in der
Vorrede zu seiner Geschichte des Krieges so tut, als haetten die Juden
Palaestinas einerseits auf die Erhebung der Euphratlaender, andererseits auf die
Unruhen in Gallien und die drohende Haltung der Germanen und auf die Krisen des
Vierkaiserjahres gerechnet. Der Juedische Krieg war laengst in vollem Gange, als
Vindex gegen Nero auftrat und die Druiden wirklich taten, was hier den Rabbis
beigelegt wird; und wieviel auch die juedische Diaspora in den Euphratlaendern
bedeutete, eine juedische Expedition von dort gegen die Roemer des Ostens war
ungefaehr ebenso undenkbar wie aus Aegypten und Kleinasien. Es sind wohl einige
Freischaerler von da gekommen, wie zum Beispiel einige Fuerstensoehne des eifrig
juedischen Koenigshauses von Adiabene (Ios. bel. Iud. 2, 19, 2; 6, 6, 4) und von
den Insurgenten Bittgesandtschaften dorthin gegangen (das. 6, 6, 2); aber selbst
Geld ist von daher den Juden schwerlich in bedeutendem Umfang zugeflossen. Dies
charakterisiert den Verfasser mehr als den Krieg. Wenn es begreiflich ist, dass
der juedische Insurgentenfuehrer und spaetere Hofmann der Flavier sich gern den
in Rom internierten Parthern gleichstellte so ist es weniger zu entschuldigen,
dass die neuere Geschichtschreibung aehnliche Wege wandelt und, indem sie diese
Vorgaenge als Bestandteile der roemischen Hof- und Stadtgeschichte oder auch der
roemisch-parthischen Haendel aufzufassen bemueht ist, durch dieses stumpfe
Hineinziehen der sogenannten grossen Politik die furchtbare Notwendigkeit dieser
tragischen Entwicklung verdunkelt.
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Die Bewegung, durch welche die Auflaeufe zum Krieg wurden, ging von
Caesarea aus. In dieser urspruenglich griechischen, dann von Herodes nach dem
Muster der Alexanderkolonien umgeschaffenen und zur ersten Hafenstadt
Palaestinas entwickelten Stadtgemeinde wohnten Griechen und Juden, ohne
Unterschied der Nation und der Konfession buergerlich gleichberechtigt, die
letzteren an Zahl und Besitz ueberlegen. Aber die Hellenen daselbst, nach dem
Muster der Alexandriner und ohne Zweifel unter dem unmittelbaren Eindruck der
Vorgaenge des Jahres 38, bestritten im Wege der Beschwerde bei der obersten
Stelle den juedischen Gemeindegenossen das Buergerrecht. Der Minister Neros ^24,
Burrus (+ 62), gab ihnen Recht. Es war arg, in einer auf juedischem Boden und
von einer juedischen Regierung geschaffenen Stadt das Buergerrecht zum
Privilegium der Hellenen zu machen; aber es darf nicht vergessen werden, wie
sich die Juden gegen die Roemer eben damals verhielten, und wie nahe sie es den
Roemern legten, die roemische Hauptstadt und das roemische Hauptquartier der
Provinz in eine rein hellenische Stadtgemeinde umzuwandeln. Die Entscheidung
fuehrte, wie begreiflich, zu heftigen Strassentumulten, wobei hellenischer Hohn
und juedischer Uebermut namentlich in dem Kampf um den Zugang zur Synagoge sich
ungefaehr die Waage gehalten zu haben scheinen; die roemischen Behoerden griffen
ein, selbstverstaendlich zu Ungunsten der Juden. Diese verliessen die Stadt,
wurden aber von dem Statthalter genoetigt zurueckzukehren und dann in einem
Strassenauflauf saemtlich erschlagen (6. August 66). Dies hatte die Regierung
allerdings nicht befohlen und sicher auch nicht gewollt; es waren Maechte
entfesselt, denen sie selbst nicht mehr zu gebieten vermochte.
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^24 Josephus (ant. Iud. 20, 8, 9) macht ihn freilich zum Sekretaer Neros
fuer die griechische Korrespondenz, obwohl er ihn, wo er roemischen Quellen
folgt (20, 8, 2), richtig als Praefekten bezeichnet; aber sicher ist derselbe
gemeint. Paidag/o/gos heisst er bei ihm wie bei Tac. ann. 13, 2 rector
imperatoriae iuventae.
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Wenn hier die Judenfeinde die Angreifenden waren, so waren dies in
Jerusalem die Juden. Allerdings versichern deren Vertreter in der Erzaehlung
dieser Vorgaenge, dass der derzeitige Prokurator von Palaestina, Gessius Florus,
um der Anklage wegen seiner Missverwaltung zu entgehen, durch das Uebermass der
Peinigung eine Insurrektion habe hervorrufen wollen; und es ist kein Zweifel,
dass die damaligen Statthalter in Nichtswuerdigkeit und Bedrueckung das uebliche
Mass betraechtlich ueberschritten. Aber wenn Florus einen solchen Plan in der
Tat verfolgt hat, so misslang er. Denn nach eben diesen Berichten
beschwichtigten die Besonnenen und Besitzenden unter den Juden und mit ihnen der
mit dem Tempelregiment betraute und eben damals in Jerusalem anwesende Koenig
Agrippa II. - er hatte inzwischen die Herrschaft von Chalkis mit derjenigen von
Batanaea vertauscht -, die Massen insoweit, dass die Zusammenrottungen und das
Einschreiten dagegen sich innerhalb des seit Jahren landesueblichen Masses
hielten. Aber gefaehrlicher als der Strassenunfug und die Raeuberpatrioten der
Gebirge waren die Fortschritte der juedischen Theologie. Das fruehere Judentum
hatte in liberaler Weise den Fremden die Pforten seines Glaubens geoeffnet; es
wurden zwar in den inneren Tempel nur die eigentlichen Religionsgenossen, aber
als Proselyten des Tores in die aeusseren Hallen jeder ohne weiteres zugelassen
und auch dem Nichtjuden gestattet, hier zum Herrn Jehova seinerseits zu beten
und Opfer darzubringen. So wurde, wie schon erwaehnt ward, auf Grund einer
Stiftung des Augustus taeglich daselbst fuer den roemischen Kaiser geopfert.
Diese Opfer von Nichtjuden untersagte der derzeitige Tempelmeister, des oben
genannten Erzpriesters Ananias Sohn Eleazar, ein junger, vornehmer,
leidenschaftlicher Mann, persoenlich unbescholten und brav und insofern der
volle Gegensatz seines Vaters, aber durch seine Tugenden gefaehrlicher als
dieser durch seine Laster. Vergeblich wies man ihm nach, dass dies ebenso
beleidigend fuer die Roemer wie gefaehrlich fuer das Land und dem Herkommen
schlechterdings zuwider sei; es blieb bei der verbesserten Froemmigkeit und der
Ausschliessung des Landesherrn vom Gottesdienst. Seit langem hatte das glaeubige
Judentum sich gespalten in diejenigen, die ihr Vertrauen auf den Herrn Zebaoth
allein setzten und die Roemerherrschaft ertrugen, bis es ihm gefallen werde, das
Himmelreich auf Erden zu verwirklichen, und in die praktischeren Maenner, welche
dieses Himmelreich mit eigener Hand zu begruenden entschlossen waren und des
Beistandes des Herrn der Heerscharen bei dem frommen Werke sich versichert
hielten, oder, mit den Schlagwoertern, in die Pharisaeer und die Zeloten. Die
Zahl und das Ansehen der letzteren war in bestaendigem Steigen. Es wurde ein
alter Spruch entdeckt, dass um diese Zeit ein Mann von Judaea ausgehen werde und
die Weltherrschaft gewinnen; man glaubte das um so eher, weil es so sehr absurd
war und das Orakel trug nicht wenig dazu bei, die Massen weiter zu fanatisieren.
Die gemaessigte Partei erkannte die Gefahr und entschloss sich, die
Fanatiker mit Gewalt niederzuschlagen; sie bat um Truppen bei den Roemern in
Caesarea und bei Koenig Agrippa. Von dort kam keine Unterstuetzung; Agrippa
sandte eine Anzahl Reiter. Dagegen stroemten die Patrioten und die Messermaenner
in die Stadt, unter ihnen der wildeste, Manahem, auch einer der Soehne des oft
genannten Judas von Galilaea. Sie waren die Staerkeren und bald Herren in der
Stadt. Auch die Handvoll roemischer Soldaten, welche die an den Tempel
anstossende Burg besetzt hielten, wurde rasch ueberwaeltigt und niedergemacht.
Der benachbarte Koenigspalast, mit den dazugehoerigen gewaltigen Tuermen, wo der
Anhang der Gemaessigten, eine Anzahl Roemer unter dem Tribunen Metilius und die
Soldaten des Agrippa lagen, hielt ebensowenig stand. Den letzteren wurde auf ihr
Verlangen zu kapitulieren der freie Abzug bewilligt, den Roemern aber
verweigert; als sie sich endlich gegen Zusicherung des Lebens ergaben, wurden
sie erst entwaffnet und dann niedergemacht mit einziger Ausnahme des Offiziers,
der sich beschneiden zu lassen versprach und so als Jude begnadigt ward. Auch
die Fuehrer der Gemaessigten, unter ihnen der Vater und der Bruder Eleazars,
wurden die Opfer der Volkswut, die den Roemergenossen noch grimmiger grollte als
den Roemern. Eleazar selbst erschrak vor seinem Siege; zwischen den beiden
Fuehrern der Fanatiker, ihm und Manahem, kam es nach dem Sieg, vielleicht wegen
der gebrochenen Kapitulation, zum blutigen Handgemenge; Manahem wurde gefangen
und hingerichtet. Aber die heilige Stadt war frei und das in Jerusalem lagernde
roemische Detachement vernichtet; die neuen Makkabaeer hatten gesiegt wie die
alten.
So hatten, angeblich am selben Tag, dem 6. August 66, die Nichtjuden in
Caesarea die Juden, die Juden in Jerusalem die Nichtjuden niedergemetzelt; und
damit war nach beiden Seiten hin das Signal gegeben, in diesem patriotischen und
gottgefaelligen Werke fortzufahren. In den benachbarten griechischen Staedten
entledigten sich die Hellenen der Judenschaften nach dem Muster von Caesarea.
Beispielsweise wurden in Damaskos saemtliche Juden zunaechst ins Gymnasium
gesperrt und auf die Kunde von einem Misserfolg der roemischen Waffen
vorsichtigerweise saemtlich umgebracht. Gleiches oder aehnliches geschah in
Askalon, in Skytopolis, Hippos, Gadara, ueberall, wo die Hellenen die Staerkeren
waren. In dem ueberwiegend von Syrern bewohnten Gebiet des Koenigs Agrippa
rettete dessen energisches Dazwischentreten den Juden von Caesarea Paneas und
sonst das Leben. In Syrien folgten Ptolemais, Tyros und mehr oder minder die
uebrigen griechischen Gemeinden; nur die beiden groessten und zivilisiertesten
Staedte Antiocheia und Apameia sowie Sidon schlossen sich aus. Dem ist es wohl
zu verdanken, dass diese Bewegung sich nicht nach Vorderasien fortpflanzte. In
Aegypten kam es nicht bloss zu einem Volksauflauf, der zahlreiche Opfer
forderte, sondern die alexandrinischen Legionen selbst mussten auf die Juden
einhauen. Im notwendigen Rueckschlag dieser Judenvesper ergriff die in Jerusalem
siegreiche Insurrektion sofort ganz Judaea und organisierte sich ueberall unter
aehnlicher Misshandlung der Minoritaeten, uebrigens aber mit Raschheit und
Energie.
Es war notwendig, schleunigst einzuschreiten und die weitere Ausbreitung
des Brandes zu verhindern; auf die erste Kunde marschierte der roemische
Statthalter von Syrien, Gaius Cestius Gallus, mit seinen Truppen gegen die
Insurgenten. Er fuehrte etwa 20000 Mann roemischer Soldaten und 13000 der
Klientelstaaten heran, ungerechnet die zahlreichen syrischen Milizen, nahm Joppe
ein, dessen ganze Buergerschaft niedergemacht ward, und stand schon im September
vor, ja in Jerusalem selbst. Aber die gewaltigen Mauern des Koenigspalastes und
des Tempels vermochte er nicht zu brechen und nutzte ebensowenig die mehrfach
gebotene Gelegenheit, durch die gemaessigte Partei in den Besitz der Stadt zu
gelangen. Ob nun die Aufgabe unloesbar oder er ihr nicht gewachsen war, er gab
bald die Belagerung auf und erkaufte sogar den beschleunigten Rueckzug mit der
Aufopferung seines Gepaecks und seiner Nachhut. Zunaechst blieb also oder kam
Judaea mit Einschluss von Idumaea und Galilaea in die Hand der erbitterten
Juden; auch die samaritanische Landschaft ward zum Anschluss genoetigt. Die
ueberwiegend hellenischen Kuestenstaedte Anthedon und Gaza wurden zerstoert,
Caesarea und die anderen Griechenstaedte mit Muehe behauptet. Wenn der Aufstand
nicht ueber die Grenzen Palaestinas hinausging, so war daran nicht bloss die
Regierung Schuld, sondern die nationale Abneigung der Syrohellenen gegen die
Juden.
Die Regierung in Rom nahm die Dinge ernst, wie sie es waren. Anstatt des
Prokurators wurde ein kaiserlicher Legat nach Palaestina gesandt, Titus Flavius
Vespasianus, ein besonnener Mann und ein erprobter Soldat. Er erhielt fuer die
Kriegfuehrung zwei Legionen des Westens, welche infolge des Parthischen Krieges
sich zufaellig noch in Asien befanden, und diejenige syrische, die bei der
ungluecklichen Expedition des Cestius am wenigsten gelitten hatte, waehrend die
syrische Armee unter dem neuen Statthalter Gaius Licinius Mucianus - Gallus war
rechtzeitig gestorben - durch Zuteilung einer anderen Legion auf dem Stande
blieb, den sie vorher hatte ^25. Zu diesen Buergertruppen und deren Auxilien kam
die bisherige Besatzung von Palaestina, endlich die Mannschaften der vier
Klientelkoenige der Kommagener, der Hemesener, der Juden und der Nabataeer,
zusammen etwa 50000 Mann, darunter 15000 Koenigssoldaten ^26. Im Fruehling des
Jahres 67 wurde dieses Heer bei Ptolemais zusammengezogen und rueckte in
Palaestina ein. Nachdem die Insurgenten von der schwachen roemischen Besatzung
der Stadt Askalon nachdruecklich abgewiesen waren, hatten sie nicht weiter die
Staedte angegriffen, die es mit den Roemern hielten; die Hoffnungslosigkeit,
welche die ganze Bewegung durchdringt, drueckt sich aus in dem sofortigen
Verzicht auf jede Offensive. Als dann die Roemer zum Angriff uebergingen, traten
sie ihnen gleichfalls nirgends im offenen Felde entgegen, ja sie machten nicht
einmal Versuche, den einzelnen angegriffenen Plaetzen Entsatz zu bringen.
Allerdings teilte auch der vorsichtige Feldherr der Roemer seine Truppen nicht,
sondern hielt wenigstens die drei Legionen durchaus zusammen. Dennoch war, da in
den meisten einzelnen Ortschaften die oft wohl nur kleine Zahl der Fanatiker die
Buergerschaften terrorisierte, der Widerstand hartnaeckig und die roemische
Kriegfuehrung weder glaenzend noch rasch. Vespasian verwendete den ganzen ersten
Feldzug (67) darauf, die Festungen der kleinen Landschaft Galilaea und die
Kueste bis nach Askalon in seine Gewalt zu bringen; allein vor dem Staedtchen
Jotapata lagerten die drei Legionen fuenfundvierzig Tage. Den Winter 67/68 lag
eine Legion in Skytopolis an der Suedgrenze von Galilaea, die beiden anderen in
Caesarea. Inzwischen waren in Jerusalem die verschiedenen Faktionen
aneinandergeraten und lagen im heftigsten Kampf; die guten Patrioten, die
zugleich fuer buergerliche Ordnung waren, und die noch besseren, welche das
Schreckensregiment teils in fanatischer Spannung, teils in Gesindellust
herbeifuehren und ausnutzen wollten, schlugen sich in den Gassen der Stadt und
waren nur darin einig, dass jeder Versuch der Versoehnung mit den Roemern ein
todeswuerdiges Verbrechen sei. Der roemische Feldherr, vielfach aufgefordert,
diese Zerruettung zu benutzen, blieb dabei, nur schrittweise vorzugehen. Im
zweiten Kriegsjahr liess er zunaechst das transjordanische Gebiet, namentlich
die wichtigen Staedte Gadara und Gerasa besetzen und setzte sich dann bei Emmaus
und Jericho, von wo aus er im Sueden Idumaea, im Norden Samaria okkupieren
liess, so dass Jerusalem im Sommer des Jahres 68 von allen Seiten umstellt war.
Die Belagerung sollte eben beginnen, als die Nachricht von dem Tode Neros
eintraf. Damit war von Rechts wegen das dem Legaten erteilte Mandat erloschen
und Vespasian stellte in der Tat, politisch nicht minder vorsichtig wie
militaerisch, bis auf neue Verhaltungsbefehle die Operationen ein. Bevor diese
von Galba eintrafen, war die gute Jahreszeit zu Ende. Als das Fruehjahr 69
herankam, war Galba gestuerzt und schwebte die Entscheidung zwischen dem Kaiser
der roemischen Leibgarde und dem der Rheinarmee. Erst nach Vitellius' Sieg, im
Juni 69, nahm Vespasian die Operationen wieder auf und besetzte Hebron; aber
sehr bald kuendigten die saemtlichen Heere des Ostens jenem die Treue auf und
riefen den bisherigen Legaten von Judaea zum Kaiser aus. Den Juden gegenueber
wurden zwar die Stellungen bei Emmaus und Jericho behauptet, allein wie die
germanischen Legionen den Rhein entbloesst hatten, um ihren Feldherrn zum Kaiser
zu machen, so ging auch der Kern der Armee von Palaestina teils mit dem Legaten
von Syrien, Mucianus, nach Italien ab, teils mit dem neuen Kaiser und dessen
Sohn Titus nach Syrien und weiter nach Aegypten, und erst, nachdem Ende 69 der
Sukzessionskrieg beendigt und Vespasians Herrschaft im ganzen Reiche anerkannt
war, beauftragte dieser seinen Sohn mit der Beendigung des Juedischen Krieges.
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^25 Wie die Besatzungsverhaeltnisse in Syrien geordnet worden sind, nachdem
im Jahre 63 der Parthische Krieg beendigt war, ist nicht voellig klar. Am Ende
desselben standen sieben Legionen im Orient, die vier urspruenglich syrischen 3.
Gallica, 6. Ferrata, 10. Fretensis, 12. Fulminata und drei aus dem Okzident
herangefuehrte, die 4. Scythica aus Moesien, die 5. Macedonica wahrscheinlich
ebendaher (wofuer wohl eine obergermanische Legion nach Moesien ging, die 15.
Apollinaris aus Pannonien. Da ausser Syrien damals keine asiatische Provinz mit
Legionen belegt war und der Statthalter von Syrien gewiss in Friedenszeiten nie
mehr als vier Legionen gehabt hat, so ist das syrische Heer ohne Zweifel damals
auch auf diesen Stand zurueckgefuehrt worden oder hat doch darauf
zurueckgefuehrt werden sollen. Die vier Legionen, die danach in Syrien bleiben
sollten, waren, wie dies ja auch am naechsten liegt, die vier alten syrischen;
denn die 3. war im Jahre 70 eben von Syrien nach Moesien marschiert (Suet. Vesp.
6; Tac. hist. 2, 74) und dass die 6., 10., 12. zum Heere des Cestius gehoerten,
folgt aus Ios. bel. Iud. 2, 18, 9; 19, 7; 7, 1, 3. Als dann der Juedische Krieg
ausbrach, wurden wieder sieben Legionen fuer Asien bestimmt und zwar vier fuer
Syrien (Tac. hist. 1, 10), drei fuer Palaestina; die drei hinzutretenden
Legionen sind eben die fuer den Parthischen Krieg verwendeten, die 4., 5., 15.,
welche vielleicht damals noch auf dem Rueckmarsch in ihre alten Quartiere
begriffen waren. Die 4. ist wahrscheinlich damals definitiv nach Syrien gekommen
wo sie fortan geblieben ist; dagegen gab das syrische Heer die 10. an Vespasian
ab, vermutlich, weil diese bei dem Feldzuge des Cestius am wenigsten gelitten
hatte. Dazu bekam er die 5. und die 15. Die 5. und die 10. Legion kamen von
Alexandreia (Ios. bel. Iud. 3, 1, 3; 4, 2); aber dass sie aus Aegypten
herangefuehrt seien, ist nicht gut denkbar, nicht bloss weil die 10. eine der
syrischen war, sondern vor allem, weil der Landmarsch von Alexandreia am Nil
nach Ptolemais mitten durch das insurgierte Gebiet am Anfang des Juedischen
Krieges so von Josephus nicht haette erzaehlt werden koennen. Vielmehr ging
Titus zu Schiff von Achaia nach Alexandreia am Issischen Meerbusen, dem heutigen
Alexandrette, und fuehrte die beiden Legionen von da nach Ptolemais. Die 15. mag
der Marschbefehl irgendwo in Kleinasien getroffen haben, da Vespasian, doch
wohl, um sie zu uebernehmen, nach Syrien zu Lande ging (Ios. bel. Iud. 3, 1 u.
3). Zu diesen drei Legionen, mit denen Vespasian den Krieg begann, kam unter
Titus noch eine weitere der syrischen, die 12. Von den vier Legionen, die
Jerusalem einnahmen, blieben die beiden bisher syrischen im Orient, die 10. in
Judaea, die 12. in Kappadokien, waehrend die 5. nach Moesien, die 15. nach
Pannonien zurueckkehrte (Ios. bel. Iud. 7, 1, 3; 5, 3).
^26 Zu den drei Legionen gehoerten fuenf Alen und achtzehn Kohorten und das
aus einer Ala und fuenf Kohorten bestehende Heer von Palaestina. Diese Auxilien
zaehlten demnach 3000 Alarier und (da unter den 23 Kohorten zehn 1000 Mann stark
waren, dreizehn 720 Mann oder wohl eher nur 480 Mann; denn statt des
befremdenden exakosioys erwartet man vielmehr triakosioys exakonta) 16240 (oder,
wenn 720 festgehalten wird, 19360) Kohortalen. Dazu kamen je 1000 Reiter der
vier Koenige und 5000 arabische, je 2000 Bogenschuetzen der uebrigen drei
Koenige. Dies gibt zusammen, die Legion zu 6000 Mann gerechnet, 52240 Mann, also
gegen 60000, wie Josephus (bel. Iud. 3, 4, 2) sagt. Da die Abteilungen aber also
alle nach der hoechstmoeglichen Normalstaerke berechnet sind, wird die effektive
Gesamtzahl kaum auf 50000 angesetzt werden duerfen. Diese Zahlen des Josephus
erscheinen im wesentlichen zuverlaessig ebenso wie die analogen fuer das Heer
des Cestius (bel. Iud. 2, 18, 9); dagegen sind seine auf Schaetzung beruhenden
Ziffern durchgaengig nach dem Stil bemessen, dass das kleinste Dorf in Galilaea
15000 Einwohner zaehlt (bel. Iud. 3, 3, 2) und geschichtlich so unbrauchbar wie
die Ziffern Falstaffs. Nur selten, zum Beispiel bei der Belagerung Jotapatas,
erkennt man Rapportzahlen.
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So hatten die Insurgenten in Jerusalem vom Sommer 66 bis zum Fruehling 70
voellig freies Schalten. Was die Vereinigung von religioesem und nationalem
Fanatismus, das edle Verlangen, den Sturz des Vaterlandes nicht zu ueberleben
und das Bewusstsein begangener Verbrechen und unausbleiblicher Strafe, das wilde
Durcheinanderwogen aller edelsten und aller gemeinsten Leidenschaften in diesen
vier Jahren des Schreckens ueber die Nation gebracht hat, wird dadurch vor allem
entsetzlich, dass die Fremden dabei nur die Zuschauer gewesen sind, unmittelbar
alles Unheil durch Juden ueber Juden gekommen ist. Die gemaessigten Patrioten
wurden von den Eiferern mit Hilfe des Aufgebotes der rohen und fanatischen
Bewohner der idumaeischen Doerfer bald (Ende 68) ueberwaeltigt und ihre Fuehrer
erschlagen. Die Eiferer herrschten seitdem und es loesten sich alle Bande
buergerlicher, religioeser und sittlicher Ordnung. Den Sklaven wurde die
Freiheit gewaehrt, die Hohenpriester durch das Los bestellt, die Ritualgesetze
eben von diesen Fanatikern, deren Kastell der Tempel war, mit Fuessen getreten
und verhoehnt, die Gefangenen in den Kerkern niedergemacht und bei Todesstrafe
untersagt, die Umgebrachten zu bestatten. Die verschiedenen Fuehrer fochten mit
ihren Sonderhaufen gegeneinander: Johannes von Giskala mit seiner aus Galilaea
herangefuehrten Schar; Simon, des Gioras Sohn, aus Gerasa, der Fuehrer einer in
dem Sueden gebildeten Patriotenschar und zugleich der gegen Johannes sich
auflehnenden Idumaeer; Eleazar, Simons Sohn, einer der Vorkaempfer gegen Cestius
Gallus. Der erste behauptete sich in der Tempelhalle, der zweite in der Stadt,
der dritte im Allerheiligsten des Tempels, und taeglich ward in den Strassen der
Stadt zwischen Juden und Juden gefochten. Die Eintracht kam einzig durch den
gemeinsamen Feind; als der Angriff begann, stellte sich Eleazars kleine Schar
unter die Befehle des Johannes, und obwohl Johannes im Tempel, Simon in der
Stadt fortfuhren, die Herren zu spielen, stritten sie, unter sich hadernd,
Schulter an Schulter gegen die Roemer. Die Aufgabe auch fuer die Angreifer war
nicht leicht. Zwar genuegte das Heer, das anstatt der nach Italien entsendeten
Detachements bedeutenden Zuzug aus den aegyptischen und den syrischen Truppen
erhalten hatte, fuer die Einschliessung vollauf; und trotz der langen Frist,
welche den Juden gewaehrt worden war, um sich auf die Belagerung vorzubereiten,
waren die Vorraete unzureichend, um so mehr, als ein Teil derselben in den
Strassenkaempfen zugrunde gegangen war und, da die Belagerung um das Passahfest
begann, zahlreiche deswegen nach Jerusalem gekommene Auswaertige mit
eingeschlossen waren. Indes wenn auch die Masse der Bevoelkerung bald Not litt,
was die Wehrmannschaften brauchten, nahmen sie, wo sie es fanden, und wohl
versehen, wie sie waren, fuehrten sie den Kampf ohne Ruecksicht auf die
hungernden und bald verhungernden Massen. Zu blosser Blockade konnte der junge
Feldherr sich nicht entschliessen; eine mit vier Legionen in dieser Weise zu
Ende gefuehrte Belagerung brachte ihm persoenlich keinen Ruhm, und auch das neue
Regiment brauchte eine glaenzende Waffentat. Die Stadt, sonst ueberall durch
unzugaengliche Felsenhaenge verteidigt, war allein an der Nordseite angreifbar;
auch hier war es keine leichte Arbeit, die dreifache, aus den reichen
Tempelschaetzen ohne Ruecksicht auf die Kosten hergestellte Wallmauer zu
bezwingen und weiter innerhalb der Stadt die Burg, den Tempel und die gewaltigen
drei Herodestuerme einer starken, fanatisierten und verzweifelten Besatzung
abzuringen. Johannes und Simon schlugen nicht bloss die Stuerme entschlossen ab,
sondern griffen oft die schanzenden Mannschaften mit gutem Erfolg an und
zerstoerten oder verbrannten die Belagerungsmaschinen. Aber die Ueberzahl und
die Kriegskunst entschieden fuer die Roemer. Die Mauern wurden erstuermt, darauf
die Burg Antonia; sodann gingen nach langem Widerstand erst die Tempelhallen in
Flammen auf und weiter am 10. Ab (August) der Tempel selbst mit allen darin seit
sechs Jahrhunderten aufgehaeuften Schaetzen. Endlich wurde nach monatelangem
Strassenkampf am 8. Elul (September) auch in der Stadt der letzte Widerstand
gebrochen und das heilige Salem geschleift. Fuenf Monate hatte die Blutarbeit
gewaehrt. Das Schwert und der Pfeil und mehr noch der Hunger hatten zahllose
Opfer gefordert; die Juden erschlugen jeden des Ueberlaufens auch nur
Verdaechtigen und zwangen Weiber und Kinder, in der Stadt zu verhungern; ebenso
erbarmungslos liessen auch die Roemer die Gefangenen ueber die Klinge springen
oder kreuzigten sie. Die uebriggebliebenen Kaempfer und namentlich die beiden
Fuehrer wurden einzeln aus den Kloaken, in die sie sich gerettet hatten,
hervorgezogen. Am Toten Meer, eben da, wo einstmals Koenig David und die
Makkabaeer in hoechster Bedraengnis eine Zuflucht gefunden hatten, hielten sich
die Reste der Insurgenten noch auf Jahre hinaus in den Felsenschloessern
Machaerus und Massada, bis endlich als die letzten der freien Juden Judas, des
Galilaeers Enkel, Eleazar und die Seinigen erst ihren Frauen und Kindern und
dann sich selbst den Tod gaben. Das Werk war getan. Dass Kaiser Vespasianus, ein
tuechtiger Soldat, es nicht verschmaeht hat, wegen eines solchen unvermeidlichen
Erfolgs ueber ein kleines, laengst untertaeniges Volk als Sieger auf das Kapitol
zu ziehen und dass der aus dem Allerheiligsten des Tempels heimgebrachte
siebenarmige Kandelaber auf dem Ehrenbogen, den der Reichssenat dem Titus auf
dem Markte der Kampfstadt errichtete, noch heute zu schauen ist ^27, gibt keine
hohe Vorstellung von dem kriegerischen Sinn dieser Zeit. Freilich ersetzte der
tiefe Widerwille, den die Okzidentalen gegen das Judenvolk hegten,
einigermassen, was der kriegerischen Glorie mangelte, und wenn den Kaisern der
Judenname zu schlecht war, um ihn so sich beizulegen wie die der Germanen und
der Parther, so hielten sie es nicht unter ihrer Wuerde, dem Poebel der
Hauptstadt die Siegesschadenfreude dieses Triumphes zu bereiten.
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^27 Dieser Bogen ist dem Titus nach seinem Tode vom Reichssenat gesetzt.
Ein anderer, ihm waehrend seiner kurzen Regierung von demselben Senat im Circus
gewidmeter (CIL VI, 944) gibt sogar mit ausdruecklichen Worten als Grund der
Denkmalerrichtung an: "weil er nach Vorschrift und Anweisung und unter der
Oberleitung des Vaters das Volk der Juden bezwang und die bis auf ihn von allen
Feldherren, Koenigen und Voelkern entweder vergeblich belagerte oder gar nicht
angegriffene Stadt Hierusolyma zerstoert hat." Die historische Kunde dieses
seltsamen Schriftstueckes, welches nicht bloss Nebukadnezar und Antiochos
Epiphanes, sondern den eigenen Pompeius ignoriert, steht auf gleicher Hoehe mit
der Ueberschwenglichkeit des Preises einer recht gewoehnlichen Waffentat.
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Dem Werk des Schwertes folgte die politische Wendung. Die von den frueheren
hellenischen Staaten eingehaltene und von den Roemern uebernommene, in der Tat
ueber die blosse Toleranz gegen fremde Art und fremden Glauben weit
hinausgehende Politik, die Judenschaft insgemein als nationale und religioese
Samtgemeinschaft anzuerkennen, war unmoeglich geworden. Zu deutlich waren in der
juedischen Insurrektion die Gefahren zu Tage getreten, welche diese national-
religioese, einerseits streng konzentrierte, andererseits ueber den ganzen Osten
sich verbreitende und selbst in den Westen verzweigte Vergesellschaftung in sich
trug. Der zentrale Kultus wurde demzufolge ein fuer allemal beseitigt. Dieser
Entschluss der Regierung steht zweifellos fest und hat nichts gemein mit der
nicht mit Sicherheit zu beantwortenden Frage, ob die Zerstoerung des Tempels
absichtlich oder zufaellig erfolgt ist; wenn auf der einen Seite die
Unterdrueckung des Kultus nur die Schliessung des Tempels erforderte und das
praechtige Bauwerk verschont werden konnte, so haette andererseits, waere der
Tempel zufaellig zugrunde gegangen, der Kultus auch in einem wieder erbauten
fortgefuehrt werden koennen. Freilich wird es immer wahrscheinlich bleiben, dass
hier nicht der Zufall des Krieges gewaltet hat, sondern fuer die veraenderte
Politik der roemischen Regierung gegenueber dem Judentum die Flammen des Tempels
das Programm waren ^28. Deutlicher noch als in den Vorgaengen in Jerusalem
zeichnet sich dieselbe in der gleichzeitig auf Anordnung Vespasians erfolgten
Schliessung des Zentralheiligtums der aegyptischen Judenschaft, des Oniastempels
unweit Memphis im heliopolitanischen Distrikt, welcher seit Jahrhunderten neben
dem von Jerusalem stand etwa wie neben dem Alten Testament die Uebersetzung
durch die alexandrinischen Siebzig; auch er wurde seiner Weihgeschenke
entkleidet und die Gottesverehrung in demselben untersagt.
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^28 Die Erzaehlung des Josephus, dass Titus mit seinem Kriegsrat beschloss,
den Tempel nicht zu zerstoeren, erregt durch ihre offenbare Absichtlichkeit
Bedenken, und da die Benutzung des Tacitus in Sulpicius Severus' Chronik von
Bernays vollstaendig erwiesen ist, so kann allerdings wohl in Frage kommen, ob
nicht dessen gerade entgegengesetzter Bericht (chron. 2, 30, 6), dass der
Kriegsrat beschlossen habe, den Tempel zu zerstoeren, aus Tacitus herruehrt und
ihm, obwohl er Spuren christlicher Ueberarbeitung zeigt, der Vorzug zu geben
ist. Dies empfiehlt sich weiter dadurch, dass die an Vespasian gerichtete
Dedikation der Argonautica des Dichters Valerius Flaccus den Sieger von Solyma
feiert, der die Brandfackeln schleudert.
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In weiterer Ausfuehrung der neuen Ordnung der Dinge verschwanden das
Hohepriestertum und das Synhedrion von Jerusalem und verlor damit die
Judenschaft des Reiches ihr aeusserliches Oberhaupt und ihre bis dahin in
religioesen Fragen allgemein kompetente Oberbehoerde. Die bisher wenigstens
tolerierte Jahressteuer eines jeden Juden ohne Unterschied des Wohnorts an den
Tempel fiel allerdings nicht weg, wurde aber mit bitterer Parodie auf den
kapitolinischen Jupiter und dessen Vertreter auf Erden, den roemischen Kaiser,
uebertragen. Bei der Beschaffenheit der juedischen Einrichtungen schloss die
Unterdrueckung des zentralen Kultus die Aufloesung der Gemeinde Jerusalem in
sich. Die Stadt ward nicht bloss zerstoert und niedergebrannt, sondern blieb
auch in Truemmern liegen, wie einst Karthago und Korinth; ihre Feldmark,
Gemeinde- wie Privatland, wurde kaiserliche Domaene ^29. Was von der
Buergerschaft der volkreichen Stadt dem Hunger oder dem Schwert entgangen war,
kam unter den Hammer des Sklavenmarktes. In den Truemmern der zerstoerten Stadt
schlug die Legion ihr Lager auf, welche mit ihren spanischen und thrakischen
Auxilien fortan im juedischen Lande garnisonieren sollte. Die bisherigen in
Palaestina selbst rekrutierten Provinzialtruppen wurden anderswohin verlegt. In
Emmaus, in der naechsten Naehe von Jerusalem, wurde eine Anzahl roemischer
Veteranen angesiedelt, Stadtrecht aber auch dieser Ortschaft nicht verliehen.
Dagegen wurde das alte Sichem, der religioese Mittelpunkt der samaritanischen
Gemeinde, vielleicht schon seit Alexander dem Grossen eine griechische Stadt,
jetzt in den Formen der hellenischen Politie unter dem Namen Flavia Neapolis
reorganisiert. Die Landeshauptstadt Caesarea, bis dahin griechische
Stadtgemeinde, erhielt als "erste Flavische Kolonie" roemische Ordnung und
lateinische Geschaeftssprache. Es waren dies Ansaetze zur okzidentalischen
Munizipalisierung des juedischen Landes. Nichtsdestoweniger blieb das
eigentliche Judaea, wenn auch entvoelkert und verarmt, nach wie vor juedisch;
wessen die Regierung sich zu dem Lande versah, zeigt schon die durchaus anomal
dauernde militaerische Belegung, die, da Judaea nicht an der Reichsgrenze lag,
nur zur Niederhaltung der Einwohner bestimmt gewesen sein kann.
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^29 Dass der Kaiser dies Land fuer sich nahm (idian ayt/o/ t/e/n ch/o/ran
phylatt/o/n) sagt Josephus (bel. Iud. 7, 6, 6); dazu stimmt nicht sein Befehl
pasan g/e/n apothosthai t/o/n Ioydai/o/n (a. a. O.), worin wohl ein Irrtum oder
ein Schreibfehler steckt. Zu der Expropriierung passt es, dass im Gnadenweg
einzelnen juedischen Grundbesitzern anderswo Land angewiesen ward (Ios. vit.
16). uebrigens ist das Gebiet wohl als Ausstattung fuer die dort stationierende
Legion verwendet worden (Eph. epigr. II, n. 696; Tac. ann. 13, 54).
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Auch die Herodeer ueberdauerten nicht lange den Untergang Jerusalems.
Koenig Agrippa II., der Herr von Caesarea Paneas und von Tiberias, hatte den
Roemern in dem Krieg gegen seine Landsleute getreue Heerfolge geleistet und
selbst aus demselben wenigstens militaerisch ehrenvolle Narben aufzuweisen;
ueberdies hielt seine Schwester Berenike, eine Kleopatra im Kleinen, mit dem
Rest ihrer viel in Anspruch genommenen Reize das Herz des Bezwingers von
Jerusalem gefangen. So blieb er persoenlich im Besitz der Herrschaft; aber nach
seinem Tode, etwa dreissig Jahre spaeter, ging auch diese letzte Erinnerung an
den juedischen Staat in die roemische Provinz Syrien auf.
In der Ausuebung ihrer Religionsgebraeuche wurden den Juden weder in
Palaestina noch anderswo Hindernisse in den Weg gelegt. Selbst ihren religioesen
Unterricht und die daran sich anknuepfenden Versammlungen ihrer Gesetzlehrer und
Gesetzkundigen liess man in Palaestina wenigstens gewaehren und hinderte nicht,
dass diese Rabbinervereinigungen versuchten, sich einigermassen an die Stelle
des ehemaligen Synhedrion von Jerusalem zu setzen und in den Anfaengen des
Talmud ihre Lehre und ihre Gesetze zu fixieren. Obwohl einzelne nach Aegypten
und Kyrene gefluechtete Teilnehmer an dem juedischen Aufstand dort Unruhen
hervorriefen, wurden die Judenschaften ausserhalb Palaestina, so viel wir sehen,
in ihrer bisherigen Stellung belassen. Gegen die Judenhetze, welche eben um die
Zeit der Zerstoerung Jerusalems in Antiocheia dadurch hervorgerufen ward, dass
die dortigen Juden von einem ihrer abgefallenen Glaubensgenossen oeffentlich der
Absicht geziehen worden waren, die Stadt anzuzuenden, schritt der Vertreter des
Statthalters von Syrien energisch ein und gestattete nicht, wie es im Werke war,
dass man die Juden noetigte, den Landesgoettern zu opfern und den Sabbath nicht
zu halten. Titus selbst, als er nach Antiocheia kam, wies die dortigen Fuehrer
der Bewegung mit ihrer Bitte, die Juden auszuweisen oder mindestens ihre
Privilegien zu kassieren, auf das bestimmteste ab. Man scheute davor zurueck,
dem juedischen Glauben als solchem den Krieg zu erklaeren und die weitverzweigte
Diaspora auf das aeusserste zu treiben; es war genug, dass das Judentum in
seiner politischen Repraesentation aus dem Staatswesen getilgt war.
Die Wendung in der seit Alexander gegen das Judentum eingehaltenen Politik
lief im wesentlichen darauf hinaus, dieser religioesen Gemeinschaft die
einheitliche Leitung und die aeusserliche Geschlossenheit zu entziehen und ihren
Leitern eine Macht aus der Hand zu winden, welche sich nicht bloss ueber das
Heimatland der Juden, sondern ueber die Judenschaften insgemein innerhalb und
ausserhalb des Roemischen Reiches erstreckte und allerdings im Orient dem
einheitlichen Reichsregiment Eintrag tat. Die Lagiden wie die Seleukiden und
nicht minder die roemischen Kaiser der Julisch-Claudischen Dynastie hatten sich
dies gefallen lassen; aber die unmittelbare Herrschaft der Okzidentalen ueber
Judaea hatte den Gegensatz der Reichs- und dieser Priestergewalt in dem Grade
verschaerft, dass die Katastrophe mit unausbleiblicher Notwendigkeit eintrat und
ihre Konsequenzen zog. Vom politischen Standpunkt aus kann wohl die
Schonungslosigkeit der Kriegfuehrung getadelt werden, welche uebrigens diesem
Krieg ziemlich mit allen aehnlichen der roemischen Geschichte gemein ist, aber
schwerlich die infolge desselben verfuegte religioes-politische Aufloesung der
Nation. Wenn den Institutionen, welche zur Bildung einer Partei, wie die der
Zeloten war, gefuehrt hatten und mit einer gewissen Notwendigkeit fuehren
mussten, die Axt an die Wurzel gelegt ward, so geschah nur, was richtig und
notwendig war, wie schwer und individuell ungerecht auch der einzelne davon
getroffen werden mochte. Vespasianus, der die Entscheidung gab, war ein
verstaendiger und masshaltender Regent. Es handelte sich nicht um eine Glaubens-
, sondern um eine Machtfrage; der juedische Kirchenstaat als Haupt der Diaspora
vertrug sich nicht mit der Unbedingtheit des weltlichen Grossstaates. Von der
allgemeinen Norm der Toleranz hat die Regierung sich auch in diesem Fall nicht
entfernt, nicht gegen das Judentum, sondern gegen den Hohenpriester und das
Synhedrion den Krieg gefuehrt.
Ganz hat auch die Tempelzerstoerung diesen ihren Zweck nicht verfehlt. Es
gab nicht wenige Juden und noch mehr Judengenossen, namentlich in der Diaspora,
welche mehr an dem juedischen Sittengesetz und an dem juedischen Monotheismus
hielten als an der streng nationalen Glaubensform; die ganze ansehnliche Sekte
der Christen hatte sich innerlich vom Judentum geloest und stand zum Teil in
offener Opposition zu dem juedischen Ritus. Fuer diese war der Fall Jerusalems
keineswegs das Ende der Dinge, und innerhalb dieser ausgedehnten und
einflussreichen Kreise erreichte die Regierung einigermassen, was sie mit der
Aufloesung der Zentralstelle der juedischen Gottesverehrung beabsichtigte. Die
Scheidung des den Nationen gemeinen Christenglaubens von dem national-
juedischen, der Sieg der Anhaenger des Paulus ueber diejenigen des Petrus, wurde
durch den Wegfall des juedischen Zentralkults wesentlich gefoerdert.
Aber bei den Juden von Palaestina, da, wo man zwar nicht hebraeisch, aber
doch aramaeisch sprach, und bei dem Teil der Diaspora, der fest an Jerusalem
hing, wurde durch die Zerstoerung des Tempels der Riss zwischen dem Judentum und
der uebrigen Welt vertieft. Die national-religioese Geschlossenheit, die die
Regierung beseitigen wollte, wurde in diesem verengten Kreis durch den
gewaltsamen Versuch, sie zu zerschlagen, vielmehr neu gefestigt und zunaechst zu
weiteren verzweifelten Kaempfen getrieben.
Nicht volle fuenfzig Jahre nach der Zerstoerung Jerusalems, im Jahre 116
^30, erhob sich die Judenschaft am oestlichen Mittelmeer gegen die
Reichsregierung. Der Aufstand, obwohl von der Diaspora unternommen, war rein
nationaler Art, in seinen Hauptsitzen Kyrene, Kypros, Aegypten, gerichtet auf
die Austreibung der Roemer wie der Hellenen und, wie es scheint, die Begruendung
eines juedischen Sonderstaats. Er verzweigte sich bis in das asiatische Gebiet
und ergriff Mesopotamien und Palaestina selbst. Wo die Aufstaendischen siegreich
waren, fuehrten sie den Krieg mit derselben Erbitterung wie die Sicarier in
Jerusalem; sie erschlugen, wen sie ergriffen - der Geschichtschreiber Appian,
ein geborener Alexandriner, erzaehlt, wie er vor ihnen um sein Leben laufend mit
genauer Not nach Pelusion entkam -, und oftmals toeteten sie die Gefangenen
unter qualvollen Martern oder zwangen sie, gleich wie einst Titus die in
Jerusalem gefangenen Juden, als Fechter im Kampfspiel zur Augenweide der Sieger
zu fallen. In Kyrene sollen also 220000, auf Kypros gar 240000 Menschen von
ihnen umgebracht worden sein. Andererseits erschlugen in Alexandreia, das selbst
nicht in die Haende der Juden gefallen zu sein scheint ^31, die belagerten
Hellenen, was von Juden damals in der Stadt war. Die naechste Ursache der
Erhebung ist nicht klar. Das Blut der Zeloten, die nach Alexandreia und Kyrene
sich gefluechtet und dort ihre Glaubenstreue mit dem Tode unter dem roemischen
Henkersbeil besiegelt hatten, mag nicht umsonst geflossen sein; der Parthische
Krieg, waehrenddessen der Aufstand begann, hat ihn insofern gefoerdert, als die
in Aegypten stehenden Truppen wahrscheinlich auf den Kriegsschauplatz berufen
wurden. Allem Anschein nach war es ein Ausbruch der seit der Tempelzerstoerung
gleich dem Vulkan im Verborgenen gluehenden und in unberechenbarer Weise in
Flammen aufschlagenden religioesen Erbitterung der Judenschaft, von der Art, wie
der Orient sie zu allen Zeiten erzeugt hat und erzeugt; wenn wirklich die
Insurgenten einen Juden zum Koenig ausriefen, so hat diese Erhebung sicher, wie
die in der Heimat, in der grossen Masse der geringen Leute ihren Herd gehabt.
Dass diese Judenerhebung zum Teil zusammenfiel mit dem frueher erzaehlten
Befreiungsversuch der kurz vorher von Kaiser Traianus unterworfenen
Voelkerschaften, waehrend dieser im fernen Osten an der Euphratmuendung stand,
gab ihr sogar eine politische Bedeutung; wenn die Erfolge dieses Herrschers ihm
am Schluss seiner Laufbahn unter den Haenden zerrannen, so hat die juedische
Insurrektion namentlich in Palaestina und Mesopotamien dazu das ihrige
beigetragen. Um den Aufstand niederzuschlagen, mussten ueberall die Truppen
marschieren; gegen den "Koenig" der kyrenaeischen Juden Andreas oder Lukuas und
die Insurgenten in Aegypten sandte Traianus den Quintus Marcius Turbo mit Heer
und Flotte, gegen die Aufstaendischen in Mesopotamien, wie schon gesagt ward,
den Lusius Quietus, zwei seiner erprobtesten Feldherrn. Den geschlossenen
Truppen Widerstand zu leisten, vermochten die Aufstaendischen nirgends,
wenngleich der Kampf in Afrika wie in Palaestina sich bis in die erste Zeit
Hadrians fortspann, und es ergingen ueber diese Diaspora aehnliche Strafgerichte
wie frueher ueber die Juden Palaestinas. Dass Traianus die Juden in Alexandreia
vernichtet hat, wie Appian sagt, ist schwerlich ein unrichtiger, wenn auch
vielleicht ein allzu schroffer Ausdruck dessen, was dort geschah; fuer Kypros
ist es bezeugt, dass seitdem kein Jude die Insel auch nur betreten durfte und
selbst den schiffbruechigen Israeliten dort der Tod erwartete. Waere ueber diese
Katastrophe unsere Ueberlieferung so ausgiebig wie ueber die jerusalemische, so
wuerde sie wohl als deren Fortsetzung und Vollendung erscheinen und
gewissermassen auch als ihre Erklaerung; dieser Aufstand zeigt das Verhaeltnis
der Diaspora zu dem Heimatland und den Staat im Staate, zu dem das Judentum sich
entwickelt hatte.
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^30 Eusebius (hist. eccl. 4, 2) setzt den Ausbruch in das 18., also nach
seiner Rechnung (in der Chronik) das vorletzte Jahr Traians, und damit stimmt
auch Dio 68, 32.
^31 Eusebius selbst (bei Synkellos) sagt nur: Adrianos Ioydaioyskata
Alexandre/o/n stasiazontas ekolasen. Die armenische und die lateinische
Uebersetzung scheinen daraus irrig eine Wiederherstellung des von den Juden
zerstoerten Alexandreia gemacht zu haben, von welcher auch Eusebius in der
Kirchengeschichte 4, 2 und Dio 68. 32 nichts wissen.
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Zu Ende war auch mit dieser zweiten Niederwerfung die Auflehnung des
Judentums gegen die Reichsgewalt nicht. Man kann nicht sagen, dass diese
dasselbe weiter provoziert hat; gewoehnliche Verwaltungsakte, wie sie im ganzen
Reiche unweigerlich hingenommen wurden, trafen die Hebraeer da, wo die volle
Widerstandskraft des nationalen Glaubens ihren Sitz hatte, und riefen dadurch,
wahrscheinlich zur Ueberraschung der Regieren den selbst, eine Insurrektion
hervor, die in der Tat ein Krieg war. Wenn Kaiser Hadrianus, als seine Rundreise
durch das Reich ihn auch nach Palaestina fuehrte, im Jahre 130 die zerstoerte
heilige Stadt der Juden als roemische Kolonie wieder aufzurichten beschloss, tat
er sicher diesen nicht die Ehre an, sie zu fuerchten, und dachte nicht an
religioese-politische Propaganda, sondern er verfuegte fuer dies Legionslager,
was kurz vorher oder bald nachher auch am Rhein, an der Donau, in Afrika
geschah, die Verknuepfung desselben mit einer zunaechst aus den Veteranen sich
rekrutierenden Stadtgemeinde, welche ihren Namen Aelia Capitolina teils von
ihrem Stifter, teils von dem Gott empfing, welchem damals statt des Jehova die
Juden zinsten. Aehnlich verhaelt es sich mit dem Verbot der Beschneidung; es
erging, wie spaeter bemerkt werden wird, wahrscheinlich gar nicht in der
Absicht, damit dem Judentum als solchem den Krieg zu machen. Begreiflicherweise
fragten die Juden nicht nach den Motiven jener Stadtgruendung und dieses
Verbots, sondern empfanden beides als einen Angriff auf ihren Glauben und ihr
Volktum, und antworteten darauf mit einem Aufstand, der, anfangs von den Roemern
vernachlaessigt, dann durch Intensitaet und Dauer in der Geschichte der
roemischen Kaiserzeit seinesgleichen nicht hat. Die gesamte Judenschaft des In-
und des Auslandes geriet in Bewegung und unter stuetzte mehr oder minder offen
die Insurgenten am Jordan ^32, sogar Jerusalem fiel ihnen in die Haende ^33 und
der Statthalter Syriens, ja Kaiser Hadrianus selbst erschienen auf dem
Kampfplatz. Den Krieg leiteten, bezeichnend genug, der Priester Eleazar ^34 und
der Raeuberhauptmann Simon, zugenannt Bar-Kokheba, das ist der Sternensohn, als
der Bringer himmlischer Hilfe, vielleicht als Messias. Von der finanziellen
Macht und der Organisation der Insurgenten zeugen die durch mehrere Jahre auf
den Namen dieser beiden geschlagenen Silber- und Kupfermuenzen. Nachdem eine
genuegende Truppenzahl zusammengezogen war, gewann der erprobte Feldherr Sextus
Iulius Severus die Oberhand, aber nur in allmaehlichem und langsamem
Vorschreiten; ganz wie in dem Vespasianischen Krieg kam es zu keiner
Feldschlacht, aber ein Platz nach dem andern kostete Zeit und Blut, bis endlich
nach dreijaehriger Kriegfuehrung ^35 die letzte Burg der Insurgenten, das feste
Bether unweit Jerusalem, von den Roemern erstuermt ward. Die in guten Berichten
ueberlieferten Zahlen von 50 genommenen Festungen, 985 besetzten Doerfern,
580000 Gefallenen sind nicht unglaublich, da der Krieg mit unerbittlicher
Grausamkeit gefuehrt und die maennliche Bevoelkerung wohl ueberall niedergemacht
ward.
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^32 Dies zeigen die Ausdruecke Dios 69, 13: oi apantachoy g/e/s Ioydaioi
und pas/e/s /o/s eipein kinoymen/e/s epi to?t/o/ t/e/s oikoymen/e/s.
^33 Wenn nach dem Zeitgenossen Appian (Syr. 50) Hadrian abermals die Stadt
zerstoerte (kateskapse), so beweist das sowohl die vorhergehende wenigstens
einigermassen vollendete Anlage der Kolonie wie auch deren Einnahme durch die
Insurgenten. Nur dadurch auch erklaert sich der grosse Verlust, den die Roemer
erlitten (Fronto Parth. p. 218 Nab.: Hadriano Imperium obtinente quantum militum
a Iudaeis . . . caesum; Dio 69, 14); und es passt wenigstens gut dazu, dass der
Statthalter von Syrien, Publicius Marcellus, seine Provinz verliess, um seinem
Kollegen Tineius Rufus (Eus. hist. eccl. 4, 6; B. Borghesi, Oeuvres completes.
Bd. 3, S. 64) in Palaestina Hilfe zu bringen (CIG 4033, 4C34).
^34 Dass die Muenzen mit diesem Namen dem hadrianischen Aufstand
angehoeren, ist jetzt erwiesen (v. Sallet, Zeitschrift fuer Numismatik 5, 1878,
S. 110); dies ist also der Rabbi Eleazar aus Modein der juedischen Berichte
(Ewald, Geschichte des Volkes Israel, Bd. 7, S. 418; E. Schuerer, Lehrbuch der
neutestamentlichen Zeitgeschichte. Jena 1874, S. 357). Dass der Simon, den
dieselben Muenzen teils mit Eleazar zusammen, teils allein nennen, der Bar-
Kokheba des Justinus Martyr und des Eusebius sei ist mindestens sehr
wahrscheinlich.
^35 Dio (69, 12) nennt den Krieg langwierig (o?t' oligochronios); Eusebius
setzt in der Chronik den Anfang auf das 16., das Ende auf das 18. oder 19. Jahr
Hadrians; die Insurgentenmuenzen sind datiert vom ersten oder vom zweiten Jahr
"der Befreiung Israels". Zuverlaessige Daten haben wir nicht; die rabbinische
Tradition (Schaerer, Lehrbuch, S. 361) ist dafuer nicht brauchbar.
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Infolge dieses Aufstandes ward selbst der Name des besiegten Volkes
beseitigt: die Provinz hiess fortan nicht mehr wie frueher Judaea, sondern mit
dem alten Herodotischen Namen das Syrien der Philistaeer oder Syria Palaestina.
Das Land blieb veroedet; die neue Hadriansstadt bestand, aber gedieh nicht. Den
Juden wurde bei Todesstrafe untersagt, Jerusalem auch nur zu betreten, die
Besatzung verdoppelt; das beschraenkte Gebiet zwischen Aegypten und Syrien, zu
dem von dem transjordanischen nur ein kleiner Streifen am Toten Meer gehoerte
und das nirgends die Reichsgrenze beruehrte, war seitdem mit zwei Legionen
belegt. Trotz aller dieser Gewaltmassregeln blieb die Landschaft unruhig,
zunaechst wohl infolge des mit der Nationalsache laengst verflochtenen
Raeuberwesens; Pius liess gegen die Juden marschieren und auch unter Severus ist
die Rede von einem Krieg gegen Juden und Samariter. Aber zu groesseren
Bewegungen unter den Juden ist es nach dem Hadrianischen Krieg nicht wieder
gekommen.
Es muss anerkannt werden, dass diese wiederholten Ausbrueche des in den
Gemuetern der Juden gaerenden Grolls gegen die gesamte nicht juedische
Mitbuergerschaft die allgemeine Politik der Regierung nicht aenderten. Wie
Vespasian so hielten auch die folgenden Kaiser den Juden gegenueber nicht bloss
im wesentlichen den allgemeinen Standpunkt der politischen und religioesen
Toleranz fest, sondern die fuer die Juden erlassenen Ausnahmegesetze waren und
blieben hauptsaechlich darauf gerichtet, sie von denjenigen allgemeinen
Buergerpflichten, welche mit ihrer Sitte und ihrem Glauben sich nicht vertrugen,
zu entbinden und werden darum auch geradezu als Privilegien bezeichnet ^36.
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^36 Biographie Alexanders c. 22: Iudaeis privilegia reservavit, Christianos
esse passus est. Deutlich tritt hier die bevorzugte Stellung der Juden vor den
Christen zutage, welche allerdings wieder darauf beruht, dass jene eine Nation
darstellen, diese nicht.
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Rechtlich scheint seit Claudius' Zeit, dessen Unterdrueckung des juedischen
Kultus in Italien wenigstens die letzte derartige Massregel ist, von der wir
wissen, den Juden der Aufenthalt und die freie Religionsuebung in dem gesamten
Reich zugestanden zu haben. Es waere kein Wunder gewesen, wenn jene Aufstaende
in den afrikanischen und syrischen Landschaften zur Austreibung der dort
ansaessigen Juden ueberhaupt gefuehrt haetten; aber dergleichen Beschraenkungen
sind, wie wir sahen, nur lokal, zum Beispiel fuer Kypros verfuegt worden. Der
Hauptsitz der Juden blieben immer die griechischen Provinzen; auch in der
einigermassen zweisprachigen Hauptstadt, deren zahlreiche Judenschaft eine Reihe
von Synagogen umfasste, bildete diese einen Teil der griechischen Bevoelkerung
Roms. Ihre Grabschriften in Rom sind ausschliesslich griechisch; in der aus
dieser Judenschaft entwickelten roemischen Christengemeinde ist das
Taufbekenntnis bis in spaete Zeit hinab griechisch gesprochen worden und die
ersten drei Jahrhunderte hindurch die Schriftstellerei ausschliesslich
griechisch gewesen. Aber restriktive Massregeln gegen die Juden scheinen auch in
den lateinischen Provinzen nicht getroffen worden zu sein; durch und mit dem
Hellenismus ist das juedische Wesen in den Okzident eingedrungen, und es fanden
auch in diesem sich Judengemeinden, obwohl sie an Zahl und Bedeutung selbst
jetzt noch, wo die gegen die Diaspora gerichteten Schlaege die Judengemeinden
des Ostens schwer beschaedigt hatten, weit hinter diesen zurueckstanden.
Politische Privilegien folgten aus der Tolerierung des Kultus an sich
nicht. An der Anlegung ihrer Synagogen und Proseuchen wurden die Juden nicht
gehindert, ebensowenig an der Bestellung eines Vorstehers fuer dieselbe
(archisynag/o/gos) sowie eines Kollegiums der Aeltesten (archontes) mit einem
Oberaeltesten (geroysiarch/e/s) an der Spitze. Obrigkeitliche Befugnisse sollten
mit diesen Stellungen nicht verknuepft sein; aber bei der Untrennbarkeit der
juedischen Kirchenordnung und der juedischen Rechtspflege uebten die Vorsteher,
wie im Mittelalter die Bischoefe, wohl ueberall eine wenn auch nur faktische
Jurisdiktion. Auch waren die Judenschaften der einzelnen Staedte nicht allgemein
als Koerperschaften anerkannt, sicher zum Beispiel die roemische nicht; doch
bestanden an vielen Orten auf Grund lokaler Privilegien dergleichen korporative
Verbaende mit Ethnarchen oder, wie sie jetzt meistens heissen, Patriarchen an
der Spitze. Ja in Palaestina finden wir im Anfang des dritten Jahrhunderts
wiederum einen Vorsteher der gesamten Judenschaft, der kraft erblichen
Priesterrechts ueber seine Glaubensgenossen fast wie ein Herrscher schaltet und
selbst ueber Leib und Leben Gewalt hat und welchen die Regierung wenigstens
toleriert ^37. Ohne Frage war dieser Patriarch fuer die Juden der alte
Hohepriester, und es hatte also unter den Augen und unter dem Druck der
Fremdherrschaft das hartnaeckige Volk Gottes sich abermals rekonstituiert und
insoweit Vespasians Werk zuschanden gemacht.
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^37 Um zu erklaeren, dass auch in der Knechtschaft die Juden eine gewisse
Selbstverwaltung haben fuehren koennen, schreibt Origenes (um das Jahr 226) an
Africanus c. 14: "Wieviel vermag auch jetzt, wo die Roemer herrschen und die
Juden ihnen den Zins (to didrachmon) zahlen, der Volksvorsteher (o ethnarch/e/s)
bei ihnen mit Zulassung des Kaisers (sthgch/o/ro?ntos Kaisaros). Auch Gerichte
finden heimlich statt nach dem Gesetze, und es wird sogar manchmal auf den Tod
erkannt. Das habe ich, der ich lange im Lande dieses Volkes gelebt, selber
erfahren und erkundet." Der Patriarch von Judaea tritt schon in dem auf Hadrians
Namen gefaelschten Briefe in der Biographie des Tyrannen Saturninus auf (c. 8),
in den Verordnungen zuerst im Jahre 392 (Cod. Theod. 16, 8, 8). Patriarchen als
Vorsteher einzelner juedischer Gemeinden, wofuer das Wort seiner Bedeutung nach
besser passt, begegnen schon in den Verordnungen Konstantins des Ersten (Cod.
Theod. 16, 8, 1 u. 2).
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In Betreff der Heranziehung der Juden zu den oeffentlichen Leistungen war
die Befreiung vom Kriegsdienst als unvereinbar mit ihren religioesen
Grundsaetzen laengst anerkannt und blieb es. Die besondere Kopfsteuer, welcher
sie unterlagen, die alte Tempelabgabe, konnte als Kompensation fuer diese
Befreiung angesehen werden, wenn sie auch nicht in diesem Sinn auferlegt worden
war. Fuer andere Leistungen, wie zum Beispiel fuer Uebernahme von
Vormundschaften und Gemeindeaemtern, werden sie wenigstens seit Severus' Zeit im
allgemeinen als faehig und pflichtig betrachtet, diejenigen aber, welche ihrem
"Aberglauben" zuwiderlaufen, ihnen erlassen ^38, wobei in Betracht kommt, dass
der Ausschluss von den Gemeindeaemtern mehr und mehr aus einer Zuruecksetzung zu
einem Privilegium ward. Selbst bei Staatsaemtern mag in spaeterer Zeit aehnlich
verfahren worden sein.
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^38 Diese Regel stellen mit Berufung auf einen Erlass des Severus die
Juristen des dritten Jahrhunderts auf (Dig. 27, 1, 15, 6; 50, 2, 3, 3). Nach der
Verordnung vom Jahre 321 (Cod. Theod. 16, 8, 3) erscheint dies sogar als ein
Recht, nicht als eine Pflicht der Juden, so dass es von ihnen abhing, das Amt zu
uebernehmen oder abzulehnen.
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Der einzige ernstliche Eingriff der Staatsgewalt in die juedischen
Gebraeuche betrifft die Zeremonie der Beschneidung; indes ist gegen diese
wahrscheinlich nicht vom religioes-politischen Standpunkt aus eingeschritten
worden, sondern es sind diese Massnahmen mit dem Verbot der Kastrierung
verknuepft gewesen und zum Teil wohl aus Missverstaendnis der juedischen Weise
hervorgegangen. Die immer mehr um sich greifende Unsitte der Verstuemmelung zog
zuerst Domitian in den Kreis der strafbaren Verbrechen; als Hadrian die
Vorschrift schaerfend die Kastrierung unter das Mordgesetz stellte, scheint auch
die Beschneidung als Kastrierung aufgefasst worden zu sein ^39, was allerdings
von den Juden als ein Angriff auf ihre Existenz empfunden werden musste und
empfunden ward, obwohl dies vielleicht nicht damit beabsichtigt war. Bald
nachher, wahrscheinlich infolge des dadurch mitveranlassten Aufstandes,
gestattete Pius die Beschneidung fuer Kinder juedischer Herkunft, waehrend
uebrigens selbst die des unfreien Nichtjuden und des Proselyten nach wie vor
fuer alle dabei Beteiligten die Strafe der Kastration nach sich ziehen sollte.
Dies war insofern auch von politischer Wichtigkeit, als dadurch der foermliche
Uebertritt zum Judentum ein strafbares Verbrechen wurde; und wahrscheinlich ist
das Verbot eben in diesem Sinne nicht erlassen, aber aufrecht erhalten worden
^40. Zu dem schroffen Abschliessen der Judenschaft gegen die Nichtjuden wird
dasselbe das seinige beigetragen haben.
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^39 Die analoge Behandlung der Kastration in dem Hadrianischen Erlass Dig.
48, 8, 4, 2 und der Beschneidung bei Paulus sent. 5, 22, 3; 4 und Mod. dig. 48,
8, 11 pr. legen diese Auffassung nahe. Auch dass Severus ludaeos fieri sub gravi
poena vetuit (vita 17), wird wohl nichts sein als die Einschaerfung dieses
Verbots.
^40 Die merkwuerdige Nachricht bei Origenes (c. Cels. 2, 13; geschrieben um
250) zeigt, dass die Beschneidung des Nichtjuden von Rechts wegen die
Todesstrafe nach sich zog, obwohl es nicht klar ist, inwiefern dies auf
Samariter oder Sicarier Anwendung fand.
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Blicken wir zurueck auf die Geschichte des Judentums in der Epoche von
Augustus bis auf Diocletian, so erkennen wir eine durchgreifende Umgestaltung
seines Wesens wie seiner Stellung. Dasselbe tritt in diese Epoche ein als eine
um das beschraenkte Heimatland fest geschlossene nationale und religioese Macht,
welche selbst dem Reichsregiment in und ausserhalb Judaea mit der Waffe in der
Hand sich entgegenstellt und auf dem Gebiet des Glaubens eine gewaltige
propagandistische Macht entwickelt. Man kann es verstehen, dass die roemische
Regierung die Verehrung des Jahve und den Glauben des Moses nicht anders dulden
wollte, als wie auch der Kultus des Mithra und der Glaube des Zornaster Duldung
fand. Die Reaktion gegen dies geschlossene und auf sich selbst stehende Judentum
waren die von Vespasian und Hadrian gegen das juedische Land, von Traianus gegen
die Juden der Diaspora gefuehrten zerschmetternden Schlaege, deren Wirkung weit
hinaus reicht ueber die unmittelbare Zerstoerung der bestehenden Gemeinschaft
und die Herabdrueckung des Ansehens und der Macht der Judenschaft. In der Tat
sind das spaetere Christentum wie das spaetere Judentum die Konsequenzen dieser
Reaktion des Westens gegen den Osten. Die grosse propagandistische Bewegung,
welche die tiefere religioese Anschauung vom Osten in den Westen trug, ward auf
diese Weise, wie schon gesagt ward, aus den engen Schranken der juedischen
Nationalitaet befreit; wenn sie die Anlehnung an Moses und die Propheten
keineswegs aufgab, loeste sie sich doch notwendig von dem in Scherben gegangenen
Regiment der Pharisaeer. Die christlichen Zukunftsideale wurden universell, seit
es ein Jerusalem auf Erden nicht mehr gab. Aber wie der erweiterte und vertiefte
neue Glaube, der mit seinem Wesen auch den Namen wechselte, aus diesen
Katastrophen hervorging, so nicht minder die verengte und verstockte
Altglaeubigkeit, die sich, wenn nicht mehr in Jerusalem, so in dem Hass gegen
diejenigen zusammenfand, die dasselbe zerstoert hatten, und mehr noch in dem
gegen die freiere und hoehere aus dem Judentum das Christentum entwickelnde
geistige Bewegung. Die aeussere Macht der Judenschaft war gebrochen und
Erhebungen, wie sie in der mittleren Kaiserzeit stattgefunden haben, begegnen
spaeterhin nicht wieder; mit dem Staat im Staate waren die roemischen Kaiser
fertiggeworden, und indem das eigentlich gefaehrliche Moment, die
propagandistische Ausbreitung, auf das Christentum ueberging, waren die Bekenner
des alten Glaubens, die dem neuen Bunde sich verschlossen, fuer die weitere
allgemeine Entwicklung beseitigt. Aber wenn die Legionen Jerusalem zerstoeren
konnten, das Judentum selbst konnten sie nicht schleifen; und was nach der einen
Seite Heilmittel war, uebte nach der andern die Wirkung des Giftes. Das Judentum
blieb nicht bloss, sondern es ward auch ein anderes. Es liegt eine tiefe Kluft
zwischen dem Judentum der aelteren Zeit, das fuer seinen Glauben Propaganda
macht, dessen Tempelvorhof die Heiden erfuellen, dessen Priester taeglich fuer
Kaiser Augustus opfern, und dem starren Rabbinismus, der ausser Abrahams Schoss
und dem mosaischen Gesetz von der Welt nichts weiss noch wissen will. Fremde
waren die Juden immer gewesen und hatten es sein wollen; aber das Gefuehl der
Entfremdung steigerte sich jetzt in ihnen selbst wie gegen sie in entsetzlicher
Weise, und schroff zog man nach beiden Seiten hin dessen gehaessige und
schaedliche Konsequenzen. Von dem geringschaetzigen Spott des Horatius gegen den
aufdringlichen Juden aus dem roemischen Ghetto ist ein weiter Schritt zu dem
feierlichen Groll, welchen Tacitus hegt gegen diesen Abschaum des
Menschengeschlechts, dem alles Reine unrein und alles Unreine rein ist;
dazwischen liegen jene Aufstaende des verachteten Volkes und die Notwendigkeit
dasselbe zu besiegen und fuer seine Niederhaltung fortwaehrend Geld und Menschen
aufzuwenden. Die in den kaiserlichen Verordnungen stets wiederkehrenden Verbote
der Misshandlung des Juden zeigen, dass jene Worte der Gebildeten, wie billig,
von den Niederen in Taten uebersetzt wurden. Die Juden ihrerseits machten es
nicht besser. Sie wendeten sich ab von der hellenischen Literatur, die jetzt als
befleckend galt, und lehnten sogar sich auf gegen den Gebrauch der griechischen
Bibeluebersetzung; die immer steigende Glaubensreinigung wandte sich nicht bloss
gegen die Griechen und die Roemer, sondern ebensosehr gegen die "halben Juden"
von Samaria und gegen die christlichen Ketzer; die Buchstabenglaeubigkeit
gegenueber den heiligen Schriften stieg bis in die schwindelnde Hoehe der
Absurditaet, und vor allem stellte ein womoeglich noch heiligeres Herkommen sich
fest, in dessen Fesseln alles Leben und Denken erstarrte. Die Kluft zwischen
jener Schrift vom Erhabenen, die den Land und Meer erschuetternden Poseidon
Homers und den die leuchtende Sonne erschaffenden Jehova nebeneinander zu
stellen wagt, und den Anfaengen des Talmud, welche dieser Epoche angehoeren,
bezeichnet den Gegensatz zwischen dem Judentum des ersten und dem des dritten
Jahrhunderts. Das Zusammenleben der Juden und Nichtjuden erwies sich mehr und
mehr als ebenso unvermeidlich wie unter den gegebenen Verhaeltnissen
unertraeglich; der Gegensatz in Glaube, Recht und Sitte verschaerfte sich, und
die gegenseitige Hoffart wie der gegenseitige Hass wirkten nach beiden Seiten
hin sittlich zerruettend. Die Ausgleichung wurde in diesen Jahrhunderten nicht
bloss nicht gefoerdert, sondern ihre Verwirklichung immer weiter in die Ferne
gerueckt, je mehr ihre Notwendigkeit sich herausstellte. Diese Erbitterung,
diese Hoffart, diese Verachtung, wie sie damals sich festsetzten, sind freilich
nur das unvermeidliche Aufgehen einer vielleicht nicht minder unvermeidlichen
Saat; aber die Erbschaft dieser Zeiten lastet auf der Menschheit noch heute.
12. Kapitel
Aegypten
Die beiden Reiche von Aegypten und Syrien, die so lange in jeder Hinsicht
miteinander gerungen und rivalisiert hatten, fielen ungefaehr um die gleiche
Zeit widerstandslos in die Gewalt der Roemer. Wenn dieselben auch von dem
angeblichen oder wirklichen Testament Alexanders II. (+ 673 81) keinen Gebrauch
machten und das Land damals nicht einzogen, so standen doch die letzten
Herrscher des Lagidenhauses anerkanntermassen in roemischer Klientel; bei
Thronstreitigkeiten entschied der Senat, und seit der roemische Statthalter von
Syrien, Aulus Gabinius, den Koenig Ptolemaeos Auletes mit seinen Truppen nach
Aegypten zurueckgefuehrt hatte (699 55; vgl. 4, 160), haben die roemischen
Legionen das Land nicht wieder verlassen. Wie die uebrigen Klientelkoenige
nahmen auch die Herrscher Aegyptens an den Buergerkriegen auf Mahnung der von
ihnen anerkannten oder ihnen mehr imponierenden Regierung teil; und wenn es
unentschieden bleiben muss, welche Rolle Antonius in dem phantastischen Ostreich
seiner Traeume dem Heimatland des allzu sehr von ihm geliebten Weibes zugedacht
hat, so gehoert doch Antonius' Regiment in Alexandreia sowohl wie der letzte
Kampf in dem letzten Buergerkrieg vor den Toren dieser Stadt ebensowenig zu der
Spezialgeschichte Aegyptens wie die Schlacht von Aktion zu der von Epirus. Wohl
aber gab diese Katastrophe und der damit verknuepfte Tod der letzten Fuerstin
der Lagidendynastie den Anlass dazu, dass Augustus den erledigten Thron nicht
wieder besetzte, sondern das Koenigreich Aegypten in eigene Verwaltung nahm.
Diese Einziehung des letzten Stueckes der Kueste des Mittelmeeres in die
unmittelbare roemische Administration und der zeitlich und pragmatisch damit
zusammenfallende Abschluss der neuen Monarchie bezeichnen dieser fuer die
Verfassung, jene fuer die Verwaltung des ungeheuren Reiches den Wendepunkt, das
Ende der alten und den Anfang einer neuen Epoche.
Die Einverleibung Aegyptens in das Roemische Reich vollzog sich insofern in
abweichender Weise, als das sonst den Staat beherrschende Prinzip der Dyarchie,
das heisst des gemeinschaftlichen Regiments der beiden hoechsten Reichsgewalten,
des Prinzeps und des Senats, von einigen untergeordneten Bezirken abgesehen,
allein auf Aegypten keine Anwendung fand, sondern in diesem Lande ^1 dem Senat
als solchem sowie jedem einzelnen seiner Mitglieder jede Beteiligung bei dem
Regiment abgeschnitten, ja sogar den Senatoren und den Personen senatorischen
Ranges das Betreten dieser Provinz untersagt ward ^2. Man darf dies nicht etwa
in der Art auffassen, als waere Aegypten mit dem uebrigen Reich nur durch eine
Personalunion verknuepft; der Prinzeps ist nach dem Sinn und Geist der
Augustischen Ordnung ein integrierendes und dauernd funktionierendes Element des
roemischen Staatswesens ebenso wie der Senat, und seine Herrschaft ueber
Aegypten geradeso ein Teil der Reichsherrschaft wie die Herrschaft des
Prokonsuls von Afrika ^3. Eher mag man sich das staatsrechtliche Verhaeltnis in
der Weise verdeutlichen, dass das britische Reich in derselben Verfassung sich
befinden wuerde, wenn Ministerium und Parlament nur fuer das Mutterland in
Betracht kaemen, die Kolonien dagegen dem absoluten Regiment der Kaiserin von
Indien zu gehorchen haetten. Welche Motive den neuen Monarchen dazu bestimmten,
gleich im Beginn seiner Alleinherrschaft diese tief einschneidende und zu keiner
Zeit angefochtene Einrichtung zu treffen und wie dieselbe in die allgemeinen
politischen Verhaeltnisse eingegriffen hat, gehoert der allgemeinen Geschichte
des Reiches an; hier haben wir darzulegen, wie unter der Kaiserherrschaft die
inneren Verhaeltnisse Aegyptens sich gestalteten.
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^1 Diesen Ausschluss des Mitregiments des Senats wie der Senatoren
bezeichnet Tacitus (hist. 1, 11) mit den Worten, dass Augustus Aegypten
ausschliesslich durch seine persoenlichen Diener verwalten lassen wollte (domi
retinere; vgl. Roemisches Staatsrecht, Bd. 2, S. 963). Prinzipiell gilt diese
abweichende Gestaltung des Regiments fuer die saemtlichen nicht von Senatoren
verwalteten Provinzen, deren Vorsteher auch anfaenglich vorzugsweise praefecti
hiessen (CIL V, p. 809, 902). Aber bei der ersten Teilung der Provinzen zwischen
Kaiser und Senat gab es deren wahrscheinlich keine andere als eben Aegypten; und
auch nachher trat der Unterschied hier insofern schaerfer hervor, als die
saemtlichen uebrigen Provinzen dieser Kategorie keine Legionen erhielten. Denn
in dem Eintreten der ritterlichen Legionskommandanten statt der senatorischen,
wie es in Aegypten Regel war, findet der Ausschluss des Senatorenregiments den
greifbarsten Ausdruck.
^2 Diese Bestimmung gilt nur fuer Aegypten, nicht fuer die uebrigen von
Nichtsenatoren verwalteten Gebiete. Wie wesentlich sie der Regierung erschien,
erkennt man aus dem zu ihrer Sicherung aufgebotenen konstitutionellen und
religioesen Apparat (vit. trig. tyr. c. 22).
^3 Die gangbare Behauptung, dass provincia fuer die nicht von Senatoren
verwalteten Distrikte nur abusiv gesetzt werde, ist nicht begruendet.
Privateigentum des Kaisers war Aegypten ebensosehr oder ebensowenig wie Gallien
und Syrien - sagt doch Augustus selber (Mon. Ancyr. 5, 24): Aegyptum imperio
populi Romani adieci und legte dem Statthalter, da er als Ritter nicht pro
praetore sein konnte, durch besonderes Gesetz die gleiche prozessualische
Kompetenz bei, wie sie die roemischen Praetoren hatten (Tac. ann. 12, 60).
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Was im allgemeinen von allen hellenischen oder hellenisierten Gebieten
gilt, dass die Roemer, indem sie sie zum Reiche zogen, die einmal bestehenden
Einrichtungen konservierten und nur, wo es schlechterdings notwendig erschien,
Modifikationen eintreten liessen, das findet in vollem Umfang Anwendung auf
Aegypten.
Wie Syrien so war Aegypten, als es roemisch ward, ein Land zwiefacher
Nationalitaet; auch hier stand neben und ueber dem Einheimischen der Grieche,
jener der Knecht, dieser der Herr. Aber rechtlich und tatsaechlich waren die
Verhaeltnisse der beiden Nationen in Aegypten von denen Syriens voellig
verschieden.
Syrien stand wesentlich schon in der vorroemischen und durchaus in der
roemischen Epoche nur mittelbar unter der Landesregierung; es zerfiel teils in
Fuerstentuemer, teils in autonome Stadtbezirke und wurde zunaechst von den
Landesherren oder Gemeindebehoerden verwaltet. In Aegypten ^4 dagegen gibt es
weder Landesfuersten noch Reichsstaedte nach griechischer Art. Die beiden
Verwaltungskreise, in welche Aegypten zerfaellt, das "Land" (/e/ ch/o/ra) der
Aegypter mit seinen urspruenglich sechsunddreissig Bezirken (nomoi) und die
beiden griechischen Staedte Alexandreia in Unter- und Ptolemais in Oberaegypten
^5 sind streng gesondert und scharf sich entgegengesetzt und doch eigentlich
kaum verschieden. Der Land- wie der Stadtbezirk ist nicht bloss territorial
abgegrenzt, sondern jener wie dieser auch Heimatbezirk; die Zugehoerigkeit zu
einem jeden ist unabhaengig vom Wohnort und erblich. Der Aegypter aus dem
chemmitischen Nomos gehoert demselben mit den Seinigen ebenso an, wenn er seinen
Wohnsitz in Alexandreia hat, wie der in Chemmis wohnende Alexandriner der
Buergerschaft von Alexandreia. Der Landbezirk hat zu seinem Mittelpunkt immer
eine staedtische Ansiedlung, der chemmitische zum Beispiel die um den Tempel des
Chemmis oder des Pan erwachsene Stadt Panopolis, oder, wie dies in griechischer
Auffassung ausgedrueckt wird, es hat jeder Nomos seine Metropolis; insofern kann
jeder Landbezirk auch als Stadtbezirk gelten. Wie die Staedte sind auch die
Nomen in der christlichen Epoche die Grundlage der episkopalen Sprengel
geworden. Die Landbezirke ruhen auf den in Aegypten alles beherrschenden
Kultusordnungen; Mittelpunkt fuer einen jeden ist das Heiligtum einer bestimmten
Gottheit und gewoehnlich fuehrt er von dieser oder von dem heiligen Tier
derselben den Namen; so heisst der chemmitische Bezirk nach dem Gott Chemmis
oder nach griechischer Gleichung dem Pan, andere Bezirke nach dem Hund, dem
Loewen, dem Krokodil. Aber auch umgekehrt fehlt den Stadtbezirken der religioese
Mittelpunkt nicht; Alexandreias Schutzgott ist Alexander, der Schutzgott von
Ptolemais der erste Ptolemaeos, und die Priester, die dort wie hier fuer diesen
Kult und den ihrer Nachfolger eingesetzt sind, sind fuer beide Staedte die
Eponymen. Dem Landbezirk fehlt voellig die Autonomie: die Verwaltung, die
Besteuerung, die Rechtspflege liegen in der Hand der koeniglichen Beamten ^6 und
die Kollegialitaet, das Palladium des griechischen wie des roemischen
Gemeinwesens, ist hier in allen Stufen schlechthin ausgeschlossen. Aber in den
beiden griechischen Staedten ist es auch nicht viel anders. Es gibt wohl eine in
Phylen und Demen eingeteilte Buergerschaft, aber keinen Gemeinderat ^7; die
Beamten sind wohl andere und anders benannte als die der Nomen, aber auch
durchaus Beamte koeniglicher Ernennung und ebenfalls ohne kollegialische
Einrichtung. Erst Hadrian hat einer aegyptischen Ortschaft, dem von ihm zum
Andenken an seinen im Nil ertrunkenen Liebling angelegten Antinoopolis,
Stadtrecht nach griechischer Art gegeben und spaeterhin Severus, vielleicht
ebensosehr den Antiochenern zum Trutz als zu Nutz der Aegypter, der Hauptstadt
Aegyptens und der Stadt Ptolemais und noch mehreren anderen aegyptischen
Gemeinden zwar keine staedtischen Magistrate, aber doch einen staedtischen Rat
bewilligt. Bis dahin nennt sich zwar im offiziellen Sprachgebrauch die
aegyptische Stadt Nomos, die griechische Polis, aber eine Polis ohne Archonten
und Buleuten ist ein inhaltloser Name. So ist es auch in der Praegung. Die
aegyptischen Nomen haben das Praegerecht nicht gehabt; aber noch weniger hat
Alexandreia jemals Muenzen geschlagen. Aegypten ist unter allen Provinzen der
griechischen Reichshaelfte die einzige, welche keine andere Muenze als
Koenigsmuenze kennt. Auch in roemischer Zeit war dies nicht anders. Die Kaiser
stellten die unter den letzten Lagiden eingerissenen Missbraeuche ab: Augustus
beseitigte die unreelle Kupferpraegung derselben, und als Tiberius die
Silberpraegung wieder aufnahm, gab er dem aegyptischen Silbergeld ebenso reellen
Wert wie dem uebrigen Provinzialcourant des Reiches ^8. Aber der Charakter der
Praegung blieb im wesentlichen der gleiche ^9. Es ist ein Unterschied zwischen
Nomos und Polis wie zwischen dem Gott Chemmis und dem Gott Alexander; in
administrativer Hinsicht ist eine Verschiedenheit nicht da. Aegypten bestand aus
einer Mehrzahl aegyptischer und einer Minderzahl griechischer Ortschaften,
welche saemtlich der Autonomie entbehrten und saemtlich unter unmittelbarer und
absoluter Verwaltung des Koenigs und der von diesem ernannten Beamten standen.
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^4 Selbstverstaendlich ist hier das Land Aegypten gemeint, nicht die den
Lagiden unterworfenen Besitzungen. Kyrene war aehnlich geordnet. Aber auf das
suedliche Syrien und die uebrigen, laengere oder kuerzere Zeit in aegyptischer
Gewalt stehenden Territorien ist das eigentlich aegyptische Regiment niemals
angewandt worden.
^5 Dazu kommt weiter Naukratis, die aelteste schon vor den Ptolemaeern in
Aegypten gegruendete Griechenstadt; ferner Paraetonion, das freilich
gewissermassen schon ausserhalb der Grenzen Aegyptens liegt.
^6 Eine gewisse gemeinschaftliche Aktion, aehnlich derjenigen; wie sie auch
von den Regionen und den vici der sich selbst verwaltenden Stadtgemeinden geuebt
wird hat natuerlich nicht gefehlt: dahin gehoert, was von Agoranomie und
Gymnasiarchie in den Nomen begegnet, ebenso die Setzung von Ehrendenkmaelern und
dergleichen mehr, was uebrigens alles nur in geringem Umfang und meist erst
spaet sich zeigt. Nach dem Edikt des Alexander (CIG 4957, Z. 34) scheinen die
Strategen von dem Statthalter nicht eigentlich ernannt, sondern nur nach
angestellter Pruefung bestaetigt worden zu sein; wer den Vorschlag gehabt hat,
wissen wir nicht.
^7 Deutlich treten die Verhaeltnisse hervor in der im Anfang der Regierung
des Pius dem bekannten Redner Aristeides von den aegyptischen Griechen gesetzten
Inschrift (CIG 4679); als Dedikanten werden genannt /e/ polis t/o/n
Alexandre/o/n kai Ermo?polis /e/ megal/e/ kai /e/ boyl/e/ /e/ Antinoe/o/n ne/o/n
Ell/e/n/o/n kai oi en t/o/ Delta t/e/s Aig?ptoy kai oi ton TH/e/baikon nomon
oiko?ntes Ell/e/nes.. Also nur Antinoopolis, die Stadt der "neuen Hellenen", hat
eine Bule; Alexandreia erscheint ohne diese, aber als griechische Stadt in der
Gesamtheit. Ausserdem beteiligten sich bei dieser Widmung die im Delta und die
in Thebae lebenden Griechen, von den aegyptischen Staedten einzig Gross-
Hermopolis, wobei wahrscheinlich die unmittelbare Nachbarschaft von Antinoopolis
eingewirkt hat. Ptolemais legt Strabon (17, 1, 42 p. 813) ein s?st/e/ma
politikon en t/o/ Ell/e/nik/o/ trop/o/ bei; aber schwerlich darf man dabei an
mehr denken, als was der Hauptstadt nach ihrer uns genauer bekannten Verfassung
zustand, also namentlich an die Teilung der Buergerschaft in Phylen. Dass die
vorptolemaeische Griechenstadt Naukratis die Bule, die sie ohne Zweifel gehabt
hat, in ptolemaeischer Zeit behalten hat, ist moeglich, kann aber fuer die
Ptolemaeischen Ordnungen nicht entscheiden.
Dios Angabe (51, 17), dass Augustus die uebrigen aegyptischen Staedte bei
ihrer Ordnung beliess, den Alexandrinern aber wegen ihrer Unzuverlaessigkeit den
Gemeinderat nahm, beruht wohl auf Missverstaendnis, um so mehr, als danach
Alexandreia zurueckgesetzt erscheint gegen die sonstigen aegyptischen Gemeinden,
was durchaus nicht zutrifft.
^8 Die aegyptische Goldpraegung hoerte natuerlich mit der Einziehung des
Landes auf, da es im Roemischen Reiche nur Reichsgold gibt. Auch mit dem Silber
hat Augustus es ebenso gehalten und als Herr von Aegypten lediglich Kupfer und
auch dies nur in maessigen Quantitaeten schlagen lassen. Zuerst Tiberius praegte
seit 27/28 n. Chr. Silbermuenze fuer die aegyptische Zirkulation, dem Anschein
nach als Zeichengeld, da die Stuecke ungefaehr dem Gewicht nach 4, dem
Silbergehalt nach 1 roemischen Denar entsprechen (Feuardent, Numismatique de la
Egypte ancienne. Bd. 2, S. XI). Aber da im legalen Kurs die alexandrinische
Drachme als Obolus (also als Sechstel, nicht als Viertel; vergleiche Roemisches
Muenzwesen, S. 43, 723) des roemischen Denars angesetzt wurde (Hermes 5, 1870,
S. 136) und das provinziale Silber gegenueber dem Reichssilber immer verlor, ist
vielmehr das alexandrinische Tetradrachmon vom Silberwert eines Denars zum
Kurswert von 2s Denar angesetzt worden. Demnach ist bis auf Commodus, von wo ab
das alexandrinische Tetradrachmon wesentlich Kupfermuenze ist, dasselbe gerade
ebenso Wertmuenze gewesen wie das syrische Tetradrachmon und die kappadokische
Drachme; man hat nur jenem den alten Namen und das alte Gewicht gelassen.
^9 Dass Kaiser Hadrianus unter anderen seiner aegyptisierenden Launen auch
den Nomen so wie seiner neuen Antinoopolis fuer einmal das Praegerecht gab, was
dann nachher noch ein paar Mal geschehen ist, aendert an der Regel nichts.
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Es war hiervon eine Folge, dass Aegypten allein unter allen roemischen
Provinzen keine allgemeine Vertretung gehabt hat. Der Landtag ist die
Gesamtrepraesentation der sich selber verwaltenden Gemeinden der Provinz. In
Aegypten aber gab es solche nicht; die Nomen waren lediglich kaiserliche oder
vielmehr koenigliche Verwaltungsbezirke, und Alexandreia stand nicht bloss so
gut wie allein, sondern war ebenfalls ohne eigentliche munizipale Organisation.
Der an der Spitze der Landeshauptstadt stehende Priester konnte wohl sich
"Oberpriester von Alexandreia und ganz Aegypten" nennen und hat eine gewisse
Aehnlichkeit mit dem Asiarchen und dem Bithyniarchen Kleinasiens; aber die tiefe
Verschiedenheit der Organisationen wird dadurch doch nur verdeckt.
Die Herrschaft traegt dementsprechend in Aegypten einen ganz anderen
Charakter als in dem uebrigen schliesslich unter dem Kaiserregiment
zusammengefassten Gebiet der griechischen und der roemischen Zivilisation. In
diesem verwaltet durchgaengig die Gemeinde; der Herrscher des Reiches ist genau
genommen nur der gemeinsame Vorsteher der zahlreichen mehr oder minder autonomen
Buergerschaften, und neben den Vorzuegen der Selbstverwaltung treten ihre
Nachteile und Gefahren ueberall hervor. In Aegypten ist der Herrscher Koenig,
der Landesbewohner sein Untertan, die Verwaltung die der Domaene. Diese
prinzipiell ebenso von oben herab absolut gefuehrte wie auf das gleiche
Wohlergehen aller Untertanen ohne Unterschied des Ranges und des Vermoegens
gerichtete Verwaltung ist die Eigenart des Lagidenregiments, entwickelt
wahrscheinlich mehr aus der Hellenisierung der alten Pharaonenherrschaft als aus
der staedtisch geordneten Weltherrschaft, wie der grosse Makedonier sie gedacht
hatte und wie sie am vollkommensten in dem syrischen Neu-Makedonien zur
Durchfuehrung gelangte. Das System forderte einen in eigener Person nicht bloss
heerfuehrenden, sondern in taeglicher Arbeit verwaltenden Koenig, eine
entwickelte und streng disziplinierte Beamtenhierarchie, ruecksichtslose
Gerechtigkeit gegen Hohe und Niedere; und wie diese Herrscher, nicht durchaus
ohne Grund, sich wohl den Namen des Wohltaeters (eyerget/e/s) beilegten, so darf
die Monarchie der Lagiden zusammengestellt werden mit der friderizianischen, von
der sie in den Grundzuegen sich nicht entfernte. Allerdings hatte die Kehrseite,
das unvermeidliche Zusammenbrechen des Systems in unfaehiger Hand, auch Aegypten
erfahren. Aber die Norm blieb; und der augustische Prinzipat neben der
Senatsherrschaft ist nichts als die Vermaehlung des Lagidenregiments mit der
alten staedtischen und buendischen Entwicklung.
Eine weitere Folge dieser Regierungsform ist die namentlich vom
finanziellen Standpunkt aus unzweifelhafte Ueberlegenheit der aegyptischen
Verwaltung ueber diejenige der uebrigen Provinzen. Man kann die vorroemische
Epoche bezeichnen als das Ringen der finanziell dominierenden Macht Aegyptens
mit dem raeumlich den uebrigen Osten erfuellenden asiatischen Reich; in der
roemischen setzt sich dies in gewissem Sinn darin fort, dass die kaiserlichen
Finanzen insbesondere durch den ausschliesslichen Besitz Aegyptens denen des
Senats ueberlegen gegenueberstehen. Wenn es der Zweck des Staates ist, den
moeglichst grossen Betrag aus dem Gebiet herauszuwirtschaften, so sind in der
alten Welt die Lagiden die Meister der Staatskunst schlechthin gewesen.
Insonderheit waren sie auf diesem Gebiet die Lehrmeister und die Vorbilder der
Caesaren. Wie viel die Roemer aus Aegypten zogen, vermoegen wir nicht mit
Bestimmtheit zu sagen. In der persischen Zeit hatte Aegypten einen Jahrestribut
von 700 babylonischen Talenten Silbers, etwa 4 Mill. Mark entrichtet; die
Jahreseinnahme der Ptolemaeer aus Aegypten oder vielmehr aus ihren Besitzungen
ueberhaupt betrug in ihrer glaenzendsten Periode 12800 aegyptische Silbertalente
oder 57 Mill. Mark und ausserdem 1« Mill. Artaben = 591000 Hektoliter Weizen; am
Ende ihrer Herrschaft reichlich 6000 Talente oder 23 Mill. Mark. Die Roemer
bezogen aus Aegypten jaehrlich den dritten Teil des fuer den Konsum von Rom
erforderlichen Korns, 20 Mill. roemische Scheffel ^10 = 1740000 Hektoliter;
indes ist ein Teil davon sicher aus den eigentlichen Domaenen geflossen, ein
anderer vielleicht gegen Entschaedigung geliefert worden, waehrend andererseits
die aegyptischen Steuern wenigstens zu einem grossen Teil in Geld angesetzt
waren, so dass wir nicht imstande sind, die aegyptische Einnahme der roemischen
Reichskasse auch nur annaehernd zu bestimmen. Aber nicht bloss durch ihre Hoehe
ist sie fuer die roemische Staatswirtschaft von entscheidender Bedeutung
gewesen, sondern weil sie als Vorbild diente zunaechst fuer den kaiserlichen
Domanialbesitz in den uebrigen Provinzen, ueberhaupt aber fuer die gesamte
Reichsverwaltung, wie dies bei deren Darlegung auseinanderzusetzen ist.
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^10 Diese Ziffer gibt die sogenannte Epitome Victors c. 1 fuer die Zeit
Augusts. Nachdem diese Abgabe auf Konstantinopel uebergegangen war, gingen dahin
unter Justinian (ed. 13 c. 8) jaehrlich 8 Mill. Artaben (denn diese sind nach c.
6 zu verstehen) oder 26 2/3 Mill. roemischer Scheffel (Hultsch, Metrologie, S.
628), wozu dann noch die von Diocletian eingefuehrte gleichartige Abgabe an die
Stadt Alexandreia hinzutritt. Den Schiffern wurden fuer den Transport nach
Konstantinopel jaehrlich 8000 Solidi = 100000 Mark aus der Staatskasse gezahlt.
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Aber wenn die kommunale Selbstverwaltung in Aegypten keine Staette hat und
in dieser Hinsicht zwischen den beiden Nationen, aus welchen dieser Staat ebenso
wie der syrische sich zusammensetzt, eine reale Verschiedenheit nicht besteht,
so ist zwischen ihnen in anderer Beziehung eine Schranke aufgerichtet, wozu
Syrien keine Parallele bietet. Nach der Ordnung der makedonischen Eroberer
disqualifizierte die aegyptische Ortsangehoerigkeit fuer saemtliche oeffentliche
Aemter und fuer den besseren Kriegsdienst. Wo der Staat seinen Buergern
Zuwendungen machte, beschraenkten sich diese auf die der griechischen Gemeinden
^11; die Kopfsteuer dagegen zahlten lediglich die Aegypter, und auch von den
Gemeindelasten, die die Eingesessenen des einzelnen aegyptischen Bezirkes
treffen, sind die daselbst ansaessigen Alexandriner befreit ^12. Obwohl im Fall
des Vergehens der Ruecken des Aegypters wie des Alexandriners buesste, so durfte
doch dieser sich ruehmen, und tat es auch, dass ihn der Stock treffe und nicht
wie jenen die Peitsche ^13. Sogar die Gewinnung des besseren Buergerrechts war
den Aegyptern untersagt ^14. Die Buergerverzeichnisse der zwei grossen von den
beiden Reichsgruendern geordneten und benannten Griechenstaedte in Unter- und
Oberaegypten fassten die herrschende Bevoelkerung in sich, und der Besitz des
Buergerrechts einer dieser Staedte war in dem Aegypten der Ptolemaeer dasselbe,
was der Besitz des roemischen Buergerrechts im Roemischen Reich. Was Aristoteles
dem Alexander empfahl, den Hellenen ein Herrscher (/e/gem/o/n), den Barbaren ein
Herr zu sein, jene als Freunde und Genossen zu versorgen, diese wie die Tiere
und die Pflanzen zu nutzen, das haben die Ptolemaeer in vollem Umfang praktisch
durchgefuehrt. Der Koenig, groesser und freier als sein Lehrmeister, trug den
hoeheren Gedanken im Sinne der Umwandlung der Barbaren in Hellenen oder
wenigstens der Ersetzung der barbarischen Ansiedlungen durch hellenische, und
diesem gewaehrten die Nachfolger fast ueberall und namentlich in Syrien breiten
Spielraum ^15. In Aegypten geschah das gleiche nicht. Wohl suchten dessen
Herrscher mit den Eingeborenen namentlich auf dem religioesen Gebiet Fuehlung zu
halten und wollten nicht als Griechen ueber die Aegypter, viel eher als irdische
Goetter ueber die Untertanen insgemein herrschen; aber damit vertrug sich die
ungleiche Berechtigung der Untertanen durchaus, eben wie die rechtliche und
faktische Bevorzugung des Adels ein ebenso wesentlicher Teil des
friderizianischen Regiments war wie die gleiche Gerechtigkeit gegen Vornehme und
Geringe.
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^11 Wenigstens schloss Kleopatra bei einer Getreideverteilung in
Alexandreia die Juden aus (Ios. c. Ap. 2, 5), um so viel mehr also die Aegypter.
^12 Das Edikt des Alexander (CIG 4957) Z. 33 f. befreit die en t/e/ ch/o/ra
(nicht en t/e/ polei) ihrer Geschaefte wegen wohnhaften eggeneis Alexandreis von
den leitoyrgiai ch/o/rikai.
^13 "Es bestehen", sagt der alexandrinische Jude Philon (in Flacc. 10),
"hinsichtlich der koerperlichen Zuechtigung (t/o/n mastig/o/n) Unterschiede in
unserer Stadt nach dem Stande der zu Zuechtigenden: die Aegypter werden mit
anderer Geissel gezuechtigt und von anderen, die Alexandriner aber mit Stoecken
(spathais; spath/e/ ist die Rispe des Palmblatts) und von den alexandrinischen
Stocktraegern" (spath/e/phoroi, etwa bacillarius). Er beklagt sich nachher
bitter, dass die Aeltesten seiner Gemeinde, wenn sie einmal gehauen werden
sollten, nicht wenigstens mit den anstaendigen Buergerpruegeln (tais
eleytheri/o/terais kai politik/o/terais mastixin) bedacht worden seien.
^14 Ios. c. Ap. 2, 4: monois Aigyptiois oi k?rioi n?n R/o/maioi t/e/s
oikoymen/e/s metalambanein /e/stinoso?n politeias apeir/e/kasin. 6: Aegyptiis
neque regum quisquam videtur ius civitatis fuisse largitus neque nunc quilibet
imperatorum (vgl. Eph. epigr. V, p. 13). Derselbe rueckt seinem Widersacher vor
(2, 3, 4), dass er, ein geborener Aegypter, seine Heimat verleugnet und sich
fuer einen Alexandriner ausgegeben habe. Einzelausnahmen werden dadurch nicht
ausgeschlossen.
^15 Auch die alexandrinische Wissenschaft hat im Sinne des Koenigs gegen
diesen Satz (Plut. de fort. Alex. 1, 6) protestiert; Eratosthenes bezeichnete
die Zivilisation als nicht den Hellenen allein eigen und nicht allen Barbaren
abzusprechen, zum Beispiel nicht den Indern, den Arianern, den Roemern, den
Karthagern; die Menschen seien vielmehr zu teilen in "gute" und "schlechte"
(Strabon 1. fin. p. 66). Aber von dieser Theorie ist auf die aegyptische Rasse
auch unter den Lagiden keine praktische Anwendung gemacht worden.
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Wie die Roemer im Orient ueberhaupt das Werk der Griechen fortsetzten, so
blieb auch die Ausschliessung der einheimischen Aegypter von der Gewinnung des
griechischen Buergerrechts nicht bloss bestehen, sondern wurde auf das roemische
Buergerrecht ausgedehnt. Der aegyptische Grieche dagegen konnte das letztere
ebenso wie jeder andere Nichtbuerger gewinnen. Der Eintritt freilich in den
Senat wurde ihm so wenig gestattet wie dem roemischen Buerger aus Gallien, und
diese Beschraenkung ist viel laenger fuer Aegypten als fuer Gallien in Kraft
geblieben ^16; erst im Anfang des dritten Jahrhunderts wurde in einzelnen
Faellen davon abgesehen, und als Regel hat sie noch im fuenften gegolten. In
Aegypten selbst wurden die Stellungen der Oberbeamten, das heisst der fuer die
ganze Provinz fungierenden, und ebenso die Offizierstellen den roemischen
Buergern in der Form vorbehalten, dass als Qualifikation dafuer das Ritterpferd
verlangt ward; es war dies durch die allgemeine Reichsordnung gegeben, und
aehnliche Privilegien hatten ja in Aegypten unter den frueheren Lagiden die
Makedonier gegenueber den sonstigen Griechen besessen. Die Aemter zweiten Ranges
blieben unter roemischer Herrschaft wie bisher den aegyptischen Aegyptern
verschlossen und wurden mit Griechen besetzt, zunaechst den Buergern von
Alexandreia und Ptolemais. Wenn im Reichskriegsdienst fuer die erste Klasse das
roemische Buergerrecht gefordert wurde, so liess man doch bei den in Aegypten
selbst stationierten Legionen auch den aegyptischen Griechen nicht selten in der
Weise zu, dass ihm bei der Aushebung das roemische Buergerrecht verliehen ward.
Fuer die Kategorie der Auxiliartruppen unterlag die Zulassung der Griechen
keiner Beschraenkung; die Aegypter aber sind auch hierfuer wenig oder gar nicht,
dagegen fuer die unterste Klasse, die in der ersten Kaiserzeit noch aus Sklaven
gebildete Flottenmannschaft, spaeterhin in betraechtlicher Zahl verwendet
worden. Im Lauf der Zeit hat die Zuruecksetzung der eingeborenen Aegypter wohl
in ihrer Strenge nachgelassen und sind dieselben oefter zum griechischen und
mittels dessen auch zum roemischen Buergerrecht gelangt; im ganzen aber ist das
roemische Regiment einfach die Fortsetzung wie der griechischen Herrschaft so
auch der griechischen Exklusivitaet gewesen. Wie das makedonische Regiment sich
mit Alexandreia und Ptolemais begnuegt hatte, so hat auch das roemische einzig
in dieser Provinz nicht eine einzige Kolonie gegruendet ^17.
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^16 Auch die Zulassung zu den ritterlichen Stellungen war wenigstens
erschwert: non est ex albo iudex patre Aegyptio (CIL IV, 1943; vgl. Roemisches
Staatsrecht, Bd. 2, S. 919, A. 2; Eph. epigr. V, p. 13 n. 2). Doch begegnen
frueh einzelne Alexandriner in ritterlichen Aemtern wie Tiberius Julius
Alexander (Anm. 21).
^17 Wenn die Worte des Plinius (nat. 5, 31, 128) genau sind, dass die
Pharos-Insel vor dem Hafen von Alexandreia eine colonia Caesaris dictatoris sei
(vgl. 5, 221), so hat der Diktator auch hier ueber Aristoteles hinaus wie
Alexander gedacht. Darueber aber kann kein Zweifel sein, dass nach der
Einziehung Aegyptens es dort nie eine roemische Kolonie gegeben hat.
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Auch die Sprachordnung ist in Aegypten wesentlich unter den Roemern
geblieben, wie die Ptolemaeer sie festgestellt hatten. Abgesehen von dem
Militaer, bei dem das Lateinische allein herrschte, ist fuer den Verkehr der
oberen Stellen die Geschaeftssprache die griechische. Der einheimischen Sprache,
die von den semitischen wie von den arischen Sprachen radikal verschieden, am
naechsten vielleicht derjenigen der Berber in Nordafrika verwandt ist, und der
einheimischen Schrift haben die roemischen Herrscher und ihre Statthalter sich
nie bedient, und wenn schon unter den Ptolemaeern den aegyptisch geschriebenen
Aktenstuecken griechische Uebersetzung beigefuegt werden musste, so gilt fuer
diese ihre Nachfolger mindestens dasselbe. Allerdings blieb es den Aegyptern
unverwehrt, soweit es ihnen nach dem Ritual erforderlich oder sonst zweckmaessig
erschien, sich der Landessprache und ihrer altgeheiligten Schriftzeichen zu
bedienen; es musste auch in diesem alten Heim des Schriftgebrauchs im
gewoehnlichen Verkehr nicht bloss bei Privatkontrakten, sondern selbst bei
Steuerquittungen und aehnlichen Schriftstuecken die dem grossen Publikum allein
gelaeufige Landessprache und die uebliche Schrift zugelassen werden. Aber es war
dies eine Konzession und der herrschende Hellenismus bemueht, sein Reich zu
erweitern. Das Bestreben, den im Lande herrschenden Anschauungen und
Ueberlieferungen auch im Griechischen einen allgemein gueltigen Ausdruck zu
schaffen, hat der Doppelnamigkeit in Aegypten eine Ausdehnung gegeben wie
nirgend sonst. Alle aegyptischen Goetter, deren Namen nicht selbst den Griechen
gelaeufig wurden, wie der der Isis, wurden mit entsprechenden oder auch nicht
entsprechenden griechischen geglichen; vielleicht die Haelfte der Ortschaften,
eine Menge von Personen fuehren sowohl eine einheimische wie eine griechische
Benennung. Allmaehlich drang hierin die Hellenisierung durch. Die alte heilige
Schrift begegnet auf den erhaltenen Denkmaelern zuletzt unter Kaiser Decius um
die Mitte des 3., ihre gelaeufigere Abart zuletzt um die Mitte des 5.
Jahrhunderts; aus dem gemeinen Gebrauch sind beide betraechtlich frueher
verschwunden. Die Vernachlaessigung und der Verfall der einheimischen Elemente
der Zivilisation drueckt sich darin aus. Die Landessprache selbst behauptete
sich noch lange nachher in den abgelegenen Orten und den niederen Schichten und
ist erst im 17. Jahrhundert voellig erloschen, nachdem sie, die Sprache der
Kopten, gleich wie die syrische, infolge der Einfuehrung des Christentums und
der auf die Hervorrufung einer volkstuemlich-christlichen Literatur gerichteten
Bemuehungen, in der spaeteren Kaiserzeit eine beschraenkte Regeneration erfahren
hatte.
In dem Regiment kommt vor allem in Betracht die Unterdrueckung des Hofes
und der Residenz, die notwendige Folge der Einziehung des Landes durch Augustus.
Es blieb wohl, was bleiben konnte. Auf den in der Landessprache, also bloss fuer
Aegypter geschriebenen Inschriften heissen die Kaiser wie die Ptolemaeer Koenige
von Ober- und Unteraegypten und die Auserwaehlten der aegyptischen
Landesgoetter, daneben freilich auch, was bei den Ptolemaeern nicht geschehen
war, Grosskoenige ^18. Die Zeiten zaehlte man in Aegypten wie bisher nach dem
landueblichen Kalender und seinem auf die roemischen Herrscher uebergehenden
Koenigsjahr; den goldenen Becher, den in jedem Juni der Koenig in den
schwellenden Nil warf, warf jetzt der roemische Vizekoenig. Aber damit reichte
man nicht weit. Der roemische Herrscher konnte die mit seiner Reichsstellung
unvereinbare Rolle des aegyptischen Koenigs nicht durchfuehren. Mit der
Vertretung durch einen Untergebenen machte der neue Landesherr gleich bei dem
ersten nach Aegypten gesandten Statthalter unbequeme Erfahrungen; der tuechtige
Offizier und talentvolle Poet, der es nicht hatte lassen koennen, auch seinen
Namen den Pyramiden einzuschreiben, wurde deswegen abgesetzt und ging daran
zugrunde. Es war unvermeidlich, hier Schranken zu setzen. Die Geschaefte, deren
Erledigung nach dem Alexandersystem nicht minder dem Fuersten persoenlich oblag
^19 wie nach der Ordnung des roemischen Prinzipats, mochte der roemische
Statthalter fuehren wie der einheimische Koenig; Koenig durfte er weder sein
noch scheinen ^20. Es ward das in der zweiten Stadt der Welt sicher tief und
schwer empfunden. Der blosse Wechsel der Dynastie waere nicht allzu sehr ins
Gewicht gefallen. Aber ein Hof wie der der Ptolemaeer, geordnet nach dem
Zeremoniell der Pharaonen, Koenig und Koenigin in ihrer Goettertracht, der Pomp
der Festzuege, der Empfang der Priesterschaften und der Gesandten, die
Hofbankette, die grossen Zeremonien der Kroenung, der Eidesleistung, der
Vermaehlung, der Bestattung, die Hofaemter der Leibwaechter und des
Oberleibwaechters (archis/o/matoph?lax), des einfuehrenden Kammerherrn
(eisanggele?s), des Obertafelmeisters (archedeatros), des Oberjaegermeisters
(archikyn/e/gos), die Vettern und Freunde des Koenigs, die Dekorierten - das
alles ging fuer die Alexandriner ein fuer alle Mal unter mit der Verlegung des
Herrschersitzes vom Nil an den Tiber. Nur die beiden beruehmten alexandrinischen
Bibliotheken blieben dort mit allem ihrem Zubehoer und Personal als Rest der
alten koeniglichen Herrlichkeit. Ohne Frage buesste Aegypten bei der
Depossedierung seiner Regenten sehr viel mehr ein als Syrien; freilich waren
beide Voelkerschaften in der machtlosen Lage, dass sie hinnehmen mussten, was
ihnen angesonnen ward, und an eine Auflehnung fuer die verlorene
Weltmachtstellung ist hier so wenig wie dort auch nur gedacht worden.
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^18 Augustus' Titulatur lautet bei den aegyptischen Priestern
folgendermassen: "Der schoene Knabe, lieblich durch Liebenswuerdigkeit, der
Fuerst der Fuersten, auserwaehlt von Ptah und Nun dem Vater der Goetter, Koenig
von Oberaegypten und Koenig von Unteraegypten, Herr der beiden Laender,
Autokrator, Sohn der Sonne, Herr der Diademe, Kaisar, ewig lebend, geliebt von
Ptah und Isis"; wobei die beiden Eigennamen Autokrator Kaisar aus dem
Griechischen beibehalten sind. Der Augustustitel kommt zuerst bei Tiberius in
aegyptischer Uebersetzung (ntixu), mit beibehaltenem griechischem Sebastos
zuerst unter Domitian vor. Die Titulatur des schoenen lieblichen Knaben, welche
in besserer Zeit nur den zu Mitregenten erklaerten Kindern gegeben zu werden
pflegt, ist spaeterhin stereotyp geworden und findet sich wie fuer Caesarion und
Augustus, so auch fuer Tiberius, Claudius, Titus, Domitian verwendet. Wichtiger
ist es, dass abweichend von der aelteren Titulatur, wie sie zum Beispiel
griechisch auf der Inschrift von Rosette sich findet (CIG 4697), bei den
Caesaren von Augustus an der Titel hinzutritt "Fuerst der Fuersten", womit ohne
Zweifel deren, den frueheren Koenigen fehlende Grosskoenigstellung ausgedrueckt
werden soll.
^19 Wenn die Leute wuessten, pflegte Koenig Seleukos zu sagen (Plus. an
seni 11), was es fuer eine Last ist, so viele Briefe zu schreiben und zu lesen,
so wuerden sie das Diadem, wenn es zu ihren Fuessen laege, nicht aufheben.
^20 Dass derselbe andere Abzeichen trug als die Offiziere ueberhaupt
(Hirschfeld, Verwaltungsgeschichte, S. 271), wird aus vita Hadr. 4 schwerlich
gefolgert werden duerfen.
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Die Verwaltung des Landes liegt, wie schon gesagt ward, in den Haenden des
"Stellvertreters", das heisst des Vizekoenigs; denn obwohl der neue Landesherr,
mit Ruecksicht auf seine Stellung im Reiche, sowohl fuer sich wie fuer seine
hoeher gestellten Vertreter der koeniglichen Benennungen auch in Aegypten sich
enthielt, so hat er doch der Sache nach durchaus als Nachfolger der Ptolemaeer
die Herrschaft gefuehrt, und die gesamte zivile wie militaerische Obergewalt ist
in seiner und seines Vertreters Hand vereinigt. Dass weder Nichtbuerger noch
Senatoren diese Stellung bekleiden durften, ist schon bemerkt worden;
Alexandrinern, wenn sie zum Buergerrecht und ausnahmsweise zum Ritterpferd
gelangt waren, ist sie zuweilen uebertragen worden ^21. Im uebrigen stand dieses
Amt unter den nicht senatorischen an Rang und Einfluss anfaenglich allen
uebrigen voran und spaeterhin einzig der Kommandantur der kaiserlichen Garde
nach. Ausser den eigentlichen Offizieren, wobei nur der Ausschluss des Senators
und die dadurch bedingte niedrigere Titulatur des Legionskommandanten
(praefectus statt legatus) von der allgemeinen Ordnung sich entfernt, fungieren
neben und unter dem Statthalter und gleichfalls fuer ganz Aegypten ein oberster
Beamter fuer die Justiz und ein oberster Finanzverwalter, beide ebenfalls
roemische Buerger vom Ritterrang und, wie es scheint, nicht dem
Verwaltungsschema der Ptolemaeer entlehnt, sondern nach einem auch in anderen
kaiserlichen Provinzen angewandten Verfahren dem Statthalter zu- und
untergeordnet ^22.
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^21 So hat Tiberius Julius Alexander, ein alexandrinischer Jude, in den
letzten Jahren Neros diese Statthalterschaft gefuehrt; allerdings gehoerte er
einer sehr reichen und vornehmen, selbst mit dem kaiserlichen Hause
verschwaegerten Familie an und hatte im Partherkrieg sich als Generalstabschef
Corbulos ausgezeichnet, welche Stellung er bald nachher in dem Juedischen Krieg
des Titus abermals uebernahm. Er muss einer der tuechtigsten Offiziere dieser
Epoche gewesen sein. Ihm ist die pseudo-aristotelische, offenbar von einem
andern alexandrinischen Juden verfasste Schrift peri kosmo? gewidmet (J.
Bernays, Gesammelte Abhandlungen. Bd. 2, S. 278).
^22 Unverkennbar sind der iuridicus Aegypti (CIL X, 6976; auch missus in
Aegyptum ad iurisdictionem Bull. dell' Inst. 1856, S. 142; iuridicus Alexandreae
CIL VI, 1564; VIII, 8925, 8934; Dig. 1, 20, 2) und der idiologus ad Aegyptum
(CIL X, 4862; procurator ducenarius Alexandriae idiulogu Eph. epigr. V, p. 30
und CIG 3751; o gn/o/m/o/n to? idioy logoy CIG 4957 v. 44 vgl. v. 39) den neben
den Legaten der kaiserlichen Provinzen stehenden Hilfsbeamten fuer die
Rechtspflege (legati iuridici) und die Finanzen (procuratores provinciae)
nachgebildet (Roemisches Staatsrecht, Bd. 1, 2. Aufl., S. 223, A. 5). Dass sie
fuer das ganze Land bestellt und dem praefectus Aegypti untergeordnet waren,
sagt Strabon (17, 1, 12 p. 797) ausdruecklich und fordert auch die oeftere
Erwaehnung Aegyptens in der Titulatur sowie die Wendung in dem Edikt CIG 4957 v.
39. Ausschliesslich aber war ihre Kompetenz nicht; "viele Prozesse", sagt
Strabon, "entscheidet der rechtsprechende Beamte" (dass es Vormuender gab, lehrt
Dig. 1, 20, 2), und nach demselben liegt es dem Idiologos namentlich ob, die
bona vacantia et caduca fuer den Fiskus einzuziehen.
Dies schliesst nicht aus, dass der roemische iuridicus an die Stelle des
aelteren Dreissigergerichts mit dem archidikast/e/s an der Spitze (Diodor 1, 75)
getreten ist, welcher aegyptisch ist und nicht mit dem alexandrinischen
archidikast/e/s verwechselt werden darf, uebrigens vielleicht schon vor der
roemischen Zeit beseitigt worden ist, und dass der Idiologos hervorgegangen ist
aus einem in Aegypten bestehenden Anrecht des Koenigs auf die Erbschaften, wie
es im uebrigen Reiche in gleicher Ausdehnung nicht vorkam; welches letztere
Lumbroso (Recherchen, S. 285) sehr wahrscheinlich gemacht hat.
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Alle uebrigen Beamten fungieren nur fuer einzelne Bezirke und sind in der
Hauptsache aus der ptolemaeischen Ordnung uebernommen. Dass die Vorsteher der
drei Provinzen Unter-, Mittel- und Oberaegypten, abgesehen vom Kommando mit dem
gleichen Geschaeftskreis, wie der Statthalter ausgestattet, in augustischer Zeit
aus den aegyptischen Griechen, spaeterhin wie die eigentlichen Oberbeamten aus
der roemischen Ritterschaft genommen wurden, ist bemerkenswert als ein Symptom
der im Verlauf der Kaiserzeit sich steigernden Zurueckdraengung des
einheimischen Elements in der Magistratur.
Unter diesen oberen und mittleren Behoerden stehen die Lokalbeamten, die
Vorsteher der aegyptischen wie der griechischen Staedte nebst den sehr
zahlreichen, bei dem Hebungswesen und den mannigfaltigen, auf den
Geschaeftsverkehr gelegten Abgaben beschaeftigten Subalternen und wieder in dem
einzelnen Bezirk die Vorsteher der Unterbezirke und der Doerfer, welche
Stellungen mehr als Lasten denn als Ehren angesehen und den Ortsangehoerigen
oder Ortsansaessigen, jedoch mit Ausschluss der Alexandriner, durch den
Oberbeamten auferlegt werden; die wichtigste darunter, die Vorstandschaft des
Nomos, wird auf je drei Jahre von dem Statthalter besetzt. Die oertlichen
Behoerden der griechischen Staedte waren der Anzahl wie der Titulatur nach
andere; in Alexandreia namentlich fungierten vier Oberbeamten, der Priester
Alexanders 23, der Stadtschreiber (thpomn/e/matographos) ^24, der Oberrichter
(archidikast/e/s) und der Nachtwaechtermeister (nykterinos strat/e/gos). Dass
sie angesehener waren als die Strategen der Nomen, versteht sich von selbst und
zeigt deutlich das dem ersten alexandrinischen Beamten zustehende Purpurgewand.
uebrigens ruehren sie ebenfalls aus der Ptolemaeerzeit her und werden wie die
Nomenvorsteher aus den Eingesessenen von der roemischen Regierung auf Zeit
ernannt. Roemische Beamte kaiserlicher Ernennung finden sich unter diesen
staedtischen Vorstehern nicht. Aber der Priester des Museion, der zugleich der
Praesident der alexandrinischen Akademie der Wissenschaften ist und auch ueber
die bedeutenden Geldmittel dieser Anstalt verfuegt, wird vom Kaiser ernannt;
ebenso werden die Aufsicht ueber das Alexandergrab und die damit verbundenen
Baulichkeiten und einige andere wichtige Stellungen in der Hauptstadt Aegyptens
von der Regierung in Rom mit Beamten von Ritterrang besetzt ^25.
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^23 Der ek/e/g/e/t/e/s, nach Strabon (17, 1, 12 p. 797) der erste
staedtische Beamte in Alexandreia unter den Ptolemaeern wie unter den Roemern
und berechtigt, den Purpur zu tragen, ist sicher identisch mit dem Jahrpriester
in dem Testament Alexanders des in solchen Dingen sehr wohl unterrichteten
Alexanderromans (3, 33 p. 149 Mueller). Wie der Exegetes neben seiner wohl im
religioesen Sinn zu fassenden Titulatur die epimeleia t/o/n t/e/ polei
chr/e/sim/o/n hat, so ist jener Priester des Romans epimelist/e/s t/e/s
pole/o/s. So wenig wie den Purpur und den goldenen Kranz wird der Romanschreiber
auch die Besoldung von einem Talent und die Erblichkeit erfunden haben; die
letztere, bei welcher auch Lumbroso (L'Egitto al tempo dei Greci e Romani. 1882,
S. 152) an den ex/e/g/e/t/e/s enarchos der alexandrinischen Inschriften (CIG
4688, 4976 c) erinnert, ist vermutlich in der Weise zu denken, dass ein gewisser
Kreis von Personen durch Erbrecht berufen war und der Statthalter aus diesen den
Jahrpriester bestellte. Dieser Priester Alexanders (sowie der folgenden
aegyptischen Koenige, nach dem Stein von Kanopos und dem von Rosette CIG 4697)
war unter den frueheren Lagiden fuer die alexandrinischen Akte eponym, waehrend
spaeter wie unter den Roemern dafuer die Koenigsnamen eintreten. Nicht
verschieden von ihm ist wohl auch der "Oberpriester von Alexandreia und ganz
Aegypten" einer stadtroemischen Inschrift aus hadrianischer Zeit (CIG 5900:
archierei Alexandreias kai Aig?ptoy pas/e/s Deyki/o/ Ioyli/o/ Oy/e/stin/o/ kai
epistatei to? moyseioy kai epi t/o/n en R/o/m/e/ bibliosth/e/k/o/n R/o/maik/o/n
te kai Ell/e/nik/o/n kai epi t/e/s paideias Adriano?, epistolei toi ayto?
aytokratoros); die eigentliche Titulatur ex/e/g/e/t/e/s wurde, da sie
gewoehnlich den Kuester bezeichnet, ausserhalb Aegyptens vermieden. Sollte, was
die Fassung der Inschrift nahe legt, das Oberpriestertum damals dauernd gewesen
sein, so wiederholt sich bekanntlich der Uebergang von der Jaehrigkeit zu der
wenigstens titularen, nicht selten auch reellen Lebenslaenglichkeit ueberhaupt
bei den Sacerdotien der Provinzen, zu denen dieses alexandrinische zwar nicht
gehoert, aber deren Stelle es in Aegypten vertritt. Dass das Priestertum und die


 


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