Siddhartha
by
Hermann Hesse

Part 2 out of 2



lachte selten, und nahm einen um den andern jene Züge an, die man im
Gesicht reicher Leute so häufig findet, jene Züge der Unzufriedenheit,
der Kränklichkeit, des Mißmutes, der Träg heit, der Lieblosigkeit.
Langsam ergriff ihn die Seelen krankheit der Reichen.

Wie ein Schleier, wie ein dünner Nebel senkte sich Müdigkeit über
Siddhartha, langsam, jeden Tag ein wenig dichter, jeden Monat ein
wenig trüber, jedes Jahr ein wenig schwerer. Wie ein neues Kleid mit
der Zeit alt wird, mit der Zeit seine schöne Farbe verliert, Flecken
bekommt, Falten bekommt, an den Säumen abgestoßen wird und hier und
dort blöde, fädige Stellen zu zeigen beginnt, so war Siddharthas neues
Leben, das er nach seiner Trennung von Govinda begonnen hatte, alt
geworden, so verlor es mit den hinrinnenden Jahren Farbe und Glanz, so
sammelten sich Falten und Flecken auf ihm, und im Grunde verborgen,
hier und dort schon häßlich hervorblickend, wartete Enttäuschung und
Ekel. Siddhartha merkte es nicht. Er merkte nur, das jene helle und
sichere Stimme seines Innern, die einst in ihm erwacht war und ihn in
seinen glänzenden. Zeiten je und je geleitet hatte, schweigsam
geworden war.

Die Welt hatte ihn eingefangen, die Lust, die Begehrlichkeit, die
Trägheit, und zuletzt auch noch jenes Laster, das er als das
törichteste stets am meisten verachtet und gehöhnt hatte: die Habgier.
Auch das Eigentum, der Besitz und Reichtum hatte ihn schließlich
eingefangen, war ihm kein Spiel und Tand mehr, war Kette und Last
geworden. Auf einem seltsamen und listigen Wege war Siddhartha in
diese letzte und schnödeste Abhängigkeit geraten, durch das
Würfelspiel. Seit der Zeit nämlich, da er im Herzen aufgehört hatte,
ein Samana zu sein, begann Siddhartha das Spiel um Geld und
Kostbarkeiten, das er sonst lächelnd und lässig als eine Sitte der
Kindermenschen mitgemacht hatte, mit einer zunehmenden Wut und
Leidenschaft zu treiben. Er war ein gefürchteter Spieler, wenige
wagten es mit ihm, so hoch und frech waren seine Einsätze. Er trieb
das Spiel aus der Not seines Herzens, das Verspielen und Verschleudern
des elenden Geldes schuf ihm eine zornige Freude, auf keine andre
Weise konnte er seine Verachtung des Reichtums, des Götzen der
Kaufleute, deutlicher und höhnischer zeigen. So spielte er hoch und
schonungslos, sich selbst hassend, sich selbst verhöhnend, strich
Tausende ein, warf Tausende weg, verspielte Geld, verspielte Schmuck,
verspielte ein Landhaus, gewann wieder, verspielte wieder. Jene Angst,
jene furchtbare und beklemmende Angst, welche er während des Würfelns,
während des Bangens um hohe Einsätze empfand, jene Angst liebte er
und suchte sie immer zu erneuern, immer zu steigern, immer höher zu
kitzeln, denn in diesem Gefühl allein noch fühlte er etwas wie Glück,
etwas wie Rausch, etwas wie erhöhtes Leben inmitten seines gesättigten,
lauen, faden Lebens.

Und nach jedem großen Verluste sann er auf neuen Reichtum, ging
eifriger dem Handel nach, zwang strenger seine Schuldner zum Zahlen,
denn er wollte weiter spielen, er wollte weiter vergeuden, weiter dem
Reichtum seine Verachtung zeigen. Siddhartha verlor die Gelassenheit
bei Verlusten, er verlor die Geduld gegen säumige Zahler, verlor die
Gutmütigkeit gegen Bettler, verlor die Lust am Verschenken und
Wegleihen des Geldes an Bittende. Er, der zehntausend auf einen Wurf
verspielte und dazu lachte, wurde im Handel strenger und kleinlicher,
träumte nachts zuweilen von Geld! Und so oft er aus dieser häßlichen
Bezauberung erwachte, so oft er sein Gesicht im Spiegel an der
Schlafzimmerwand gealtert und häßlicher geworden sah, so oft Scham und
Ekel ihn überfiel, floh er weiter, floh in neues Glücksspiel, floh in
Betäubungen der Wollust, des Weines, und von da zurück in den Trieb
des Häufens und Erwerbens. In diesem sinnlosen Kreislauf lief er sich
müde, lief er sich alt, lief sich krank.

Da mahnte ihn einst ein Traum. Er war die Abendstunden bei Kamala
gewesen, in ihrem schönen Lustgarten. Sie waren unter den Bäumen
gesessen, im Gespräch, und Kamala hatte nachdenkliche Worte gesagt,
Worte, hinter welchen sich eine Trauer und Müdigkeit verbarg. Von
Gotama hatte sie ihn gebeten zu erzählen, und konnte nicht genug von
ihm hören, wie rein sein Auge, wie still und schön sein Mund, wie
gütig sein Lächeln, wie friedevoll sein Gang gewesen. Lange hatte er
ihr vom erhabenen Buddha erzählen müssen, und Kamala hatte geseufzt,
und hatte gesagt: Jinst, vielleicht bald, werde auch ich diesem Buddha
folgen. Ich werde ihm meinen Lustgarten schenken, und werde meine
Zuflucht zu seiner Lehre nehmen." Darauf aber hatte sie ihn gereizt,
und ihn im Liebesspiel mit schmerzlicher Inbrunst an sich gefesselt,
unter Bissen und unter Tränen, als wolle sie noch einmal aus dieser
eiteln, vergänglichen Lust den letzten süßen Tropfen pressen. Nie war
es Siddhartha so seltsam klar geworden, wie nahe die Wollust dem Tode
verwandt ist. Dann war er an ihrer Seite gelegen, und Kamalas Antlitz
war ihm nahe gewesen, und unter ihren Augen und neben ihren
Mundwinkeln hatte er, deutlich wie noch niemals, eine bange Schrift
gelesen, eine Schrift von feinen Linien, von leisen Furchen, eine
Schrift, die an den Herbst und an das Alter erinnerte, wie denn auch
Siddhartha selbst, der erst in den Vierzigen stand, schon hier und
dort ergraute Haare zwischen seinen schwarzen bemerkt hatte.
Müdigkeit stand auf Kamalas schönem Gesicht geschrieben, Müdigkeit vom
Gehen eines langen Weges, der kein frohes Ziel hat, Müdigkeit und
beginnende Welke, und verheimlichte, noch nicht gesagte, vielleicht
noch nicht einmal gewußte Bangigkeit: Furcht vor dem Alter, Furcht vor
dem Herbste, Furcht vor dem Sterbenmüssen. Seufzend hatte er von ihr
Abschied genommen, die Seele voll Unlust, und voll verheimlichter
Bangigkeit.

Dann hatte Siddhartha die Nacht in seinem Hause mit Tänzerinnen beim
Weine zugebracht, hatte gegen seine Standesgenossen den überlegenen
gespielt, welcher er nicht mehr war, hatte viel Wein getrunken und
spät nach Mitternacht sein Lager aufgesucht, müde und dennoch erregt,
dem Weinen und der Verzweiflung nahe, und hatte lang vergeblich den
Schlaf gesucht, das Herz voll eines Elendes, das er nicht mehr
ertragen zu können meinte, voll eines Ekels, von dem er sich
durchdrungen fühlte wie vom lauen, widerlichen Geschmack des Weines,
der allzu süßen, öden Musik, dem allzu weichen Lächeln der Tänzerinnen,
dem allzu süßen Duft ihrer Haare und Brüste. Mehr aber als vor allem
anderen ekelte ihm vor sich selbst, vor seinen duftenden Haaren, vor
dem Weingeruch seines Mundes, vor der schlaffen Müdigkeit und Unlust
seiner Haut. Wie wenn einer, der allzuviel gegessen oder getrunken
hat, es unter Qualen wieder erbricht und doch der Erleichterung froh
ist, so wünschte sich der Schlaflose, in einem ungeheuren Schwall von
Ekel sich dieser Genüsse, dieser Gewohnheiten, dieses ganzen sinnlosen
Lebens und seiner selbst zu entledigen. Erst beim Schein des Morgens
und dem Erwachen der ersten Geschäftigkeit auf der Straße vor seinem
Stadthause war er eingeschlummert, hatte für wenige Augenblicke eine
halbe Betäubung, eine Ahnung von Schlaf gefunden. In diesen
Augenblicken hatte er einen Traum:

Kamala besaß in einem goldenen Käfig einen kleinen seltenen Singvogel.
Von diesem Vogel träumte er. Er träumte: dieser Vogel war stumm
geworden, der sonst stets in der Morgenstunde sang, und da dies ihm
auffiel, trat er vor den Käfig und blickte hinein, da war der kleine
Vogel tot und lag steif am Boden. Er nahm ihn heraus, wog ihn einen
Augenblick in der Hand und warf ihn dann weg, auf die Gasse hinaus,
und im gleichen Augenblick erschrak er furchtbar, und das Herz tat ihm
weh, so, als habe er mit diesem toten Vogel allen Wert und alles Gute
von sich geworfen.

Aus diesem Traum auffahrend, fühlte er sich von tiefer Traurigkeit
umfangen. Wertlos, so schien ihm, wertlos und sinnlos hatte er sein
Leben dahingeführt; nichts Lebendiges, nichts irgendwie Köstliches
oder Behaltenswertes war ihm in Händen geblieben. Allein stand er
und leer, wie ein Schiffbrüchiger am Ufer.

Finster begab sich Siddhartha in einen Lustgarten, der ihm gehörte,
verschloß die Pforte, setzte sich unter einem Mangobaum nieder, fühlte
den Tod im Herzen und das Grauen in der Brust, saß und spürte, wie es
in ihm starb, in ihm welkte, in ihm zu Ende ging. Allmählich sammelte
er seine Gedanken, und ging im Geiste nochmals den ganzen Weg seines
Lebens, von den ersten Tagen an, auf welche er sich besinnen konnte.
Wann denn hatte er ein Glück erlebt, eine wahre Wonne gefühlt? O ja,
mehrere Male hatte er solches erlebt. In den Knabenjahren hatte er es
gekostet, wenn er von den Brahmanen Lob errungen hatte er es in seinem
Herzen gefühlt: "Ein Weg liegt vor dem Hersagen der heiligen Verse, im
Disput mit den Gelehrten, als Gehilfe beim Opfer ausgezeichnet hatte."
Da hatte er es in seinem Herzen gefühlt: "Ein Weg liegt vor dir, zu
dem du berufen bist, auf dich warten die Götter." Und wieder als
Jüngling, da ihn das immer höher emporfliehende Ziel alles Nachdenkens
aus der Schar Gleichstrebender heraus- und hinangerissen hatte, da er
in Schmerzen um den Sinn des Brahman rang, da jedes erreichte Wissen
nur neuen Durst in ihm entfachte, da wieder hatte er, mitten im Durst,
mitten im Schmerze dieses selbe gefühlt: "Weiter! Weiter! Du bist
berufen!" Diese Stimme hatte er vernommen, als er seine Heimat
verlassen und das Leben des Samana gewählt hatte, und wieder, als er
von den Samanas hinweg zu jenem Vollendeten, und auch von ihm hinweg
ins Ungewisse gegangen war. Wie lange hatte er diese Stimme nicht
mehr gehört, wie lange keine Höhe mehr erreicht, wie eben und öde war
sein Weg dahingegangen, viele lange Jahre, ohne hohes Ziel, ohne Durst,
ohne Erhebung, mit kleinen Lüsten zufrieden und dennoch nie begnügt!
Alle diese Jahre hatte er, ohne es selbst zu wissen, sich bemüht und
danach gesehnt, ein Mensch wie diese vielen zu werden, wie diese
Kinder, und dabei war sein Leben viel elender und ärmer gewesen als
das ihre, denn ihre Ziele waren nicht die seinen, noch ihre Sorgen,
diese ganze Welt der Kamaswami-Menschen war ihm ja nur ein Spiel
gewesen, ein Tanz, dem man zusieht, eine Komödie. Einzig Kamala war
ihm lieb, war ihm wertvoll gewesen--aber war sie es noch? Brauchte er
sie noch, oder sie ihn? Spielten sie nicht ein Spiel ohne Ende? War
es notwendig, dafür zu leben? Nein, es war nicht notwendig! Dieses
Spiel hieß Sansara, ein Spiel für Kinder, ein Spiel, vielleicht hold
zu spielen, einmal, zweimal, zehnmal--aber immer und immer wieder?

Da wußte Siddhartha, daß das Spiel zu Ende war, daß er es nicht mehr
spielen könne. Ein Schauder lief ihm über den Leib, in seinem Innern,
so fühlte er, war etwas gestorben.

Jenen ganzen Tag saß er unter dem Mangobaume, seines Vaters gedenkend,
Govindas gedenkend, Gotamas gedenkend. Hatte er diese verlassen
müssen, um ein Kamaswami zu werden? Er saß noch, als die Nacht
angebrochen war. Als er aufschauend die Sterne erblickte, dachte er:
"Hier sitze ich unter meinem Mangobaume, in meinem Lustgarten." Er
lächelte ein wenig--war es denn notwendig, war es richtig, war es
nicht ein törichtes Spiel, daß er einen Mangobaum, daß er einen Garten
besaß?

Auch damit schloß er ab, auch das starb in ihm. Er erhob sich, nahm
Abschied vom Mangobaum, Abschied vom Lustgarten. Da er den Tag ohne
Speise geblieben war, fühlte er heftigen Hunger, und gedachte an sein
Haus in der Stadt, an sein Gemach und Bett, an den Tisch mit den
Speisen. Er lächelte müde, schüttelte sich und nahm Abschied von
diesen Dingen.

In derselben Nachtstunde verließ Siddhartha seinen Garten, verließ die
Stadt und kam niemals wieder. Lange ließ Kamaswami nach ihm suchen,
der ihn in Räuberhand gefallen glaubte. Kamala ließ nicht nach ihm
suchen. Als sie erfuhr, daß Siddhartha verschwunden sei, wunderte sie
sich nicht. Hatte sie es nicht immer erwartet? War er nicht ein
Samana, ein Heimloser, ein Pilger? Und am meisten hatte sie dies beim
letzten Zusammensein gefühlt, und sie freute sich mitten im Schmerz
des Verlustes, daß sie ihn dieses letzte Mal noch so innig an ihr Herz
gezogen, sich noch einmal so ganz von ihm, besessen und durchdrungen
gefühlt hatte.

Als sie die erste Nachricht von Siddharthas Verschwinden bekam, trat
sie ans Fenster, wo sie in einem goldenen Käfig einen seltenen
Singvogel gefangen hielt. Sie öffnete die Tür des Käfigs, nahm den
Vogel heraus und ließ ihn fliegen. Lange sah sie ihm nach, dem
fliegenden Vogel. Sie empfing von diesem Tage an keine Besucher mehr,
und hielt ihr Haus verschlossen. Nach einiger Zeit aber ward sie inne,
daß sie von dem letzten Zusammensein mit Siddhartha schwanger sei.




AM FLUSSE

Siddhartha wanderte im Walde, schon fern von der Stadt, und wußte
nichts als das eine, daß er nicht mehr zurück konnte, daß dies Leben,
wie er es nun viele Jahre lang geführt, vorüber und dahin und bis zum
Ekel ausgekostet und ausgesogen war. Tot war der Singvogel, von dem
er geträumt. Tot war der Vogel in seinem Herzen. Tief war er in
Sansara verstrickt, Ekel und Tod hatte er von allen Seiten in sich
eingesogen, wie ein Schwamm Wasser einsaugt, bis er voll ist. Voll
war er von Überdruß, voll von Elend, voll von Tod, nichts mehr gab es
in der Welt, das ihn locken, das ihn freuen, das ihn trösten konnte.

Sehnlich wünschte er, nichts mehr von sich zu wissen, Ruhe zu haben,
tot zu sein. Käme doch ein Blitz und erschlüge ihn! Käme doch ein
Tiger und fräße ihn! Gäbe es doch einen Wein, ein Gift, das ihm
Betäubung brächte, Vergessen und Schlaf, und kein Erwachen mehr! Gab
es denn noch irgendeinen Schmutz, mit dem er sich nicht beschmutzt
hatte, eine Sünde und Torheit, die er nicht begangen, eine Seelenöde,
die er nicht auf sich geladen hatte? War es denn noch möglich, zu
leben? War es möglich, nochmals und nochmals wieder Atem zu ziehen,
Atem auszustoßen, Hunger zu fühlen, wieder zu essen, wieder zu
schlafen, wieder beim Weibe zu liegen? War dieser Kreislauf nicht für
ihn erschöpft und abgeschlossen?

Siddhartha gelangte an den großen Fluß im Walde, an denselben Fluß,
über welchen ihn einst, als er noch ein junger Mann war und von der
Stadt des Gotama kam, ein Fährmann geführt hatte. An diesem Flusse
machte er Halt, blieb zögernd beim Ufer stehen. Müdigkeit und Hunger
hatten ihn geschwächt, und wozu auch sollte er weitergehen, wohin denn,
zu welchem Ziel? Nein, es gab keine Ziele mehr, es gab nichts mehr
als die tiefe, leidvolle Sehnsucht, diesen ganzen wüsten Traum von
sich zu schütteln, diesen schalen Wein von sich zu speien, diesem
jämmerlichen und schmachvollen Leben ein Ende zu machen.

Über das Flußufer hing ein Baum gebeugt, ein Kokosbaum, an dessen
Stamm lehnte sich Siddhartha mit der Schulter, legte den Arm um den
Stamm und blickte in das grüne Wasser hinab, das unter ihm zog und zog,
blickte hinab und fand sich ganz und gar von dem Wunsche erfüllt,
sich loszulassen und in diesem Wasser unterzugehen. Eine schauerliche
Leere spiegelte ihm aus dem Wasser entgegen, welcher die furchtbare
Leere in seiner Seele Antwort gab. Ja, er war am Ende. Nichts mehr
gab es für ihn, als sich auszulöschen, als das mißlungene Gebilde
seines Lebens zu zerschlagen, es wegzuwerfen, hohnlachenden Göttern
vor die Füße. Dies war das große Erbrechen, nach dem er sich gesehnt
hatte: der Tod, das Zerschlagen der Form, die er haßte! Mochten ihn
die Fische fressen, diesen Hund von Siddhartha, diesen Irrsinnigen,
diesen verdorbenen und verfaulten Leib, diese erschlaffte und
mißbrauchte Seelel Mochten die Fische und Krokodile ihn fressen,
mochten die Dämonen ihn zerstücken!

Mit verzerrtem Gesichte starrte er ins Wasser, sah sein Gesicht
gespiegelt und spie danach. In tiefer Müdigkeit löste er den Arm vom
Baumstamme und drehte sich ein wenig, um sich senkrecht hinabfallen zu
lassen, um endlich unterzugehen. Er sank, mit geschlossenen Augen,
dem Tod entgegen.

Da zuckte aus entlegenen Bezirken seiner Seele, aus Vergangenheiten
seines ermüdeten Lebens her ein Klang. Es war ein Wort, eine Silbe,
die er ohne Gedanken mit lallender Stimme vor sich hinsprach, das alte
Anfangswort und Schlußwort aller brahmanischen Gebete, das heilige
"OM", das so viel bedeutet wie "das Vollkommene" oder "die Vollendung".
Und im Augenblick, da der Klang "Om" Siddharthas Ohr berührte,
erwachte sein entschlummerter Geist plötzlich, und erkannte die
Torheit seines Tuns.

Siddhartha erschrak tief. So also stand es um ihn, so verloren war er,
so verirrt und von allem Wissen verlassen, daß er den Tod hatte
suchen können, daß dieser Wunsch, dieser Kinderwunsch in ihm hatte
groß werden können: Ruhe zu finden, indem er seinen Leib auslöschte!
Was alle Qual dieser letzten Zeiten, alle Ernüchterung, alle
Verzweiflung nicht bewirkt hatte, das bewirkte dieser Augenblick, da
das Om in sein Bewußtsein drang: daß er sich in seinem Elend und in
seiner Irrsal erkannte.

Om! sprach er vor sich hin: Om! Und wußte um Brahman, wußte um die
Unzerstörbarkeit des Lebens, wußte um alles Göttliche wieder, das er
vergessen hatte.

Doch war dies nur ein Augenblick, ein Blitz. Am Fuß des Kokosbaumes
sank Siddhartha nieder, von der Ermüdung--hingestreckt, Om murmelnd,
legte sein Haupt auf die Wurzel des Baumes und sank in tiefen Schlaf.

Tief war sein Schlaf und frei von Träumen, seit langer Zeit hatte er
einen solchen Schlaf nicht mehr gekannt. Als er nach manchen Stunden
erwachte, war ihm, als seien zehn Jahre vergangen, er hörte das leise
Strömen des Wassers, wußte nicht, wo er sei und wer ihn hierher
gebracht habe, schlug die Augen auf, sah mit Verwunderung Bäume und
Himmel über sich, und erinnerte sich, wo er wäre und wie er hierher
gekommen sei. Doch bedurfte er hierzu einer langen Weile, und das
Vergangene erschien ihm wie von einem Schleier überzogen, unendlich
fern, unendlich weit weg gelegen, unendlich gleichgültig. Er wußte
nur, daß er sein früheres Leben (im ersten Augenblick der Besinnung
erschien ihm dies frühere Leben wie eine weit zurückliegende, einstige
Verkörperung, wie eine frühe Vorgeburt seines jetzigen Ich)--daß er
sein früheres Leben verlassen habe, daß er voll Ekel und Elend sogar
sein Leben habe wegwerfen wollen, daß er aber an einem Flusse, unter
einem Kokosbaume, zu sich gekommen sei, das heilige Wort Om auf den
Lippen, dann entschlummert sei, und nun erwacht als ein neuer Mensch
in die Welt blicke. Leise sprach er das Wort Om vor sich hin, über
welchem er eingeschlafen war, und ihm schien sein ganzer langer Schlaf
sei nichts als ein langes, versunkenes Om-Sprechen gewesen, ein
Om-Denken, ein Untertauchen und völliges Eingehen in Om, in das
Namenlose, Vollendete.

Was für ein wunderbarer Schlaf war dies doch gewesen! Niemals hatte
ein Schlaf ihn so erfrischt, so erneut, so verjüngt! Vielleicht war
er wirklich gestorben, war untergegangen und in einer neuen Gestalt
wiedergeboren? Aber nein, er kannte sich, er kannte seine Hand und
seine Füße, kannte den Ort, an dem er lag, kannte dies Ich in seiner
Brust, diesen Siddhartha, den Eigenwilligen, den Seltsamen, aber
dieser Siddhartha war dennoch verwandelt, war erneut, war merkwürdig
ausgeschlafen, merkwürdig wach, freudig und neugierig.

Siddhartha richtete sich empor, da sah er sich gegenüber einen
Menschen sitzen, einen fremden Mann, einen Mönch in gelbem Gewande mit
rasiertem Kopfe, in der Stellung des Nachdenkens. Er betrachtete den
Mann, der weder Haupthaar noch Bart an sich hatte, und nicht lange
hatte er ihn betrachtet, da erkannte er in diesem Mönche Govinda, den
Freund seiner Jugend, Govinda, der seine Zuflucht zum erhabenen Buddha
genommen hatte. Govinda war gealtert, auch er, aber noch immer trug
sein Gesicht die alten Züge, sprach von Eifer, von Treue, von Suchen,
von Ängstlichkeit. Als nun aber Govinda, seinen Blick fühlend, das
Auge aufschlug und ihn anschaute, sah Siddhartha, daß Govinda ihn
nicht erkenne. Govinda freute sich, ihn wach zu finden, offenbar
hatte er lange hier gesessen und auf sein Erwachen gewartet, obwohl er
ihn nicht kannte.

"Ich habe geschlafen," sagte Siddhartha. "Wie bißt denn du hierher
gekommen?"

"Du hast geschlafen," antwortete Govinda. "Es ist nicht gut, an
solchen Orten zu schlafen, wo häufig Schlangen sind und die Tiere des
Waldes ihre Wege haben. Ich, o Herr, bin ein Jünger des erhabenen
Gotama, des Buddha, des Sakyamuni, und bin mit einer Zahl der Unsrigen
diesen Weg gepilgert, da sah ich dich liegen und schlafen an einem
Orte, wo es gefährlich ist zu schlafen. Darum suchte ich dich zu
wecken, o Herr, und da ich sah, daß dein Schlaf sehr tief war, blieb
ich hinter den Meinigen zurück und saß bei dir. Und dann, so scheint
es, bin ich selbst eingeschlafen, der ich deinen Schlaf bewachen
wollte. Schlecht habe ich meinen Dienst versehen, Müdigkeit hat mich
übermannt. Aber nun, da du ja wach bist, laß mich gehen, damit ich
meine Brüder einhole."

"Ich danke dir, Samana, daß du meinen Schlaf behütet hast," sprach
Siddhartha. "Freundlich seid Ihr Jünger des Erhabenen. Nun magst du
denn gehen."

"Ich gehe, Herr. Möge der Herr sich immer wohl befinden."

"Ich danke dir, Samana."

Govinda machte das Zeichen des Grußes und sagte: "Lebe wohl."

"Lebe wohl, Govinda," sagte Siddhartha.

Der Mönch blieb stehen.

"Erlaube, Herr, woher kennst du meinen Namen?"

Da lächelte Siddhartha.

"Ich kenne dich, o Govinda, aus der Hütte deines Vaters, und aus der
Brahmanenschule, und von den Opfern, und von unsrem Gang zu den
Samanas, und von jener Stunde, da du im Hain Jetavdna deine Zuflucht
zum Erhabenen nahmest."

"Du bist Siddharthal" rief Govinda laut. Jetzt erkenne ich dich, und
begreife nicht mehr, wie ich dich nicht sogleich erkennen konnte. Sei
willkommen, Siddhartha, groß ist meine Freude, dich wiederzusehen"

"Auch mich erfreut es, dich wiederzusehen. Du bist der Wächter meines
Schlafes gewesen, nochmals danke ich dir dafür, obwohl ich keines
Wächters bedurft hätte. Wohin gehst du, o Freund?"

"Nirgendshin gehe ich. Immer sind wir Mönche unterwegs, solange nicht
Regenzeit ist, immer ziehen wir von Ort zu Ort, leben nach der Regel,
verkündigen die Lehre, nehmen Almosen, ziehen weiter. Immer ist es so.
Du aber, Siddhartha, wo gehst du hin?"

Sprach Siddhartha: "Auch mit mir steht es so, Freund, wie mit dir.
Ich gehe nirgendhin. Ich bin nur unterwegs. Ich pilgere."

Govinda sprach: "Du sagst: du pilgerst, und ich glaube dir. Doch
verzeih, o Siddhartha, nicht wie ein Pilger siehst du aus. Du trägst
das Kleid eines Reichen, du trägst die Schuhe eines Vornehmen, und
dein Haar, das nach wohlriechendem Wasser duftet, ist nicht das Haar
eines Pilgers, nicht das Haar eines Samanas."

"Wohl, Lieber, gut hast du beobachtet, alles sieht dein scharfes Auge.
Doch habe ich nicht zu dir gesagt, daß ich ein Samana sei. Ich sagte:
ich pilgere. Und so ist es: ich pilgere."

"Du pilgerst," sagte Govinda. "Aber wenige pilgern in solchem Kleide,
wenige in solchen Schuhen, wenige mit solchen Haaren. Nie habe ich,
der ich schon viele Jahre pilgere, solch einen Pilger angetroffen."

"Ich glaube es dir, mein Govinda. Aber nun, heute, hast du eben einen
solchen Pilger angetroffen, in solchen Schuhen, mit solchem Gewande.
Erinnere dich, Lieber: Vergänglich ist die Welt der Gestaltungen,
vergänglich, höchst vergänglich sind unsere Gewänder, und die Tracht
unserer Haare, und unsere Haare und Körper selbst. Ich trage die
Kleider eines Reichen, da hast du recht gesehen. Ich trage sie, denn
ich bin ein Reicher gewesen, und trage das Haar wie die Weltleute und
Lüstlinge, denn einer von ihnen bin ich gewesen. "

"Und jetzt, Siddhartha, was bist du jetzt?"

"Ich weiß es nicht, ich weiß es so wenig wie du. Ich bin unterwegs.
Ich war ein Reicher, und bin es nicht mehr; und was ich morgen sein
werde, weiß ich nicht."

"Du hast deinen Reichtum verloren?"

"Ich habe ihn verloren, oder er mich. Er ist mir abhanden gekommen.
Schnell dreht sich das Rad der Gestaltungen, Govinda. Wo ist der
Brahmane Siddhartha? Wo ist der Samana Siddhartha? Wo ist der Reiche
Siddhartha? Schnell wechselt das Vergängliche, Govinda, du weißt es.

Govinda blickte den Freund seiner Jugend lange an, Zweifel im Auge.
Darauf grüßte er ihn, wie man Vornehme grüßt, und ging seines Weges.

Mit lächelndem Gesicht schaute Siddhartha ihm nach, er liebte ihn noch
immer, diesen Treuen, diesen Ängstlichen. Und wie hätte er, in diesem
Augenblick, in dieser herrlichen Stunde nach seinem wunderbaren
Schlafe, durchdrungen von Om, irgend jemand und irgend etwas nicht
lieben sollen! Eben darin bestand die Verzauberung, welche im Schlafe
und durch das Om in ihm geschehen war, daß er alles liebte, daß er
voll froher Liebe war zu allem, was er sah. Und eben daran, so schien
es ihm jetzt, war er vorher so sehr krank gewesen, daß er nichts und
niemand hatte lieben können.

Mit lächelndem Gesichte schaute Siddhartha dem hinweggehenden Mönche
nach. Der Schlaf hatte ihn sehr gestärkt, sehr aber quälte ihn der
Hunger, denn er hatte nun zwei Tage nichts gegessen, und lange war die
Zeit vorüber, da er hart gegen den Hunger gewesen war. Mit Kummer,
und doch auch mit Lachen, gedachte er jener Zeit. Damals, so
erinnerte er sich, hatte er sich vor Kamala dreier Dinge gerühmt,
hatte drei edle und unüberwindliche Künste gekonnt:
Fasten--Warten--Denken. Dies war sein Besitz gewesen, seine Macht und
Kraft, sein fester Stab, in den fleißigen, mühseligen Jahren seiner
Jugend hatte er diese drei Künste gelernt, nichts anderes. Und nun
hatten sie ihn verlassen, keine von ihnen war mehr sein, nicht Fasten,
nicht Warten, nicht Denken. Um das Elendeste hatte er sie hingegeben,
um das Vergänglichste, um Sinnenlust, um Wohlleben, um Reichtum!
Seltsam war es ihm in der Tat ergangen. Und jetzt, so schien es,
jetzt war er wirklich ein Kindermensch geworden.

Siddhartha dachte über seine Lage nach. Schwer fiel ihm das Denken,
er hatte im Grunde keine Lust dazu, doch zwang er sich.

Nun, dachte er, da alle diese vergänglichsten Dinge mir wieder
entglitten sind, nun stehe ich wieder unter der Sonne, wie ich einst
als kleines Kind gestanden bin, nichts ist mein, nichts kann ich,
nichts vermag ich, nichts habe ich gelernt. Wie ist dies wunderlich!
Jetzt, wo ich nicht mehr jung bin, wo meine Haare schon halb grau sind,
wo die Kräfte nachlassen, jetzt fange ich wieder von vorn und beim
Kinde an! Wieder mußte er lächeln. Ja, seltsam war sein Geschick!
Es ging abwärts mit ihm, und nun stand er wieder leer und nackt und
dumm in der Welt. Aber Kummer darüber konnte er nicht empfinden, nein,
er fühlte sogar großen Anreiz zum Lachen, zum Lachen über sich, zum
Lachen über diese seltsame, törichte Welt.

"Abwärts geht es mit dir!" sagte er zu sich selber, und lachte dazu,
und wie er es sagte, fiel sein Blick auf den Fluß, und auch den Fluß
sah er abwärts gehen, immer abwärts wandern, und dabei singen und
fröhlich sein. Das gefiel ihm wohl, freundlich lächelte er dem Flusse
zu. War dies nicht der Fluß, in welchem er sich hatte ertränken
wollen, einst, vor hundert Jahren, oder hatte er das geträumt?

Wunderlich in der Tat war mein Leben, so dachte er, wunderliche Umwege
hat es genommen. Als Knabe habe ich nur mit Göttern und Opfern zu tun
gehabt. Als Jüngling habe ich nur mit Askese, mit Denken und
Versenkung zu tun gehabt, war auf der Suche nach Brahman, verehrte das
Ewige im Atman. Als junger Mann aber zog ich den Büßern nach, lebte
im Walde, litt Hitze und Frost, lernte hungern, lehrte meinen Leib
absterben. Wunderbar kam mir alsdann in der Lehre des großen Buddha
Erkenntnis entgegen, ich fühlte Wissen um die Einheit der Welt in mir
kreisen wie mein eigenes Blut. Aber auch von Buddha und von dem
großen Wissen mußte ich wieder fort. Ich ging und lernte bei Kamala
die Liebeslust, lernte bei Kamaswami den Handel, häufte Geld, vertat
Geld, lernte meinen Magen lieben, lernte meinen Sinnen schmeicheln.
Viele Jahre mußte ich damit hinbringen, den Geist zu verlieren, das
Denken wieder zu verlernen, die Einheit zu vergessen. Ist es nicht so,
als sei ich langsam und auf großen Umwegen aus einem Mann ein Kind
geworden, aus einem Denker ein Kindermensch? Und doch ist dieser Weg
sehr, gut gewesen, und doch ist der Vogel in meiner Brust nicht
gestorben. Aber welch ein Weg war das! Ich habe durch so viel
Dummheit, durch so viel Laster, durch so viel Irrtum, durch so viel
Ekel und Enttäuschung und Jammer hindurchgehen müssen, bloß um wieder
ein Kind zu werden und neu anfangen zu können. Aber es war richtig so,
mein Herz sagt Ja dazu, meine Augen lachen dazu. Ich habe
Verzweiflung erleben müssen, ich habe hinabsinken müssen bis zum
törichtesten aller Gedanken, zum Gedanken des Selbstmordes, um Gnade
erleben zu können, um wieder Om zu vernehmen, um wieder richtig
schlafen und richtig erwachen zu können. Ich habe ein Tor werden
müssen, um Atman wieder in mir zu finden. Ich habe sündigen müssen,
um wieder leben zu können. Wohin noch mag mein Weg mich führen?
Närrisch ist er, dieser Weg, er geht in Schleifen, er geht vielleicht
im Kreise. Mag er gehen, wie er will, ich will ihn gehen.

Wunderbar fühlte er in seiner Brust die Freude wallen.

Woher denn, fragte er sein Herz, woher hast du diese Fröhlichkeit?
Kommt sie wohl aus diesem langen, guten Schlafe her, der mir so sehr
wohlgetan hat? Oder von dem Worte Om, das ich aussprach? Oder davon,
daß ich entronnen bin, daß meine Flucht vollzogen ist, daß ich endlich
wieder frei bin und wie ein Kind unter dem Himmel stehe? O wie gut
ist dies Geflohensein, dies Freigewordensein! Wie rein und schön ist
hier die Luft, wie gut zu atmen! Dort, von wo ich entlief, dort roch
alles nach Salbe, nach Gewürzen, nach Wein, nach Überfluß, nach
Trägheit. Wie haßte ich diese Welt der Reichen, der Schlemmer, der
Spieler! Wie habe ich mich selbst gehaßt, daß ich so lang in dieser
schrecklichen Welt geblieben bin! Wie habe ich mich gehaßt, habe mich
beraubt, vergiftet, gepeinigt, habe mich alt und böse gemacht! Nein,
nie mehr werde ich, wie ich es einst so gerne tat, mir einbilden, daß
Siddhartha weise sei! Dies aber habe ich gut gemacht, dies gefällt mir,
dies muß ich loben, daß es nun ein Ende hat mit jenem Haß gegen mich
selber, mit jenem törichten und öden Leben! Ich lobe dich, Siddharta,
nach soviel Jahren der Torheit hast du wieder einmal einen Einfall
gehabt, hast etwas getan, hast den Vogel in deiner Brust singen hören
und bist ihm gefolgt!

So lobte er sich, hatte Freude an sich, hörte neugierig seinem Magen
zu, der vor Hunger knurrte. Ein Stück Leid, ein Stück Elend hatte er
nun, so fühlte er, in diesen letzten Zeiten und Tagen ganz und gar
durchgekostet und ausgespien, bis zur Verzweiflung und bis zum Tode
ausgefressen. So war es gut. Lange noch hätte er bei Kamaswami
bleiben können, Geld erwerben, Geld vergeuden, seinen Bauch mästen und
seine Seele verdursten lassen, lange noch hätte er in dieser sanften,
wohlgepolsterten Hölle wohnen können, wäre dies nicht gekommen: der
Augenblick der vollkommenen Trostlosigkeit und Verzweiflung, jener
äußerste Augenblick, da er über dem strömenden Wasser hing und bereit
war, sich zu vernichten. Daß er diese Verzweiflung, diesen tiefsten
Ekel gefühlt hatte, und daß er ihm nicht erlegen war, daß der Vogel,
die frohe Quelle und Stimme in ihm doch noch lebendig war, darüber
fühlte er diese Freude, darüber lachte er, darüber strahlte sein
Gesicht unter den ergrauten Haaren.

"Es ist gut," dachte er, "alles selber zu kosten, was man zu wissen
nötig hat. Daß Weltlust und Reichtum nicht vom Guten sind, habe ich
schon als Kind gelernt. Gewußt habe ich es lange, erlebt habe ich es
erst jetzt. Und nun weiß ich es, weiß es nicht nur mit dem Gedächtnis,
sondern mit meinen Augen, mit meinem Herzen, mit meinem Magen. Wohl
mir, daß ich es weiß!"

Lange sann er nach über seine Verwandlung, lauschte dem Vogel, wie er
vor Freude sang. War nicht dieser Vogel in ihm gestorben, hatte er
nicht seinen Tod gefühlt? Nein, etwas anderes in ihm war gestorben,
etwas, das schon, lange sich nach Sterben gesehnt hatte. War es nicht
das, was er einst in seinen glühenden Büßerjahren hatte abtöten
wollen? War es nicht sein Ich, sein kleines, banges und stolzes Ich,
mit dem er so viele Jahre gekämpft hatte, das ihn immer wieder besiegt
hatte, das nach jeder Abtötung wieder da war, Freude verbot, Furcht
empfand? War es nicht dies, was heute endlich seinen Tod gefunden
hatte, hier im Walde an diesem lieblichen Flusse? War es nicht dieses
Todes wegen, daß er jetzt wie ein Kind war, so voll Vertrauen, so ohne
Furcht, so voll Freude?

Nun auch ahnte Siddhartha, warum er als Brahmane, als Büßer vergeblich
mit diesem Ich gekämpft hatte. Zu viel Wissen hatte ihn gehindert, zu
viel heilige Verse, zu viel Opferregeln, zu viel Kasteiung, zu viel
Tun und Streben! Voll Hochmut war er gewesen, immer der Klügste,
immer der Eifrigste, immer allen um einen Schritt voran, immer der
Wissende und Geistige, immer der Priester oder Weise. In dies
Priestertum, in diesen Hochmut, in diese Geistigkeit hinein hatte sein
Ich sich verkrochen, dort saß es fest und wuchs, während er es mit
Fasten und Buße zu töten meinte. Nun sah er es, und sah, daß die
heimliche Stimme Recht gehabt hatte, daß kein Lehrer ihn je hätte
erlösen können. Darum hatte er in die Welt gehen müssen, sich an Lust
und Macht, an Weib und Geld verlieren müssen, hatte ein Händler, ein
Würfelspieler, Trinker und Habgieriger werden müssen, bis der Priester
und Samana in ihm tot war. Darum hatte er weiter diese häßlichen
Jahre ertragen müssen, den Ekel ertragen, die Leere, die Sinnlosigkeit
eines öden und verlorenen Lebens, bis zum Ende, bis zur bittern
Verzweiflung, bis auch der Lüstling Siddhartha, der Habgierige
Siddhartha sterben konnte. Er war gestorben, ein neuer Siddhartha war
aus dem Schlaf erwacht. Auch er würde alt werden, auch er würde einst
sterben müssen, vergänglich war Siddhartha, vergänglich war jede
Gestaltung. Heute aber war er jung, war ein Kind, der neue Siddhartha,
und war voll Freude.

Diese Gedanken dachte er, lauschte lächelnd auf seinen Magen, hörte
dankbar einer summenden Biene zu. Heiter blickte er in den strömenden
Fluß, nie hatte ihm ein Wasser so wohl gefallen wie dieses, nie hatte
er Stimme und Gleichnis des ziehenden Wassers so stark und schön
vernommen. Ihm schien, es habe der Fluß ihm etwas Besonderes zu sagen,
etwas, das er noch nicht wisse, das noch auf ihn warte. In diesem
Fluß hatte sich Siddhartha ertränken wollen, in ihm war der alte, müde,
verzweifelte Siddhartha heute ertrunken. Der neue Siddhartha aber
fühlte eine tiefe Liebe zu diesem strömenden Wasser, und beschloß bei
sich, es nicht so bald wieder zu verlassen.




DER FÄHRMANN

An diesem Fluß will ich bleiben, dachte Siddhartha, es ist der selbe,
über den ich einstmals auf dem Wege zu den Kindermenschen gekommen bin,
ein freundlicher Fährmann hat mich damals geführt, zu ihm will ich
gehen, von seiner Hütte aus führte mich einst mein Wegin ein neues
Leben, das nun alt geworden und tot ist--möge auch mein jetziger Weg,
mein jetziges neues Leben dort seinen Ausgang nehmen!

Zärtlich blickte er in das strömende Wasser, in das durchsichtige Grün,
in die kristallenen Linien seiner geheimnisreichen Zeichnung. Lichte
Perlen sah er aus der Tiefe steigen, stille Luftblasen auf dem Spiegel
schwimmen, Himmelsbläue darin abgebildet. Mit tausend Augen blickte
der Fluß ihn an, mit grünen, mit weißen, mit kristallnen, mit
himmelblauen. Wie liebte er dies Wasser, wie entzückte es ihn, wie
war er ihm dankbar! Im Herzen hörte er die Stimme sprechen, die neu
erwachte, und sie sagte ihm: Liebe dies Wasser! Bleibe bei ihm!
Lerne von ihm! O ja, er wollte von ihm lernen, er wollte ihm zuhören.
Wer dies Wasser und seine Geheimnisse verstünde, so schien ihm, der
würde auch viel anderes verstehen, viele Geheimnisse, alle Geheimnisse.

Von den Geheimnissen des Flusses aber sah er heute nur eines, das
ergriff seine Seele. Er sah: dies Wasser lief und lief, immerzu lief
es, und war doch immer da, war immer und allezeit dasselbe und doch
jeden Augenblick neu! O wer dies faßte, dies verstünde! Er verstand
und faßte es nicht, fühlte nur Ahnung sich regen, ferne Erinnerung,
göttliche Stimmen.

Siddhartha erhob sich, unerträglich wurde das Treiben des Hungers in
seinem Leibe. Hingenommen wanderte er weiter, den Uferpfad hinan, dem
Strom entgegen, lauschte auf die Strömung, lauschte auf den knurrenden
Hunger in seinem Leibe.

Als er die Fähre erreichte, lag eben das Boot bereit, und derselbe
Fährmann, welcher einst den jungen Samana über den Fluß gesetzt hatte,
stand im Boot, Siddhartha erkannte ihn wieder, auch er war stark
gealtert.

"Willst du mich übersetzen?" fragte er.

Der Fährmann, erstaunt, einen so vornehmen Mann allein und zu Fuße
wandern zu sehen, nahm ihn ins Boot und stieß ab.

"Ein schönes Leben hast du dir erwählt," sprach der Gast. "Schön muß
es sein, jeden Tag an diesem Wasser zu leben und auf ihm zu fahren."

Lächelnd wiegte sich der Ruderer: "Es ist schön, Herr, es ist, wie du
sagst. Aber ist nicht jedes Leben, ist nicht jede Arbeit schön?"

"Es mag wohl sein. Dich aber beneide ich um die Deine."

"Ach, du möchtest bald die Lust an ihr verlieren. Das ist nichts für
Leute in feinen Kleidern."

Siddhartha lachte. "Schon einmal bin ich heute um meiner Kleider
willen betrachtet worden, mit Mißtrauen betrachtet. Willst du nicht,
Fährmann, diese Kleider, die mir lästig sind, von mir annehmen? Denn
du mußt wissen, ich habe kein Geld, dir einen Fährlohn zu zahlen."

"Der Herr scherzt," lachte der Fährmann.

"Ich scherze nicht, Freund. Sieh, schon einmal hast du mich in deinem
Boot über dies Wasser gefahren, um Gotteslohn. So tue es auch heute,
und nimm meine Kleider dafür an."

"Und will der Herr ohne Kleider weiterreisen?"

"Ach, am liebsten wollte ich gar nicht weiterreisen. Am liebsten wäre
es mir, Fährmann, wenn du mir eine alte Schürze gäbest und behieltest
mich als deinen Gehilfen bei dir, vielmehr als deinen Lehrling, denn
erst muß ich lernen, mit dem Boot umzugehen."

Lange blickte der Fährmann den Fremden an, suchend.

"Jetzt erkenne ich dich," sagte er endlich. "Einst hast du in meiner
Hütte geschlafen, lange ist es her, wohl mehr als zwanzig Jahre mag
das her sein, und bist von mir über den Fluß gebracht worden, und wir
nahmen Abschied voneinander wie gute Freunde. Warst du nicht ein
Samana? Deines Namens kann ich mich nicht mehr entsinnen."

"Ich heiße Siddhartha, und ich war ein Samana, als du mich zuletzt
gesehen hast."

"So sei willkommen, Siddhartha. Ich heiße Vasudeva." Du wirst, so
hoffe ich, auch heute mein Gast sein und in meiner Hütte schlafen, und
mir erzählen, woher du kommst, und warum deine schönen Kleider dir so
lästig sind."

Sie waren in die Mitte des Flusses gelangt, und Vasudeva legte sich
stärker ins Ruder. um gegen die Strömung anzukommen. Ruhig arbeitete
er, den Blick auf der Bootspitze, mit kräftigen Armen. Siddhartha saß
und und sah ihm zu, und erinnerte sich, wie schon einstmals, an jenem
letzten Tage seiner Samana-Zeit, Liebe zu diesem Manne sich in seinem
Herzen geregt hatte. Dankbar nahm er Vasudevas Einladung an. Als sie
am Ufer anlegten, half er ihm das Boot an den Pflöcken festbinden,
darauf bat ihn der Fährmann, in die Hütte zu treten, bot ihm Brot und
Wasser, und Siddhartha aß mit Lust, und aß mit Lust auch von den
Mangofrüchten, die ihm Vasudeva anbot.

Danach setzten sie sich, es ging gegen Sonnenuntergang, auf einem
Baumstamm am Ufer, und Siddhartha erzählte dem Fährmann seine Herkunft
und sein Leben, wie er es heute, in jener Stunde der Verzweiflung, vor
seinen Augen gesehen hatte. Bis tief in die Nacht währte sein
Erzählen.

Vasudeva hörte mit großer Aufmerksamkeit zu. Alles nahm er lauschend
in sich auf, Herkunft und Kindheit, all das Lernen, all das Suchen,
alle Freude, alle Not. Dies war unter des Fährmanns Tugenden eine der
größten: er verstand wie wenige das Zuhören. Ohne daß er ein Wort
gesprochen hätte, empfand der Sprechende, wie Vasudeva seine Worte in
sich einließ, still, offen, wartend, wie er keines verlor, keines mit
Ungeduld erwartete, nicht Lob noch Tadel daneben stellte, nur zuhörte.
Siddhartha empfand, welches Glück es ist, einem solchen Zuhörer sich
zu bekennen, in sein Herz das eigene Leben zu versenken, das eigene
Suchen, das eigene Leiden.

Gegen das Ende von Siddharthas Erzählung aber, als er von dem Baum am
Flusse sprach, und von seinem tiefen Fall, vom heiligen Om, und wie er
nach seinem Schlummer eine solche Liebe zu dem Flusse gefühlt hatte,
da lauschte der Fährmann mit verdoppelter Aufmerksamkeit, ganz und
völlig hingegeben, mit geschloßnem Auge.

Als aber Siddhartha schwieg, und eine lange Stille gewesen war, da
sagte Vasudeva: "Es ist so, wie ich dachte. Der Fluß hat zu dir
gesprochen. Auch dir ist er Freund, auch zu dir spricht er. Das ist
gut, das ist sehr gut. Bleibe bei mir, Siddhartha, mein Freund. Ich
hatte einst eine Frau, ihr Lager war neben dem meinen, doch ist sie
schon lange gestorben, lange habe ich allein gelebt. Lebe nun du mit
mir, es ist Raum und Essen für beide vorhanden."

"Ich danke dir," sagte Siddhartha, "ich danke dir und nehme an. Und
auch dafür danke ich dir, Vasudeva, daß du mir so gut zugehört hast!
Selten sind die Menschen, welche das Zuhören verstehen. Und keinen
traf ich, der es verstand wie du. Auch hierin werde ich von dir
lernen."

"Du wirst es lernen," sprach Vasudeva, "aber nicht von mir. Das
Zuhören hat mich der Fluß gelehrt, von ihm wirst auch du es lernen.
Er weiß alles, der Fluß, alles kann man von ihm lernen. Sieh, auch
das hast du, schon vom Wasser gelernt, daß es gut ist, nach unten zu
streben, zu sinken, die Tiefe zu suchen. Der reiche und vornehme
Siddhartha wird ein Ruderknecht, der gelehrte Brahmane Siddhartha wird
ein Fährmann: auch dies ist dir vom Fluß gesagt worden. Du wirst auch
das andere von ihm lernen."

Sprach Siddhartha, nach einer langen Pause: "Welches andere,
Vasudeva?"

Vasudeva erhob sich. "Spät ist es geworden," sagte er, "laß uns
schlafen gehen. Ich kann dir das andere nicht sagen, o Freund. Du
wirst es lernen, vielleicht auch weißt du es schon. Sieh, ich bin
kein Gelehrter, ich verstehe nicht zu sprechen, ich verstehe auch
nicht zu denken. Ich verstehe nur zuzuhören und fromm zu sein, sonst
habe ich nichts gelernt. Könnte ich es sagen und lehren, so wäre ich
vielleicht ein Weiser, so aber bin ich nur ein Fährmann, und meine
Aufgabe ist es, Menschen über diesen Fluß zu setzen. Viele habe ich
übergesetzt, Tausende, und ihnen allen ist mein Fluß nichts anderes
gewesen als ein Hindernis auf ihren Reisen. Sie reisten nach Geld und
Geschäften, und zu Hochzeiten, und zu Wallfahrten, und der Fluß war
ihnen im Wege, und der Fährmann war dazu da, sie schnell über das
Hindernis hinweg zubringen. Einige unter den Tausenden aber, einige
wenige, vier oder fünf, denen hat der Fluß aufgehört, ein Hindernis zu
sein, sie haben seine Stimme gehört, sie haben ihm zugehört, und der
Fluß ist ihnen heilig geworden, wie er es mir geworden ist. Laß uns
nun zur Ruhe gehen, Siddhartha."

Siddhartha blieb bei dem Fährmann und lernte das Boot bedienen, und
wenn nichts an der Fähre zu tun war, arbeitete er mit Vasudeva im
Reisfelde, sammelte Holz, pflückte die Früchte der Pisangbäume. Er
lernte ein Ruder zimmern, und lernte das Boot ausbessern, und Körbe
flechten, und war fröhlich über alles, was er lernte, und die Tage und
Monate liefen schnell hinweg. Mehr aber, als Vasudeva ihn lehren
konnte, lehrte ihn der Fluß. Von ihm lernte er unaufhörlich. Vor
allem lernte er von ihm das Zuhören, das Lauschen mit stillem Herzen,
mit wartender, geöffneter Seele, ohne Leidenschaft, ohne,Wunsch, ohne
Urteil, ohne Meinung.

Freundlich lebte er neben Vasudeva, und zuweilen tauschten sie Worte
miteinander, wenige und lang bedachte Worte. Vasudeva war kein Freund
der Worte, selten gelang es Siddhartha, ihn zum Sprechen zu bewegen.

"Hast du," so fragte er ihn einst, "hast auch du vom Flusse jenes
Geheime gelernt: daß es keine Zeit gibt?"

Vasudevas Gesicht überzog sich mit hellem Lächeln.

"Ja, Siddhartha," sprach er. "Es ist doch dieses, was du meinst: daß
der Fluß überall zugleich ist, am Ursprung und an der Mündung, am
Wasserfall, an der Fähre, an der Stromschnelle, im Meer, im Gebirge,
überall, zugleich, und daß es für ihn nur Gegenwart gibt, nicht den
Schatten Vergangenheit, nicht den Schatten Zukunft?"

"Dies ist es," sagte Siddhartha. "Und als ich es gelernt hatte, da
sah ich mein Leben an, und es war auch ein Fluß, und es war der Knabe
Siddhartha vom Manne Siddhartha und vom Greis Siddhartha nur durch
Schatten getrennt, nicht durch Wirkliches. Es waren auch Siddharthas
frühere Geburten keine Vergangenheit, und sein Tod und seine Rückkehr
zu Brahma keine Zukunft. Nichts war, nichts wird sein; alles ist,
alles hat Wesen und Gegenwart."

Siddhartha sprach mit Entzücken, tief hatte diese Erleuchtung ihn
beglückt. O, war denn nicht alles Leiden Zeit, war nicht alles
Sichquälen und Sichfürchten Zeit, war nicht alles Schwere, alles
Feindliche in der Welt weg und überwunden, sobald man die Zeit
überwunden hatte, sobald man die Zeit wegdenken konnte? Entzückt
hatte er gesprochen, Vasudeva aber lächelte ihn strahlend an und
nickte Bestätigung, schweigend nickte er, strich mit der Hand über
Siddharthas Schulter, wandte sich zu seiner Arbeit zurück.

Und wieder einmal, als eben der Fluß in der Regenzeit geschwollen war
und mächtig rauschte, da sagte Siddhartha: "Nicht wahr, o Freund, der
Fluß hat viele Stimmen, sehr viele Stimmen? Hat er nicht die Stimme
eines Königs, und eines Kriegers, und eines Stieres, und eines
Nachtvogels, und einer Gebärenden, und eines Seufzenden, und noch
tausend andere Stimmen?"

"Es ist so," nickte Vasudeva, "alle Stimmen der Geschöpfe sind in
seiner Stimme."

"Und weißt du," fuhr Siddhartha fort, "welches Wort er spricht, wenn
es dir gelingt, alle seine zehntausend Stimmen zugleich zu hören?"

Glücklich lachte Vasudevas Gesicht, er neigte sich gegen Siddhartha
und sprach ihm das heilige Om ins Ohr. Und eben dies war es, was auch
Siddhartha gehört hatte.

Und von Mal zu Mal ward sein Lächeln dem des Fährmanns ähnlicher, ward
beinahe ebenso strahlend, beinahe ebenso von Glück durchglänzt, ebenso
aus tausend kleinen Falten leuchtend, ebenso kindlich, ebenso
greisenhaft. Viele Reisende, wenn sie die beiden Fährmänner sahen,
hielten sie für Brüder. Oft saßen sie am Abend gemeinsam beim Ufer
auf dem Baumstamm, schwiegen und hörten beide dem Wasser zu, welches
für sie kein Wasser war, sondern die Stimme des Lebens, die Stimme des
Seienden, des ewig Werdenden. Und es geschah zuweilen, daß beide beim
Anhören des Flusses an dieselben Dinge dachten, an ein Gespräch von
vorgestern, an einen ihrer Reisenden, dessen Gesicht und Schicksal sie
beschäftigte, an den Tod, an ihre Kindheit, und daß sie beide im
selben Augenblick, wenn der Fluß ihnen etwas Gutes gesagt hatte,
einander anblickten, beide genau dasselbe denkend, beide beglückt über
dieselbe Antwort auf dieselbe Frage.

Es ging von der Fähre und von den beiden Fährleuten etwas aus, das
manche von den Reisenden spürten. Es geschah zuweilen, daß ein
Reisender, nachdem er in das Gesicht eines der Fährmänner geblickt
hatte, sein Leben zu erzählen begann, Leid erzählte, Böses bekannte,
Trost und Rat erbat. Es geschah zuweilen, daß einer um Erlaubnis bat,
einen Abend bei ihnen zu verweilen, um dem Flusse zuzuhören. Es
geschah auch, daß Neugierige kamen, welchen erzählt worden war, an
dieser Fähre lebten zwei Weise, oder Zauberer, oder Heilige. Die
Neugierigen stellten viele Fragen, aber sie bekamen keine Antworten,
und sie fanden weder Zauberer noch Weise, sie fanden nur zwei alte
freundliche Männlein, welche stumm zu sein und etwas sonderbar und
verblödet' schienen. Und die Neugierigen lachten, und unterhielten
sich darüber, wie töricht und leichtgläubig doch das Volk solche leere
Gerüchte verbreite.

Die Jahre gingen hin und keiner zählte sie. Da kamen einst Mönche
gepilgert, Anhänger des Gotama, des Buddha, welche baten, sie über den
Fluß zu setzen, und von ihnen erfuhren die Fährmänner, daß sie eiligst
zu ihrem großen Lehrer zurück wanderten, denn es habe sich die
Nachricht verbreitet, der Erhabene sei todkrank und werde bald seinen
letzten Menschentod sterben, um zur Erlösung einzugehen. Nicht lange,
so kam eine neue Schar Mönche gepilgert, und wieder eine, und sowohl
die Mönche wie die meisten der übrigen Reisenden und Wanderer sprachen
von nichts anderem als von Gotama und seinem nahen Tode. Und wie zu
einem Kriegszug oder zur Krönung eines Königs von überall und allen
Seiten her die Menschen strömen und sich gleich Ameisen in Scharen
sammeln, so strömten sie, wie von einem Zauber gezogen, dahin, wo der
große Buddha seinen Tod erwartete, wo das Ungeheure geschehen und der
große Vollendete eines Weltalters zur Herrlichkeit eingehen sollte.

Viel gedachte Siddhartha in dieser Zeit des sterbenden Weisen, des
großen Lehrers, dessen Stimme Völker ermahnt und Hunderttausende
erweckt hatte, dessen Stimme auch er einst vernommen, dessen heiliges
Antlitz auch er einst mit Ehrfurcht geschaut hatte. Freundlich
gedachte er seiner, sah seinen Weg der Vollendung vor Augen, und
erinnerte sich mit Lächeln der Worte, welche er einst als junger Mann
an ihn, den Erhabenen, gerichtet hatte. Es waren, so schien ihm,
stolze und altkluge Worte gewesen, lächelnd erinnerte er sich ihrer.
Längst wußte er sich nicht mehr von Gotama getrennt, dessen Lehre er
doch nicht hatte annehmen können. Nein, keine Lehre konnte ein
wahrhaft Suchender annehmen, einer, der wahrhaft finden wollte. Der
aber, der gefunden hat, der konnte jede, jede Lehre gutheißen, jeden
Weg, jedes Ziel, ihn trennte nichts mehr von all den tausend anderen,
welche im Ewigen lebten, welche das Göttliche atmeten.

An einem dieser Tage, da so viele zum sterbenden Buddha pilgerten,
pilgerte zu ihm auch Kamala, einst die schönste der Kurtisanen.
Längst hatte sie sich aus ihrem vorigen Leben zurückgezogen, hatte
ihren Garten den Mönchen Gotamas geschenkt, hatte ihre Zuflucht zur
Lehre genommen, gehörte zu den Freundinnen und Wohltäterinnen der
Pilgernden. Zusammen mit dem Knaben Siddhartha, ihrem Sohne, hatte
sie auf die Nachricht vom nahen Tode Gotamas hin sich auf den Weg
gemacht, in einfachem Kleide, zu Fuß. Mit ihrem Söhnlein war sie am
Flusse unterwegs; der Knabe aber war bald ermüdet, begehrte nach Hause
zurück, begehrte zu rasten, begehrte zu essen, wurde trotzig und
weinerlich.

Kamala mußte häufig mit ihm rasten, er war gewohnt, seinen Willen
gegen sie zu behaupten, sie mußte ihn füttern, mußte ihn trösten,
mußte ihn schelten. Er begriff nicht, warum er mit seiner Mutter
diese mühsame und traurige Pilgerschaft habe antreten müssen, an einen
unbekannten Ort, zu einem fremden Manne, welcher heilig war und
welcher im Sterben lag. Mochte er sterben, was ging dies den Knaben
an?

Die Pilgernden waren nicht mehr ferne von Vasudevas Fähre, als der
kleine Siddhartha abermals seine Mutter zu einer Rast nötigte. Auch
sie selbst, Kamala, war ermüdet, und während der Knabe an einer Banane
kaute, kauerte sie sich am Boden nieder, schloß ein wenig die Augen
und ruhte. Plötzlich aber stieß sie einen klagenden Schrei aus, der
Knabe sah sie erschrocken an und sah ihr Gesicht von Entsetzen
gebleicht, und unter ihrem Kleide hervor entwich eine kleine schwarze
Schlange, von welcher Kamala gebissen war.

Eilig liefen sie nun beide des Weges, um zu Menschen zu kommen, und
kamen bis in die Nähe der Fähre, dort sank Kamala zusammen, und
vermochte nicht weiter zu gehen. Der Knabe aber erhob ein klägliches
Geschrei, dazwischen küßte und umhalste er seine Mutter, und auch sie
stimmte in seine lauten Hilferufe ein, bis die Töne Vasudevas Ohr
erreichten, der bei der Fähre stand. Schnell kam er gegangen, nahm
die Frau auf die Arme, trug sie ins Boot, der Knabe lief mit, und bald
kamen sie alle in der Hütte an, wo Siddhartha am Herde stand und eben
Feuer machte. Er blickte auf und sah zuerst das Gesicht des Knaben,
das ihn wunderlich erinnerte, an Vergessenes mahnte. Dann sah er
Kamala, die er alsbald erkannte, obwohl sie besinnungslos im Arm des
Fährmanns lag, und nun wußte er, daß es sein eigner Sohn sei, dessen
Gesicht ihn so sehr gemahnt hatte, und das Herz bewegte sich in seiner
Brust.

Kamalas Wunde wurde gewaschen, war aber schon schwarz und ihr Leib
angeschwollen, ein Heiltrank wurde ihr eingeflößt. Ihr Bewußtsein
kehrte zurück, sie lag auf Siddharthas Lager in der Hütte, Und über
sie gebeugt stand Siddhartha, der sie einst so sehr geliebt hatte. Es
schien ihr ein Traum zu sein, lächelnd blickte sie in ihres Freundes
Gesicht, nur langsam erkannte sie ihre Lage, erinnerte sich des Bisses,
rief ängstlich nach dem Knaben.

"Er ist bei dir, sei ohne Sorge," sagte Siddhartha.

Kamala blickte in seine Augen. Sie sprach mit schwerer Zunge, vom
Gift gelähmt. "Du bist alt geworden, Lieber," sagte sie, "grau bist
du geworden. Aber du gleichst dem jungen Samana, der einst ohne
Kleider mit staubigen Füßen zu mir in den Garten kam. Du gleichst ihm
viel mehr, als du ihm damals glichest, da du mich und Kamaswami
verlassen hast. In den Augen gleichst du ihm, Siddhartha. Ach, auch
ich bin alt geworden, alt--kanntest du mich denn noch?"

Siddhartha lächelte: "Sogleich kannte ich dich, Kamala, Liebe. "

Kamala deutete auf ihren Knaben und sagte: "Kanntest du auch ihn? Er
ist dein Sohn."

Ihre Augen wurden irr und fielen zu. Der Knabe weinte, Siddhartha
nahm ihn auf seine Knie, ließ ihn weinen, streichelte sein Haar, und
beim Anblick des Kindergesichtes fiel ein brahmanisches Gebet ihm ein,
das er einst gelernt hatte, als er selbst ein kleiner Knabe war.
Langsam, mit singender Stimme, begann er es zu sprechen, aus der
Vergangenheit und Kindheit her kamen ihm die Worte geflossen. Und
unter seinem Singsang wurde der Knabe ruhig, schluchzte noch hin und
wieder auf und schlief ein. Siddhartha legte ihn auf Vasudevas Lager.
Vasudeva stand am Herd und kochte Reis. Siddhartha warf ihm einen
Blick zu, den er lächelnd erwiderte.

"Sie wird sterben," sagte Siddhartha leise.

Vasudeva nickte, über sein freundliches Gesicht lief der Feuerschein
vom Herde.

Nochmals erwachte Kamala zum Bewußtsein. Schmerz verzog ihr Gesicht,
Siddharthas Auge las das Leiden auf ihrem Munde, auf ihren erblaßten
Wangen. Stille las er es, aufmerksam, wartend, in ihr Leiden versenkt.
Kamala fühlte es, ihr Blick suchte sein Auge.

Ihn anblickend, sagte sie: "Nun sehe ich, daß auch deine Augen sich
verändert haben. Ganz anders sind sie geworden. Woran doch erkenne
ich noch, daß du Siddhartha bist? Du bist es, und bist es nicht."

Siddhartha sprach nicht, still blickten seine Augen in die ihren.

"Du hast es erreicht?" fragte sie. "Du hast Friede gefunden?"

Er lächelte, und legte seine Hand auf ihre.

"Ich sehe es," sagte sie, "ich sehe es. Auch ich werde Friede finden."

"Du hast ihn gefunden," sprach Siddhartha flüsternd.

Kamala blickte ihm unverwandt in die Augen. Sie dachte daran, daß sie
zu Gotama hatte pilgern wollen, um das Gesicht eines Vollendeten zu
sehen, um seinen Frieden zu atmen, und daß sie statt seiner nun ihn
gefunden, und daß es gut war, ebenso gut, als wenn sie jenen gesehen
hätte. Sie wollte es ihm sagen, aber die Zunge gehorchte ihrem Willen
nicht mehr. Schweigend sah sie ihn an, und er sah in ihren Augen das
Leben erlöschen. Als der letzte Schmerz ihr Auge erfüllte und brach,
als der letzte Schauder über ihre Glieder lief, schloß sein Finger
ihre Lider.

Lange saß er und blickte auf ihr entschlafnes Gesicht. Lange
betrachtete er ihren Mund, ihren alten, müden Mund mit den schmal
gewordenen Lippen, und erinnerte sich, daß er einst, im Frühling
seiner Jahre, diesen Mund einer frisch aufgebrochenen Feige verglichen
hatte. Lange saß er, las in dem bleichen Gesicht, in den müden Falten,
füllte sich mit dem Anblick, sah sein eigenes Gesicht ebenso liegen,
ebenso weiß, ebenso erloschen, und sah zugleich sein Gesicht und das
ihre jung, mit den roten Lippen, mit dem brennenden Auge, und das
Gefühl der Gegenwart und Gleichzeitigkeit durchdrang ihn völlig, das
Gefühl der Ewigkeit. Tief empfand er, tiefer als jemals, in dieser
Stunde die Unzerstörbarkeit jedes Lebens, die Ewigkeit jedes
Augenblicks.

Da er sich erhob, hatte Vasudeva Reis für ihn bereitet. Doch aß
Siddhartha nicht. Im Stall, wo ihre Ziege stand, machten sich die
beiden Alten eine Streu zurecht, und Vasudeva legte sich schlafen.
Siddhartha aber ging hinaus und saß die Nacht vor der Hütte, dem
Flusse lauschend, von Vergangenheit umspült, von allen Zeiten seines
Lebens zugleich berührt und umfangen. Zuweilen aber erhob er sich,
trat an die Hüttentür und lauschte, ob der Knabe schlafe.

Früh am Morgen, noch ehe die Sonne sichtbar ward, kam Vasudeva aus dem
Stalle und trat zu seinem Freunde.

"Du hast nicht geschlafen, " sagte er.

"Nein, Vasudeva. Ich saß hier, ich hörte dem Flusse zu. Viel hat er
mir gesagt, tief hat er mich mit dem heilsamen Gedanken erfüllt, mit
dem Gedanken der Einheit."

"Du hast Leid erfahren, Siddhartha, doch ich sehe, es ist keine
Traurigkeit in dein Herz gekommen."

"Nein, Lieber, wie sollte ich denn traurig sein? Ich, der ich reich
und glücklich war, bin jetzt noch reicher und glücklicher geworden.
Mein Sohn ist mir geschenkt worden."

"Willkommen sei dein Sohn auch mir. Nun aber, Siddhartha, laß uns an
die Arbeit gehen, viel ist zu tun. Auf demselben Lager ist Kamala
gestorben, auf welchem einst mein Weib gestorben ist. Auf demselben
Hügel auch wollen wir Kamalas Scheiterhaufen bauen, auf welchem ich
einst meines Weibes Scheiterhaufen gebaut habe."

Während der Knabe noch schlief, bauten sie den Scheiterhaufen.




DER SOHN

Scheu und weinend hatte der Knabe der Bestattung seiner Muttter
beigewohnt, finster und scheu hatte er Siddhartha angehört, der ihn
als seinen Sohn begrüßte und ihn bei sich in Vasudevas Hütte
willkommen hieß. Bleich saß er tagelang am Hügel der Toten, mochte
nicht essen, verschloß seinen Blick, verschloß sein Herz, wehrte und
sträubte sich gegen das Schicksal.

Siddhartha schonte ihn und ließ ihn gewähren, er ehrte seine Trauer.
Siddhartha verstand, daß sein Sohn ihn nicht kenne, daß er ihn nicht
lieben könne wie einen Vater. Langsam sah und verstand er auch, daß
der Elfjährige ein verwöhnter Knabe war, ein Mutterkind, und in
Gewohnheiten des Reichtums aufgewachsen, gewohnt an feinere Speisen,
an ein weiches Bett, gewohnt, Dienern zu befehlen. Siddhartha
verstand, daß der Trauernde und Verwöhnte nicht plötzlich und
gutwillig in der Fremde und Armut sich zufrieden geben könne. Er
zwang ihn nicht, er tat manche Arbeit für ihn, suchte stets den besten
Bissen für ihn aus. Langsam hoffte er ihn zu gewinnen, durch
freundliche Geduld.

Reich und glücklich hatte er sich genannt, als der Knabe zu ihm
gekommen war. Da indessen die Zeit hinfloß, und der Knabe fremd und
finster blieb, da er ein stolzes und trotziges Herz zeigte, keine
Arbeit tun wollte, den Alten keine Ehrfurcht erwies, Vasudevas
Fruchtbäume beraubte, da begann Siddhartha zu verstehen, daß mit
seinem Sohne nicht Glück und Friede zu ihm gekommen war, sondern Leid
und Sorge. Aber er liebte ihn, und lieber war ihm Leid und Sorge der
Liebe, als ihm Glück und Freude ohne den Knaben gewesen war. Seit der
junge Siddhartha in der Hütte war, hatten die Alten sich in die Arbeit
geteilt. Vasudeva hatte das Amt des Fährmanns wieder allein
übernommen, und Siddhartha, um bei dem Sohne zu sein, die Arbeit in
Hütte und Feld.

Lange Zeit, lange Monate wartete Siddhartha darauf, daß sein Sohn ihn
verstehe, daß er seine Liebe annehme, daß er sie vielleicht erwidere.
Lange Monate wartete Vasudeva, zusehend, wartete und schwieg. Eines
Tages, als Siddhartha der Junge seinen Vater wieder sehr mit Trotz und
Launen gequält und ihm beide Reisschüsseln zerbrochen hatte, nahm
Vasudeva seinen Freund am Abend beiseite und sprach mit ihm.

"Entschuldige mich," sagte er, "aus freundlichem Herzen rede ich zu
dir. Ich sehe, daß du dich quälst, ich sehe, daß du Kummer hast.
Dein Sohn, Lieber, macht dir Sorge, und auch mir macht er Sorge. An
ein anderes Leben, an ein anderes Nest ist der junge Vogel gewöhnt.
Nicht wie du ist er dem Reichtum und der Stadt entlaufen aus Ekel und
Überdruß, er hat wider seinen Willen dies alles dahinten lassen müssen.
Ich fragte den Fluß, o Freund, vielemale habe ich ihn gefragt. Der
Fluß aber lacht, er lacht mich aus, mich und dich lacht er aus, und
schüttelt sich über unsre Torheit. Wasser will zu Wasser, Jugend will
zu Jugend, dein Sohn ist nicht an dem Orte, wo er gedeihen kann.
Frage auch du den Fluß, höre auch du auf ihn!"

Bekümmert blickte Siddhartha ihm in das freundliche Gesicht, in dessen
vielen Runzeln beständige Heiterkeit wohnte.

"Kann ich mich denn von ihm trennen?" sagte er leise, beschämt. "Laß
mir noch Zeit, Lieber! Sieh, ich kämpfe um ihn, ich werbe um sein
Herz, mit Liebe und mit freundlicher Geduld will ich es fangen. Auch
zu ihm soll einst der Fluß reden, auch er ist berufen."

Vasudevas Lächeln blühte wärmer. "O ja, auch er ist berufen, auch er
ist vom ewigen Leben. Aber wissen wir denn, du und ich, wozu er
berufen ist, zu welchem Wege, zu welchen Taten, zu welchen Leiden?
Nicht klein wird sein Leiden sein, stolz und hart ist ja sein Herz,
viel müssen solche leiden, viel irren, viel Unrecht tun, sich viel
Sünde aufladen. Sage mir, mein Lieber: du erziehst deinen Sohn nicht?
Du zwingst ihn nicht? Schlägst ihn nicht? Strafst ihn nicht?"

"Nein, Vasudeva, das tue ich alles nicht."

"Ich wußte es. Du zwingst ihn nicht, schlägst ihn nicht, befiehlst
ihm nicht, weil du weißt, daß Weich stärker ist als Hart, Wasser
stärker als Fels, Liebe stärker als Gewalt. Sehr gut, ich lobe dich.
Aber ist es nicht ein Irrtum von dir, zu meinen, daß du ihn nicht
zwingest, nicht strafest? Bindest du ihn nicht in Bande mit deiner
Liebe? Beschämst du ihn nicht täglich, und machst es ihm noch
schwerer, mit deiner Güte und Geduld? Zwingst du ihn nicht, den
hochmütigen und verwöhnten Knaben, in einer Hütte bei zwei alten
Bananenessern zu leben, welchen schon Reis ein Leckerbissen ist, deren
Gedanken nicht seine sein können, deren Herz alt und still ist und
anderen Gang hat als das seine? Ist er mit alledem nicht gezwungen,
nicht gestraft?"

Betroffen blickte Siddhartha zur Erde. Leise fragte er: "Was, meinst
du, soll ich tun?"

Sprach Vasudeva: "Bring ihn zur Stadt, bringe ihn in seiner Mutter
Haus, es werden noch Diener dort sein, denen gib ihn. Und wenn keine
mehr da sind, so bringe ihn einem Lehrer, nicht der Lehre wegen, aber
daß er zu anderen Knaben komme, und zu Mädchen, und in die Welt,
welche die seine ist. Hast du daran nie gedacht?"

"Du siehst in mein Herz," sprach Siddhartha traurig. "Oft habe ich
daran gedacht. Aber sieh, wie soll ich ihn, der ohnehin kein sanftes
Herz hat, in diese Welt geben? Wird er nicht üppig werden, wird er
nicht sich an Lust und Macht verlieren, wird er nicht alle Irrtümer
seines Vaters wiederholen, wird er nicht vielleicht ganz und gar in
Sansara verloren gehen?"

Hell strahlte des Fährmanns Lächeln auf; er berührte zart Siddharthas
Arm und sagte: "Frage den Fluß darüber, Freund! Höre ihn darüber
lachen! Glaubst du denn wirklich, daß du deine Torheiten begangen
habest, um sie dem Sohn zu ersparen? Und kannst du denn deinen Sohn
vor Sansara schützen? Wie denn? Durch Lehre, durch Gebet, durch
Ermahnung? Lieber, hast du jene Geschichte denn ganz vergessen, jene
lehrreiche Geschichte vom Brahmanensohn Siddhartha, die du mir einst
hier an dieser Stelle erzählt hast? Wer hat den Samana Siddhartha vor
Sansara bewahrt, vor Sünde, vor Habsucht, vor Torheit? Hat seines
Vaters Frömmigkeit, seiner Lehrer Ermahnung, hat sein eigenes Wissen,
sein eigenes Suchen ihn bewahren können? Welcher Vater, welcher Lehrer
hat ihn davor schützen können, selbst das Leben zu leben, selbst
sich mit dem Leben zu beschmutzen, selbst Schuld auf sich zu laden,
selbst den bitteren Trank zu trinken, selber seinen Weg zu finden?

Glaubst du denn, Lieber, dieser Weg bleibe irgend jemandem vielleicht
erspart? Vielleicht deinem Söhnchen, weil du es liebst, weil du ihm
gern Leid und Schmerz und Enttäuschung ersparen möchtest? Aber auch
wenn du zehnmal für ihn stürbest, würdest du ihm nicht den kleinsten
Teil seines Schicksals damit abnehmen können."

Noch niemals hatte Vasudeva so viele Worte gesprochen. Freundlich
dankte ihm Siddhartha, ging bekümmert in die Hütte, fand lange keinen
Schlaf. Vasudeva hatte ihm nichts gesagt, das er nicht selbst schon
gedacht und gewußt hätte. Aber es war ein Wissen, das er nicht tun
konnte, stärker als das Wissen war seine Liebe zu dem Knaben, stärker
seine Zärtlichkeit, seine Angst, ihn zu verlieren. Hatte er denn
jemals an irgend etwas so sehr sein Herz verloren, hatte er je
irgendeinen Menschen so geliebt, so blind, so leidend, so erfolglos,
und doch so glücklich?

Siddhartha konnte seines Freundes Rat nicht befolgen, er konnte den
Sohn nicht hergeben. Er ließ sich von dem Knaben befehlen, er ließ
sich von ihm mißachten. Er schwieg und wartete, begann täglich den
stummen Kampf der Freundlichkeit, den lautlosen Krieg der Geduld.
Auch Vasudeva schwieg und wartete, freundlich, wissend, langmütig. In
der Geduld waren sie beide Meister.

Einst, als des Knaben Gesicht ihn sehr an Kamala erinnerte, mußte
Siddhartha plötzlich eines Wortes gedenken, das Kamala vor Zeiten, in
den Tagen der Jugend, einmal zu ihm gesagt hatte. "Du kannst nicht
lieben," hatte sie ihm gesagt, und er hatte ihr Recht gegeben und
hatte sich mit einem Stern, die Kindermenschen aber mit fallendem Laub
verglichen, und dennoch hatte er in jenem Wort auch einen Vorwurf
gespürt. In der Tat hatte er niemals sich an einen anderen Menschen
ganz verlieren und hingeben können, sich selbst vergessen, Torheiten
der Liebe eines anderen wegen begehen; nie hatte er das gekonnt, und
dies war, wie ihm damals schien, der große Unterschied gewesen, der
ihn von den Kindermenschen trennte. Nun aber, seit sein Sohn da war,
nun war auch er, Siddhartha, vollends ein Kindermensch geworden, eines
Menschen wegen leidend, einen Menschen liebend, an eine Liebe verloren,
einer Liebe wegen ein Tor geworden. Nun fühlte auch er, spät, einmal
im Leben diese stärkste und seltsamste Leidenschaft, litt an ihr, litt
kläglich, und war doch beseligt, war doch um etwas erneuert, um etwas
reicher.

Wohl spürte er, daß diese Liebe, diese blinde Liebe zu seinem Sohn
eine Leidenschaft, etwas sehr Menschliches, daß sie Sansara sei, eine
trübe Quelle, ein dunkles Wasser. Dennoch, so fühlte er gleichzeitig,
war sie nicht wertlos, war sie notwendig, kam aus seinem eigenen Wesen.
Auch diese Lust wollte gebüßt, auch diese Schmerzen wollten gekostet
sein, auch diese Torheiten begangen.

Der Sohn indessen ließ ihn seine Torheiten begehen, ließ ihn werben,
ließ ihn täglich sich vor seinen Launen demütigen. Dieser Vater hatte
nichts, was ihn entzückt, und nichts, was er gefürchtet hätte. Er war
ein guter Mann, dieser Vater, ein guter, gütiger, sanfter Mann,
vielleicht ein sehr frommer Mann, vielleicht ein Heiliger dies alles
waren nicht Eigenschaften, welche den Knaben gewinnen konnten.
Langweilig war ihm dieser Vater, der ihn da in seiner elenden Hätte
gefangen hielt, langweilig war er ihm, und daß er jede Unart mit
Lächeln, jeden Schimpf mit Freundlichkeit, jede Bosheit mit Güte
beantwortete, das eben war die verhaßteste List dieses alten
Schleichers. Viel lieber wäre der Knabe von ihm bedroht, von ihm
mißhandelt worden.

Es kam ein Tag, an welchem des jungen Siddhartha Sinn zum Ausbruch kam
und sich offen gegen seinen Vater wandte. Der hatte ihm einen Auftrag
erteilt, er hatte ihn Reisig sammeln geheißen. Der Knabe ging aber
nicht aus der Hütte, er blieb trotzig und wütend stehen, stampfte den
Boden, ballte die Fäuste, und schrie in gewaltigem Ausbruch seinem
Vater Haß und Verachtung ins Gesicht.

"Hole du selber dein Reisig!" rief er schäumend, "ich bin nicht dein
Knecht. Ich weiß ja, daß du mich nicht schlägst, du wagst es ja nicht;
ich weiß ja, daß du mich mit deiner Frömmigkeit und deiner Nachsicht
beständig strafen und klein machen willst. Du willst, daß ich werden
soll wie du, auch so fromm, auch so sanft, auch so weise! Ich aber,
höre, ich will, dir zu Leide, lieber ein Straßenräuber und Mörder
werden und zur Hölle fahren, als so werden wie du! Ich hasse dich, du
bist nicht mein Vater, und wenn du zehnmal meiner Mutter Buhle gewesen
bist!"

Zorn und Gram liefen in ihm über, schäumten in hundert wüsten und
bösen Worten dem Vater entgegen. Dann lief der Knabe davon und kam
erst spät am Abend wieder.

Am andern Morgen aber war er verschwunden. Verschwunden war auch ein
kleiner, aus zweifarbigem Bast geflochtener Korb, in welchem die
Fährleute jene Kupfer- und Silbermünzen aufbewahrten, welche sie als
Fährlohn erhielten. Verschwunden war auch das Boot, Siddhartha sah es
am jenseitigen Ufer liegen. Der Knabe war entlaufen.

"Ich muß ihm folgen," sagte Siddhartha, der seit jenen gestrigen
Schimpfreden des Knaben vor Jammer zitterte. "Ein Kind kann nicht
allein durch den Wald gehen. Er wird umkommen. Wir müssen ein Floß
bauen, Vasudeva, um übers Wasser zu kommen."

"Wir werden ein Floß bauen," sagte Vasudeva, "um unser Boot wieder zu
holen, das der Junge entführt hat. Ihn aber solltest du laufen lassen,
Freund, er ist kein Kind mehr, er weiß sich zu helfen. Er sucht den
Weg nach der Stadt, und er hat Recht, vergiß das nicht. Er tut das,
was du selbst zu tun versäumt hast. Er sorgt für sich, er geht seine
Bahn. Ach, Siddhartha, ich sehe dich leiden, aber du leidest
Schmerzen, über die man lachen möchte, über die du selbst bald lachen
wirst."

Siddhartha antwortete nicht. Er hielt schon das Beil in Händen, und
begann ein Floß aus Bambus zu machen, und Vasudeva half ihm, die
Stämme mit Grasseilen zuzammen zu binden. Dann fuhren sie hinüber,
wurden weit abgetrieben, zogen das Floß am jenseitigen Ufer flußauf.

"Warum hast du das Beil mitgenommen?" fragte Siddhartha.

Vasudeva sagte: "Es könnte sein, daß das Ruder unsres Bootes verloren
gegangen wäre."

Siddhartha aber wußte, was sein Freund dachte. Er dachte, der Knabe
werde das Ruder weggeworfen oder zerbrochen haben, um sich zu rächen
und um sie an der Verfolgung zu hindern. Und wirklich war kein Ruder
mehr im Boote. Vasudeva wies auf den Boden des Bootes, und sah den
Freund mit Lächeln an, als wollte er sagen; "Siehst du nicht, was dein
Sohn dir sagen will? Siehst du nicht, daß er nicht verfolgt Sein
will?" Doch sagte er dies nicht mit Worten. Er machte sich daran,
ein neues Ruder zu zimmern. Siddhartha aber nahm Abschied, um nach
dem Entflohenen zu suchen. Vasudeva hinderte ihn nicht.

Als Siddhartha schon lange im Walde unterwegs war, kam ihm der Gedanke,
daß sein Suchen nutzlos sei. Entweder, so dachte er, war der Knabe
längst voraus und schon in der Stadt angelangt, oder, wenn er noch
unterwegs sein sollte, würde er vor ihm, dem Verfolgenden, sich
verborgen halten. Da er weiter dachte, fand er auch, daß er selbst
nicht in Sorge um seinen Sohn war, daß er im Innersten wußte, er sei
weder umgekommen, noch drohe ihm im Walde Gefahr. Dennoch lief er
ohne Rast, nicht mehr, um ihn zu retten, nur aus Verlangen, nur um ihn
vielleicht nochmals zu sehen. Und er lief bis vor die Stadt.

Als er nahe bei der Stadt auf die breite Straße gelangte, blieb er
stehen, am Eingang des schönen Lustgartens, der einst Kamala gehört
hatte, wo er sie einst, in der Sänfte, zum erstenmal gesehen hatte.
Das Damalige stand in seiner Seele auf, wieder sah er sich dort stehen,
jung, ein bärtiger nackter Samana, das Haar voll Staub. Lange stand
Siddhartha und blickte durch das offne Tor in den Garten, Mönche in
gelben Kutten sah er unter den schönen Bäumen gehen.

Lange stand er, nachdenkend, Bilder sehend, der Geschichte seines
Lebens lauschend. Lange stand er, blickte nach den Mönchen, sah statt
ihrer den jungen Siddhartha, sah die junge Kamala unter den hohen
Bäumen gehen. Deutlich sah er sich, wie er von Kamala bewirtet ward,
wie er ihren ersten Kuß empfing, wie er stolz und verächtlich auf sein
Brahmanentum zurückblickte, stolz und verlangend sein Weltleben begann.
Er sah Kamaswami, sah die Diener, die Gelage, die Würfelspieler, die
Musikanten, sah Kamalas Singvogel im Käfig, lebte dies alles nochmals,
atmete Sansara, war nochmals alt und müde, fühlte nochmals den Ekel,
fühlte nochmals den Wunsch, sich auszulöschen, genas nochmals am
heiligen Om.

Nachdem er lange beim Tor des Gartens gestanden war, sah Siddhartha
ein, daß das Verlangen töricht war, das ihn bis zu dieser Stätte
getrieben hatte, daß er seinem Sohne nicht helfen konnte, daß er sich
nicht an ihn hängen durfte. Tief fühlte er die Liebe zu dem
Entflohenen im Herzen, wie eine Wunde, und fühlte zugleich, daß ihm
die Wunde nicht gegeben war, um in ihr zu wühlen, daß sie zur Blüte
werden und strahlen müsse.

Daß die Wunde zu dieser Stunde noch nicht blühte, noch nicht strahlte,
machte ihn traurig. An der Stelle des Wunschzieles, das ihn hierher
und dem entflohenen Sohne nachgezogen hatte, stand nun Leere. Traurig
setzte er sich nieder, fühlte etwas in seinem Herzen sterben, empfand
Leere, sah keine Freude mehr, kein Ziel. Er saß versunken, und
wartete. Dies hatte er am Flusse gelernt, dies eine: warten, Geduld
haben, lauschen. Und er saß und lauschte, im Staub der Straße,
lauschte seinem Herzen, wie es müd und traurig ging, wartete auf eine
Stimme. Manche Stunde kauerte er lauschend, sah keine Bilder mehr,
sank in die Leere, ließ sich sinken, ohne einen Weg zu sehen. Und
wenn er die Wunde brennen fühlte, sprach er lautlos das Om, füllte
sich mit Om. Die Mönche im Garten sahen ihn, und da er viele Stunden
kauerte, und auf seinen grauen Haaren der Staub sich sammelte, kam
einer gegangen und legte zwei Pisangfrüchte vor ihm nieder. Der Alte
sah ihn nicht.

Aus dieser Erstarrung weckte ihn eine Hand, welche seine Schulter
berührte. Alsbald erkannte er diese Berührung, die zarte, schamhafte,
und kam zu sich. Er erhob sich und begrüßte Vasudeva, welcher ihm
nachgegangen war. Und da er in Vasudevas freundliches Gesicht schaute,
in die kleinen, wie mit lauter Lächeln ausgefüllten Falten, in die
heiteren Augen, da lächelte auch er. Er sah nun die Pisangfrüchte vor
sich liegen, hob sie au, gab eine dem Fährmann, aß selbst die andere.
Darauf ging er schweigend mit Vasudeva in den Wald zurück, kehrte zur
Fähre heim. Keiner sprach von dem, was heute geschehen war, keiner
nannte den Namen des Knaben, keiner sprach von seiner Flucht, keiner
sprach von der Wunde. In der Hütte legte sich Siddhartha auf sein
Lager, und da nach einer Weile Vasudeva zu Ihm trat, um ihm eine
Schale Kokosmilch anzubieten, fand er ihn schon schlafend.




Om

Lange noch brannte die Wunde. Manchen Reisenden mußte Siddhartha über
den Fluß setzen, der einen Sohn oder eine Tochter bei sich hatte, und
keinen von ihnen sah er, ohne daß er ihn beneidete, ohne daß er dachte:
"So viele, so viel Tausende besitzen dies holdeste Glück--warum ich
nicht? Auch böse Menschen, auch Diebe, und Räuber haben Kinder, und
lieben sie, und werden von ihnen geliebt, nur ich nicht." So einfach,
so ohne Verstand dachte er nun, so ähnlich war er den Kindermenschen
geworden.

Anders sah er jetzt die Menschen an als früher, weniger klug, weniger
stolz, dafür wärmer, dafür neugieriger, beteiligter. Wenn er Reisende
der gewöhnlichen Art übersetzte, Kindermenschen, Geschäftsleute,
Krieger, Weibervolk, so erschienen diese Leute ihm nicht fremd wie
einst: er verstand sie, er verstand und teilte ihr nicht von Gedanken
und Einsichten, sondern einzig von Trieben und Wünschen geleitetes
Leben, er fühlte sich wie sie. Obwohl er nahe der Vollendung war, und
an seiner letzten Wunde trug, schien ihm doch, diese Kindermenschen
seien seine Brüder, ihre Eitelkeiten, Begehrlichkeiten und
Lächerlichkeiten verloren das Lächerliche für ihn, wurden begreiflich,
wurden liebenswert, wurden ihm sogar verehrungswürdig. Die blinde
Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, den dummen, blinden Stolz eines
eingebildeten Vaters auf sein einziges Söhnlein, das blinde, wilde
Streben nach Schmuck und nach bewundernden Männeraugen bei einem
jungen, eitlen Weibe, alle diese Triebe, alle diese Kindereien, alle
diese einfachen, törichten, aber ungeheuer starken, stark lebenden,
stark sich durchsetzenden Triebe und Begehrlichkeiten waren für
Siddhartha jetzt keine Kindereien mehr, er sah um ihretwillen die
Menschen leben, sah sie um ihretwillen Unendliches leisten, Reisen tun,
Kriege führen, Unendliches leiden, Unendliches ertragen, und er
konnte sie dafür lieben, er sah das Leben, das Lebendige, das
Unzerstörbare, das Brahman in jeder ihrer Leidenschaften, jeder ihrer
Taten. Liebenswert und bewundernswert waren diese Menschen in ihrer
blinden Treue, ihrer blinden Stärke und Zähigkeit. Nichts fehlte
ihnen, nichts hatte der Wissende und Denker vor ihnen voraus als eine
einzige Kleinigkeit, eine einzige winzig kleine Sache: das Bewußtsein,
den bewußten Gedanken der Einheit alles Lebens. Und Siddhartha
zweifelte sogar zu mancher Stunde, ob dies Wissen, dieser Gedanke so
sehr hoch zu werten, ob nicht auch er vielleicht eine Kinderei der
Denkmenschen, der Denk-Kindermenschen sein möchte. In allem andern
waren die Weltmenschen dem Weisen ebenbürtig, waren ihm oft weit
überlegen, wie ja auch Tiere in ihrem zähen, unbeirrten Tun des
Notwendigen in manchen Augenblicken den Menschen überlegen scheinen
können.

Langsam blühte, langsam reifte in Siddhartha die Erkenntnis, das
Wissen darum, was eigentlich Weisheit sei, was seines langen Suchens
Ziel sei. Es war nichts als eine Bereitschaft der Seele, eine
Fähigkeit, eine geheime Kunst, jeden Augenblick, mitten im Leben, den
Gedanken der Einheit denken, die Einheit fühlen und einatmen zu können.
Langsam blühte dies in ihm auf, strahlte ihm aus Vasudevas altem
Kindergesicht wider: Harmonie, Wissen um die ewige Vollkommenheit der
Welt, Lächeln, Einheit.

Die Wunde aber brannte noch, sehnlich und bitter gedachte Siddhartha
seines Sohnes, pflegte seine Liebe und Zärtlichkeit im Herzen, ließ
den Schmerz an sich fressen, beging alle Torheiten der Liebe. Nicht
von selbst erlosch diese Flamme.

Und eines Tages, als die Wunde heftig brannte, fuhr Siddhartha über
den Fluß, gejagt von Sehnsucht, stieg aus und war Willens, nach der
Stadt zu gehen und seinen Sohn zu suchen. Der Fluß floß sanft und
leise, es war in der trockenen Jahreszeit, aber seine Stimme klang
sonderbar: sie lachte! Sie lachte deutlich. Der Fluß lachte, er
lachte hell und klar den alten Fährmann aus. Siddhartha blieb stehen,
er beugte sich übers Wasser, um noch besser zu hören, und im still
ziehenden Wasser sah er sein Gesicht gespiegelt, und in diesem
gespiegelten Gesicht war etwas, das ihn erinnerte, etwas Vergessenes,,
und da er sich besann, fand er es: dies Gesicht glich einem andern,
das er einst gekannt und geliebt und auch gefürchtet hatte. Es glich
dem Gesicht seines Vaters, des Brahmanen. Und er erinnerte sich, wie
er vor Zeiten, ein Jüngling, seinen Vater gezwungen hatte, ihn zu den
Büßern gehen zu lassen, wie er Abschied von ihm genommen hatte, wie er
gegangen und nie mehr wiedergekommen war. Hatte nicht auch sein Vater
um ihn dasselbe Leid gelitten, wie er es nun um seinen Sohn litt? War
nicht sein Vater längst gestorben, allein, ohne seinen Sohn
wiedergesehen zu haben? Mußte er selbst nicht dies selbe Schicksal
erwarten? War es nicht eine Komödie, eine seltsame und dumme Sache,
diese Wiederholung, dieses Laufen in einem verhängnisvollen Kreise?

Der Fluß lachte. Ja, es war so, es kam alles wieder, was nicht bis zu
Ende gelitten und gelöst ward, es wurden immer wieder dieselben Leiden
gelitten. Siddhartha aber stieg wieder in das Boot und fuhr zu der
Hütte zurück, seines Vaters gedenkend, seines Sohnes gedenkend, vom
Flusse verlacht, mit sich selbst im Streit, geneigt zur Verzweiflung,
und nicht minder geneigt, über sich und die ganze Welt laut
mitzulachen. Ach, noch blühte die Wunde nicht, noch wehrte sein Herz
sich wider das Schicksal, noch strahlte nicht Heiterkeit und Sieg aus
seinem Leide. Doch fühlte er Hoffnung, und da er zur Hütte
zurückgekehrt war, spürte er ein unbesiegbares Verlangen, sich vor
Vasudeva zu öffnen, ihm alles zu zeigen, ihm, dem Meister des Zuhörens,
alles zu sagen.

Vasudeva saß in der Hütte und flocht an einem Korbe. Er fuhr nicht
mehr mit dem Fährboot, seine Augen begannen schwach zu werden, und
nicht nur seine Augen; auch seine Arme und Hände. Unverändert und
blühend war nur die Freude und das heitere Wohlwollen seines Gesichtes.

Siddhartha setzte sich zu dem Greise, langsam begann er zu sprechen.
Worüber sie niemals gesprochen hatten, davon erzählte er jetzt, von
seinem Gange zur Stadt, damals, von der brennenden Wunde, von seinem
Neid beim Anblick glücklicher Väter, von seinem Wissen um die Torheit
solcher Wünsche, von seinem vergeblichen Kampf wider sie. Alles
berichtete er, alles konnte er sagen, auch das Peinlichste, alles ließ
sich sagen, alles sich zeigen, alles konnte er erzählen. Er zeigte
seine Wunde dar, erzählte auch seine heutige Flucht, wie er übers
Wasser gefahren sei, kindischer Flüchtling, willens nach der Stadt zu
wandern, wie der Fluß gelacht habe.

Während er sprach, lange sprach, während Vasudeva mit stillem Gesicht
lauschte, empfand Siddhartha dies Zuhören Vasudevas stärker, als er es
jemals gefühlt hatte, er spürte, wie seine Schmerzen, seine
Beängstigungen hinüberflossen, wie seine heimliche Hoffnung
hinüberfloß, ihm von drüben wieder entgegen-kam. Diesem Zuhörer seine
Wunde zu zeigen, war dasselbe, wie sie im Flusse baden, bis sie kühl
und mit dem Flusse eins wurde. Während er immer noch sprach, immer
noch bekannte und beichtete, fühlte Siddhartha mehr und mehr, daß dies
nicht mehr Vasudeva, nicht mehr ein Mensch war, der ihm zuhörte, daß
dieser regungslos Lauschende seine Beichte in sich einsog wie ein Baum
den Regen, daß dieser Regungslose der Fluß selbst, daß er Gott selbst,
daß er das Ewige selbst war. Und während Siddhartha aufhörte, an sich
und an seine Wunde zu denken, nahm diese Erkenntnis vom veränderten
Wesen des Vasudeva von ihm Besitz, und je mehr er es empfand und
darein eindrang, desto weniger wunderlich wurde es, desto mehr sah er
ein, daß alles in Ordnung und natürlich war, daß Vasudeva schon lange,
beinahe schon immer so gewesen sei, daß nur er selbst es nicht ganz
erkannt hatte, ja daß er selbst von jenem kaum noch verschieden sei.
Er empfand, daß er den alten Vasudeva nun so sehe, wie das Volk die
Götter sieht, und daß dies nicht von Dauer sein könne; er begann im
Herzen von Vasudeva Abschied zu nehmen. Dabei sprach er immer fort.

Als er zu Ende gesprochen hatte, richtete Vasudeva seinen freundlichen,
etwas schwach gewordenen Blick auf ihn, sprach nicht, strahlte ihm
schweigend Liebe und Heiterkeit entgegen, Verständnis und Wissen. Er
nahm Siddharthas Hand, führte ihn zum Sitz am Ufer, setzte sich mit
ihm nieder, lächelte dem Flusse zu.

"Du hast ihn lachen hören," sagte er. "Aber du hast nicht alles
gehört. Laß uns lauschen, du wirst mehr hören."

Sie lauschten. Sanft klang der vielstimmige Gesang des Flusses.
Siddhartha schaute ins Wasser, und im ziehenden Wasser erschienen ihm
Bilder: sein Vater erschien, einsam, um den Sohn trauernd; er selbst
erschien, einsam, auch er mit den Banden der Sehnsucht an den fernen
Sohn gebunden; es erschien sein Sohn, einsam auch er, der Knabe,
begehrlich auf der brennenden Bahn seiner jungen Wünsche stürmend,
jeder auf sein Ziel gerichtet, jeder vom Ziel besessen, jeder leidend.
Der Fluß sang mit einer Stimme des Leidens, sehnlich sang er,
sehnlich floß er seinem Ziele zu, klagend klang seine Stimme.

"Hörst du?" fragte Vasudevas stummer Blick. Siddhartha nickte.

"Höre besser!" flüsterte Vasudeva.

Siddhartha bemühte sich, besser zu hören. Das Bild des Vaters, sein
eigenes Bild, das Bild des Sohnes flossen ineinander, auch Kamalas
Bild erschien und zerfloß, und das Bild Govindas, und andre Bilder,
und flossen ineinander über, wurden alle zum Fluß, strebten alle als
Fluß dem Ziele zu, sehnlich, begehrend, leidend, und des Flusses
Stimme klang voll Sehnsucht, voll von brennendem Weh, voll von
unstillbarem Verlangen. Zum Ziele strebte der Fluß, Siddhartha sah
ihn eilen, den Fluß, der aus ihm und den Seinen und aus allen Menschen
bestand, die er je gesehen hatte, alle die Wellen und Wasser eilten,
leidend, Zielen zu, vielen Zielen, dem Wasserfall, dem See, der
Stromschnelle, dem Meere, und alle Ziele wurden erreicht, und jedem
folgte ein neues, und aus dem Wasser ward Dampf und stieg in den
Himmel, ward Regen und stürzte aus dem Himmel herab, ward Quelle, ward
Bach, ward Fluß, strebte aufs Neue, floß aufs Neue. Aber die
sehnliche Stimme hatte sich verändert. Noch tönte sie, leidvoll,
suchend, aber andre Stimmen gesellten sich zu ihr, Stimmen der Freude
und des Leides, gute und böse Stimmen, lachende und trauernde, hundert
Stimmen, tausend Stimmen.

Siddhartha lauschte. Er war nun ganz Lauscher, ganz ins Zuhören
vertieft, ganz leer, ganz einsaugend, er fühlte, daß er nun das
Lauschen zu Ende gelernt habe. Oft schon hatte er all dies gehört,
diese vielen Stimmen im Fluß, heute klang es neu. Schon konnte er die
vielen Stimmen nicht mehr unterscheiden, nicht frohe von weinenden,
nicht kindliche von männlichen, sie gehörten alle zusammen, Klage der
Sehnsucht und Lachen des Wissenden, Schrei des Zorns und Stöhnen der
Sterbenden, alles war eins, alles war ineinander verwoben und
Yerknüpft, tausendfach verschlungen. Und alles zusammen, alle Stimmen,
alle Ziele, alles Sehnen, alle Leiden, alle Lust, alles Gute und Böse,
alles zusammen war die Welt. Alles zusammen war der Fluß des
Geschehens, war die Musik des Lebens. Und wenn Siddhartha aufmerksam
diesem Fluß, diesem tausendstimmigen Liede lauschte, wenn er nicht auf
das Leid noch auf das Lachen hörte, wenn er seine Seele nicht an
irgendeine Stimme band und mit seinem Ich in sie einging, sondern alle
hörte, das Ganze, die Einheit vernahm, dann bestand das große Lied der
tausend Stimmen aus einem einzigen Worte, das hieß OM : die Vollendung.

"Hörst du," fragte wieder Vasudevas Blick.

Hell glänzte Vasudevas Lächeln, über all den Runzeln seines alten
Antlitzes schwebte es leuchtend, wie über all den Stimmen des Flusses
das Om schwebte. Hell glänzte sein Lächeln, als er den Freund
anblickte, und hell glänzte nun auch auf Siddharthas Gesicht dasselbe
Lächeln auf. Seine Wunde blühte, sein Leid strahlte, sein Ich war in
die Einheit geflossen.

In dieser Stunde hörte Siddhartha auf, mit dem Schicksal zu kämpfen,
hörte auf zu leiden. Auf seinem Gesicht blühte die Heiterkeit des
Wissens, dem kein Wille mehr entgegensteht, das die Vollendung kennt,
das einverstanden ist mit dem Fluß des Geschehens, mit dem Strom des
Lebens, voll Mitleid, voll Mitlust, dem Strömen hingegeben, der
Einheit zugehörig.

Als Vasudeva sich von dem Sitz am Ufer erhob, als er in Siddharthas
Augen blickte und die Heiterkeit des Wissens darin strahlen sah,
berührte er dessen Schulter leise mit der Hand, in seiner behutsamen
und zarten Weise, und sagte: "Ich habe auf diese Stunde gewartet,
Lieber. Nun sie gekommen ist, laß mich gehen. Lange habe ich, auf
diese Stunde gewartet, lange bin ich der Fährmann Vasudeva gewesen.
Nun ist es genug. Lebe wohl, Hütte, lebe wohl, Fluß, lebe wohl,
Siddhartha!"

Siddhartha verneigte sich tief vor dem Abschiednehmenden.

"Ich habe es gewußt," sagte er leise. "Du wirst in die Wälder gehen?"

"Ich gehe in die Wälder, ich gehe in die Einheit," sprach Vasudeva
strahlend.

Strahlend ging er hinweg; Siddhartha blickte ihm nach. Mit tiefer
Freude, mit tiefem Ernst blickte er ihm nach, sah seine Schritte voll
Frieden, sah sein Haupt voll Glanz, sah seine Gestalt voll Licht.




GOVINDA

Mit anderen Mönchen weilte Govinda einst während einer Rastzeit in dem
Lusthain, welchen die Kurtisane Kamala den Jüngern des Gotama
geschenkt hatte. Er hörte von einem alten Fährmanne sprechen, welcher
eine Tagereise entfernt vom Hain am Flusse wohne, und der von vielen für
einen Weisen gehalten werde. Als Govinda des Weges weiterzog, wählte er
den Weg zur Fähre, begierig diesen Fährmann zu sehen. Denn ob er wohl
sein Leben lang nach der Regel gelebt hatte, auch von den Jungeren
Mönchen seines Alters und seiner Bescheidenheit wegen mit Ehrfurcht
angesehen wurde, war doch in seinem Herzen die Unruhe und das Suchen
nicht erloschen.

Er kam zum Flüsse, er bat den Alten um überfahrt, und da sie drüben
aus dem Boot stiegen, sagte er zum Alten: "Viel Gutes erweisest du uns
Mönchen und Pilgern, viele von uns hast du schon übergesetzt. Bist
nicht auch du, Fährmann, ein Sucher nach dem rechten Pfade?"

Sprach Siddhartha, aus den alten Augen lächelnd: "Nennst du dich einen
Sucher, o Ehrwürdiger, und bist doch schon hoch in den, Jahren, und
trägst das Gewand der Mönche Gotamas?"

"Wohl bin ich alt," sprach Govinda, "zu suchen aber habe ich nicht
aufgehört. Nie werde ich aufhören zu suchen, dies scheint meine
Bestimmung. Auch du, so scheint es mir, hast gesucht. Willst du mir
ein Wort sagen, Verehrter?"

Sprach Siddhartha: "Was sollte ich dir, Ehrwürdiger, wohl zu sagen
haben? Vielleicht das, daß du allzu viel suchst? Daß du vor Suchen
nicht zum Finden kommst?"

"Wie denn?" fragte Govinda.

"Wenn jemand sucht," sagte Siddhartha, "dann geschieht es leicht, daß
sein Auge nur noch das Ding sieht, das er sucht, daß er nichts zu
finden, nichts in sich einzulassen vermag, weil er nur immer an das
Gesuchte denkt, weil er ein Ziel hat, weil er vom Ziel besessen ist.
Suchen heißt: ein Ziel haben. Finden aber heißt: frei sein, offen
stehen, kein Ziel haben. Du, Ehrwürdiger, bist vielleicht in der Tat
ein Sucher, denn, deinem Ziel nachstrebend, siehst du manches nicht,
was nah vor deinen Augen steht."

"Noch verstehe ich nicht ganz," bat Govinda, "wie meinst du das?"

Sprach Siddhartha: "Einst, o Ehrwürdiger, vor manchen Jahren, bist du
schon einmal an diesem Flusse gewesen, und hast am Fluß einen
Schlafenden gefunden, und hast dich zu ihm gesetzt, um seinen Schlaf
zu behüten. Erkannt aber, o Govinda, hast du den Schlafenden nicht."

Staunend, wie ein Bezauberter, blickte der Mönch in des Fährmanns
Augen.

"Bist du Siddhartha?" fragte er mit scheuer Stimme. "Ich hätte dich
auch diesesmal nicht erkannt! Herzlich grüße ich dich, Siddhartha,
herzlich freue ich mich, dich nochmals zu sehen! Du hast dich sehr
verändert, Freund.--Und nun bist du also ein Fährmann geworden?"

Freundlich lachte Siddhartha. "Ein Fährmann, ja. Manche, Govinda,
müssen sich viel verändern, müssen allerlei Gewand tragen, ihrer einer
bin ich, Lieber. Sei willkommen, Govinda, und bleibe die Nacht in
meiner Hütte."

Govinda blieb die Nacht in der Hütte und schlief auf dem Lager, das
einst Vasudevas Lager gewesen war. Viele Fragen richtete er an den
Freund seiner Jugend, vieles mußte ihm Siddhartha aus seinem Leben
erzählen.

Als es am andern Morgen Zeit war, die Tageswanderung anzutreten, da
sagte Govinda, nicht ohne Zögern, die Worte: "Ehe ich meinen Weg
fortsetze, Siddhartha, erlaube mir noch eine Frage. Hast du eine
Lehre? Hast du einen Glauben, oder ein Wissen, dem du folgst, das dir
leben und rechttun hilft?"

Sprach Siddhartha: "Du weißt, Lieber, daß ich schon als junger Mann,
damals, als wir bei den Büßern im Walde lebten, dazu kam, den Lehren
und Lehrern zu mißtrauen und ihnen den Rücken zu wenden. Ich bin
dabei geblieben. Dennoch habe ich seither viele Lehrer gehabt. Eine
schöne Kurtisane ist lange Zeit meine Lehrerin gewesen, und ein
reicher Kaufmann war mein Lehrer, und einige Würfelspieler. Einmal
ist auch ein wandernder Jünger Buddhas mein Lehrer gewesen; er saß bei
mir, als ich im Walde eingeschlafen war, auf der Pilgerschaft. Auch
von ihm habe ich gelernt, auch ihm bin ich dankbar, sehr dankbar. Am
meisten aber habe ich hier von diesem Flusse gelernt, und von meinem
Vorgänger, dem Fährmann Vasudeva. Es war ein sehr einfacher Mensch,
Vasudeva, er war kein Denker, aber er wußte das Notwendige so gut wie
Gotama, er war ein Vollkommener, ein Heiliger."

Govinda sagte: "Noch immer, o Siddhartha, liebst du ein wenig den
Spott, wie mir scheint. Ich glaube dir und weiß es, daß du nicht
einem Lehrer gefolgt bist. Aber hast nicht du selbst, wenn auch nicht
eine Lehre, so doch gewisse Gedanken, gewisse Erkenntnisse gefunden,
welche dein eigen sind und die dir leben helfen? Wenn du mir von
diesen etwas sagen möchtest, würdest du mir das Herz erfreuen."

Sprach Siddhartha: "Ich habe Gedanken gehabt, ja, und Erkenntnisse, je
und je. Ich habe manchmal, für eine Stunde oder für einen Tag, Wissen
in mir gefühlt, so wie man Leben in seinem Herzen fühlt. Manche
Gedanken waren es, aber schwer wäre es für mich, sie dir mitzuteilen.
Sieh, mein Govinda, dies ist einer meiner Gedanken, die ich gefunden
habe: Weisheit ist nicht mitteilbar. Weisheit, welche ein Weiser
mitzuteilen versucht, klingt immer wie Narrheit."

"Scherzest du?" fragte Govinda.

"Ich scherze nicht. Ich sage, was ich gefunden habe. Wissen kann man
mitteilen, Weisheit aber nicht. Man kann sie finden, man kann sie
leben, man kann von ihr getragen werden, man kann mit ihr Wunder tun,
aber sagen und lehren kann man sie nicht. Dies war es, was ich schon
als Jüngfing manchmal ahnte, was mich von den Lehrern fortgetrieben
hat. Ich habe einen Gedanken gefunden, Govinda, den du wieder für
Scherz oder für Narrheit halten wirst, der aber mein, bester Gedanke
ist. Er heißt: Von jeder Wahrheit ist das Gegenteil ebenso wahr!
Nämhch so: eine Wahrheit läßt sich immer nur aussprechen und in Worte
hüllen, wenn sie einseitig ist. Einseitig ist alles, was mit Gedanken
gedacht und mit Worten gesagt werden kann, alles einseitig, alles halb,
alles entbehrt der Ganzheit, des Runden, der Einheit. Wenn der
erhabene Gotama lehrend von der Welt sprach, so mußte er sie teilen in
Sansara und Nirvana, in Täuschung und Wahrheit, in Leid und Erlösung.
Man kann nicht anders, es gibt keinen andern Weg für den, der lehren
will. Die Welt selbst aber, das Seiende um uns her und in uns innen,
ist nie einseitig. Nie ist ein Mensch, oder eine Tat, ganz Sansara
oder ganz Nirvana, nie ist ein Mensch ganz heilig oder ganz sündig.
Es scheint ja so, weil wir der Täuschung unterworfen sind, daß Zeit
etwas Wirkliches sei. Zeit ist nicht wirklich, Govinda, ich habe dies
oft und oft erfahren. Und wenn Zeit nicht wirklich ist, so ist die
Spanne, die zwischen Welt und Ewigkeit, zwischen Leid und Seligkeit,
zwischen Böse und Gut zu liegen scheint, auch eine Täuschung."

"Wie das?" fragte Govinda ängstlich.

"Höre gut, Lieber, höre gut! Der Sünder, der ich bin und der du bist,
der ist Sünder, aber er wird einst wieder Brahma sein, er wird einst
Nirvana erreichen, wird Buddha sein--und nun siehe: dies "Einst" ist
Täuschung, ist nur Gleichnis! Der Sünder ist nicht auf dem Weg zur
Buddhaschaft unterwegs, er ist nicht in einer Entwickelung begriffen,
obwohl unser Denken sich die Dinge nicht anders vorzustellen weiß.
Nein, in dem Sünder ist, ist jetzt und heute schon der künftige Buddha,
seine Zukunft ist alle schon da, du hast in ihm, in dir, in jedem den
werdenden, den möglichen, den verborgenen Buddha zu verehren. Die
Welt, Freund Govinda, ist nicht unvollkommen, oder auf einem langsamen
Wege zur Vollkommenheit begriffen: nein, sie ist in jedem Augenblick
vollkommen, alle Sünde trägt schon die Gnade in sich, alle kleinen
Kinder haben schon den Greis in sich, alle Säuglinge den Tod, alle
Sterbenden das ewige Leben. Es ist keinem Menschen möglich, vom
anderen zu sehen, wie weit er auf seinem Wege sei, im Räuber und
Würfelspieler wartet Buddha, im Brahmanenwartet der Räuber. Es gibt,
in der tiefen Meditation, die Möglichkeit, die Zeit aufzuheben, alles
gewesene, seiende und sein werdende Leben als gleichzeitig zu sehen,
und da ist alles gut, alles vollkommen, alles ist Brahm an. Darum
scheint mir das, was ist, gut, es scheint mir Tod wie Leben, Sünde wie
Heiligkeit, Klugheit wie Torheit, alles muß so sein, alles bedarf nur
meiner Zustimmung, nur meiner Willigkeit, meines liebenden
Einverständnisses, so ist es für mich gut, kann mich nur fördern, kann
mir nie schaden. Ich habe an meinem Leibe und an meiner Seele
erfahren, daß ich der Sünde sehr bedurfte, ich bedurfte der Wollust,
des Strebens nach Gütern, der Eitelkeit, und bedurfte der
schmählichsten Verzweiflung, um das Widerstreben aufgeben zu lernen,
um die Welt lieben zu lernen, um sie nicht mehr mit irgendeiner von
mir gewünschten, von mir eingebildeten Welt zu vergleichen, einer von
mir ausgedachten Art der VollkommenhReit, sondern sie zu lassen, wie
sie ist, und sie zu lieben, und ihr gerne anzugehören.--Dies, o
Govinda, sind einige,von den Gedanken, die mir in den Sinn gekommen
sind."

Siddhartha bückte sich, hob einen Stein vom Erdbodene auf und wog ihn
in der Hand.

"Dies hier," sagte er spielend, "ist ein Stein, und er wird in einer
bestimmten Zeit vielleicht Erde sein, und wird aus Erde Pflanze werden,
oder Tier oder Mensch. Früher nun hätte ich gesagt: Dieser Stein ist
bloß ein Stein, er ist wertlos, er gehört der Welt der Maja an; aber
weil er vielleicht im Kreislauf der Verwandlungen auch Mensch und
Geist werden kann, darum schenke ich auch ihm Geltung. So hätte ich
früher vielleicht gedacht. Heute aber denke ich: dieser Stein ist
Stein, er ist auch Tier, er ist auch Gott, er ist auch Buddha, ich
verehre und liebe ihn nicht, weil er einstmals dies oder jenes werden
könnte, sondern weil er alles längst und immer ist--und gerade dies,
daß er Stein ist, daß er mir jetzt und heute als Stein erscheint,
gerade darum liebe ich ihn, und sehe Wert und Sinn in jeder von seinen
Adern und Höhlungen, in dem Gelb, in dem Grau, in der Härte, im Klang,
den er von sich gibt, wenn ich ihn beklopfe, in der Trockenheit oder
Feuchtigkeit seiner Oberfläche. Es gibt Steine, die fühlen sich wie
Öl oder wie Seife an, und andre wie Blätter, andre wie Sand, und jeder
ist besonders und betet das Om auf seine Weise, jeder ist Brahman,
zugleich aber und ebensosehr ist er Stein, ist ölig oder saftig, und
gerade das gefällt mir und scheint mir wunderbar und der Anbetung,
würdig.--Aber mehr laß mich davon nicht sagen. Die Worte tun dem
geheimen Sinn nicht gut, es wird immer alles gleich ein wenig anders,
wenn man es ausspricht, ein wenig verfälscht, ein wenig närrisch--ja,
und auch das ist sehr gut und gefällt mir sehr, auch damit bin ich
sehr einverstanden, daß das, was eines Menschen Schatz und Weisheit
ist, dem andern immer wie Narrheit klingt."

Schweigend lauschte Govinda.

"Warum hast du mir das von dem Steine gesagt?" fragte er nach einer
Pause zögernd.

"Es geschah ohne Absicht. Oder vielleicht war es so gemeint, daß ich
eben den Stein, und den Fluß, und alle diese Dinge, die wir betrachten
und von denen wir lernen können, liebe. Einen Stein kann ich lieben,
Govinda, und auch einen Baum oder ein Stück Rinde. Das sind Dinge,
und Dinge kann man lieben. Worte aber kann ich nicht lieben. Darum
sind Lehren nichts für mich, sie haben keine Härte, keine Weiche,
keine Farben, keine Kanten, keinen Geruch, keinen Geschmack, sie haben
nichts als Worte. Vielleicht ist es dies, was dich hindert, den
Frieden zu finden, vielleicht sind es die vielen Worte. Denn auch
Erlösung und Tugend, auch Sansara und Nirvana sind bloße Worte,
Govinda. Es gibt kein Ding, das Nirvana wäre; es gibt nur das Wort
Nirvana."

Sprach Govinda: "Nicht nur ein Wort, Freund, ist Nirvana. Es ist ein
Gedanke."

Siddhartha fuhr fort: "Ein Gedanke, es mag so sein. Ich muß dir
gestehen, Lieber: ich unterscheide zwischen Gedanken und Worten nicht
sehr. Offen gesagt, halte ich auch von Gedanken nicht viel. Ich
halte von Dingen mehr. Hier auf diesem Fährboot zum Beispiel war ein
Mann mein Vorgänger und Lehrer, ein heiliger Mann, der hat manche
Jahre lang einfach an den Fluß geglaubt, sonst an nichts. Er hatte
gemerkt, daß des Flusses Stimme zu ihm sprach, von ihr lernte er, sie
erzog und lehrte ihn, der Fluß schien ihm ein Gott, viele Jahre lang
wußte er nicht, daß jeder Wind, jede Wolke, jeder Vogel, jeder Käfer
genau so göttlich ist und ebensoviel weiß und lehren kann wie der
verehrte Fluß. Als dieser Heilige aber in die Wälder ging, da wußte
er alles, wußte mehr als du und ich, ohne Lehrer, ohne Bücher, nur
weil er an den Fluß geglaubt hatte."

Govinda sagte: "Aber ist das, was du Dinge' nennst, denn etwas
Wirkliches, etwas Wesenhaftes? Ist das nicht nur Trug der Maja, nur
Bild und Schein? Dein Stein, dein Baum, dein Fluß--sind sie denn
Wirklichkeiten?"

"Auch dies," sprach Siddhartha, "bekümmert mich nicht sehr. Mögen die
Dinge Schein sein oder nicht, auch ich bin alsdann ja Schein, und so
sind sie stets meinesgleichen. Das ist es, was sie mir so lieb und
verehrenswert macht: sie sind meinesgleichen. Darum kann ich sie
lieben. Und dies ist nun eine Lehre, über welche du lachen wirst: die
Liebe, o Govinda, scheint mir von allem die Hauptsache zu sein. Die
Welt zu durchschauen, sie zu erklären, sie zu verachten, mag großer
Denker Sache sein. Mir aber liegt einzig daran, die Welt lieben zu
können, sie nicht zu verachten, sie und mich nicht zu hassen, sie und
mich und alle Wesen mit Liebe und Bewunderung und Ehrfurcht betrachten
zu können."

"Dies verstehe ich," sprach Govinda. "Aber eben dies hat er, der
Erhabene, als Trug erkannt. Er gebietet Wohlwollen, Schonung, Mitleid,
Duldung, nicht aber Liebe; er verbot uns, unser Herz in Liebe an
Irdisches zu fesseln."

"Ich weiß es", sagte Siddhartha; sein Lächeln strahlte golden. "Ich
weiß es, Govinda. Und siehe, da sind wir mitten im Dickicht der
Meinungen drin, im Streit um Worte. Denn ich kann nicht leugnen,
meine Worte von der Liebe stehen im Widerspruch, im scheinbaren
Widerspruch zu Gotamas Worten. Eben darum mißtraue ich den Worten so
sehr, denn ich weiß, dieser Widerspruch ist Täuschung. Ich weiß, daß
ich mit Gotama einig bin. Wie sollte denn auch Er die Liebe nicht
kennen, Er, der alles Menschensein in seiner Vergänglichkeit, in seiner
Nichtigkeit erkannt hat, und dennoch die Menschen so sehr liebte, daß
er ein langes, mühevolles Leben einzig darauf verwendet hat, ihnen zu
helfen, sie zu lehren! Auch bei ihm, auch bei deinem großen Lehrer,
ist mir das Ding lieber als die Worte, sein Tun und Leben wichtiger
als sein Reden, die Gebärde seiner Hand wichtiger als seine Meinungen.
Nicht im Reden, nicht im Denken sehe ich seine Größe, nur im Tun, im
Leben."

Lange schwiegen die beiden alten Männer. Dann sprach Govinda, indem
er sich zum Abschied verneigte: "Ich danke dir, Siddhartha, daß du mir
etwas von deinen Gedanken gesagt hast. Es sind zum Teil seltsame
Gedanken, nicht alle sind mir sofort verständlich geworden. Dies möge
sein, wie es wolle, ich danke dir, und ich wünsche dir ruhige Tage."

(Heimlich bei sich aber dachte er: Dieser Siddhartha ist ein
wunderlicher Mensch, wunderliche Gedanken spricht er aus, närrisch
klingt seine Lehre. Anders klingt des Erhabenen reine Lehre, klarer,
reiner, verständlicher, nichts Seltsames, Närrisches oder Lächerliches
ist in ihr enthalten. Aber anders als seine Gedanken scheinen mir
Siddharthas Hände und Füße, seine Augen, seine Stirn, sein Atmen, sein
Lächeln, sein Gruß, sein Gang. Nie mehr, seit unser erhabener Gotama
in Nirvana einging, nie mehr habe ich einen Menschen angetroffen, von
dem ich fühlte: dies ist ein Heiligert Einzig ihn, diesen Siddhartha,
habe ich so gefunden. Mag seine Lehre seltsam sein, mögen seine Worte
närrisch klingen, sein Blick und; seine Hand, seine Haut und sein Haar,
alles an ihm strahlt eine Reinheit, strahlt eine Ruhe, strahlt eine
Heiterkeit und Milde und Heiligkeit aus, welche ich an keinem anderen
Menschen seit dem letzten Tode unseres erhabenen Lehrers gesehen habe.)

Indem Govinda also dachte, und ein Widerstreit in seinem Herzen war,
neigte er sich nochmals zu Siddhartha, von Liebe gezogen. Tief
verneigte er sich vor dem ruhig Sitzenden.

"Siddhartha", sprach er, "wir sind alte Männer geworden. Schwerlich
wird einer von uns den andern in dieser Gestalt wiedersehen. Ich sehe,
Geliebter, daß du den Frieden gefunden hast. Ich bekenne, ihn nicht
gefunden zu haben. Sage mir, Verehrter, noch ein Wort, gib mir etwas
mit, das ich fassen, das ich verstehen kann! Gib mir etwas mit auf
meinen Weg. Er ist oft beschwerlich, mein Weg, oft finster, Siddhartha."

Siddhartha schwieg und blickte ihn mit dem immer gleichen, stillen
Lächeln an. Starr blickte ihm Govinda ins Gesicht, mit Angst, mit
Sehnsucht, Leid und ewiges Suchen stand in seinem Blick geschrieben,
ewiges Nichtfinden.

Siddhartha sah es, und lächelte.

"Neige dich zu mir!" flüsterte er leise in Govindas Ohr. "Neige dich
zu mir her! So, noch näher! Ganz nahe! Küsse mich auf die Stirn,
Govindal"

Während aber Govinda verwundert, und dennoch von großer Liebe und
Ahnung gezogen, seinen Worten gehorchte, sich nahe zu ihm neigte und
seine Stirn mit den Lippen berührte, geschah ihm etwas Wunderbares.
Während seine Gedanken noch bei Siddharthas wunderlichen Worten
verweilten, während er sich noch vergeblich und mit Widerstreben
bemühte, sich die Zeit hinwegzudenken, sich Nirvana und Sansara als
Eines vorzustellen, während sogar eine gewisse Verachtung für die
Worte des Freundes in ihm mit einer ungeheuren Liebe und Ehrfurcht
stritt, geschah ihm dieses:

Er sah seines Freundes Siddhartha Gesicht nicht mehr, er sah statt
dessen andre Gesichter, viele, eine lange Reihe, einen strömenden Fluß
von Gesichtern, von hunderten, von tausenden, welche alle kamen und
vergingen, und doch alle zugleich dazusein schien-en, welche alle sich
beständig veränderten und erneuerten, und welche doch alle Siddhartha
waren. Er sah das Gesicht eines Fisches, eines Karpfens, mit
unendlich schmerzvoll geöffnetem Maule, eines sterbenden Fisches, mit
brechenden Augen--er sah das Gesicht eines neugeborenen Kindes, rot
und voll Falten, zum Weinen verzogen--er sah das Gesicht eines Mörders,
sah ihn ein Messer in den Leib eines.Menschen stechen--er sah, zur
selben Sekunde, diesen Verbrecher gefesselt knien und sein Haupt vom
Henker mit einem Schwertschlag abgeschlagen werden--er sah die Körper
von Männern und Frauen nackt in Stellungen und Kämpfen rasender
Liebe--er sah Leichen ausgestreckt, still, kalt, leer--er sah
Tierköpfe, von Ebern, von Krokodilen, von Elefanten, von Stieren, von
Vögeln--er sah Götter, sah Krischna, sah Agni--er sah alle diese
Gestalten und Gesichter in tausend Beziehungen zueinander, jede der
andern helfend, sie liebend, sie hassend, sie vernichtend, sie neu
gebärend, jede war ein Sterbenwollen, ein leidenschaftlich
schmerzliches Bekenntnis der Vergänglichkeit, und keine starb doch,
jede verwandelte sich nur, wurde stets neu geboren, bekam stets ein
neues Gesicht, ohne daß doch zwischen einem und dem anderen Gesicht
Zeit gelegen wäre--und alle diese Gestalten und Gesichter ruhten,
flossen, erzeugten sich, schwammen dahin und strömten ineinander, und
über alle war beständig etwas Dünnes, Wesenloses, dennoch Seiendes,
wie ein dünnes Glas oder Eis gezogen, wie eine durchsichtige Haut,
eine Schale oder Form oder Maske von Wasser, und diese Maske lächelte,
und diese Maske war Siddharthas lächelndes Gesicht, das er, Govinda,
in eben diesem selben Augenblick mit den Lippen berührte. Und, so sah
Govinda, dies Lächeln der Maske, dies Lächeln der Einheit über den
strömenden Gestaltungen, dies Lächeln der Gleichzeitigkeit über den
tausend Geburten und Toten, dies Lächeln Siddharthas war genau
dasselbe, war genau das gleiche, stille, feine, undurchdringliche,
vielleicht gütige, vielleicht spöttische, weise, tausendfältige
Lächeln Gotamas, des Buddha, wie er selbst es hundertmal mit Ehrfurcht
gesehen hatte. So, das wußte Govinda, lächelten die Vollendeten.

Nicht mehr wissend ob es Zeit gebe, ob diese Schauung eine Sekunde
oder hundert Jahre gewährt habe, nicht mehr wissend, ob es einen
Siddhartha, ob es einen Gotama, ob es Ich und Du gebe, im Innersten
wie von einem göttlichen Pfeile verwundet, dessen Verwundung süß
schmeckt, im Innersten verzaubert und aufgelöst, stand Govinda noch
eine kleine Weile, über Siddharthas stilles Gesicht gebeugt, das er
soeben geküßt hatte, das soeben Schauplatz aller Gestaltungen, alles
Werdens, alles Seins gewesen war. Das Antlitz war unverändert,
nachdem unter seiner Oberfläche die Tiefe der Tausendfältigkeit sich
wieder geschlossen hatte, er lächelte still, lächelte leise und sanft,
vielleicht sehr gütig, vielleicht sehr spöttisch, genau, wie er
gelächelt hatte, der Erhabene.

Tief verneigte sich Govinda, Tränen liefen, von welchen er nichts
wußte, über sein altes Gesicht, wie ein Feuer brannte das Gefühl der
innigsten Liebe, der demütigsten Verehrung in seinem Herzen. Tief
verneigte er sich, bis zur Erde, vor dem regungslos Sitzenden, dessen
Lächeln ihn an alles erinnerte, was er in seinem Leben jemals geliebt
hatte, was jemals in seinem Leben ihm wert und heilig gewesen war.







 


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