Wilhelm Meisters Lehrjahre--Buch 1
by
Johann Wolfgang von Goethe








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Wilhelm Meisters Lehrjahre--Buch 1

Johann Wolfgang von Goethe





Erstes Buch

Erstes Kapitel

Das Schauspiel dauerte sehr lange. Die alte Barbara trat einigemal
ans Fenster und horchte, ob die Kutschen nicht rasseln wollten. Sie
erwartete Marianen, ihre schöne Gebieterin, die heute im Nachspiele,
als junger Offizier gekleidet, das Publikum entzückte, mit größerer
Ungeduld als sonst, wenn sie ihr nur ein mäßiges Abendessen
vorzusetzen hatte; diesmal sollte sie mit einem Paket überrascht
werden, das Norberg, ein junger, reicher Kaufmann, mit der Post
geschickt hatte, um zu zeigen, daß er auch in der Entfernung seiner
Geliebten gedenke.

Barbara war als alte Dienerin, Vertraute, Ratgeberin, Unterhändlerin
und Haushälterin in Besitz des Rechtes, die Siegel zu eröffnen, und
auch diesen Abend konnte sie ihrer Neugierde um so weniger widerstehen,
als ihr die Gunst des freigebigen Liebhabers mehr als selbst Marianen
am Herzen lag. Zu ihrer größten Freude hatte sie in dem Paket ein
feines Stück Nesseltuch und die neuesten Bänder für Marianen, für sich
aber ein Stück Kattun, Halstücher und ein Röllchen Geld gefunden. Mit
welcher Neigung, welcher Dankbarkeit erinnerte sie sich des abwesenden
Norbergs! Wie lebhaft nahm sie sich vor, auch bei Marianen seiner im
besten zu gedenken, sie zu erinnern, was sie ihm schuldig sei und was
er von ihrer Treue hoffen und erwarten müsse.

Das Nesseltuch, durch die Farbe der halbaufgerollten Bänder belebt,
lag wie ein Christgeschenk auf dem Tischchen; die Stellung der Lichter
erhöhte den Glanz der Gabe, alles war in Ordnung, als die Alte den
Tritt Marianens auf der Treppe vernahm und ihr entgegeneilte. Aber
wie sehr verwundert trat sie zurück, als das weibliche Offizierchen,
ohne auf die Liebkosungen zu achten, sich an ihr vorbeidrängte, mit
ungewöhnlicher Hast und Bewegung in das Zimmer trat, Federhut und
Degen auf den Tisch warf, unruhig auf und nieder ging und den
feierlich angezündeten Lichtern keinen Blick gönnte.

"Was hast du, Liebchen?" rief die Alte verwundert aus. "Um 's Himmels
willen, Töchterchen, was gibt's? Sieh hier diese Geschenke! Von wem
können sie sein, als von deinem zärtlichsten Freunde? Norberg schickt
dir das Stück Musselin zum Nachtkleide; bald ist er selbst da; er
scheint mir eifriger und freigebiger als jemals."

Die Alte kehrte sich um und wollte die Gaben, womit er auch sie
bedacht, vorweisen, als Mariane, sich von den Geschenken wegwendend,
mit Leidenschaft ausrief: "Fort! Fort! heute will ich nichts von
allem diesen hören; ich habe dir gehorcht, du hast es gewollt, es sei
so! Wenn Norberg zurückkehrt, bin ich wieder sein, bin ich dein,
mache mit mir, was du willst, aber bis dahin will ich mein sein, und
hättest du tausend Zungen, du solltest mir meinen Vorsatz nicht
ausreden. Dieses ganze Mein will ich dem geben, der mich liebt und
den ich liebe. Keine Gesichter! Ich will mich dieser Leidenschaft
überlassen, als wenn sie ewig dauern sollte."

Der Alten fehlte es nicht an Gegenvorstellungen und Gründen; doch da
sie in fernerem Wortwechsel heftig und bitter ward, sprang Mariane auf
sie los und faßte sie bei der Brust. Die Alte lachte überlaut. "Ich
werde sorgen müssen", rief sie aus, "daß sie wieder bald in lange
Kleider kommt, wenn ich meines Lebens sicher sein will. Fort, zieht
Euch aus! Ich hoffe, das Mädchen wird mir abbitten, was mir der
flüchtige Junker Leids zugefügt hat; herunter mit dem Rock und immer
so fort alles herunter! Es ist eine unbequeme Tracht, und für Euch
gefährlich, wie ich merke. Die Achselbänder begeistern Euch."

Die Alte hatte Hand an sie gelegt, Mariane riß sich los. "Nicht so
geschwind!" rief sie aus, "ich habe noch heute Besuch zu erwarten."

"Das ist nicht gut", versetzte die Alte. "Doch nicht den jungen,
zärtlichen, unbefiederten Kaufmannssohn?"--"Eben den", versetzte
Mariane.

"Es scheint, als wenn die Großmut Eure herrschende Leidenschaft werden
wollte", erwiderte die Alte spottend; "Ihr nehmt Euch der Unmündigen,
der Unvermögenden mit großem Eifer an. Es muß reizend sein, als
uneigennützige Geberin angebetet zu werden."

"Spotte, wie du willst. Ich lieb ihn! ich lieb ihn! Mit welchem
Entzücken sprech ich zum erstenmal diese Worte aus! Das ist diese
Leidenschaft, die ich so oft vorgestellt habe, von der ich keinen
Begriff hatte. Ja, ich will mich ihm um den Hals werfen! ich will ihn
fassen, als wenn ich ihn ewig halten wollte. Ich will ihm meine ganze
Liebe zeigen, seine Liebe in ihrem ganzen Umfang genießen."

"Mäßigt Euch", sagte die Alte gelassen, "mäßigt Euch! Ich muß Eure
Freude durch ein Wort unterbrechen: Norberg kommt! in vierzehn Tagen
kommt er! Hier ist sein Brief, der die Geschenke begleitet hat."

"Und wenn mir die Morgensonne meinen Freund rauben sollte, will ich
mir's verbergen. Vierzehn Tage! Welche Ewigkeit! In vierzehn Tagen,
was kann da nicht vorfallen, was kann sich da nicht verändern!"

Wilhelm trat herein. Mit welcher Lebhaftigkeit flog sie ihm entgegen!
mit welchem Entzücken umschlang er die rote Uniform! drückte er das
weiße Atlaswestchen an seine Brust! Wer wagte hier zu beschreiben,
wem geziemt es, die Seligkeit zweier Liebenden auszusprechen! Die
Alte ging murrend beiseite, wir entfernen uns mit ihr und lassen die
Glücklichen allein.




I. Buch, 2. Kapitel




Zweites Kapitel

Als Wilhelm seine Mutter des andern Morgens begrüßte, eröffnete sie
ihm, daß der Vater sehr verdrießlich sei und ihm den täglichen Besuch
des Schauspiels nächstens untersagen werde. "Wenn ich gleich selbst",
fuhr sie fort, "manchmal gern ins Theater gehe, so möchte ich es doch
oft verwünschen, da meine häusliche Ruhe durch deine unmäßige
Leidenschaft zu diesem Vergnügen gestört wird. Der Vater wiederholt
immer wozu es nur nütze sei? Wie man seine Zeit nur so verderben
könne?"

"Ich habe es auch schon von ihm hören müssen", versetzte Wilhelm, "und
habe ihm vielleicht zu hastig geantwortet; aber um 's Himmels willen,
Mutter! ist denn alles unnütz, was uns nicht unmittelbar Geld in den
Beutel bringt, was uns nicht den allernächsten Besitz verschafft?
Hatten wir in dem alten Hause nicht Raum genug? und war es nötig, ein
neues zu bauen? Verwendet der Vater nicht jährlich einen ansehnlichen
Teil seines Handelsgewinnes zur Verschönerung der Zimmer? Diese
seidenen Tapeten, diese englischen Mobilien, sind sie nicht auch
unnütz? Könnten wir uns nicht mit geringeren begnügen? Wenigstens
bekenne ich, daß mir diese gestreiften Wände, diese hundertmal
wiederholten Blumen, Schnörkel, Körbchen und Figuren einen durchaus
unangenehmen Eindruck machen. Sie kommen mir höchstens vor wie unser
Theatervorhang. Aber wie anders ist's, vor diesem zu sitzen! Wenn
man noch so lange warten muß, so weiß man doch, er wird in die Höhe
gehen, und wir werden die mannigfaltigsten Gegenstände sehen, die uns
unterhalten, aufklären und erheben."

"Mach es nur mäßig", sagte die Mutter, "der Vater will auch abends
unterhalten sein; und dann glaubt er, es zerstreue dich, und am Ende
trag ich, wenn er verdrießlich wird, die Schuld. Wie oft mußte ich
mir das verwünschte Puppenspiel vorwerfen lassen, das ich euch vor
zwölf Jahren zum Heiligen Christ gab und das euch zuerst Geschmack am
Schauspiele beibrachte!"

"Schelten Sie das Puppenspiel nicht, lassen Sie sich Ihre Liebe und
Vorsorge nicht gereuen! Es waren die ersten vergnügten Augenblicke,
die ich in dem neuen, leeren Hause genoß; ich sehe es diesen
Augenblick noch vor mir, ich weiß, wie sonderbar es mir vorkam, als
man uns, nach Empfang der gewöhnlichen Christgeschenke, vor einer Türe
niedersetzen hieß, die aus einem andern Zimmer hereinging. Sie
eröffnete sich; allein nicht wie sonst zum Hin- und Widerlaufen, der
Eingang war durch eine unerwartete Festlichkeit ausgefüllt. Es baute
sich ein Portal in die Höhe, das von einem mystischen Vorhang verdeckt
war. Erst standen wir alle von ferne, und wie unsere Neugierde größer
ward, um zu sehen, was wohl Blinkendes und Rasselndes sich hinter der
halb durchsichtigen Hülle verbergen möchte, wies man jedem sein
Stühlchen an und gebot uns, in Geduld zu warten.

So saß nun alles und war still; eine Pfeife gab das Signal, der
Vorhang rollte in die Höhe und zeigte eine hochrot gemalte Aussicht in
den Tempel. Der Hohepriester Samuel erschien mit Jonathan, und ihre
wechselnden wunderlichen Stimmen kamen mir höchst ehrwürdig vor. Kurz
darauf betrat Saul die Szene, in großer Verlegenheit über die
Impertinenz des schwerlötigen Kriegers, der ihn und die Seinigen
herausgefordert hatte. Wie wohl ward es mir daher, als der
zwerggestaltete Sohn Isai mit Schäferstab, Hirtentasche und Schleuder
hervorhüpfte und sprach: "Großmächtigster König und Herr! es
entfalle keinem der Mut um deswillen; wenn Ihre Majestät mir erlauben
wollen, so will ich hingehen und mit dem gewaltigen Riesen in den
Streit treten."--Der erste Akt war geendet und die Zuschauer höchst
begierig zu sehen, was nun weiter vorgehen sollte; jedes wünschte, die
Musik möchte nur bald aufhören. Endlich ging der Vorhang wieder in
die Höhe. David weihte das Fleisch des Ungeheuers den Vögeln unter
dem Himmel und den Tieren auf dem Felde; der Philister sprach Hohn,
stampfte viel mit beiden Füßen, fiel endlich wie ein Klotz und gab der
ganzen Sache einen herrlichen Ausschlag. Wie dann nachher die
Jungfrauen sangen: "Saul hat tausend geschlagen, David aber
zehntausend!", der Kopf des Riesen vor dem kleinen Überwinder
hergetragen wurde und er die schöne Königstochter zur Gemahlin erhielt,
verdroß es mich doch bei aller Freude, daß der Glücksprinz so
zwergmäßig gebildet sei. Denn nach der Idee vom großen Goliath und
kleinen David hatte man nicht verfehlt, beide recht charakteristisch
zu machen. Ich bitte Sie, wo sind die Puppen hingekommen? Ich habe
versprochen, sie einem Freunde zu zeigen, dem ich viel Vergnügen
machte, indem ich ihn neulich von diesem Kinderspiel unterhielt."

"Es wundert mich nicht, daß du dich dieser Dinge so lebhaft erinnerst:
denn du nahmst gleich den größten Anteil daran. Ich weiß, wie du mir
das Büchlein entwendetest und das ganze Stück auswendig lerntest; ich
wurde es erst gewahr, als du eines Abends dir einen Goliath und David
von Wachs machtest, sie beide gegeneinander perorieren ließest, dem
Riesen endlich einen Stoß gabst und sein unförmliches Haupt auf einer
großen Stecknadel mit wächsernem Griff dem kleinen David in die Hand
klebtest. Ich hatte damals so eine herzliche mütterliche Freude über
dein gutes Gedächtnis und deine pathetische Rede, daß ich mir sogleich
vornahm, dir die hölzerne Truppe nun selbst zu übergeben. Ich dachte
damals nicht, daß es mir so manche verdrießliche Stunde machen sollte."

"Lassen Sie sich's nicht gereuen", versetzte Wilhelm; "denn es haben
uns diese Scherze manche vergnügte Stunde gemacht."

Und mit diesem erbat er sich die Schlüssel, eilte, fand die Puppen und
war einen Augenblick in jene Zeiten versetzt, wo sie ihm noch belebt
schienen, wo er sie durch die Lebhaftigkeit seiner Stimme, durch die
Bewegung seiner Hände zu beleben glaubte. Er nahm sie mit auf seine
Stube und verwahrte sie sorgfältig.




I. Buch, 3. Kapitel




Drittes Kapitel

Wenn die erste Liebe, wie ich allgemein behaupten höre, das Schönste
ist, was ein Herz früher oder später empfinden kann, so müssen wir
unsern Helden dreifach glücklich preisen, daß ihm gegönnt ward, die
Wonne dieser einzigen Augenblicke in ihrem ganzen Umfange zu genießen.
Nur wenig Menschen werden so vorzüglich begünstigt, indes die meisten
von ihren frühern Empfindungen nur durch eine harte Schule geführt
werden, in welcher sie, nach einem kümmerlichen Genuß, gezwungen sind,
ihren besten Wünschen entsagen und das, was ihnen als höchste
Glückseligkeit vorschwebte, für immer entbehren zu lernen.

Auf den Flügeln der Einbildungskraft hatte sich Wilhelms Begierde zu
dem reizenden Mädchen erhoben; nach einem kurzen Umgange hatte er ihre
Neigung gewonnen, er fand sich im Besitz einer Person, die er so sehr
liebte, ja verehrte: denn sie war ihm zuerst in dem günstigen Lichte
theatralischer Vorstellung erschienen, und seine Leidenschaft zur
Bühne verband sich mit der ersten Liebe zu einem weiblichen Geschöpfe.
Seine Jugend ließ ihn reiche Freuden genießen, die von einer
lebhaften Dichtung erhöht und erhalten wurden. Auch der Zustand
seiner Geliebten gab ihrem Betragen eine Stimmung, welche seinen
Empfindungen sehr zu Hülfe kam; die Furcht, ihr Geliebter möchte ihre
übrigen Verhältnisse vor der Zeit entdecken, verbreitete über sie
einen liebenswürdigen Anschein von Sorge und Scham, ihre Leidenschaft
für ihn war lebhaft, selbst ihre Unruhe schien ihre Zärtlichkeit zu
vermehren; sie war das lieblichste Geschöpf in seinen Armen.

Als er aus dem ersten Taumel der Freude erwachte und auf sein Leben
und seine Verhältnisse zurückblickte, erschien ihm alles neu, seine
Pflichten heiliger, seine Liebhabereien lebhafter, seine Kenntnisse
deutlicher, seine Talente kräftiger, seine Vorsätze entschiedener. Es
ward ihm daher leicht, eine Einrichtung zu treffen, um den Vorwürfen
seines Vaters zu entgehen, seine Mutter zu beruhigen und Marianens
Liebe ungestört zu genießen. Er verrichtete des Tags seine Geschäfte
pünktlich, entsagte gewöhnlich dem Schauspiel, war abends bei Tische
unterhaltend und schlich, wenn alles zu Bette war, in seinen Mantel
gehüllt, sachte zu dem Garten hinaus und eilte, alle Lindors und
Leanders im Busen, unaufhaltsam zu seiner Geliebten.

"Was bringen Sie?" fragte Mariane, als er eines Abends ein Bündel
hervorwies, das die Alte in Hoffnung angenehmer Geschenke sehr
aufmerksam betrachtete. "Sie werden es nicht erraten", versetzte
Wilhelm.

Wie verwunderte sich Mariane, wie entsetzte sich Barbara, als die
aufgebundene Serviette einen verworrenen Haufen spannenlanger Puppen
sehen ließ. Mariane lachte laut, als Wilhelm die verworrenen Drähte
auseinanderzuwickeln und jede Figur einzeln vorzuzeigen bemüht war.
Die Alte schlich verdrießlich beiseite.

Es bedarf nur einer Kleinigkeit, um zwei Liebende zu unterhalten, und
so vergnügten sich unsre Freunde diesen Abend aufs beste. Die kleine
Truppe wurde gemustert, jede Figur genau betrachtet und belacht.
König Saul im schwarzen Samtrocke mit der goldenen Krone wollte
Marianen gar nicht gefallen; er sehe ihr, sagte sie, zu steif und
pedantisch aus. Desto besser behagte ihr Jonathan, sein glattes Kinn,
sein gelb und rotes Kleid und der Turban. Auch wußte sie ihn gar
artig am Drahte hin und her zu drehen, ließ ihn Reverenzen machen und
Liebeserklärungen hersagen. Dagegen wollte sie dem Propheten Samuel
nicht die mindeste Aufmerksamkeit schenken, wenn ihr gleich Wilhelm
das Brustschildchen anpries und erzählte, daß der Schillertaft des
Leibrocks von einem alten Kleide der Großmutter genommen sei. David
war ihr zu klein und Goliath zu groß; sie hielt sich an ihren Jonathan.
Sie wußte ihm so artig zu tun und zuletzt ihre Liebkosungen von der
Puppe auf unsern Freund herüberzutragen, daß auch diesmal wieder ein
geringes Spiel die Einleitung glücklicher Stunden ward.

Aus der Süßigkeit ihrer zärtlichen Träume wurden sie durch einen Lärm
geweckt, welcher auf der Straße entstand. Mariane rief der Alten, die,
nach ihrer Gewohnheit noch fleißig, die veränderlichen Materialien
der Theatergarderobe zum Gebrauch des nächsten Stückes anzupassen
beschäftigt war. Sie gab die Auskunft, daß eben eine Gesellschaft
lustiger Gesellen aus dem Italienerkeller nebenan heraustaumle, wo sie
bei frischen Austern, die eben angekommen, des Champagners nicht
geschont hätten.

"Schade", sagte Mariane, "daß es uns nicht früher eingefallen ist, wir
hätten uns auch was zugute tun sollen."

"Es ist wohl noch Zeit", versetzte Wilhelm und reichte der Alten einen
Louisdor hin. "Verschafft Sie uns, was wir wünschen, so soll Sie's
mit genießen."

Die Alte war behend, und in kurzer Zeit stand ein artig bestellter
Tisch mit einer wohlgeordneten Kollation vor den Liebenden. Die Alte
mußte sich dazusetzen; man aß, trank und ließ sich's wohl sein.

In solchen Fällen fehlt es nie an Unterhaltung. Mariane nahm ihren
Jonathan wieder vor, und die Alte wußte das Gespräch auf Wilhelms
Lieblingsmaterie zu wenden. "Sie haben uns schon einmal", sagte sie,
"von der ersten Aufführung eines Puppenspiels am Weihnachtsabend
unterhalten; es war lustig zu hören. Sie wurden eben unterbrochen,
als das Ballett angehen sollte. Nun kennen wir das herrliche Personal,
das jene großen Wirkungen hervorbrachte."

"Ja", sagte Mariane, "erzähle uns weiter, wie war dir's zumute?"

"Es ist eine schöne Empfindung, liebe Mariane", versetzte Wilhelm,
"wenn wir uns alter Zeiten und alter unschädlicher Irrtümer erinnern,
besonders wenn es in einem Augenblick geschieht, da wir eine Höhe
glücklich erreicht haben, von welcher wir uns umsehen und den
zurückgelegten Weg überschauen können. Es ist so angenehm,
selbstzufrieden sich mancher Hindernisse zu erinnern, die wir oft mit
einem peinlichen Gefühle für unüberwindlich hielten, und dasjenige,
was wir jetzt entwickelt sind, mit dem zu vergleichen, was wir damals
unentwickelt waren. Aber unaussprechlich glücklich fühl ich mich
jetzt, da ich in diesem Augenblicke mit dir von dem Vergangnen rede,
weil ich zugleich vorwärts in das reizende Land schaue, das wir
zusammen Hand in Hand durchwandern können."

"Wie war es mit dem Ballett?" fiel die Alte ihm ein. "Ich fürchte, es
ist nicht alles abgelaufen, wie es sollte."

"O ja", versetzte Wilhelm, "sehr gut! Von jenen wunderlichen Sprüngen
der Mohren und Mohrinnen, Schäfer und Schäferinnen, Zwerge und
Zwerginnen ist mir eine dunkle Erinnerung auf mein ganzes Leben
geblieben. Nun fiel der Vorhang, die Türe schloß sich, und die ganze
kleine Gesellschaft eilte wie betrunken und taumelnd zu Bette; ich
weiß aber wohl, daß ich nicht einschlafen konnte, daß ich noch etwas
erzählt haben wollte, daß ich noch viele Fragen tat und daß ich nur
ungern die Wärterin entließ, die uns zur Ruhe gebracht hatte.

Den andern Morgen war leider das magische Gerüste wieder verschwunden,
der mystische Schleier weggehoben, man ging durch jene Türe wieder
frei aus einer Stube in die andere, und so viel Abenteuer hatten keine
Spur zurückgelassen. Meine Geschwister liefen mit ihren Spielsachen
auf und ab, ich allein schlich hin und her, es schien mir unmöglich,
daß da nur zwo Türpfosten sein sollten, wo gestern so viel Zauberei
gewesen war. Ach, wer eine verlorne Liebe sucht, kann nicht
unglücklicher sein, als ich mir damals schien!"

Ein freudetrunkner Blick, den er auf Marianen warf, überzeugte sie,
daß er nicht fürchtete, jemals in diesen Fall kommen zu können.




I. Buch, 4. Kapitel




Viertes Kapitel

"Mein einziger Wunsch war nunmehr", fuhr Wilhelm fort, "eine zweite
Aufführung des Stücks zu sehen. Ich lag der Mutter an, und diese
suchte zu einer gelegenen Stunde den Vater zu bereden; allein ihre
Mühe war vergebens. Er behauptete, nur ein seltenes Vergnügen könne
bei den Menschen einen Wert haben, Kinder und Alte wüßten nicht zu
schätzen, was ihnen Gutes täglich begegnete.

Wir hätten auch noch lange, vielleicht bis wieder Weihnachten, warten
müssen, hätte nicht der Erbauer und heimliche Direktor des Schauspiels
selbst Lust gefühlt, die Vorstellung zu wiederholen und dabei in einem
Nachspiele einen ganz frisch fertig gewordenen Hanswurst zu
produzieren.

Ein junger Mann von der Artillerie, mit vielen Talenten begabt,
besonders in mechanischen Arbeiten geschickt, der dem Vater während
des Bauens viele wesentliche Dienste geleistet hatte und von ihm
reichlich beschenkt worden war, wollte sich am Christfeste der kleinen
Familie dankbar erzeigen und machte dem Hause seines Gönners ein
Geschenk mit diesem ganz eingerichteten Theater, das er ehmals in
müßigen Stunden zusammengebaut, geschnitzt und gemalt hatte. Er war
es, der mit Hülfe eines Bedienten selbst die Puppen regierte und mit
verstellter Stimme die verschiedenen Rollen hersagte. Ihm ward nicht
schwer, den Vater zu bereden, der einem Freunde aus Gefälligkeit
zugestand, was er seinen Kindern aus Überzeugung abgeschlagen hatte.
Genug, das Theater ward wieder aufgestellt, einige Nachbarskinder
gebeten und das Stück wiederholt.

Hatte ich das erstemal die Freude der Überraschung und des Staunens,
so war zum zweiten Male die Wollust des Aufmerkens und Forschens groß.
Wie das zugehe, war jetzt mein Anliegen. Daß die Puppen nicht selbst
redeten, hatte ich mir schon das erstemal gesagt; daß sie sich nicht
von selbst bewegten, vermutete ich auch; aber warum das alles doch so
hübsch war und es doch so aussah, als wenn sie selbst redeten und sich
bewegten, und wo die Lichter und die Leute sein möchten, diese Rätsel
beunruhigten mich um desto mehr, je mehr ich wünschte, zugleich unter
den Bezauberten und Zauberern zu sein, zugleich meine Hände verdeckt
im Spiel zu haben und als Zuschauer die Freude der Illusion zu
genießen.

Das Stück war zu Ende, man machte Vorbereitungen zum Nachspiel, die
Zuschauer waren aufgestanden und schwatzten durcheinander. Ich
drängte mich näher an die Türe und hörte inwendig am Klappern, daß man
mit Aufräumen beschäftigt sei. Ich hub den untern Teppich auf und
guckte zwischen dem Gestelle durch. Meine Mutter bemerkte es und zog
mich zurück; allein ich hatte doch soviel gesehen, daß man Freunde und
Feinde, Saul und Goliath und wie sie alle heißen mochten, in einen
Schiebkasten packte, und so erhielt meine halbbefriedigte Neugierde
frische Nahrung. Dabei hatte ich zu meinem größten Erstaunen den
Lieutenant im Heiligtume sehr geschäftig erblickt. Nunmehr konnte
mich der Hanswurst, sosehr er mit seinen Absätzen klapperte, nicht
unterhalten. Ich verlor mich in tiefes Nachdenken und war nach dieser
Entdeckung ruhiger und unruhiger als vorher. Nachdem ich etwas
erfahren hatte, kam es mir erst vor, als ob ich gar nichts wisse, und
ich hatte recht: denn es fehlte mir der Zusammenhang, und darauf kommt
doch eigentlich alles an."




I. Buch, 5. Kapitel




Fünftes Kapitel

"Die Kinder haben", fuhr Wilhelm fort, "in wohleingerichteten und
geordneten Häusern eine Empfindung, wie ungefähr Ratten und Mäuse
haben mögen: sie sind aufmerksam auf alle Ritzen und Löcher, wo sie zu
einem verbotenen Naschwerk gelangen können; sie genießen es mit einer
solchen verstohlnen, wollüstigen Furcht, die einen großen Teil des
kindischen Glücks ausmacht.

Ich war vor allen meinen Geschwistern aufmerksam, wenn irgend ein
Schlüssel steckenblieb. Je größer die Ehrfurcht war, die ich für die
verschlossenen Türen in meinem Herzen herumtrug, an denen ich wochen-
und monatelang vorbeigehen mußte und in die ich nur manchmal, wenn die
Mutter das Heiligtum öffnete, um etwas herauszuholen, einen
verstohlnen Blick tat, desto schneller war ich, einen Augenblick zu
benutzen, den mich die Nachlässigkeit der Wirtschafterinnen manchmal
treffen ließ.

Unter allen Türen war, wie man leicht erachten kann, die Türe der
Speisekammer diejenige, auf die meine Sinne am schärfsten gerichtet
waren. Wenig ahnungsvolle Freuden des Lebens glichen der Empfindung,
wenn mich meine Mutter manchmal hineinrief, um ihr etwas heraustragen
zu helfen, und ich dann einige gedörrte Pflaumen entweder ihrer Güte
oder meiner List zu danken hatte. Die aufgehäuften Schätze
übereinander umfingen meine Einbildungskraft mit ihrer Fülle, und
selbst der wunderliche Geruch, den so mancherlei Spezereien
durcheinander aushauchten, hatte so eine leckere Wirkung auf mich, daß
ich niemals versäumte, sooft ich in der Nähe war, mich wenigstens an
der eröffneten Atmosphäre zu weiden. Dieser merkwürdige Schlüssel
blieb eines Sonntagmorgens, da die Mutter von dem Geläute übereilt
ward und das ganze Haus in einer tiefen Sabbatstille lag, stecken.
Kaum hatte ich es bemerkt, als ich etlichemal sachte an der Wand hin-
und herging, mich endlich still und fein andrängte, die Türe öffnete
und mich mit einem Schritt in der Nähe so vieler langgewünschter
Glückseligkeit fühlte. Ich besah Kästen, Säcke, Schachteln, Büchsen,
Gläser mit einem schnellen, zweifelnden Blicke, was ich wählen und
nehmen sollte, griff endlich nach den vielgeliebten gewelkten Pflaumen,
versah mich mit einigen getrockneten Äpfeln und nahm genügsam noch
eine eingemachte Pomeranzenschale dazu: mit welcher Beute ich meinen
Weg wieder rückwärtsglitschen wollte, als mir ein paar nebeneinander
stehende Kasten in die Augen fielen, aus deren einem Drähte, oben mit
Häkchen versehen, durch den übel verschlossenen Schieber heraushingen.
Ahnungsvoll fiel ich darüber her; und mit welcher überirdischen
Empfindung entdeckte ich, daß darin meine Helden- und Freudenwelt
aufeinandergepackt sei! Ich wollte die obersten aufheben, betrachten,
die untersten hervorziehen; allein gar bald verwirrte ich die leichten
Drähte, kam darüber in Unruhe und Bangigkeit, besonders da die Köchin
in der benachbarten Küche einige Bewegungen machte, daß ich alles, so
gut ich konnte, zusammendrückte, den Kasten zuschob, nur ein
geschriebenes Büchelchen, worin die Komödie von David und Goliath
aufgezeichnet war, das obenauf gelegen hatte, zu mir steckte und mich
mit dieser Beute leise die Treppe hinauf in eine Dachkammer rettete.

Von der Zeit an wandte ich alle verstohlenen einsamen Stunden darauf,
mein Schauspiel wiederholt zu lesen, es auswendig zu lernen und mir in
Gedanken vorzustellen, wie herrlich es sein müßte, wenn ich auch die
Gestalten dazu mit meinen Fingern beleben könnte. Ich ward darüber in
meinen Gedanken selbst zum David und Goliath. In allen Winkeln des
Bodens, der Ställe, des Gartens, unter allerlei Umständen studierte
ich das Stück ganz in mich hinein, ergriff alle Rollen und lernte sie
auswendig, nur daß ich mich meist an den Platz der Haupthelden zu
setzen pflegte und die übrigen wie Trabanten nur im Gedächtnisse
mitlaufen ließ. So lagen mir die großmütigen Reden Davids, mit denen
er den übermütigen Riesen Goliath herausforderte, Tag und Nacht im
Sinne; ich murmelte sie oft vor mich hin, niemand gab acht darauf als
der Vater, der manchmal einen solchen Ausruf bemerkte und bei sich
selbst das gute Gedächtnis seines Knaben pries, der von so wenigem
Zuhören so mancherlei habe behalten können.

Hierdurch ward ich immer verwegener und rezitierte eines Abends das
Stück zum größten Teile vor meiner Mutter, indem ich mir einige
Wachsklümpchen zu Schauspielern bereitete. Sie merkte auf, drang in
mich, und ich gestand.

Glücklicherweise fiel diese Entdeckung in die Zeit, da der Lieutenant
selbst den Wunsch geäußert hatte, mich in diese Geheimnisse einweihen
zu dürfen. Meine Mutter gab ihm sogleich Nachricht von dem
unerwarteten Talente ihres Sohnes, und er wußte nun einzuleiten, daß
man ihm ein Paar Zimmer im obersten Stocke, die gewöhnlich leer
standen, überließ, in deren einem wieder die Zuschauer sitzen, in dem
andern die Schauspieler sein, und das Proszenium abermals die Öffnung
der Türe ausfüllen sollte. Der Vater hatte seinem Freunde das alles
zu veranstalten erlaubt, er selbst schien nur durch die Finger zu
sehen, nach dem Grundsatze, man müsse die Kinder nicht merken lassen,
wie lieb man sie habe, sie griffen immer zu weit um sich; er meinte,
man müsse bei ihren Freuden ernst scheinen und sie ihnen manchmal
verderben, damit ihre Zufriedenheit sie nicht übermäßig und übermütig
mache."




I. Buch, 6. Kapitel




Sechstes Kapitel

"Der Lieutenant schlug nunmehr das Theater auf und besorgte das Übrige.
Ich merkte wohl, daß er die Woche mehrmals zu ungewöhnlicher Zeit
ins Haus kam, und vermutete die Absicht. Meine Begierde wuchs
unglaublich, da ich wohl fühlte, daß ich vor Sonnabends keinen Teil an
dem, was zubereitet wurde, nehmen durfte. Endlich erschien der
gewünschte Tag. Abends um fünf Uhr kam mein Führer und nahm mich mit
hinauf. Zitternd vor Freude trat ich hinein und erblickte auf beiden
Seiten des Gestelles die herabhängenden Puppen in der Ordnung, wie sie
auftreten sollten; ich betrachtete sie sorgfältig, stieg auf den Tritt,
der mich über das Theater erhub, so daß ich nun über der kleinen Welt
schwebte. Ich sah nicht ohne Ehrfurcht zwischen die Brettchen
hinunter, weil die Erinnerung, welche herrliche Wirkung das Ganze von
außen tue, und das Gefühl, in welche Geheimnisse ich eingeweiht sei,
mich umfaßten. Wir machten einen Versuch, und es ging gut.

Den andern Tag, da eine Gesellschaft Kinder geladen war, hielten wir
uns trefflich, außer daß ich in dem Feuer der Aktion meinen Jonathan
fallen ließ und genötigt war, mit der Hand hinunterzugreifen und ihn
zu holen: ein Zufall, der die Illusion sehr unterbrach, ein großes
Gelächter verursachte und mich unsäglich kränkte. Auch schien dieses
Versehn dem Vater sehr willkommen zu sein, der das große Vergnügen,
sein Söhnchen so fähig zu sehen, wohlbedächtig nicht an den Tag gab,
nach geendigtem Stücke sich gleich an die Fehler hing und sagte, es
wäre recht artig gewesen, wenn nur dies oder das nicht versagt hätte.

Mich kränkte das innig, ich ward traurig für den Abend, hatte aber am
kommenden Morgen allen Verdruß schon wieder verschlafen und war in dem
Gedanken selig, daß ich, außer jenem Unglück, trefflich gespielt habe.
Dazu kam der Beifall der Zuschauer, welche durchaus behaupteten:
obgleich der Lieutenant in Absicht der groben und feinen Stimme sehr
viel getan habe, so peroriere er doch meist zu affektiert und steif;
dagegen spreche der neue Anfänger seinen David und Jonathan
vortrefflich; besonders lobte die Mutter den freimütigen Ausdruck, wie
ich den Goliath herausgefordert und dem Könige den bescheidenen Sieger
vorgestellt habe.

Nun blieb zu meiner größten Freude das Theater aufgeschlagen, und da
der Frühling herbeikam und man ohne Feuer bestehen konnte, lag ich in
meinen Frei- und Spielstunden in der Kammer und ließ die Puppen wacker
durcheinanderspielen. Oft lud ich meine Geschwister und Kameraden
hinauf; wenn sie aber auch nicht kommen wollten, war ich allein oben.
Meine Einbildungskraft brütete über der kleinen Welt, die gar bald
eine andere Gestalt gewann.

Ich hatte kaum das erste Stück, wozu Theater und Schauspieler
geschaffen und gestempelt waren, etlichemal aufgeführt, als es mir
schon keine Freude mehr machte. Dagegen waren mir unter den Büchern
des Großvaters die "Deutsche Schaubühne" und verschiedene
italienisch-deutsche Opern in die Hände gekommen, in die ich mich sehr
vertiefte und jedesmal nur erst vorne die Personen überrechnete und
dann sogleich ohne weiteres zur Aufführung des Stückes schritt. Da
mußte nun König Saul in seinem schwarzen Samtkleide den Chaumigrem,
Cato und Darius spielen; wobei zu bemerken ist, daß die Stücke niemals
ganz, sondern meistenteils nur die fünften Akte, wo es an ein
Totstechen ging, aufgeführt wurden.

Auch war es natürlich, daß mich die Oper mit ihren mannigfaltigen
Veränderungen und Abenteuern mehr als alles anziehen mußte. Ich fand
darin stürmische Meere, Götter, die in Wolken herabkommen, und, was
mich vorzüglich glücklich machte, Blitze und Donner. Ich half mir mit
Pappe, Farbe und Papier, wußte gar trefflich Nacht zu machen, der
Blitz war fürchterlich anzusehen, nur der Donner gelang nicht immer,
doch das hatte so viel nicht zu sagen. Auch fand sich in den Opern
mehr Gelegenheit, meinen David und Goliath anzubringen, welches im
regelmäßigen Drama gar nicht angehen wollte. Ich fühlte täglich mehr
Anhänglichkeit für das enge Plätzchen, wo ich so manche Freude genoß;
und ich gestehe, daß der Geruch, den die Puppen aus der Speisekammer
an sich gezogen hatten, nicht wenig dazu beitrug.

Die Dekorationen meines Theaters waren nunmehr in ziemlicher
Vollkommenheit; denn daß ich von Jugend auf ein Geschick gehabt hatte,
mit dem Zirkel umzugehen, Pappe auszuschneiden und Bilder zu
illuminieren, kam mir jetzt wohl zustatten. Um desto weher tat es mir,
wenn mich gar oft das Personal an Ausführung großer Sachen hinderte.

Meine Schwestern, indem sie ihre Puppen aus- und ankleideten, erregten
in mir den Gedanken, meinen Helden auch nach und nach bewegliche
Kleider zu verschaffen. Man trennte ihnen die Läppchen vom Leibe,
setzte sie, so gut man konnte, zusammen, sparte sich etwas Geld,
kaufte neues Band und Flittern, bettelte sich manches Stückchen Taft
zusammen und schaffte nach und nach eine Theatergarderobe an, in
welcher besonders die Reifröcke für die Damen nicht vergessen waren.

Die Truppe war nun wirklich mit Kleidern für das größte Stück versehen,
und man hätte denken sollen, es würde nun erst recht eine Aufführung
der andern folgen; aber es ging mir, wie es den Kindern öfter zu gehen
pflegt: sie fassen weite Plane, machen große Anstalten, auch wohl
einige Versuche, und es bleibt alles zusammen liegen. Dieses Fehlers
muß ich mich auch anklagen. Die größte Freude lag bei mir in der
Erfindung und in der Beschäftigung der Einbildungskraft. Dies oder
jenes Stück interessierte mich um irgendeiner Szene willen, und ich
ließ gleich wieder neue Kleider dazu machen. Über solchen Anstalten
waren die ursprünglichen Kleidungsstücke meiner Helden in Unordnung
geraten und verschleppt worden, daß also nicht einmal das erste große
Stück mehr aufgeführt werden konnte. Ich überließ mich meiner
Phantasie, probierte und bereitete ewig, baute tausend Luftschlösser
und spürte nicht, daß ich den Grund des kleinen Gebäudes zerstört
hatte."

Während dieser Erzählung hatte Mariane alle ihre Freundlichkeit gegen
Wilhelm aufgeboten, um ihre Schläfrigkeit zu verbergen. So scherzhaft
die Begebenheit von einer Seite schien, so war sie ihr doch zu einfach
und die Betrachtungen dabei zu ernsthaft. Sie setzte zärtlich ihren
Fuß auf den Fuß des Geliebten und gab ihm scheinbare Zeichen ihrer
Aufmerksamkeit und ihres Beifalls. Sie trank aus seinem Glase, und
Wilhelm war überzeugt, es sei kein Wort seiner Geschichte auf die Erde
gefallen. Nach einer kleinen Pause rief er aus, "Es ist nun an dir,
Mariane, mir auch deine ersten jugendlichen Freuden mitzuteilen. Noch
waren wir immer zu sehr mit dem Gegenwärtigen beschäftigt, als daß wir
uns wechselseitig um unsere vorige Lebensweise hätten bekümmern können.
Sage mir: unter welchen Umständen bist du erzogen? Welche sind die
ersten lebhaften Eindrücke, deren du dich erinnerst?"

Diese Fragen würden Marianen in große Verlegenheit gesetzt haben, wenn
ihr die Alte nicht sogleich zu Hülfe gekommen wäre. "Glauben Sie
denn", sagte das kluge Weib, "daß wir auf das, was uns früh begegnet,
so aufmerksam sind, daß wir so artige Begebenheiten zu erzählen haben
und, wenn wir sie zu erzählen hätten, daß wir der Sache auch ein
solches Geschick zu geben wüßten?"

"Als wenn es dessen bedürfte!" rief Wilhelm aus. "Ich liebe dieses
zärtliche, gute, liebliche Geschöpf so sehr, daß mich jeder Augenblick
meines Lebens verdrießt, den ich ohne sie zugebracht habe. Laß mich
wenigstens durch die Einbildungskraft teil an deinem vergangenen Leben
nehmen! Erzähle mir alles, ich will dir alles erzählen. Wir wollen
uns wo möglich täuschen und jene für die Liebe verlornen Zeiten
wiederzugewinnen suchen."

"Wenn Sie so eifrig darauf bestehen, können wir Sie wohl befriedigen",
sagte die Alte. "Erzählen Sie uns nur erst, wie Ihre Liebhaberei zum
Schauspiele nach und nach gewachsen sei, wie Sie sich geübt, wie Sie
so glücklich zugenommen haben, daß Sie nunmehr für einen guten
Schauspieler gelten können. Es hat Ihnen dabei gewiß nicht an
lustigen Begebenheiten gemangelt. Es ist nicht der Mühe wert, daß wir
uns zur Ruhe legen, ich habe noch eine Flasche in Reserve; und wer
weiß, ob wir bald wieder so ruhig und zufrieden zusammensitzen?"

Mariane schaute mit einem traurigen Blick nach ihr auf, den Wilhelm
nicht bemerkte und in seiner Erzählung fortfuhr.




I. Buch, 7. Kapitel




Siebentes Kapitel

"Die Zerstreuungen der Jugend, da meine Gespanschaft sich zu vermehren
anfing, taten dem einsamen, stillen Vergnügen Eintrag. Ich war
wechselsweise bald Jäger, bald Soldat, bald Reiter, wie es unsre
Spiele mit sich brachten: doch hatte ich immer darin einen kleinen
Vorzug vor den andern, daß ich imstande war, ihnen die nötigen
Gerätschaften schicklich auszubilden. So waren die Schwerter meistens
aus meiner Fabrik; ich verzierte und vergoldete die Schlitten, und ein
geheimer Instinkt ließ mich nicht ruhen, bis ich unsre Miliz ins
Antike umgeschaffen hatte. Helme wurden verfertiget, mit papiernen
Büschen geschmückt, Schilde, sogar Harnische wurden gemacht, Arbeiten,
bei denen die Bedienten im Hause, die etwa Schneider waren, und die
Nähterinnen manche Nadel zerbrachen.

Einen Teil meiner jungen Gesellen sah ich nun wohlgerüstet; die
übrigen wurden auch nach und nach, doch geringer, ausstaffiert, und es
kam ein stattliches Korps zusammen. Wir marschierten in Höfen und
Gärten, schlugen uns brav auf die Schilde und auf die Köpfe; es gab
manche Mißhelligkeit, die aber bald beigelegt war.

Dieses Spiel, das die andern sehr unterhielt, war kaum etlichemal
getrieben worden, als es mich schon nicht mehr befriedigte. Der
Anblick so vieler gerüsteten Gestalten mußte in mir notwendig die
Ritterideen aufreizen, die seit einiger Zeit, da ich in das Lesen
alter Romane gefallen war, meinen Kopf anfüllten.

"Das befreite Jerusalem", davon mir Koppens Übersetzung in die Hände
fiel, gab meinen herumschweifenden Gedanken endlich eine bestimmte
Richtung. Ganz konnte ich zwar das Gedicht nicht lesen; es waren aber
Stellen, die ich auswendig wußte, deren Bilder mich umschwebten.
Besonders fesselte mich Chlorinde mit ihrem ganzen Tun und Lassen.
Die Mannweiblichkeit, die ruhige Fülle ihres Daseins taten mehr
Wirkung auf den Geist, der sich zu entwickeln anfing, als die
gemachten Reize Armidens, ob ich gleich ihren Garten nicht verachtete.

Aber hundert- und hundertmal, wenn ich abends auf dem Altan, der
zwischen den Giebeln des Hauses angebracht ist, spazierte, über die
Gegend hinsah und von der hinabgewichenen Sonne ein zitternder Schein
am Horizont heraufdämmerte, die Sterne hervortraten, aus allen Winkeln
und Tiefen die Nacht hervordrang und der klingende Ton der Grillen
durch die feierliche Stille schrillte, sagte ich mir die Geschichte
des traurigen Zweikampfs zwischen Tankred und Chlorinden vor.

Sosehr ich, wie billig, von der Partei der Christen war, stand ich
doch der heidnischen Heldin mit ganzem Herzen bei, als sie unternahm,
den großen Turm der Belagerer anzuzünden. Und wie nun Tankred dem
vermeinten Krieger in der Nacht begegnet, unter der düstern Hülle der
Streit beginnt und sie gewaltig kämpfen!--Ich konnte nie die Worte
aussprechen:


"Allein das Lebensmaß Chlorindens ist nun voll,
Und ihre Stunde kommt,
in der sie sterben soll!",


daß mir nicht die Tränen in die Augen kamen, die reichlich flossen,
wie der unglückliche Liebhaber ihr das Schwert in die Brust stößt, der
Sinkenden den Helm löst, sie erkennt und zur Taufe bebend das Wasser
holt.

Aber wie ging mir das Herz über, wenn in dem bezauberten Walde
Tankredens Schwert den Baum trifft, Blut nach dem Hiebe fließt und
eine Stimme ihm in die Ohren tönt, daß er auch hier Chlorinden
verwunde, daß er vom Schicksal bestimmt sei, das, was er liebt,
überall unwissend zu verletzen!

Es bemächtigte sich die Geschichte meiner Einbildungskraft so, daß
sich mir, was ich von dem Gedichte gelesen hatte, dunkel zu einem
Ganzen in der Seele bildete, von dem ich dergestalt eingenommen war,
daß ich es auf irgendeine Weise vorzustellen gedachte. Ich wollte
Tankreden und Reinalden spielen und fand dazu zwei Rüstungen ganz
bereit, die ich schon gefertiget hatte. Die eine, von dunkelgrauem
Papier mit Schuppen, sollte den ernsten Tankred, die andere, von
Silber- und Goldpapier, den glänzenden Reinald zieren. In der
Lebhaftigkeit meiner Vorstellung erzählte ich alles meinen Gespanen,
die davon ganz entzückt wurden und nur nicht wohl begreifen konnten,
daß das alles aufgeführt, und zwar von ihnen aufgeführt werden sollte.

Diesen Zweifeln half ich mit vieler Leichtigkeit ab. Ich disponierte
gleich über ein paar Zimmer in eines benachbarten Gespielen Haus, ohne
zu berechnen, daß die alte Tante sie nimmermehr hergeben würde; ebenso
war es mit dem Theater, wovon ich auch keine bestimmte Idee hatte,
außer daß man es auf Balken setzen, die Kulissen von geteilten
spanischen Wänden hinstellen und zum Grund ein großes Tuch nehmen
müsse. Woher aber die Materialien und Gerätschaften kommen sollten,
hatte ich nicht bedacht.

Für den Wald fanden wir eine gute Auskunft: wir gaben einem alten
Bedienten aus einem der Häuser, der nun Förster geworden war, gute
Worte, daß er uns junge Birken und Fichten schaffen möchte, die auch
wirklich geschwinder, als wir hoffen konnten, herbeigebracht wurden.
Nun aber fand man sich in großer Verlegenheit, wie man das Stück, eh
die Bäume verdorrten, zustande bringen könne. Da war guter Rat teuer!
Es fehlte an Platz, am Theater, an Vorhängen. Die spanischen Wände
waren das einzige, was wir hatten.

In dieser Verlegenheit gingen wir wieder den Lieutenant an, dem wir
eine weitläufige Beschreibung von der Herrlichkeit machten, die es
geben sollte. Sowenig er uns begriff, so behilflich war er, schob in
eine kleine Stube, was sich von Tischen im Hause und der Nachbarschaft
nur finden wollte, aneinander, stellte die Wände darauf, machte eine
hintere Aussicht von grünen Vorhängen, die Bäume wurden auch gleich
mit in die Reihe gestellt.

Indessen war es Abend geworden, man hatte die Lichter angezündet, die
Mägde und Kinder saßen auf ihren Plätzen, das Stück sollte angehn, die
ganze Heldenschar war angezogen; nun spürte aber jeder zum erstenmal,
daß er nicht wisse, was er zu sagen habe. In der Hitze der Erfindung,
da ich ganz von meinem Gegenstande durchdrungen war, hatte ich
vergessen, daß doch jeder wissen müsse, was und wo er es zu sagen habe;
und in der Lebhaftigkeit der Ausführung war es den übrigen auch nicht
beigefallen: sie glaubten, sie würden sich leicht als Helden
darstellen, leicht so handeln und reden können wie die Personen, in
deren Welt ich sie versetzt hatte. Sie standen alle erstaunt, fragten
sich einander, was zuerst kommen sollte, und ich, der ich mich als
Tankred vornean gedacht hatte, fing, allein auftretend, einige Verse
aus dem Heldengedichte herzusagen an. Weil aber die Stelle gar zu
bald ins Erzählende überging und ich in meiner eignen Rede endlich als
dritte Person vorkam, auch der Gottfried, von dem die Sprache war,
nicht herauskommen wollte, so mußte ich unter großem Gelächter meiner
Zuschauer eben wieder abziehen: ein Unfall, der mich tief in der Seele
kränkte. Verunglückt war die Expedition; die Zuschauer saßen da und
wollten etwas sehen. Gekleidet waren wir; ich raffte mich zusammen
und entschloß mich kurz und gut, "David und Goliath" zu spielen.
Einige der Gesellschaft hatten ehemals das Puppenspiel mit mir
aufgeführt, alle hatten es oft gesehn; man teilte die Rollen aus, es
versprach jeder, sein Bestes zu tun, und ein kleiner drolliger Junge
malte sich einen schwarzen Bart, um, wenn ja eine Lücke einfallen
sollte, sie als Hanswurst mit einer Posse auszufüllen, eine Anstalt,
die ich, als dem Ernste des Stückes zuwider, sehr ungern geschehen
ließ. Doch schwur ich mir, wenn ich nur einmal aus dieser
Verlegenheit gerettet wäre, mich nie, als mit der größten Überlegung,
an die Vorstellung eines Stücks zu wagen."




I. Buch, 8. Kapitel




Achtes Kapitel

Mariane, vom Schlaf überwältigt, lehnte sich an ihren Geliebten, der
sie fest an sich drückte und in seiner Erzählung fortfuhr, indes die
Alte den Überrest des Weins mit gutem Bedachte genoß.

"Die Verlegenheit", sagte er, "in der ich mich mit meinen Freunden
befunden hatte, indem wir ein Stück, das nicht existierte, zu spielen
unternahmen, war bald vergessen. Meiner Leidenschaft, jeden Roman,
den ich las, jede Geschichte, die man mich lehrte, in einem
Schauspiele darzustellen, konnte selbst der unbiegsamste Stoff nicht
widerstehen. Ich war völlig überzeugt, daß alles, was in der
Erzählung ergötzte, vorgestellt eine viel größere Wirkung tun müsse;
alles sollte vor meinen Augen, alles auf der Bühne vorgehen. Wenn uns
in der Schule die Weltgeschichte vorgetragen wurde, zeichnete ich mir
sorgfältig aus, wo einer auf eine besondere Weise erstochen oder
vergiftet wurde, und meine Einbildungskraft sah über Exposition und
Verwicklung hinweg und eilte dem interessanten fünften Akte zu. So
fing ich auch wirklich an, einige Stücke von hinten hervor zu
schreiben, ohne daß ich auch nur bei einem einzigen bis zum Anfange
gekommen wäre.

Zu gleicher Zeit las ich, teils aus eignem Antrieb, teils auf
Veranlassung meiner guten Freunde, welche in den Geschmack gekommen
waren, Schauspiele aufzuführen, einen ganzen Wust theatralischer
Produktionen durch, wie sie der Zufall mir in die Hände führte. Ich
war in den glücklichen Jahren, wo uns noch alles gefällt, wo wir in
der Menge und Abwechslung unsre Befriedigung finden. Leider aber ward
mein Urteil noch auf eine andere Weise bestochen. Die Stücke gefielen
mir besonders, in denen ich zu gefallen hoffte, und es waren wenige,
die ich nicht in dieser angenehmen Täuschung durchlas; und meine
lebhafte Vorstellungskraft, da ich mich in alle Rollen denken konnte,
verführte mich zu glauben, daß ich auch alle darstellen würde;
gewöhnlich wählte ich daher bei der Austeilung diejenigen, welche sich
gar nicht für mich schickten, und, wenn es nur einigermaßen angehn
wollte, wohl gar ein paar Rollen.

Kinder wissen beim Spiele aus allem alles zu machen; ein Stab wird zur
Flinte, ein Stückchen Holz zum Degen, jedes Bündelchen zur Puppe und
jeder Winkel zur Hütte. In diesem Sinne entwickelte sich unser
Privattheater. Bei der völligen Unkenntnis unserer Kräfte unternahmen
wir alles, bemerkten kein quid pro quo und waren überzeugt, jeder müsse
uns dafür nehmen, wofür wir uns gaben. Leider ging alles einen so
gemeinen Gang, daß mir nicht einmal eine merkwürdige Albernheit zu
erzählen übrigbleibt. Erst spielten wir die wenigen Stücke durch, in
welchen nur Mannspersonen auftreten; dann verkleideten wir einige aus
unserm Mittel und zogen zuletzt die Schwestern mit ins Spiel. In
einigen Häusern hielt man es für eine nützliche Beschäftigung und lud
Gesellschaften darauf. Unser Artillerielieutenant verließ uns auch
hier nicht. Er zeigte uns, wie wir kommen und gehen, deklamieren und
gestikulieren sollten; allein er erntete für seine Bemühung meistens
wenig Dank, indem wir die theatralischen Künste schon besser als er zu
verstehen glaubten.

Wir verfielen gar bald auf das Trauerspiel: denn wir hatten oft sagen
hören und glaubten selbst, es sei leichter, eine Tragödie zu schreiben
und vorzustellen, als im Lustspiele vollkommen zu sein. Auch fühlten
wir uns beim ersten tragischen Versuche ganz in unserm Elemente; wir
suchten uns der Höhe des Standes, der Vortrefflichkeit der Charaktere
durch Steifheit und Affektation zu nähern und dünkten uns durchaus
nicht wenig; allein vollkommen glücklich waren wir nur, wenn wir recht
rasen, mit den Füßen stampfen und uns wohl gar vor Wut und
Verzweiflung auf die Erde werfen durften.

Knaben und Mädchen waren in diesen Spielen nicht lange beisammen, als
die Natur sich zu regen und die Gesellschaft sich in verschiedene
kleine Liebesgeschichten zu teilen anfing, da denn meistenteils
Komödie in der Komödie gespielt wurde. Die glücklichen Paare drückten
sich hinter den Theaterwänden die Hände auf das zärtlichste; sie
verschwammen in Glückseligkeit, wenn sie einander, so bebändert und
aufgeschmückt, recht idealisch vorkamen, indes gegenüber die
unglücklichen Nebenbuhler sich vor Neid verzehrten und mit Trotz und
Schadenfreude allerlei Unheil anrichteten.

Diese Spiele, obgleich ohne Verstand unternommen und ohne Anleitung
durchgeführt, waren doch nicht ohne Nutzen für uns. Wir übten unser
Gedächtnis und unsern Körper und erlangten mehr Geschmeidigkeit im
Sprechen und Betragen, als man sonst in so frühen Jahren gewinnen kann.
Für mich aber war jene Zeit besonders Epoche, mein Geist richtete
sich ganz nach dem Theater, und ich fand kein größer Glück, als
Schauspiele zu lesen, zu schreiben und zu spielen.

Der Unterricht meiner Lehrer dauerte fort; man hatte mich dem
Handelsstand gewidmet und zu unserm Nachbar auf das Comptoir getan;
aber eben zu selbiger Zeit entfernte sich mein Geist nur gewaltsamer
von allem, was ich für ein niedriges Geschäft halten mußte. Der Bühne
wollte ich meine ganze Tätigkeit widmen, auf ihr mein Glück und meine
Zufriedenheit finden.

Ich erinnere mich noch eines Gedichtes, das sich unter meinen Papieren
finden muß, in welchem die Muse der tragischen Dichtkunst und eine
andere Frauengestalt, in der ich das Gewerbe personifiziert hatte,
sich um meine werte Person recht wacker zanken. Die Erfindung ist
gemein, und ich erinnere mich nicht, ob die Verse etwas taugen; aber
ihr sollt es sehen, um der Furcht, des Abscheues, der Liebe und der
Leidenschaft willen, die darin herrschen. Wie ängstlich hatte ich die
alte Hausmutter geschildert mit dem Rocken im Gürtel, mit Schlüsseln
an der Seite, Brillen auf der Nase, immer fleißig, immer in Unruhe,
zänkisch und haushältisch, kleinlich und beschwerlich! Wie kümmerlich
beschrieb ich den Zustand dessen, der sich unter ihrer Rute bücken und
sein knechtisches Tagewerk im Schweiße des Angesichtes verdienen
sollte!

Wie anders trat jene dagegen auf! Welche Erscheinung ward sie dem
bekümmerten Herzen! Herrlich gebildet, in ihrem Wesen und Betragen
als eine Tochter der Freiheit anzusehen. Das Gefühl ihrer selbst gab
ihr Würde ohne Stolz; ihre Kleider ziemten ihr, sie umhüllten jedes
Glied, ohne es zu zwängen, und die reichlichen Falten des Stoffes
wiederholten wie ein tausendfaches Echo die reizenden Bewegungen der
Göttlichen. Welch ein Kontrast! Und auf welche Seite sich mein Herz
wandte, kannst du leicht denken. Auch war nichts vergessen, um meine
Muse kenntlich zu machen. Kronen und Dolche, Ketten und Masken, wie
sie mir meine Vorgänger überliefert hatten, waren ihr auch hier
zugeteilt. Der Wettstreit war heftig, die Reden beider Personen
kontrastierten gehörig, da man im vierzehnten Jahre gewöhnlich das
Schwarze und Weiße recht nah aneinander zu malen pflegt. Die Alte
redete, wie es einer Person geziemt, die eine Stecknadel aufhebt, und
jene wie eine, die Königreiche verschenkt. Die warnenden Drohungen
der Alten wurden verschmäht; ich sah die mir versprochenen Reichtümer
schon mit dem Rücken an: enterbt und nackt übergab ich mich der Muse,
die mir ihren goldnen Schleier zuwarf und meine Blöße bedeckte.-Hätte
ich denken können, o meine Geliebte!" rief er aus, indem er Marianen
fest an sich drückte, "daß eine ganz andere, eine lieblichere Gottheit
kommen, mich in meinem Vorsatz stärken, mich auf meinem Wege begleiten
würde; welch eine schönere Wendung würde mein Gedicht genommen haben,
wie interessant würde nicht der Schluß desselben geworden sein! Doch
es ist kein Gedicht, es ist Wahrheit und Leben, was ich in deinen
Armen finde; laß uns das süße Glück mit Bewußtsein genießen!"

Durch den Druck seines Armes, durch die Lebhaftigkeit seiner erhöhten
Stimme war Mariane erwacht und verbarg durch Liebkosungen ihre
Verlegenheit: denn sie hatte auch nicht ein Wort von dem letzten Teile
seiner Erzählung vernommen, und es ist zu wünschen, daß unser Held für
seine Lieblingsgeschichten aufmerksamere Zuhörer künftig finden möge.




I. Buch, 9. Kapitel




Neuntes Kapitel

So brachte Wilhelm seine Nächte im Genusse vertraulicher Liebe, seine
Tage in Erwartung neuer seliger Stunden zu. Schon zu jener Zeit, als
ihn Verlangen und Hoffnung zu Marianen hinzog, fühlte er sich wie neu
belebt, er fühlte, daß er ein anderer Mensch zu werden beginne; nun
war er mit ihr vereinigt, die Befriedigung seiner Wünsche ward eine
reizende Gewohnheit. Sein Herz strebte, den Gegenstand seiner
Leidenschaft zu veredeln, sein Geist, das geliebte Mädchen mit sich
emporzuheben. In der kleinsten Abwesenheit ergriff ihn ihr Andenken.
War sie ihm sonst notwendig gewesen, so war sie ihm jetzt
unentbehrlich, da er mit allen Banden der Menschheit an sie geknüpft
war. Seine reine Seele fühlte, daß sie die Hälfte, mehr als die
Hälfte seiner selbst sei. Er war dankbar und hingegeben ohne Grenzen.

Auch Mariane konnte sich eine Zeitlang täuschen; sie teilte die
Empfindung seines lebhaften Glücks mit ihm. Ach! wenn nur nicht
manchmal die kalte Hand des Vorwurfs ihr über das Herz gefahren wäre!
Selbst an dem Busen Wilhelms war sie nicht sicher davor, selbst unter
den Flügeln seiner Liebe. Und wenn sie nun gar wieder allein war und
aus den Wolken, in denen seine Leidenschaft sie emportrug, in das
Bewußtsein ihres Zustandes herabsank, dann war sie zu bedauern. Denn
Leichtsinn kam ihr zu Hülfe, solange sie in niedriger Verworrenheit
lebte, sich über ihre Verhältnisse betrog oder vielmehr sie nicht
kannte; da erschienen ihr die Vorfälle, denen sie ausgesetzt war, nur
einzeln: Vergnügen und Verdruß lösten sich ab, Demütigung wurde durch
Eitelkeit, und Mangel oft durch augenblicklichen Überfluß vergütet;
sie konnte Not und Gewohnheit sich als Gesetz und Rechtfertigung
anführen, und so lange ließen sich alle unangenehmen Empfindungen von
Stunde zu Stunde, von Tag zu Tage abschütteln. Nun aber hatte das
arme Mädchen sich Augenblicke in eine bessere Welt hinübergerückt
gefühlt, hatte wie von oben herab aus Licht und Freude ins öde,
Verworfene ihres Lebens heruntergesehen, hatte gefühlt, welche elende
Kreatur ein Weib ist, das mit dem Verlangen nicht zugleich Liebe und
Ehrfurcht einflößt, und fand sich äußerlich und innerlich um nichts
gebessert. Sie hatte nichts, was sie aufrichten konnte. Wenn sie in
sich blickte und suchte, war es in ihrem Geiste leer, und ihr Herz
hatte keinen Widerhalt. Je trauriger dieser Zustand war, desto
heftiger schloß sich ihre Neigung an den Geliebten fest; ja die
Leidenschaft wuchs mit jedem Tage, wie die Gefahr, ihn zu verlieren,
mit jedem Tage näherrückte.

Dagegen schwebte Wilhelm glücklich in höheren Regionen, ihm war auch
eine neue Welt aufgegangen, aber reich an herrlichen Aussichten. Kaum
ließ das Übermaß der ersten Freude nach, so stellte sich das hell vor
seine Seele, was ihn bisher dunkel durchwühlt hatte. "Sie ist dein!
Sie hat sich dir hingegeben! Sie, das geliebte, gesuchte, angebetete
Geschöpf, dir auf Treu und Glauben hingegeben; aber sie hat sich
keinem Undankbaren überlassen." Wo er stand und ging, redete er mit
sich selbst; sein Herz floß beständig über, und er sagte sich in einer
Fülle von prächtigen Worten die erhabensten Gesinnungen vor. Er
glaubte den hellen Wink des Schicksals zu verstehen, das ihm durch
Marianen die Hand reichte, sich aus dem stockenden, schleppenden
bürgerlichen Leben herauszureißen, aus dem er schon so lange sich zu
retten gewünscht hatte. Seines Vaters Haus, die Seinigen zu verlassen
schien ihm etwas Leichtes. Er war jung und neu in der Welt, und sein
Mut, in ihren Weiten nach Glück und Befriedigung zu rennen, durch die
Liebe erhöht. Seine Bestimmung zum Theater war ihm nunmehr klar; das
hohe Ziel, das er sich vorgesteckt sah, schien ihm näher, indem er an
Marianens Hand hinstrebte, und in selbstgefälliger Bescheidenheit
erblickte er in sich den trefflichen Schauspieler, den Schöpfer eines
künftigen Nationaltheaters, nach dem er so vielfältig hatte seufzen
hören. Alles, was in den innersten Winkeln seiner Seele bisher
geschlummert hatte, wurde rege. Er bildete aus den vielerlei Ideen
mit Farben der Liebe ein Gemälde auf Nebelgrund, dessen Gestalten
freilich sehr ineinanderflossen; dafür aber auch das Ganze eine desto
reizendere Wirkung tat.




I. Buch, 10. Kapitel




Zehntes Kapitel

Er saß nun zu Hause, kramte unter seinen Papieren und rüstete sich zur
Abreise. Was nach seiner bisherigen Bestimmung schmeckte, ward
beiseite gelegt; er wollte bei seiner Wanderung in die Welt auch von
jeder unangenehmen Erinnerung frei sein. Nur Werke des Geschmacks,
Dichter und Kritiker, wurden als bekannte Freunde unter die Erwählten
gestellt; und da er bisher die Kunstrichter sehr wenig genutzt hatte,
so erneuerte sich seine Begierde nach Belehrung, als er seine Bücher
wieder durchsah und fand, daß die theoretischen Schriften noch meist
unaufgeschnitten waren. Er hatte sich, in der völligen Überzeugung
von der Notwendigkeit solcher Werke, viele davon angeschafft und mit
dem besten Willen in keines auch nur bis in die Hälfte sich
hineinlesen können.

Dagegen hatte er sich desto eifriger an Beispiele gehalten und in
allen Arten, die ihm bekannt worden waren, selbst Versuche gemacht.

Werner trat herein, und als er seinen Freund mit den bekannten Heften
beschäftigt sah, rief er aus: "Bist du schon wieder über diesen
Papieren? Ich wette, du hast nicht die Absicht, eins oder das andere
zu vollenden! Du siehst sie durch und wieder durch und beginnst
allenfalls etwas Neues."

"Zu vollenden ist nicht die Sache des Schülers, es ist genug, wenn er
sich übt."

"Aber doch fertigmacht, so gut er kann."

"Und doch ließe sich wohl die Frage aufwerfen, ob man nicht eben gute
Hoffnung von einem jungen Menschen fassen könne, der bald gewahr wird,
wenn er etwas Ungeschicktes unternommen hat, in der Arbeit nicht
fortfährt und an etwas, das niemals einen Wert haben kann, weder Mühe
noch Zeit verschwenden mag."

"Ich weiß wohl, es war nie deine Sache, etwas zustande zu bringen, du
warst immer müde, eh es zur Hälfte kam. Da du noch Direktor unsers
Puppenspiels warst, wie oft wurden neue Kleider für die
Zwerggesellschaft gemacht, neue Dekorationen ausgeschnitten? Bald
sollte dieses, bald jenes Trauerspiel aufgeführt werden, und höchstens
gabst du einmal den fünften Akt, wo alles recht bunt durcheinanderging
und die Leute sich erstachen."

"Wenn du von jenen Zeiten sprechen willst, wer war denn schuld, daß
wir die Kleider, die unsern Puppen angepaßt und auf den Leib
festgenäht waren, heruntertrennen ließen und den Aufwand einer
weitläufigen und unnützen Garderobe machten? Warst du's nicht, der
immer ein neues Stück Band zu verhandeln hatte, der meine Liebhaberei
anzufeuern und zu nützen wußte?"

Werner lachte und rief aus: "Ich erinnere mich immer noch mit Freuden,
daß ich von euren theatralischen Feldzügen Vorteil zog wie Lieferanten
vom Kriege. Als ihr euch zur Befreiung Jerusalems rüstetet, machte
ich auch einen schönen Profit wie ehemals die Venezianer im ähnlichen
Falle. Ich finde nichts vernünftiger in der Welt, als von den
Torheiten anderer Vorteil zu ziehen."

"Ich weiß nicht, ob es nicht ein edleres Vergnügen wäre, die Menschen
von ihren Torheiten zu heilen."

"Wie ich sie kenne, möchte das wohl ein eitles Bestreben sein. Es
gehört schon etwas dazu, wenn ein einziger Mensch klug und reich
werden soll, und meistens wird er es auf Unkosten der andern."

"Es fällt mir eben recht der 'Jüngling am Scheidewege' in die Hände",
versetzte Wilhelm, indem er ein Heft aus den übrigen Papieren
herauszog, "das ist doch fertig geworden, es mag übrigens sein, wie es
will."

"Leg es beiseite, wirf es ins Feuer!" versetzte Werner. "Die
Erfindung ist nicht im geringsten lobenswürdig; schon vormals ärgerte
mich diese Komposition genug und zog dir den Unwillen des Vaters zu.
Es mögen ganz artige Verse sein; aber die Vorstellungsart ist
grundfalsch. Ich erinnere mich noch deines personifizierten Gewerbes,
deiner zusammengeschrumpften, erbärmlichen Sibylle. Du magst das Bild
in irgendeinem elenden Kramladen aufgeschnappt haben. Von der
Handlung hattest du damals keinen Begriff; ich wüßte nicht, wessen
Geist ausgebreiteter wäre, ausgebreiteter sein müßte als der Geist
eines echten Handelsmannes. Welchen Überblick verschafft uns nicht
die Ordnung, in der wir unsere Geschäfte führen! Sie läßt uns
jederzeit das Ganze überschauen, ohne daß wir nötig hätten, uns durch
das Einzelne verwirren zu lassen. Welche Vorteile gewährt die
doppelte Buchhaltung dem Kaufmanne! Es ist eine der schönsten
Erfindungen des menschlichen Geistes, und ein jeder gute Haushalter
sollte sie in seiner Wirtschaft einführen."

"Verzeih mir", sagte Wilhelm lächelnd, "du fängst von der Form an, als
wenn das die Sache wäre; gewöhnlich vergeßt ihr aber auch über eurem
Addieren und Bilanzieren das eigentliche Fazit des Lebens."

"Leider siehst du nicht, mein Freund, wie Form und Sache hier nur eins
ist, eins ohne das andere nicht bestehen könnte. Ordnung und Klarheit
vermehrt die Lust zu sparen und zu erwerben. Ein Mensch, der übel
haushält, befindet sich in der Dunkelheit sehr wohl; er mag die Posten
nicht gerne zusammenrechnen, die er schuldig ist. Dagegen kann einem
guten Wirte nichts angenehmer sein, als sich alle Tage die Summe
seines wachsenden Glückes zu ziehen. Selbst ein Unfall, wenn er ihn
verdrießlich überrascht, erschreckt ihn nicht; denn er weiß sogleich,
was für erworbene Vorteile er auf die andere Waagschale zu legen hat.
Ich bin überzeugt, mein lieber Freund, wenn du nur einmal einen
rechten Geschmack an unsern Geschäften finden könntest, so würdest du
dich überzeugen, daß manche Fähigkeiten des Geistes auch dabei ihr
freies Spiel haben können."

"Es ist möglich, daß mich die Reise, die ich vorhabe, auf andere
Gedanken bringt."

"O gewiß! Glaube mir, es fehlt dir nur der Anblick einer großen
Tätigkeit, um dich auf immer zu dem Unsern zu machen; und wenn du
zurückkommst, wirst du dich gern zu denen gesellen, die durch alle
Arten von Spedition und Spekulation einen Teil des Geldes und
Wohlbefindens, das in der Welt seinen notwendigen Kreislauf führt, an
sich zu reißen wissen. Wirf einen Blick auf die natürlichen und
künstlichen Produkte aller Weltteile, betrachte, wie sie wechselsweise
zur Notdurft geworden sind! Welch eine angenehme, geistreiche
Sorgfalt ist es, alles, was in dem Augenblicke am meisten gesucht wird
und doch bald fehlt, bald schwer zu haben ist, zu kennen, jedem, was
er verlangt, leicht und schnell zu verschaffen, sich vorsichtig in
Vorrat zu setzen und den Vorteil jedes Augenblickes dieser großen
Zirkulation zu genießen! Dies ist, dünkt mich, was jedem, der Kopf
hat, eine große Freude machen wird."

Wilhelm schien nicht abgeneigt, und Werner fuhr fort: "Besuche nur
erst ein paar große Handelsstädte, ein paar Häfen, und du wirst gewiß
mit fortgerissen werden. Wenn du siehst, wie viele Menschen
beschäftigt sind; wenn du siehst, wo so manches herkommt, wo es
hingeht, so wirst du es gewiß auch mit Vergnügen durch deine Hände
gehen sehen. Die geringste Ware siehst du im Zusammenhange mit dem
ganzen Handel, und eben darum hältst du nichts für gering, weil alles
die Zirkulation vermehrt, von welcher dein Leben seine Nahrung zieht."

Werner, der seinen richtigen Verstand in dem Umgange mit Wilhelm
ausbildete, hatte sich gewöhnt, auch an sein Gewerbe, an seine
Geschäfte mit Erhebung der Seele zu denken, und glaubte immer, daß er
es mit mehrerem Rechte tue als sein sonst verständiger und geschätzter
Freund, der, wie es ihm schien, auf das Unreellste von der Welt einen
so großen Wert und das Gewicht seiner ganzen Seele legte. Manchmal
dachte er, es könne gar nicht fehlen, dieser falsche Enthusiasmus
müsse zu überwältigen und ein so guter Mensch auf den rechten Weg zu
bringen sein. In dieser Hoffnung fuhr er fort: "Es haben die Großen
dieser Welt sich der Erde bemächtiget, sie leben in Herrlichkeit und
Überfluß. Der kleinste Raum unsers Weltteils ist schon in Besitz
genommen, jeder Besitz befestigt, Ämter und andere bürgerliche
Geschäfte tragen wenig ein; wo gibt es nun noch einen rechtmäßigeren
Erwerb, eine billigere Eroberung als den Handel? Haben die Fürsten
dieser Welt die Flüsse, die Wege, die Häfen in ihrer Gewalt und nehmen
von dem, was durch- und vorbeigeht, einen starken Gewinn: sollen wir
nicht mit Freuden die Gelegenheit ergreifen und durch unsere Tätigkeit
auch Zoll von jenen Artikeln nehmen, die teils das Bedürfnis, teils
der Übermut den Menschen unentbehrlich gemacht hat? Und ich kann dir
versichern, wenn du nur deine dichterische Einbildungskraft anwenden
wolltest, so könntest du meine Göttin als eine unüberwindliche
Siegerin der deinigen kühn entgegenstellen. Sie führt freilich lieber
den Ölzweig als das Schwert; Dolch und Ketten kennt sie gar nicht:
aber Kronen teilet sie auch ihren Lieblingen aus, die, es sei ohne
Verachtung jener gesagt, von echtem, aus der Quelle geschöpftem Golde
und von Perlen glänzen, die sie aus der Tiefe des Meeres durch ihre
immer geschäftigen Diener geholt hat."

Wilhelmen verdroß dieser Ausfall ein wenig, doch verbarg er seine
Empfindlichkeit; denn er erinnerte sich, daß Werner auch seine
Apostrophen mit Gelassenheit anzuhören pflegte. Übrigens war er billig
genug, um gerne zu sehen, wenn jeder von seinem Handwerk aufs beste
dachte; nur mußte man ihm das seinige, dem er sich mit Leidenschaft
gewidmet hatte, unangefochten lassen.

"Und dir", rief Werner aus, "der du an menschlichen Dingen so
herzlichen Anteil nimmst, was wird es dir für ein Schauspiel sein,
wenn du das Glück, das mutige Unternehmungen begleitet, vor deinen
Augen den Menschen wirst gewährt sehen! Was ist reizender als der
Anblick eines Schiffes, das von einer glücklichen Fahrt wieder anlangt,
das von einem reichen Fange frühzeitig zurückkehrt! Nicht der
Verwandte, der Bekannte, der Teilnehmer allein, ein jeder fremde
Zuschauer wird hingerissen, wenn er die Freude sieht, mit welcher der
eingesperrte Schiffer ans Land springt, noch ehe sein Fahrzeug es ganz
berührt, sich wieder frei fühlt und nunmehr das, was er dem falschen
Wasser entzogen, der getreuen Erde anvertrauen kann. Nicht in Zahlen
allein, mein Freund, erscheint uns der Gewinn; das Glück ist die
Göttin der lebendigen Menschen, und um ihre Gunst wahrhaft zu
empfinden, muß man leben und Menschen sehen, die sich recht lebendig
bemühen und recht sinnlich genießen."




I. Buch, 11. Kapitel




Elftes Kapitel

Es ist nun Zeit, daß wir auch die Väter unsrer beiden Freunde näher
kennenlernen; ein paar Männer von sehr verschiedener Denkungsart,
deren Gesinnungen aber darin übereinkamen, daß sie den Handel für das
edelste Geschäft hielten und beide höchst aufmerksam auf jeden Vorteil
waren, den ihnen irgend eine Spekulation bringen konnte. Der alte
Meister hatte gleich nach dem Tode seines Vaters eine kostbare
Sammlung von Gemälden, Zeichnungen, Kupferstichen und Antiquitäten ins
Geld gesetzt, sein Haus nach dem neuesten Geschmacke von Grund aus
aufgebaut und möbliert und sein übriges Vermögen auf alle mögliche
Weise gelten gemacht. Einen ansehnlichen Teil davon hatte er dem
alten Werner in die Handlung gegeben, der als ein tätiger Handelsmann
berühmt war und dessen Spekulationen gewöhnlich durch das Glück
begünstigt wurden. Nichts wünschte aber der alte Meister so sehr, als
seinem Sohne Eigenschaften zu geben, die ihm selbst fehlten, und
seinen Kindern Güter zu hinterlassen, auf deren Besitz er den größten
Wert legte. Zwar empfand er eine besondere Neigung zum Prächtigen, zu
dem, was in die Augen fällt, das aber auch zugleich einen innern Wert
und eine Dauer haben sollte. In seinem Hause mußte alles solid und
massiv sein, der Vorrat reichlich, das Silbergeschirr schwer, das
Tafelservice kostbar; dagegen waren die Gäste selten, denn eine jede
Mahlzeit ward ein Fest, das sowohl wegen der Kosten als wegen der
Unbequemlichkeit nicht oft wiederholt werden konnte. Sein Haushalt
ging einen gelassenen und einförmigen Schritt, und alles, was sich
darin bewegte und erneuerte, war gerade das, was niemandem einigen
Genuß gab.

Ein ganz entgegengesetztes Leben führte der alte Werner in einem
dunkeln und finstern Hause. Hatte er seine Geschäfte in der engen
Schreibstube am uralten Pulte vollendet, so wollte er gut essen und
womöglich noch besser trinken, auch konnte er das Gute nicht allein
genießen: neben seiner Familie mußte er seine Freunde, alle Fremden,
die nur mit seinem Hause in einiger Verbindung standen, immer bei
Tische sehen; seine Stühle waren uralt, aber er lud täglich jemanden
ein, darauf zu sitzen. Die guten Speisen zogen die Aufmerksamkeit der
Gäste auf sich, und niemand bemerkte, daß sie in gemeinem Geschirr
aufgetragen wurden. Sein Keller hielt nicht viel Wein, aber der
ausgetrunkene ward gewöhnlich durch einen bessern ersetzt.

So lebten die beiden Väter, welche öfter zusammenkamen, sich wegen
gemeinschaftlicher Geschäfte beratschlagten und eben heute die
Versendung Wilhelms in Handelsangelegenheiten beschlossen.

"Er mag sich in der Welt umsehen", sagte der alte Meister, "und
zugleich unsre Geschäfte an fremden Orten betreiben; man kann einem
jungen Menschen keine größere Wohltat erweisen, als wenn man ihn
zeitig in die Bestimmung seines Lebens einweiht. Ihr Sohn ist von
seiner Expedition so glücklich zurückgekommen, hat seine Geschäfte so
gut zu machen gewußt, daß ich recht neugierig bin, wie sich der
meinige beträgt; ich fürchte, er wird mehr Lehrgeld geben als der
Ihrige."

Der alte Meister, welcher von seinem Sohne und dessen Fähigkeiten
einen großen Begriff hatte, sagte diese Worte in Hoffnung, daß sein
Freund ihm widersprechen und die vortrefflichen Gaben des jungen
Mannes herausstreichen sollte. Allein hierin betrog er sich; der alte
Werner, der in praktischen Dingen niemandem traute als dem, den er
geprüft hatte, versetzte gelassen: "Man muß alles versuchen; wir
können ihn ebendenselben Weg schicken, wir geben ihm eine Vorschrift,
wonach er sich richtet; es sind verschiedene Schulden einzukassieren,
alte Bekanntschaften zu erneuern, neue zu machen. Er kann auch die
Spekulation, mit der ich Sie neulich unterhielt, befördern helfen;
denn ohne genaue Nachrichten an Ort und Stelle zu sammeln, läßt sich
dabei wenig tun."

"Er mag sich vorbereiten", versetzte der alte Meister, "und so bald
als möglich aufbrechen. Wo nehmen wir ein Pferd für ihn her, das sich
zu dieser Expedition schickt?"

"Wir werden nicht weit danach suchen. Ein Krämer in H***, der uns
noch einiges schuldig, aber sonst ein guter Mann ist, hat mir eins an
Zahlungs Statt angeboten; mein Sohn kennt es, es soll ein recht
brauchbares Tier sein."

"Er mag es selbst holen, mag mit dem Postwagen hinüberfahren, so ist
er übermorgen beizeiten wieder da, man macht ihm indessen den
Mantelsack und die Briefe zurechte, und so kann er zu Anfang der
künftigen Woche aufbrechen."

Wilhelm wurde gerufen, und man machte ihm den Entschluß bekannt. Wer
war froher als er, da er die Mittel zu seinem Vorhaben in seinen
Händen sah, da ihm die Gelegenheit ohne sein Mitwirken zubereitet
worden! So groß war seine Leidenschaft, so rein seine Überzeugung, er
handle vollkommen recht, sich dem Drucke seines bisherigen Lebens zu
entziehen und einer neuen, edlern Bahn zu folgen, daß sein Gewissen
sich nicht im mindesten regte, keine Sorge in ihm entstand, ja daß er
vielmehr diesen Betrug für heilig hielt. Er war gewiß, daß ihn Eltern
und Verwandte in der Folge für diesen Schritt preisen und segnen
sollten, er erkannte den Wink eines leitenden Schicksals an diesen
zusammentreffenden Umständen.

Wie lang ward ihm die Zeit bis zur Nacht, bis zur Stunde, in der er
seine Geliebte wiedersehen sollte! Er saß auf seinem Zimmer und
überdachte seinen Reiseplan, wie ein künstlicher Dieb oder Zauberer in
der Gefangenschaft manchmal die Füße aus den festgeschlossenen Ketten
herauszieht, um die Überzeugung bei sich zu nähren, daß seine Rettung
möglich, ja noch näher sei, als kurzsichtige Wächter glauben.

Endlich schlug die nächtliche Stunde; er entfernte sich aus seinem
Hause, schüttelte allen Druck ab und wandelte durch die stillen Gassen.
Auf dem großen Platze hub er seine Hände gen Himmel, fühlte alles
hinter und unter sich; er hatte sich von allem losgemacht. Nun dachte
er sich in den Armen seiner Geliebten, dann wieder mit ihr auf dem
blendenden Theatergerüste, er schwebte in einer Fülle von Hoffnungen,
und nur manchmal erinnerte ihn der Ruf des Nachtwächters, daß er noch
auf dieser Erde wandle.

Seine Geliebte kam ihm an der Treppe entgegen, und wie schön! wie
lieblich! In dem neuen weißen Negligè empfing sie ihn, er
glaubte sie noch nie so reizend gesehen zu haben. So weihte sie das
Geschenk des abwesenden Liebhabers in den Armen des gegenwärtigen ein,
und mit wahrer Leidenschaft verschwendete sie den ganzen Reichtum
ihrer Liebkosungen, welche ihr die Natur eingab, welche die Kunst sie
gelehrt hatte, an ihren Liebling, und man frage, ob er sich glücklich,
ob er sich selig fühlte.

Er entdeckte ihr, was vorgegangen war, und ließ ihr im allgemeinen
seinen Plan, seine Wünsche sehen. Er wolle unterzukommen suchen, sie
alsdann abholen, er hoffe, sie werde ihm ihre Hand nicht versagen.
Das arme Mädchen aber schwieg, verbarg ihre Tränen und drückte den
Freund an ihre Brust, der, ob er gleich ihr Verstummen auf das
günstigste auslegte, doch eine Antwort gewünscht hätte, besonders da
er sie zuletzt auf das bescheidenste, auf das freundlichste fragte, ob
er sich denn nicht Vater glauben dürfe. Aber auch darauf antwortete
sie nur mit einem Seufzer, einem Kusse.




I. Buch, 12. Kapitel




Zwölftes Kapitel

Den andern Morgen erwachte Mariane nur zu neuer Betrübnis; sie fand
sich sehr allein, mochte den Tag nicht sehen, blieb im Bette und
weinte. Die Alte setzte sich zu ihr, suchte ihr einzureden, sie zu
trösten; aber es gelang ihr nicht, das verwundete Herz so schnell zu
heilen. Nun war der Augenblick nahe, dem das arme Mädchen wie dem
letzten ihres Lebens entgegengesehen hatte. Konnte man sich auch in
einer ängstlichern Lage fühlen? Ihr Geliebter entfernte sich, ein
unbequemer Liebhaber drohte zu kommen, und das größte Unheil stand
bevor, wenn beide, wie es leicht möglich war, einmal zusammentreffen
sollten.

"Beruhige dich, Liebchen", rief die Alte, "verweine mir deine schönen
Augen nicht! Ist es denn ein so großes Unglück, zwei Liebhaber zu
besitzen? Und wenn du auch deine Zärtlichkeit nur dem einen schenken
kannst, so sei wenigstens dankbar gegen den andern, der, nach der Art,
wie er für dich sorgt, gewiß dein Freund genannt zu werden verdient."

"Es ahnte meinem Geliebten", versetzte Mariane dagegen mit Tränen,
"daß uns eine Trennung bevorstehe; ein Traum hat ihm entdeckt, was wir
ihm so sorgfältig zu verbergen suchen. Er schlief so ruhig an meiner
Seite. Auf einmal höre ich ihn ängstliche, unvernehmliche Töne
stammeln. Mir wird bange, und ich wecke ihn auf. Ach! mit welcher
Liebe, mit welcher Zärtlichkeit, mit welchem Feuer umarmt' er mich!
"O Mariane!" rief er aus, "welchem schrecklichen Zustande hast du mich
entrissen! Wie soll ich dir danken, daß du mich aus dieser Hölle
befreit hast? Mir träumte", fuhr er fort, "ich befände mich, entfernt
von dir, in einer unbekannten Gegend; aber dein Bild schwebte mir vor;
ich sah dich auf einem schönen Hügel, die Sonne beschien den ganzen
Platz; wie reizend kamst du mir vor! Aber es währte nicht lange, so
sah ich dein Bild hinuntergleiten, immer hinuntergleiten; ich streckte
meine Arme nach dir aus, sie reichten nicht durch die Ferne. Immer
sank dein Bild und näherte sich einem großen See, der am Fuße des
Hügels weit ausgebreitet lag, eher ein Sumpf als ein See. Auf einmal
gab dir ein Mann die Hand; er schien dich hinaufführen zu wollen, aber
leitete dich seitwärts und schien dich nach sich zu ziehen. Ich rief,
da ich dich nicht erreichen konnte, ich hoffte dich zu warnen. Wollte
ich gehen, so schien der Boden mich festzuhalten; konnt ich gehen, so
hinderte mich das Wasser, und sogar mein Schreien erstickte in der
beklemmten Brust."--So erzählte der Arme, indem er sich von seinem
Schrecken an meinem Busen erholte und sich glücklich pries, einen
fürchterlichen Traum durch die seligste Wirklichkeit verdrängt zu
sehen."

Die Alte suchte soviel möglich durch ihre Prose die Poesie ihrer
Freundin ins Gebiet des gemeinen Lebens herunterzulocken und bediente
sich dabei der guten Art, welche Vogelstellern zu gelingen pflegt,
indem sie durch ein Pfeifchen die Töne derjenigen nachzuahmen suchen,
welche sie bald und häufig in ihrem Garne zu sehen wünschen. Sie
lobte Wilhelmen, rühmte seine Gestalt, seine Augen, seine Liebe. Das
arme Mädchen hörte ihr gerne zu, stand auf, ließ sich ankleiden und
schien ruhiger. "Mein Kind, mein Liebchen", fuhr die Alte
schmeichelnd fort, "ich will dich nicht betrüben, nicht beleidigen,
ich denke dir nicht dein Glück zu rauben. Darfst du meine Absicht
verkennen, und hast du vergessen, daß ich jederzeit mehr für dich als
für mich gesorgt habe? Sag mir nur, was du willst; wir wollen schon
sehen, wie wir es ausführen."

"Was kann ich wollen?" versetzte Mariane; "ich bin elend, auf mein
ganzes Leben elend; ich liebe ihn, der mich liebt, sehe, daß ich mich
von ihm trennen muß, und weiß nicht, wie ich es überleben kann.
Norberg kommt, dem wir unsere ganze Existenz schuldig sind, den wir
nicht entbehren können. Wilhelm ist sehr eingeschränkt, er kann
nichts für mich tun."

"Ja, er ist unglücklicherweise von jenen Liebhabern, die nichts als
ihr Herz bringen, und eben diese haben die meisten Prätensionen."

"Spotte nicht! Der Unglückliche denkt sein Haus zu verlassen, auf das
Theater zu gehen, mir seine Hand anzubieten."

"Leere Hände haben wir schon viere."

"Ich habe keine Wahl", fuhr Mariane fort, "entscheide du! Stoße mich
da oder dorthin, nur wisse noch eins: wahrscheinlich trag ich ein Pfand
im Busen, das uns noch mehr aneinanderfesseln sollte; das bedenke und
entscheide: wen soll ich lassen? Wem soll ich folgen?"

Nach einigem Stillschweigen rief die Alte: "Daß doch die Jugend immer
zwischen den Extremen schwankt! Ich finde nichts natürlicher, als
alles zu verbinden, was uns Vergnügen und Vorteil bringt. Liebst du
den einen, so mag der andere bezahlen; es kommt nur darauf an, daß wir
klug genug sind, sie beide auseinanderzuhalten."

"Mache, was du willst, ich kann nichts denken; aber folgen will ich."

"Wir haben den Vorteil, daß wir den Eigensinn des Direktors, der auf
die Sitten seiner Truppe stolz ist, vorschützen können. Beide
Liebhaber sind schon gewohnt, heimlich und vorsichtig zu Werke zu
gehen. Für Stunde und Gelegenheit will ich sorgen; nur mußt du
hernach die Rolle spielen, die ich dir vorschreibe. Wer weiß, welcher
Umstand uns hilft. Käme Norberg nur jetzt, da Wilhelm entfernt ist!
Wer wehrt dir, in den Armen des einen an den andern zu denken? Ich
wünsche dir zu einem Sohne Glück; er soll einen reichen Vater haben."

Mariane war durch diese Vorstellungen nur für kurze Zeit gebessert.
Sie konnte ihren Zustand nicht in Harmonie mit ihrer Empfindung, ihrer
Überzeugung bringen; sie wünschte diese schmerzlichen Verhältnisse zu
vergessen, und tausend kleine Umstände mußten sie jeden Augenblick
daran erinnern.




I. Buch, 13. Kapitel




Dreizehntes Kapitel

Wilhelm hatte indessen die kleine Reise vollendet und überreichte, da
er seinen Handelsfreund nicht zu Hause fand, das Empfehlungsschreiben
der Gattin des Abwesenden. Aber auch diese gab ihm auf seine Fragen
wenig Bescheid; sie war in einer heftigen Gemütsbewegung und das ganze
Haus in großer Verwirrung.

Es währte jedoch nicht lange, so vertraute sie ihm (und es war auch
nicht zu verheimlichen), daß ihre Stieftochter mit einem Schauspieler
davongegangen sei, mit einem Menschen, der sich von einer kleinen
Gesellschaft vor kurzem losgemacht, sich im Orte aufgehalten und im
Französischen Unterricht gegeben habe. Der Vater, außer sich vor
Schmerz und Verdruß, sei ins Amt gelaufen, um die Flüchtigen verfolgen
zu lassen. Sie schalt ihre Tochter heftig, schmähte den Liebhaber, so
daß an beiden nichts Lobenswürdiges übrigblieb, beklagte mit vielen
Worten die Schande, die dadurch auf die Familie gekommen, und setzte
Wilhelmen in nicht geringe Verlegenheit, der sich und sein heimliches
Vorhaben durch diese Sibylle gleichsam mit prophetischem Geiste voraus
getadelt und gestraft fühlte. Noch stärkern und innigern Anteil mußte
er aber an den Schmerzen des Vaters nehmen, der aus dem Amte zurückkam,
mit stiller Trauer und halben Worten seine Expedition der Frau
erzählte und, indem er nach eingesehenem Briefe das Pferd Wilhelmen
vorführen ließ, seine Zerstreuung und Verwirrung nicht verbergen
konnte.

Wilhelm gedachte sogleich das Pferd zu besteigen und sich aus einem
Hause zu entfernen, in welchem ihm unter den gegebenen Umständen
unmöglich wohl werden konnte; allein der gute Mann wollte den Sohn
eines Hauses, dem er so viel schuldig war, nicht unbewirtet und ohne
ihn eine Nacht unter seinem Dache behalten zu haben, entlassen.

Unser Freund hatte ein trauriges Abendessen eingenommen, eine unruhige
Nacht ausgestanden und eilte frühmorgens, so bald als möglich sich von
Leuten zu entfernen, die, ohne es zu wissen, ihn mit ihren Erzählungen
und Äußerungen auf das empfindlichste gequält hatten.

Er ritt langsam und nachdenkend die Straße hin, als er auf einmal eine
Anzahl bewaffneter Leute durchs Feld kommen sah, die er an ihren
weiten und langen Röcken, großen Aufschlägen, unförmlichen Hüten und
plumpen Gewehren, an ihrem treuherzigen Gange und dem bequemen Tragen
ihres Körpers sogleich für ein Kommando Landmiliz erkannte. Unter
einer alten Eiche hielten sie stille, setzten ihre Flinten nieder und
lagerten sich bequem auf dem Rasen, um eine Pfeife zu rauchen.
Wilhelm verweilte bei ihnen und ließ sich mit einem jungen Menschen,
der zu Pferde herbeikam, in ein Gespräch ein. Er mußte die Geschichte
der beiden Entflohenen, die ihm nur zu sehr bekannt war, leider noch
einmal, und zwar mit Bemerkungen, die weder dem jungen Paare noch den
Eltern sonderlich günstig waren, vernehmen. Zugleich erfuhr er, daß
man hierher gekommen sei, die jungen Leute wirklich in Empfang zu
nehmen, die in dem benachbarten Städtchen eingeholt und angehalten
worden waren. Nach einiger Zeit sah man von ferne einen Wagen
herbeikommen, der von einer Bürgerwache mehr lächerlich als
fürchterlich umgeben war. Ein unförmlicher Stadtschreiber ritt voraus
und komplimentierte mit dem gegenseitigem Aktuarius (denn das war der
junge Mann, mit dem Wilhelm gesprochen hatte) an der Grenze mit großer
Gewissenhaftigkeit und wunderlichen Gebärden, wie es etwa Geist und
Zauberer, der eine inner-, der andere außerhalb des Kreises, bei
gefährlichen nächtlichen Operationen tun mögen.

Die Aufmerksamkeit der Zuschauer war indes auf den Bauerwagen
gerichtet, und man betrachtete die armen Verirrten nicht ohne
Mitleiden, die auf ein paar Bündeln Stroh beieinander saßen, sich
zärtlich anblickten und die Umstehenden kaum zu bemerken schienen.
Zufälligerweise hatte man sich genötigt gesehen, sie von dem letzten
Dorfe auf eine so unschickliche Art fortzubringen, indem die alte
Kutsche, in welcher man die Schöne transportierte, zerbrochen war.
Sie erbat sich bei dieser Gelegenheit die Gesellschaft ihres Freundes,
den man, in der Überzeugung, er sei auf einem kapitalen Verbrechen
betroffen, bis dahin mit Ketten beschwert nebenhergehen lassen. Diese
Ketten trugen denn freilich nicht wenig bei, den Anblick der
zärtlichen Gruppe interessanter zu machen, besonders weil der junge
Mann sie mit vielem Anstand bewegte, indem er wiederholt seiner
Geliebten die Hände küßte.

"Wir sind sehr unglücklich!" rief sie den Umstehenden zu; "aber nicht
so schuldig, wie wir scheinen. So belohnen grausame Menschen treue
Liebe, und Eltern, die das Glück ihrer Kinder gänzlich vernachlässigen,
reißen sie mit Ungestüm aus den Armen der Freude, die sich ihrer nach
langen, trüben Tagen bemächtigte!"

Indes die Umstehenden auf verschiedene Weise ihre Teilnahme zu
erkennen gaben, hatten die Gerichte ihre Zeremonien absolviert; der
Wagen ging weiter, und Wilhelm, der an dem Schicksal der Verliebten
großen Teil nahm, eilte auf dem Fußpfade voraus, um mit dem Amtmanne,
noch ehe der Zug ankäme, Bekanntschaft zu machen. Er erreichte aber
kaum das Amthaus, wo alles in Bewegung und zum Empfang der Flüchtlinge
bereit war, als ihn der Aktuarius einholte und durch eine umständliche
Erzählung, wie alles gegangen, besonders aber durch ein weitläufiges
Lob seines Pferdes, das er erst gestern vom Juden getauscht, jedes
andere Gespräch verhinderte.

Schon hatte man das unglückliche Paar außen am Garten, der durch eine
kleine Pforte mit dem Amthause zusammenhing, abgesetzt und sie in der
Stille hineingeführt. Der Aktuarius nahm über diese schonende
Behandlung von Wilhelmen ein aufrichtiges Lob an, ob er gleich
eigentlich dadurch nur das vor dem Amthause versammelte Volk necken
und ihm das angenehme Schauspiel einer gedemütigten Mitbürgerin
entziehen wollte.

Der Amtmann, der von solchen außerordentlichen Fällen kein
sonderlicher Liebhaber war, weil er meistenteils dabei einen und den
andern Fehler machte und für den besten Willen gewöhnlich von
fürstlicher Regierung mit einem derben Verweise belohnt wurde, ging
mit schweren Schritten nach der Amtsstube, wohin ihm der Aktuarius,
Wilhelm und einige angesehene Bürger folgten.

Zuerst ward die Schöne vorgeführt, die, ohne Frechheit, gelassen und
mit Bewußtsein ihrer selbst hereintrat. Die Art, wie sie gekleidet
war und sich überhaupt betrug, zeigte, daß sie ein Mädchen sei, die
etwas auf sich halte. Sie fing auch, ohne gefragt zu werden, über
ihren Zustand nicht unschicklich zu reden an.

Der Aktuarius gebot ihr zu schweigen und hielt seine Feder über dem
gebrochenen Blatte. Der Amtmann setzte sich in Fassung, sah ihn an,
räusperte sich und fragte das arme Kind, wie ihr Name heiße und wie
alt sie sei.

"Ich bitte Sie, mein Herr", versetzte sie, "es muß mir gar wunderbar
vorkommen, daß Sie mich um meinen Namen und mein Alter fragen, da Sie
sehr gut wissen, wie ich heiße und daß ich so alt wie Ihr ältester
Sohn bin. Was Sie von mir wissen wollen und was Sie wissen müssen,
will ich gern ohne Umschweife sagen.

Seit meines Vaters zweiter Heirat werde ich zu Hause nicht zum besten
gehalten. Ich hätte einige hübsche Partien tun können, wenn nicht
meine Stiefmutter aus Furcht vor der Ausstattung sie zu vereiteln
gewußt hätte. Nun habe ich den jungen Melina kennenlernen, ich habe
ihn lieben müssen, und da wir die Hindernisse voraussahen, die unserer
Verbindung im Wege stunden, entschlossen wir uns, miteinander in der
weiten Welt ein Glück zu suchen, das uns zu Hause nicht gewährt schien.
Ich habe nichts mitgenommen, als was mein eigen war; wir sind nicht
als Diebe und Räuber entflohen, und mein Geliebter verdient nicht, daß
er mit Ketten und Banden belegt herumgeschleppt werde. Der Fürst ist
gerecht, er wird diese Härte nicht billigen. Wenn wir strafbar sind,
so sind wir es nicht auf diese Weise."

Der alte Amtmann kam hierüber doppelt und dreifach in Verlegenheit.
Die gnädigsten Ausputzer summten ihm schon um den Kopf, und die
geläufige Rede des Mädchens hatte ihm den Entwurf des Protokolls
gänzlich zerrüttet. Das Übel wurde noch größer, als sie bei
wiederholten ordentlichen Fragen sich nicht weiter einlassen wollte,
sondern sich auf das, was sie eben gesagt, standhaft berief.

"Ich bin keine Verbrecherin", sagte sie. "Man hat mich auf
Strohbündeln zur Schande hierhergeführt; es ist eine höhere
Gerechtigkeit, die uns wieder zu Ehren bringen soll."

Der Aktuarius hatte indessen immer ihre Worte nachgeschrieben und
flüsterte dem Amtmanne zu: er solle nur weitergehen; ein förmliches
Protokoll würde sich nachher schon verfassen lassen.

Der Alte nahm wieder Mut und fing nun an, nach den süßen Geheimnissen
der Liebe mit dürren Worten und in hergebrachten, trockenen Formeln
sich zu erkundigen.

Wilhelmen stieg die Röte ins Gesicht, und die Wangen der artigen
Verbrecherin belebten sich gleichfalls durch die reizende Farbe der
Schamhaftigkeit. Sie schwieg und stockte, bis die Verlegenheit selbst
zuletzt ihren Mut zu erhöhen schien.

"Seien Sie versichert", rief sie aus, "daß ich stark genug seien würde,
die Wahrheit zu bekennen, wenn ich auch gegen mich selbst sprechen
müßte; sollte ich nun zaudern und stocken, da sie mir Ehre macht? Ja,
ich habe ihn von dem Augenblicke an, da ich seiner Neigung und seiner
Treue gewiß war, als meinen Ehemann angesehen; ich habe ihm alles
gerne gegönnt, was die Liebe fordert und was ein überzeugtes Herz
nicht versagen kann. Machen Sie nun mit mir, was Sie wollen. Wenn
ich einen Augenblick zu gestehen zauderte, so war die Furcht, daß mein
Bekenntnis für meinen Geliebten schlimme Folgen haben könnte, allein
daran Ursache."

Wilhelm faßte, als er ihr Geständnis hörte, einen hohen Begriff von
den Gesinnungen des Mädchens, indes sie die Gerichtspersonen für eine
freche Dirne erkannten und die gegenwärtigen Bürger Gott dankten, daß
dergleichen Fälle in ihren Familien entweder nicht vorgekommen oder
nicht bekannt geworden waren.

Wilhelm versetzte seine Mariane in diesem Augenblicke vor den
Richterstuhl, legte ihr noch schönere Worte in den Mund, ließ ihre
Aufrichtigkeit noch herzlicher und ihr Bekenntnis noch edler werden.
Die heftigste Leidenschaft, beiden Liebenden zu helfen, bemächtigte
sich seiner. Er verbarg sie nicht und bat den zaudernden Amtmann
heimlich, er möchte doch der Sache ein Ende machen, es sei ja alles so
klar als möglich und bedürfe keiner weitern Untersuchung.

Dieses half so viel, daß man das Mädchen abtreten, dafür aber den
jungen Menschen, nachdem man ihm vor der Türe die Fesseln abgenommen
hatte, hereinkommen ließ. Dieser schien über sein Schicksal mehr
nachdenkend. Seine Antworten waren gesetzter, und wenn er von einer
Seite weniger heroische Freimütigkeit zeigte, so empfahl er sich
hingegen durch Bestimmtheit und Ordnung seiner Aussage.

Da auch dieses Verhör geendiget war, welches mit dem vorigen in allem
übereinstimmte, nur daß er, um das Mädchen zu schonen, hartnäckig
leugnete, was sie selbst schon bekannt hatte, ließ man auch sie
endlich wieder vortreten, und es entstand zwischen beiden eine Szene,
welche ihnen das Herz unsers Freundes gänzlich zu eigen machte.

Was nur in Romanen und Komödien vorzugehen pflegt, sah er hier in
einer unangenehmen Gerichtsstube vor seinen Augen: den Streit
wechselseitiger Großmut, die Stärke der Liebe im Unglück.

"Ist es denn also wahr", sagte er bei sich selbst, "daß die
schüchterne Zärtlichkeit, die vor dem Auge der Sonne und der Menschen
sich verbirgt und nur in abgesonderter Einsamkeit, in tiefem
Geheimnisse zu genießen wagt, wenn sie durch einen feindseligen Zufall
hervorgeschleppt wird, sich alsdann mutiger, stärker, tapferer zeigt
als andere, brausende und großtuende Leidenschaften?"

Zu seinem Troste schloß sich die ganze Handlung noch ziemlich bald.
Sie wurden beide in leidliche Verwahrung genommen, und wenn es möglich
gewesen wäre, so hätte er noch diesen Abend das Frauenzimmer zu ihren
Eltern hinübergebracht. Denn er setzte sich fest vor, hier ein
Mittelsmann zu werden und die glückliche und anständige Verbindung
beider Liebenden zu befördern.

Er erbat sich von dem Amtmanne die Erlaubnis, mit Melina allein zu
reden, welche ihm denn auch ohne Schwierigkeit verstattet wurde.




I. Buch, 14. Kapitel




Vierzehntes Kapitel

Das Gespräch der beiden neuen Bekannten wurde gar bald vertraut und
lebhaft. Denn als Wilhelm dem niedergeschlagnen Jüngling sein
Verhältnis zu den Eltern des Frauenzimmers entdeckte, sich zum Mittler
anbot und selbst die besten Hoffnungen zeigte, erheiterte sich das
traurige und sorgenvolle Gemüt des Gefangnen, er fühlte sich schon
wieder befreit, mit seinen Schwiegereltern versöhnt, und es war nun
von künftigem Erwerb und Unterkommen die Rede.

"Darüber werden Sie doch nicht in Verlegenheit sein", versetzte
Wilhelm; "denn Sie scheinen mir beiderseits von der Natur bestimmt, in
dem Stande, den Sie gewählt haben, Ihr Glück zu machen. Eine
angenehme Gestalt, eine wohlklingende Stimme, ein gefühlvolles Herz!
Können Schauspieler besser ausgestattet sein? Kann ich Ihnen mit
einigen Empfehlungen dienen, so wird es mir viel Freude machen."

"Ich danke Ihnen von Herzen", versetzte der andere; "aber ich werde
wohl schwerlich davon Gebrauch machen können, denn ich denke, wo
möglich nicht auf das Theater zurückzukehren."

"Daran tun Sie sehr übel", sagte Wilhelm nach einer Pause, in welcher
er sich von seinem Erstaunen erholt hatte; denn er dachte nicht anders,
als daß der Schauspieler, sobald er mit seiner jungen Gattin befreit
worden, das Theater aufsuchen werde. Es schien ihm ebenso natürlich
und notwendig, als daß der Frosch das Wasser sucht. Nicht einen
Augenblick hatte er daran gezweifelt und mußte nun zu seinem Erstaunen
das Gegenteil erfahren.

"Ja", versetzte der andere, "ich habe mir vorgenommen, nicht wieder
auf das Theater zurückzukehren, vielmehr eine bürgerliche Bedienung,
sie sei auch, welche sie wolle, anzunehmen, wenn ich nur eine erhalten
kann."

"Das ist ein sonderbarer Entschluß, den ich nicht billigen kann; denn
ohne besondere Ursache ist es niemals ratsam, die Lebensart, die man
ergriffen hat, zu verändern, und überdies wüßte ich keinen Stand, der
so viel Annehmlichkeiten, so viel reizende Aussichten darböte, als den
eines Schauspielers."

"Man sieht, daß Sie keiner gewesen sind", versetzte jener.

Darauf sagte Wilhelm: "Mein Herr, wie selten ist der Mensch mit dem
Zustande zufrieden, in dem er sich befindet! Er wünscht sich immer
den seines Nächsten, aus welchem sich dieser gleichfalls heraussehnt."

"Indes bleibt doch ein Unterschied", versetzte Melina, "zwischen dem
Schlimmen und dem Schlimmern; Erfahrung, nicht Ungeduld macht mich so
handeln. Ist wohl irgend ein Stückchen Brot kümmerlicher, unsicherer
und mühseliger in der Welt? Beinahe wäre es ebensogut, vor den Türen
zu betteln. Was hat man von dem Neide seiner Mitgenossen und der
Parteilichkeit des Direktors, von der veränderlichen Laune des
Publikums auszustehen! Wahrhaftig, man muß ein Fell haben wie ein Bär,
der in Gesellschaft von Affen und Hunden an der Kette herumgeführt
und geprügelt wird, um bei dem Tone eines Dudelsacks vor Kindern und
Pöbel zu tanzen."

Wilhelm dachte allerlei bei sich selbst, was er jedoch dem guten
Menschen nicht ins Gesicht sagen wollte. Er ging also nur von ferne
mit dem Gespräch um ihn herum. Jener ließ sich desto aufrichtiger und
weitläufiger heraus.--"Täte es nicht not", sagte er, "daß ein Direktor
jedem Stadtrate zu Füßen fiele, um nur die Erlaubnis zu haben, vier
Wochen zwischen der Messe ein paar Groschen mehr an einem Orte
zirkulieren zu lassen. Ich habe den unsrigen, der soweit ein guter
Mann war, oft bedauert, wenn er mir gleich zu anderer Zeit Ursache zu
Mißvergnügen gab. Ein guter Akteur steigert ihn, die schlechten kann
er nicht loswerden; und wenn er seine Einnahme einigermaßen der
Ausgabe gleichsetzen will, so ist es dem Publikum gleich zuviel, das
Haus steht leer, und man muß, um nur nicht gar zugrunde zu gehen, mit
Schaden und Kummer spielen. Nein, mein Herr! da Sie sich unsrer, wie
Sie sagen, annehmen mögen, so bitte ich Sie, sprechen Sie auf das
ernstlichste mit den Eltern meiner Geliebten! Man versorge mich hier,
man gebe mir einen kleinen Schreiber- oder Einnehmerdienst, und ich
will mich glücklich schätzen."

Nachdem sie noch einige Worte gewechselt hatten, schied Wilhelm mit
dem Versprechen, morgen ganz früh die Eltern anzugehen und zu sehen,
was er ausrichten könne. Kaum war er allein, so mußte er sich in
folgenden Ausrufungen Luft machen: "Unglücklicher Melina, nicht in
deinem Stande, sondern in dir liegt das Armselige, über das du nicht
Herr werden kannst! Welcher Mensch in der Welt, der ohne innern Beruf
ein Handwerk, eine Kunst oder irgendeine Lebensart ergriffe, müßte
nicht wie du seinen Zustand unerträglich finden? Wer mit einem
Talente zu einem Talente geboren ist, findet in demselben sein
schönstes Dasein! Nichts ist auf der Erde ohne Beschwerlichkeit! Nur
der innere Trieb, die Lust, die Liebe helfen uns Hindernisse
überwinden, Wege bahnen und uns aus dem engen Kreise, worin sich
andere kümmerlich abängstigen, emporheben. Dir sind die Bretter
nichts als Bretter, und die Rollen, was einem Schulknaben sein Pensum
ist. Die Zuschauer siehst du an, wie sie sich selbst an Werkeltagen
vorkommen. Dir könnte es also freilich einerlei sein, hinter einem
Pult über linierten Büchern zu sitzen, Zinsen einzutragen und Reste
herauszustochern. Du fühlst nicht das zusammenbrennende,
zusammentreffende Ganze, das allein durch den Geist erfunden,
begriffen und ausgeführt wird; du fühlst nicht, daß in den Menschen
ein besserer Funke lebt, der, wenn er keine Nahrung erhält, wenn er
nicht geregt wird, von der Asche täglicher Bedürfnisse und
Gleichgültigkeit tiefer bedeckt und doch so spät und fast nie erstickt
wird. Du fühlst in deiner Seele keine Kraft, ihn aufzublasen, in
deinem eignen Herzen keinen Reichtum, um dem Erweckten Nahrung zu
geben. Der Hunger treibt dich, die Unbequemlichkeiten sind dir
zuwider, und es ist dir verborgen, daß in jedem Stande diese Feinde
lauern, die nur mit Freudigkeit und Gleichmut zu überwinden sind. Du
tust wohl, dich in jene Grenzen einer gemeinen Stelle zu sehnen; denn
welche würdest du wohl ausfüllen, die Geist und Mut verlangt! Gib
einem Soldaten, einem Staatsmanne, einem Geistlichen deine Gesinnungen,
und mit ebensoviel Recht wird er sich über das Kümmerliche seines
Standes beschweren können. Ja, hat es nicht sogar Menschen gegeben,
die von allem Lebensgefühl so ganz verlassen waren, daß sie das ganze
Leben und Wesen der Sterblichen für ein Nichts, für ein kummervolles
und staubgleiches Dasein erklärt haben? Regten sich lebendig in
deiner Seele die Gestalten wirkender Menschen, wärmte deine Brust ein
teilnehmendes Feuer, verbreitete sich über deine ganze Gestalt die
Stimmung, die aus dem Innersten kommt, wären die Töne deiner Kehle,
die Worte deiner Lippen lieblich anzuhören, fühltest du dich genug in
dir selbst, so würdest du dir gewiß Ort und Gelegenheit aufsuchen,
dich in andern fühlen zu können."

Unter solchen Worten und Gedanken hatte sich unser Freund ausgekleidet
und stieg mit einem Gefühle des innigsten Behagens zu Bette. Ein
ganzer Roman, was er an der Stelle des Unwürdigen morgenden Tages tun
würde, entwickelte sich in seiner Seele, angenehme Phantasien
begleiteten ihn in das Reich des Schlafes sanft hinüber und überließen
ihn dort ihren Geschwistern, den Träumen, die ihn mit offenen Armen
aufnahmen und das ruhende Haupt unsers Freundes mit dem Vorbilde des
Himmels umgaben.

Am frühen Morgen war er schon wieder erwacht und dachte seiner
vorstehenden Unterhandlung nach. Er kehrte in das Haus der
verlassenen Eltern zurück, wo man ihn mit Verwunderung aufnahm. Er
trug sein Anbringen bescheiden vor und fand gar bald mehr und weniger
Schwierigkeiten, als er vermutet hatte. Geschehen war es einmal, und
wenngleich außerordentlich strenge und harte Leute sich gegen das
Vergangene und Nichtzuändernde mit Gewalt zu setzen und das Übel
dadurch zu vermehren pflegen, so hat dagegen das Geschehene auf die
Gemüter der meisten eine unwiderstehliche Gewalt, und was unmöglich
schien, nimmt sogleich, als es geschehen ist, neben dem Gemeinen
seinen Platz ein. Es war also bald ausgemacht, daß der Herr Melina
die Tochter heiraten sollte; dagegen sollte sie wegen ihrer Unart kein
Heiratsgut mitnehmen und versprechen, das Vermächtnis einer Tante noch
einige Jahre gegen geringe Interessen in des Vaters Händen zu lassen.
Der zweite Punkt, wegen einer bürgerlichen Versorgung, fand schon
größere Schwierigkeiten. Man wollte das ungeratene Kind nicht vor
Augen sehen, man wollte die Verbindung eines hergelaufenen Menschen
mit einer so angesehenen Familie, welche sogar mit einem
Superintendenten verwandt war, sich durch die Gegenwart nicht
beständig aufrücken lassen; man konnte ebensowenig hoffen, daß die
fürstlichen Kollegien ihm eine Stelle anvertrauen würden. Beide
Eltern waren gleich stark dagegen, und Wilhelm, der sehr eifrig dafür
sprach, weil er dem Menschen, den er geringschätzte, die Rückkehr auf
das Theater nicht gönnte und überzeugt war, daß er eines solchen
Glückes nicht wert sei, konnte mit allen seinen Argumenten nichts
ausrichten. Hätte er die geheimen Triebfedern gekannt, so würde er
sich die Mühe gar nicht gegeben haben, die Eltern überreden zu wollen.
Denn der Vater, der seine Tochter gerne bei sich behalten hätte,
haßte den jungen Menschen, weil seine Frau selbst ein Auge auf ihn
geworfen hatte, und diese konnte in ihrer Stieftochter eine glückliche
Nebenbuhlerin nicht vor Augen leiden. Und so mußte Melina wider
seinen Willen mit seiner jungen Braut, die schon größere Lust bezeigte,
die Welt zu sehen und sich der Welt sehen zu lassen, nach einigen
Tagen abreisen, um bei irgendeiner Gesellschaft ein Unterkommen zu
finden.




I. Buch, 15. Kapitel




Fünfzehntes Kapitel

Glückliche Jugend! Glückliche Zeiten des ersten Liebesbedürfnisses!
Der Mensch ist dann wie ein Kind, das sich am Echo stundenlang ergötzt,
die Unkosten des Gespräches allein trägt und mit der Unterhaltung
wohl zufrieden ist, wenn der unsichtbare Gegenpart auch nur die
letzten Silben der ausgerufenen Worte wiederholt.

So war Wilhelm in den frühern, besonders aber in den spätern Zeiten
seiner Leidenschaft für Marianen, als er den ganzen Reichtum seines
Gefühls auf sie hinübertrug und sich dabei als einen Bettler ansah,
der von ihren Almosen lebte. Und wie uns eine Gegend reizender, ja
allein reizend vorkommt, wenn sie von der Sonne beschienen wird, so
war auch alles in seinen Augen verschönert und verherrlicht, was sie
umgab, was sie berührte.

Wie oft stand er auf dem Theater hinter den Wänden, wozu er sich das
Privilegium von dem Direktor erbeten hatte! Dann war freilich die
perspektivische Magie verschwunden, aber die viel mächtigere Zauberei
der Liebe fing erst an zu wirken. Stundenlang konnte er am
schmutzigen Lichtwagen stehen, den Qualm der Unschlittlampen einziehen,
nach der Geliebten hinausblicken und, wenn sie wieder hereintrat und
ihn freundlich ansah, sich in Wonne verloren dicht an dem Balken und
Lattengerippe in einen paradiesischen Zustand versetzt fühlen. Die
ausgestopften Lämmchen, die Wasserfälle von Zindel, die pappenen
Rosenstöcke und die einseitigen Strohhütten erregten in ihm liebliche
dichterische Bilder uralter Schäferwelt. Sogar die in der Nähe
häßlich erscheinenden Tänzerinnen waren ihm nicht immer zuwider, weil
sie auf einem Brette mit seiner Vielgeliebten standen. Und so ist es
gewiß, daß Liebe, welche Rosenlauben, Myrtenwäldchen und Mondschein
erst beleben muß, auch sogar Hobelspänen und Papierschnitzeln einen
Anschein belebter Naturen geben kann. Sie ist eine so starke Würze,
daß selbst schale und ekle Brühen davon schmackhaft werden.

Solch einer Würze bedurft es freilich, um jenen Zustand leidlich, ja
in der Folge angenehm zu machen, in welchem er gewöhnlich ihre Stube,
ja gelegentlich sie selbst antraf.

In einem feinen Bürgerhause erzogen, war Ordnung und Reinlichkeit das
Element, worin er atmete, und indem er von seines Vaters Prunkliebe
einen Teil geerbt hatte, wußte er in den Knabenjahren sein Zimmer, das
er als sein kleines Reich ansah, stattlich auszustaffieren. Seine
Bettvorhänge waren in große Falten aufgezogen und mit Quasten
befestigt, wie man Thronen vorzustellen pflegt; er hatte sich einen
Teppich in die Mitte des Zimmers und einen feinern auf den Tisch
anzuschaffen gewußt; seine Bücher und Gerätschaften legte und stellte
er fast mechanisch so, daß ein niederländischer Maler gute Gruppen zu
seinen Stilleben hätte herausnehmen können. Eine weiße Mütze hatte er
wie einen Turban zurechtgebunden und die Ärmel seines Schlafrocks nach
orientalischem Kostüme kurz stutzen lassen. Doch gab er hiervon die
Ursache an, daß die langen, weiten Ärmel ihn im Schreiben hinderten.
Wenn er abends ganz allein war und nicht mehr fürchten durfte, gestört
zu werden, trug er gewöhnlich eine seidene Schärpe um den Leib, und er
soll manchmal einen Dolch, den er sich aus einer alten Rüstkammer
zugeeignet, in den Gürtel gesteckt und so die ihm zugeteilten
tragischen Rollen memoriert und probiert, ja in ebendem Sinne sein
Gebet kniend auf dem Teppich verrichtet haben.

Wie glücklich pries er daher in früheren Zeiten den Schauspieler, den
er im Besitz so mancher majestätischen Kleider, Rüstungen und Waffen
und in steter Übung eines edlen Betragens sah, dessen Geist einen
Spiegel des Herrlichsten und Prächtigsten, was die Welt an
Verhältnissen, Gesinnungen und Leidenschaften hervorgebracht,
darzustellen schien. Ebenso dachte sich Wilhelm auch das häusliche
Leben eines Schauspielers als eine Reihe von würdigen Handlungen und
Beschäftigungen, davon die Erscheinung auf dem Theater die äußerste
Spitze sei, etwa wie ein Silber, das vom Läuterfeuer lange
herumgetrieben worden, endlich farbig-schön vor den Augen des
Arbeiters erscheint und ihm zugleich andeutet, daß das Metall nunmehr
von allen fremden Zusätzen gereiniget sei.

Wie sehr stutzte er daher anfangs, wenn er sich bei seiner Geliebten
befand und durch den glücklichen Nebel, der ihn umgab, nebenaus auf
Tische, Stühle und Boden sah. Die Trümmer eines augenblicklichen,
leichten und falschen Putzes lagen, wie das glänzende Kleid eines
abgeschuppten Fisches, zerstreut in wilder Unordnung durcheinander.
Die Werkzeuge menschlicher Reinlichkeit, als Kämme, Seife, Tücher,
waren mit den Spuren ihrer Bestimmung gleichfalls nicht versteckt.
Musik, Rollen und Schuhe, Wäsche und italienische Blumen, Etuis,
Haarnadeln, Schminktöpfchen und Bänder, Bücher und Strohhüte, keines
verschmähte die Nachbarschaft des andern, alle waren durch ein
gemeinschaftliches Element, durch Puder und Staub, vereinigt. Jedoch
da Wilhelm in ihrer Gegenwart wenig von allem andern bemerkte, ja
vielmehr ihm alles, was ihr gehörte, sie berührt hatte, lieb werden
mußte, so fand er zuletzt in dieser verworrenen Wirtschaft einen Reiz,
den er in seiner stattlichen Prunkordnung niemals empfunden hatte. Es
war ihm--wenn er hier ihre Schnürbrust wegnahm, um zum Klavier zu
kommen, dort ihre Röcke aufs Bette legte, um sich setzen zu können,
wenn sie selbst mit unbefangener Freimütigkeit manches Natürliche, das
man sonst gegen einen andern aus Anstand zu verheimlichen pflegt, vor
ihm nicht zu verbergen suchte--es war ihm, sag ich, als wenn er ihr
mit jedem Augenblicke näher würde, als wenn eine Gemeinschaft zwischen
ihnen durch unsichtbare Bande befestigt würde.

Nicht ebenso leicht konnte er die Aufführung der übrigen Schauspieler,
die er bei seinen ersten Besuchen manchmal bei ihr antraf, mit seinen
Begriffen vereinigen. Geschäftig im Müßiggange, schienen sie an ihren
Beruf und Zweck am wenigsten zu denken; über den poetischen Wert eines
Stückes hörte er sie niemals reden und weder richtig noch unrichtig
darüber urteilen; es war immer nur die Frage: "Was wird das Stück
machen? Ist es ein Zugstück? Wie lange wird es spielen? Wie oft
kann es wohl gegeben werden?" und was Fragen und Bemerkungen dieser
Art mehr waren. Dann ging es gewöhnlich auf den Direktor los, daß er
mit der Gage zu karg und besonders gegen den einen und den andern
ungerecht sei, dann auf das Publikum, daß es mit seinem Beifall selten
den rechten Mann belohne, daß das deutsche Theater sich täglich
verbessere, daß der Schauspieler nach seinen Verdiensten immer mehr
geehrt werde und nicht genug geehrt werden könne. Dann sprach man
viel von Kaffeehäusern und Weingärten und was daselbst vorgefallen,
wieviel irgendein Kamerad Schulden habe und Abzug leiden müsse, von
Disproportion der wöchentlichen Gage, von Kabalen einer Gegenpartei;
wobei denn doch zuletzt die große und verdiente Aufmerksamkeit des
Publikums wieder in Betracht kam und der Einfluß des Theaters auf die
Bildung einer Nation und der Welt nicht vergessen wurde.

Alle diese Dinge, die Wilhelmen sonst schon manche unruhige Stunde
gemacht hatten, kamen ihm gegenwärtig wieder ins Gedächtnis, als ihn
sein Pferd langsam nach Hause trug und er die verschiedenen Vorfälle,
die ihm begegnet waren, überlegte. Die Bewegung, welche durch die
Flucht eines Mädchens in eine gute Bürgerfamilie, ja in ein ganzes
Städtchen gekommen war, hatte er mit Augen gesehen; die Szenen auf der
Landstraße und im Amthause, die Gesinnungen Melinas, und was sonst
noch vorgegangen war, stellten sich ihm wieder dar und brachten seinen
lebhaften, vordringenden Geist in eine Art von sorglicher Unruhe, die
er nicht lange ertrug, sondern seinem Pferde die Sporen gab und nach
der Stadt zu eilte.

Allein auch auf diesem Wege rannte er nur neuen Unannehmlichkeiten
entgegen. Werner, sein Freund und vermutlicher Schwager, wartete auf
ihn, um ein ernsthaftes, bedeutendes und unerwartetes Gespräch mit ihm
anzufangen.

Werner war einer von den geprüften, in ihrem Dasein bestimmten Leuten,
die man gewöhnlich kalte Leute zu nennen pflegt, weil sie bei Anlässen
weder schnell noch sichtlich auflodern; auch war sein Umgang mit
Wilhelmen ein anhaltender Zwist, wodurch sich ihre Liebe aber nur
desto fester knüpfte: denn ungeachtet ihrer verschiedenen Denkungsart
fand jeder seine Rechnung bei dem andern. Werner tat sich darauf
etwas zugute, daß er dem vortrefflichen, obgleich gelegentlich
ausschweifenden Geist Wilhelms mitunter Zügel und Gebiß anzulegen
schien, und Wilhelm fühlte oft einen herrlichen Triumph, wenn er
seinen bedächtlichen Freund in warmer Aufwallung mit sich fortnahm.
So übte sich einer an dem andern, sie wurden gewohnt, sich täglich zu
sehen, und man hätte sagen sollen, das Verlangen, einander zu finden,
sich miteinander zu besprechen, sei durch die Unmöglichkeit, einander
verständlich zu werden, vermehrt worden. Im Grunde aber gingen sie
doch, weil sie beide gute Menschen waren, nebeneinander, miteinander
nach einem Ziel und konnten niemals begreifen, warum denn keiner den
andern auf seine Gesinnung reduzieren könne.

Werner bemerkte seit einiger Zeit, daß Wilhelms Besuche seltner wurden,
daß er in Lieblingsmaterien kurz und zerstreut abbrach, daß er sich
nicht mehr in lebhafte Ausbildung seltsamer Vorstellungen vertiefte,
an welcher sich freilich ein freies, in der Gegenwart des Freundes
Ruhe und Zufriedenheit findendes Gemüt am sichersten erkennen läßt.
Der pünktliche und bedächtige Werner suchte anfangs den Fehler in
seinem eignen Betragen, bis ihn einige Stadtgespräche auf die rechte
Spur brachten und einige Unvorsichtigkeiten Wilhelms ihn der Gewißheit
näher führten. Er ließ sich auf eine Untersuchung ein und entdeckte
gar bald, daß Wilhelm vor einiger Zeit eine Schauspielerin öffentlich
besucht, mit ihr auf dem Theater gesprochen und sie nach Hause
gebracht habe; er wäre trostlos gewesen, wenn ihm auch die nächtlichen
Zusammenkünfte bekannt geworden wären, denn er hörte, daß Mariane ein
verführerisches Mädchen sei, die seinen Freund wahrscheinlich ums Geld
bringe und sich noch nebenher von dem unwürdigsten Liebhaber
unterhalten lasse.

Sobald er seinen Verdacht soviel möglich zur Gewißheit erhoben,
beschloß er einen Angriff auf Wilhelmen und war mit allen Anstalten
völlig in Bereitschaft, als dieser eben verdrießlich und verstimmt von
seiner Reise zurückkam.

Werner trug ihm noch denselbigen Abend alles, was er wußte, erst
gelassen, dann mit dem dringenden Ernste einer wohldenkenden
Freundschaft vor, ließ keinen Zug unbestimmt und gab seinem Freunde
alle die Bitterkeiten zu kosten, die ruhige Menschen an Liebende mit
tugendhafter Schadenfreude so freigebig auszuspenden pflegen. Aber
wie man sich denken kann, richtete er wenig aus. Wilhelm versetzte
mit inniger Bewegung, doch mit großer Sicherheit: "Du kennst das
Mädchen nicht! Der Schein ist vielleicht nicht zu ihrem Vorteil, aber
ich bin ihrer Treue und Tugend so gewiß als meiner Liebe."

Werner beharrte auf seiner Anklage und erbot sich zu Beweisen und
Zeugen. Wilhelm verwarf sie und entfernte sich von seinem Freunde
verdrießlich und erschüttert wie einer, dem ein ungeschickter Zahnarzt
einen schadhaften festsitzenden Zahn gefaßt und vergebens daran
geruckt hat.

Höchst unbehaglich fand sich Wilhelm, das schöne Bild Marianens erst
durch die Grillen der Reise, dann durch Werners Unfreundlichkeit in
seiner Seele getrübt und beinahe entstellt zu sehen. Er griff zum
sichersten Mittel, ihm die völlige Klarheit und Schönheit
wiederherzustellen, indem er nachts auf den gewöhnlichen Wegen zu ihr
hineilte. Sie empfing ihn mit lebhafter Freude; denn er war bei
seiner Ankunft vorbeigeritten, sie hatte ihn diese Nacht erwartet, und
es läßt sich denken, daß alle Zweifel bald aus seinem Herzen
vertrieben wurden. Ja, ihre Zärtlichkeit schloß sein ganzes Vertrauen
wieder auf, und er erzählte ihr, wie sehr sich das Publikum, wie sehr
sich sein Freund an ihr versündiget.

Mancherlei lebhafte Gespräche führten sie auf die ersten Zeiten ihrer
Bekanntschaft, deren Erinnerung eine der schönsten Unterhaltungen
zweier Liebenden bleibt. Die ersten Schritte, die uns in den
Irrgarten der Liebe bringen, sind so angenehm, die ersten Aussichten
so reizend, daß man sie gar zu gern in sein Gedächtnis zurückruft.
Jeder Teil sucht einen Vorzug vor dem andern zu behalten, er habe
früher, uneigennütziger geliebt, und jedes wünscht in diesem
Wettstreite lieber überwunden zu werden als zu überwinden.

Wilhelm wiederholte Marianen, was sie schon so oft gehört hatte, daß
sie bald seine Aufmerksamkeit von dem Schauspiel ab und auf sich
allein gezogen habe, daß ihre Gestalt, ihr Spiel, ihre Stimme ihn
gefesselt; wie er zuletzt nur die Stücke, in denen sie gespielt,
besucht habe, wie er endlich aufs Theater geschlichen sei, oft, ohne
von ihr bemerkt zu werden, neben ihr gestanden habe; dann sprach er
mit Entzücken von dem glücklichen Abende, an dem er eine Gelegenheit
gefunden, ihr eine Gefälligkeit zu erzeigen und ein Gespräch
einzuleiten.

Mariane dagegen wollte nicht Wort haben, daß sie ihn so lange nicht
bemerkt hätte; sie behauptete, ihn schon auf dem Spaziergange gesehen
zu haben, und bezeichnete ihm zum Beweis das Kleid, das er am selbigen
Tage angehabt; sie behauptete, daß er ihr damals vor allen andern
gefallen und daß sie seine Bekanntschaft gewünscht habe.

Wie gern glaubte Wilhelm das alles! Wie gern ließ er sich überreden,
daß sie zu ihm, als er sich ihr genähert, durch einen
unwiderstehlichen Zug hingeführt worden, daß sie absichtlich zwischen
die Kulissen neben ihn getreten sei, um ihn näher zu sehen und
Bekanntschaft mit ihm zu machen, und daß sie zuletzt, da seine
Zurückhaltung und Blödigkeit nicht zu überwinden gewesen, ihm selbst
Gelegenheit gegeben und ihn gleichsam genötigt habe, ein Glas Limonade
herbeizuholen.

Unter diesem liebevollen Wettstreit, den sie durch alle kleinen
Umstände ihres kurzen Romans verfolgten, vergingen ihnen die Stunden
sehr schnell, und Wilhelm verließ völlig beruhigt seine Geliebte mit
dem festen Vorsatze, sein Vorhaben unverzüglich ins Werk zu richten.




I. Buch, 16. Kapitel




Sechzehntes Kapitel

Was zu seiner Abreise nötig war, hatten Vater und Mutter besorgt; nur
einige Kleinigkeiten, die an der Equipage fehlten, verzögerten seinen
Aufbruch um einige Tage. Wilhelm benutzte diese Zeit, um an Marianen
einen Brief zu schreiben, wodurch er die Angelegenheit endlich zur
Sprache bringen wollte, über welche sie sich mit ihm zu unterhalten
bisher immer vermieden hatte. Folgendermaßen lautete der Brief:

"Unter der lieben Hülle der Nacht, die mich sonst in deinen Armen
bedeckte, sitze ich und denke und schreibe an dich, und was ich sinne
und treibe, ist nur um deinetwillen. O Mariane! mir, dem
glücklichsten unter den Männern, ist es wie einem Bräutigam, der
ahnungsvoll, welch eine neue Welt sich in ihm und durch ihn entwickeln
wird, auf den festlichen Teppichen steht und während der heiligen
Zeremonien sich gedankenvoll lüstern vor die geheimnisreichen Vorhänge
versetzt, woher ihm die Lieblichkeit der Liebe entgegensäuselt.

Ich habe über mich gewonnen, dich in einigen Tagen nicht zu sehen; es
war leicht in Hoffnung einer solchen Entschädigung, ewig mit dir zu
sein, ganz der Deinige zu bleiben! Soll ich wiederholen, was ich
wünsche? Und doch ist es nötig; denn es scheint, als habest du mich
bisher nicht verstanden.

Wie oft habe ich mit leisen Tönen der Treue, die, weil sie alles zu
halten wünscht, wenig zu sagen wagt, an deinem Herzen geforscht nach
dem Verlangen einer ewigen Verbindung. Verstanden hast du mich gewiß:
denn in deinem Herzen muß ebender Wunsch keimen; vernommen hast du
mich in jedem Kusse, in der anschmiegenden Ruhe jener glücklichen
Abende. Da lernt ich deine Bescheidenheit kennen, und wie vermehrte
sich meine Liebe! Wo eine andere sich künstlich betragen hätte, um
durch überflüssigen Sonnenschein einen Entschluß in dem Herzen ihres
Liebhabers zur Reife zu bringen, eine Erklärung hervorzulocken und ein
Versprechen zu befestigen, eben da ziehst du dich zurück, schließest
die halbgeöffnete Brust deines Geliebten wieder zu und suchst durch
eine anscheinende Gleichgültigkeit deine Beistimmung zu verbergen;
aber ich verstehe dich! Welch ein Elender müßte ich sein, wenn ich an
diesen Zeichen die reine, uneigennützige, nur für den Freund besorgte
Liebe nicht erkennen wollte! Vertraue mir und sei ruhig! Wir gehören
einander an, und keins von beiden verläßt oder verliert etwas, wenn
wir füreinander leben.

Nimm sie hin, diese Hand! feierlich noch dies überflüssige Zeichen!
Alle Freuden der Liebe haben wir empfunden, aber es sind neue
Seligkeiten in dem bestätigten Gedanken der Dauer. Frage nicht, wie?
Sorge nicht! Das Schicksal sorgt für die Liebe, und um so gewisser,
da Liebe genügsam ist.

Mein Herz hat schon lange meiner Eltern Haus verlassen; es ist bei dir,
wie mein Geist auf der Bühne schwebt. O meine Geliebte! Ist wohl
einem Menschen so gewährt, seine Wünsche zu verbinden, wie mir? Kein
Schlaf kommt in meine Augen, und wie eine ewige Morgenröte steigt
deine Liebe und dein Glück vor mir auf und ab.

Kaum daß ich mich halte, nicht auffahre, zu dir hinrenne und mir deine
Einwilligung erzwinge und gleich Morgen frühe weiter in die Welt nach
meinem Ziele hinstrebe.--Nein, ich will mich bezwingen! Ich will nicht
unbesonnen törichte, verwegene Schritte tun; mein Plan ist entworfen,
und ich will ihn ruhig ausführen.

Ich bin mit Direktor Serlo bekannt, meine Reise geht gerade zu ihm, er
hat vor einem Jahre oft seinen Leuten etwas von meiner Lebhaftigkeit
und Freude am Theater gewünscht, und ich werde ihm gewiß willkommen
sein; denn bei eurer Truppe möchte ich aus mehr als einer Ursache
nicht eintreten; auch spielt Serlo so weit von hier, daß ich anfangs
meinen Schritt verbergen kann. Einen leidlichen Unterhalt finde ich
da gleich; ich sähe mich in dem Publiko um, lerne die Gesellschaft
kennen und hole dich nach.

Mariane, du siehst, was ich über mich gewinnen kann, um dich gewiß zu
haben; denn dich so lange nicht zu sehen, dich in der weiten Welt zu
wissen! recht lebhaft darf ich mir's nicht denken. Wenn ich mir dann
aber wieder deine Liebe vorstelle, die mich vor allem sichert, wenn du
meine Bitte nicht verschmähst, ehe wir scheiden, und du mir deine Hand
vor dem Priester reichst, so werde ich ruhig gehen. Es ist nur eine
Formel unter uns, aber eine so schöne Formel, der Segen des Himmels zu
dem Segen der Erde. In der Nachbarschaft, im Ritterschaftlichen, geht
es leicht und heimlich an.

Für den Anfang habe ich Geld genug; wir wollen teilen, es wird für uns
beide hinreichen; ehe das verzehrt ist, wird der Himmel weiterhelfen.

Ja, Liebste, es ist mir gar nicht bange. Was mit so viel Fröhlichkeit
begonnen wird, muß ein glückliches Ende erreichen. Ich habe nie
gezweifelt, daß man sein Fortkommen in der Welt finden könne, wenn es
einem Ernst ist, und ich fühle Mut genug, für zwei, ja für mehrere
einen reichlichen Unterhalt zu gewinnen. Die Welt ist undankbar,
sagen viele; ich habe noch nicht gefunden, daß sie undankbar sei, wenn
man auf die rechte Art etwas für sie zu tun weiß. Mir glüht die ganze
Seele bei dem Gedanken, endlich einmal aufzutreten und den Menschen in
das Herz hineinzureden, was sie sich so lange zu hören sehnen. Wie
tausendmal ist es freilich mir, der ich von der Herrlichkeit des
Theaters so eingenommen bin, bang durch die Seele gegangen, wenn ich
die Elendesten gesehen habe sich einbilden, sie könnten uns ein großes,
treffliches Wort ans Herz reden! Ein Ton, der durch die Fistel
gezwungen wird, klingt viel besser und reiner; es ist unerhört, wie
sich diese Bursche in ihrer groben Ungeschicklichkeit versündigen.

Das Theater hat oft einen Streit mit der Kanzel gehabt; sie sollten,
dünkt mich, nicht miteinander hadern. Wie sehr wäre zu wünschen, daß
an beiden Orten nur durch edle Menschen Gott und Natur verherrlicht
würden! Es sind keine Träume, meine Liebste! Wie ich an deinem
Herzen habe fühlen können, daß du in Liebe bist, so ergreife ich auch
den glänzenden Gedanken und sage--ich will's nicht aussagen, aber
hoffen will ich, daß wir einst als ein Paar gute Geister den Menschen
erscheinen werden, ihre Herzen aufzuschließen, ihre Gemüter zu
berühren und ihnen himmlische Genüsse zu bereiten, so gewiß mir an
deinem Busen Freuden gewährt waren, die immer himmlisch genannt werden
müssen, weil wir uns in jenen Augenblicken aus uns selbst gerückt,
über uns selbst erhaben fühlen.

Ich kann nicht schließen; ich habe schon zuviel gesagt und weiß nicht,
ob ich dir schon alles gesagt habe, alles, was dich angeht: denn die
Bewegung des Rades, das sich in meinem Herzen dreht, sind keine Worte
vermögend auszudrücken.

Nimm dieses Blatt indes, meine Liebe! Ich habe es wieder durchgelesen
und finde, daß ich von vorne anfangen sollte; doch enthält es alles,
was du zu wissen nötig hast, was dir Vorbereitung ist, wenn ich bald
mit Fröhlichkeit der süßen Liebe an deinen Busen zurückkehre. Ich
komme mir vor wie ein Gefangener, der in einem Kerker lauschend seine
Fesseln abfeilt. Ich sage gute Nacht meinen sorglos schlafenden
Eltern!--Lebe wohl, Geliebte! Lebe wohl! Für diesmal schließ ich;
die Augen sind mir zwei-, dreimal zugefallen; es ist schon tief in der
Nacht."




I. Buch, 17. Kapitel




Siebzehntes Kapitel

Der Tag wollte nicht endigen, als Wilhelm, seinen Brief schön gefaltet
in der Tasche, sich zu Marianen hinsehnte; auch war es kaum düster
geworden, als er sich wider seine Gewohnheit nach ihrer Wohnung
hinschlich. Sein Plan war: sich auf die Nacht anzumelden, seine
Geliebte auf kurze Zeit wieder zu verlassen, ihr, eh er wegginge, den
Brief in die Hand zu drücken und, bei seiner Rückkehr in tiefer Nacht
ihre Antwort, ihre Einwilligung zu erhalten oder durch die Macht
seiner Liebkosungen zu erzwingen. Er flog in ihre Arme und konnte
sich an ihrem Busen kaum wieder fassen. Die Lebhaftigkeit seiner
Empfindungen verbarg ihm anfangs, daß sie nicht wie sonst mit
Herzlichkeit antwortete; doch konnte sie einen ängstlichen Zustand
nicht lange verbergen; sie schützte eine Krankheit, eine Unpäßlichkeit
vor; sie beklagte sich über Kopfweh, sie wollte sich auf den Vorschlag,
daß er heute nacht wiederkommen wolle, nicht einlassen. Er ahnte
nichts Böses, drang nicht weiter in sie, fühlte aber, daß es nicht die
Stunde sei, ihr seinen Brief zu übergeben. Er behielt ihn bei sich,
und da verschiedene ihrer Bewegungen und Reden ihn auf eine höfliche
Weise wegzugehen nötigten, ergriff er im Taumel seiner ungenügsamen
Liebe eines ihrer Halstücher, steckte es in die Tasche und verließ
wider Willen ihre Lippen und ihre Türe. Er schlich nach Hause, konnte
aber auch da nicht lange bleiben, kleidete sich um und suchte wieder
die freie Luft.

Als er einige Straßen auf und ab gegangen war, begegnete ihm ein
Unbekannter, der nach einem gewissen Gasthofe fragte; Wilhelm erbot
sich, ihm das Haus zu zeigen; der Fremde erkundigte sich nach dem
Namen der Straße, nach den Besitzern verschiedener großen Gebäude, vor
denen sie vorbeigingen, sodann nach einigen Polizeieinrichtungen der
Stadt, und sie waren in einem ganz interessanten Gespräche begriffen,
als sie am Tore des Wirtshauses ankamen. Der Fremde nötigte seinen
Führer, hineinzutreten und ein Glas Punsch mit ihm zu trinken;
zugleich gab er seinen Namen an und seinen Geburtsort, auch die
Geschäfte, die ihn hierhergebracht hätten, und ersuchte Wilhelmen um
ein gleiches Vertrauen. Dieser verschwieg ebensowenig seinen Namen
als seine Wohnung.

"Sind Sie nicht ein Enkel des alten Meisters, der die schöne
Kunstsammlung besaß?" fragte der Fremde.

"Ja, ich bin's. Ich war zehn Jahre, als der Großvater starb, und es
schmerzte mich lebhaft, diese schönen Sachen verkaufen zu sehen."

"Ihr Vater hat eine große Summe Geldes dafür erhalten."

"Sie wissen also davon?"

"O ja, ich habe diesen Schatz noch in Ihrem Hause gesehen. Ihr
Großvater war nicht bloß ein Sammler, er verstand sich auf die Kunst,
er war in einer frühern, glücklichen Zeit in Italien gewesen und hatte
Schätze von dort mit zurückgebracht, welche jetzt um keinen Preis mehr
zu haben wären. Er besaß treffliche Gemälde von den besten Meistern;
man traute kaum seinen Augen, wenn man seine Handzeichnungen durchsah;
unter seinen Marmorn waren einige unschätzbare Fragmente; von Bronzen
besaß er eine sehr instruktive Suite; so hatte er auch seine Münzen
für Kunst und Geschichte zweckmäßig gesammelt; seine wenigen
geschnittenen Steine verdienten alles Lob; auch war das Ganze gut
aufgestellt, wenngleich die Zimmer und Säle des alten Hauses nicht
symmetrisch gebaut waren."

"Sie können denken, was wir Kinder verloren, als alle die Sachen
heruntergenommen und eingepackt wurden. Es waren die ersten traurigen
Zeiten meines Lebens. Ich weiß noch, wie leer uns die Zimmer vorkamen,
als wir die Gegenstände nach und nach verschwinden sahen, die uns von
Jugend auf unterhalten hatten und die wir ebenso unveränderlich
hielten als das Haus und die Stadt selbst."

"Wenn ich nicht irre, so gab Ihr Vater das gelöste Kapital in die
Handlung eines Nachbars, mit dem er eine Art Gesellschaftshandel
einging."

"Ganz richtig! und ihre gesellschaftlichen Spekulationen sind ihnen
wohl geglückt; sie haben in diesen zwölf Jahren ihr Vermögen sehr
vermehrt und sind beide nur desto heftiger auf den Erwerb gestellt;
auch hat der alte Werner einen Sohn, der sich viel besser zu diesem
Handwerke schickt als ich."

"Es tut mir leid, daß dieser Ort eine solche Zierde verloren hat, als
das Kabinett Ihres Großvaters war. Ich sah es noch kurz vorher, ehe
es verkauft wurde, und ich darf wohl sagen, ich war Ursache, daß der
Kauf zustande kam. Ein reicher Edelmann, ein großer Liebhaber, der
aber bei so einem wichtigen Handel sich nicht allein auf sein eigen
Urteil verließ, hatte mich hierher geschickt und verlangte meinen Rat.
Sechs Tage besah ich das Kabinett, und am siebenten riet ich meinem
Freunde, die ganze geforderte Summe ohne Anstand zu bezahlen. Sie
waren als ein munterer Knabe oft um mich herum; Sie erklärten mir die
Gegenstände der Gemälde und wußten überhaupt das Kabinett recht gut
auszulegen."

"Ich erinnere mich einer solchen Person, aber in Ihnen hätte ich sie
nicht wiedererkannt."

"Es ist auch schon eine geraume Zeit, und wir verändern uns doch mehr
oder weniger. Sie hatten, wenn ich mich recht erinnere, ein
Lieblingsbild darunter, von dem Sie mich gar nicht weglassen wollten."

"Ganz richtig! es stellte die Geschichte vor, wie der kranke
Königssohn sich über die Braut seines Vaters in Liebe verzehrt."

"Es war eben nicht das beste Gemälde, nicht gut zusammengesetzt, von
keiner sonderlichen Farbe, und die Ausführung durchaus manieriert."

"Das verstand ich nicht und versteh es noch nicht; der Gegenstand ist
es, der mich an einem Gemälde reizt, nicht die Kunst."

"Da schien Ihr Großvater anders zu denken; denn der größte Teil seiner
Sammlung bestand aus trefflichen Sachen, in denen man immer das
Verdienst ihres Meisters bewunderte, sie mochten vorstellen, was sie
wollten; auch hing dieses Bild in dem äußersten Vorsaale, zum Zeichen,
daß er es wenig schätzte."

"Da war es eben, wo wir Kinder immer spielen durften und wo dieses
Bild einen unauslöschlichen Eindruck auf mich machte, den mir selbst
Ihre Kritik, die ich übrigens verehre, nicht auslöschen könnte, wenn
wir auch jetzt vor dem Bilde stünden. Wie jammerte mich, wie jammert
mich noch ein Jüngling, der die süßen Triebe, das schönste Erbteil,
das uns die Natur gab, in sich verschließen und das Feuer, das ihn und
andere erwärmen und beleben sollte, in seinem Busen verbergen muß, so
daß sein Innerstes unter ungeheuren Schmerzen verzehrt wird! Wie
bedaure ich die Unglückliche, die sich einem andern widmen soll, wenn
ihr Herz schon den würdigen Gegenstand eines wahren und reinen
Verlangens gefunden hat!"

"Diese Gefühle sind freilich sehr weit von jenen Betrachtungen
entfernt, unter denen ein Kunstliebhaber die Werke großer Meister
anzusehen pflegt; wahrscheinlich würde Ihnen aber, wenn das Kabinett
ein Eigentum Ihres Hauses geblieben wäre, nach und nach der Sinn für
die Werke selbst aufgegangen sein, so daß Sie nicht immer nur sich
selbst und Ihre Neigung in den Kunstwerken gesehen hätten."

"Gewiß tat mir der Verkauf des Kabinetts gleich sehr leid, und ich
habe es auch in reifern Jahren öfters vermißt; wenn ich aber bedenke,
daß es gleichsam so sein mußte, um eine Liebhaberei, um ein Talent in
mir zu entwickeln, die weit mehr auf mein Leben wirken sollten, als
jene leblosen Bilder je getan hätten, so bescheide ich mich dann gern
und verehre das Schicksal, das mein Bestes und eines jeden Bestes
einzuleiten weiß."

"Leider höre ich schon wieder das Wort Schicksal von einem jungen
Manne aussprechen, der sich eben in einem Alter befindet, wo man
gewöhnlich seinen lebhaften Neigungen den Willen höherer Wesen
unterzuschieben pflegt."

"So glauben Sie kein Schicksal? Keine Macht, die über uns waltet und
alles zu unserm Besten lenkt?"

"Es ist hier die Rede nicht von meinem Glauben, noch der Ort,
auszulegen, wie ich mir Dinge, die uns allen unbegreiflich sind,
einigermaßen denkbar zu machen suche; hier ist nur die Frage, welche
Vorstellungsart zu unserm Besten gereicht. Das Gewebe dieser Welt ist
aus Notwendigkeit und Zufall gebildet; die Vernunft des Menschen
stellt sich zwischen beide und weiß sie zu beherrschen; sie behandelt
das Notwendige als den Grund ihres Daseins; das Zufällige weiß sie zu
lenken, zu leiten und zu nutzen, und nur, indem sie fest und
unerschütterlich steht, verdient der Mensch, ein Gott der Erde genannt
zu werden. Wehe dem, der sich von Jugend auf gewöhnt, in dem
Notwendigen etwas Willkürliches finden zu wollen, der dem Zufälligen
eine Art von Vernunft zuschreiben möchte, welcher zu folgen sogar eine
Religion sei. Heißt das etwas weiter, als seinem eignen Verstande
entsagen und seinen Neigungen unbedingten Raum geben? Wir bilden uns
ein, fromm zu sein, indem wir ohne Überlegung hinschlendern, uns durch
angenehme Zufälle determinieren lassen und endlich dem Resultate eines
solchen schwankenden Lebens den Namen einer göttlichen Führung geben."

"Waren Sie niemals in dem Falle, daß ein kleiner Umstand Sie
veranlaßte, einen gewissen Weg einzuschlagen, auf welchem bald eine
gefällige Gelegenheit Ihnen entgegenkam und eine Reihe von
unerwarteten Vorfällen Sie endlich ans Ziel brachte, das Sie selbst
noch kaum ins Auge gefaßt hatten? Sollte das nicht Ergebenheit in das
Schicksal, Zutrauen zu einer solchen Leitung einflößen?"

"Mit diesen Gesinnungen könnte kein Mädchen ihre Tugend, niemand sein
Geld im Beutel behalten; denn es gibt Anlässe genug, beides
loszuwerden. Ich kann mich nur über den Menschen freuen, der weiß,
was ihm und andern nütze ist, und seine Willkür zu beschränken
arbeitet. Jeder hat sein eigen Glück unter den Händen, wie der
Künstler eine rohe Materie, die er zu einer Gestalt umbilden will.
Aber es ist mit dieser Kunst wie mit allen; nur die Fähigkeit dazu
wird uns angeboren, sie will gelernt und sorgfältig ausgeübt sein."

Dieses und mehreres wurde noch unter ihnen abgehandelt; endlich
trennten sie sich, ohne daß sie einander sonderlich überzeugt zu haben
schienen, doch bestimmten sie auf den folgenden Tag einen Ort der
Zusammenkunft.

Wilhelm ging noch einige Straßen auf und nieder; er hörte Klarinetten,
Waldhörner und Fagotte, es schwoll sein Busen. Durchreisende
Spielleute machten eine angenehme Nachtmusik. Er sprach mit ihnen,
und um ein Stück Geld folgten sie ihm zu Marianens Wohnung. Hohe
Bäume zierten den Platz vor ihrem Hause, darunter stellte er seine
Sänger; er selbst ruhte auf einer Bank in einiger Entfernung und
überließ sich ganz den schwebenden Tönen, die in der rasenden Nacht um
ihn säuselten. Unter den holden Sternen hingestreckt, war ihm sein
Dasein wie ein goldner Traum. "Sie hört auch diese Flöten", sagte er
in seinem Herzen; "sie fühlt, wessen Andenken, wessen Liebe die Nacht
wohlklingend macht; auch in der Entfernung sind wir durch diese
Melodien zusammengebunden, wie in jeder Entfernung durch die feinste
Stimmung der Liebe. Ach! zwei liebende Herzen, sie sind wie zwei
Magnetuhren; was in der einen sich regt, muß auch die andere mit
bewegen, denn es ist nur eins, was in beiden wirkt, eine Kraft, die
sie durchgeht. Kann ich in ihren Armen eine Möglichkeit fühlen, mich
von ihr zu trennen? Und doch, ich werde fern von ihr sein, werde
einen Heilort für unsere Liebe suchen und werde sie immer mit mir
haben.

Wie oft ist mir's geschehen, daß ich, abwesend von ihr, in Gedanken an
sie verloren, ein Buch, ein Kleid oder sonst etwas berührte und
glaubte, ihre Hand zu fühlen, so ganz war ich mit ihrer Gegenwart
umkleidet. Und jener Augenblicke mich zu erinnern, die das Licht des
Tages wie das Auge des kalten Zuschauers fliehen, die zu genießen
Götter den schmerzlosen Zustand der reinen Seligkeit zu verlassen sich
entschließen dürften!--Mich zu erinnern?--Als wenn man den Rausch des
Taumelkelchs in der Erinnerung erneuern könnte, der unsere Sinne, von
himmlischen Banden umstrickt, aus aller ihrer Fassung reißt.--Und ihre
Gestalt--" Er verlor sich im Andenken an sie, seine Ruhe ging in
Verlangen über, er umfaßte einen Baum, kühlte seine heiße Wange an der
Rinde, und die Winde der Nacht saugten begierig den Hauch auf, der aus
dem reinen Busen bewegt hervordrang. Er fühlte nach dem Halstuch, das
er von ihr mitgenommen hatte, es war vergessen, es steckte im vorigen
Kleide. Seine Lippen lechzten, seine Glieder zitterten vor Verlangen.

Die Musik hörte auf, und es war ihm, als wär er aus dem Elemente
gefallen, in dem seine Empfindungen bisher emporgetragen wurden.
Seine Unruhe vermehrte sie, da seine Gefühle nicht mehr von den
sanften Tönen genährt und gelindert wurden. Er setzte sich auf ihre
Schwelle nieder und war schon mehr beruhigt. Er küßte den messingen
Ring, womit man an ihre Türe pochte, er küßte die Schwelle, über die
ihre Füße aus- und eingingen, und erwärmte sie durch das Feuer seiner
Brust. Dann saß er wieder eine Weile stille und dachte sie hinter
ihren Vorhängen, im weißen Nachtkleide mit dem roten Band um den Kopf,
in süßer Ruhe und dachte sich selbst so nahe zu ihr hin, daß ihm
vorkam, sie müßte nun von ihm träumen. Seine Gedanken waren lieblich
wie die Geister der Dämmerung; Ruhe und Verlangen wechselten in ihm;
die Liebe lief mit schaudernder Hand tausendfältig über alle Saiten
seiner Seele; es war, als wenn der Gesang der Sphären über ihm stille
stünde, um die leisen Melodien seines Herzens zu belauschen.

Hätte er den Hauptschlüssel bei sich gehabt, der ihm sonst Marianens
Türe öffnete, er würde sich nicht gehalten haben, würde ins Heiligtum
der Liebe eingedrungen sein. Doch er entfernte sich langsam,
schwankte halb träumend unter den Bäumen hin, wollte nach Hause und
ward immer wieder umgewendet; endlich, als er's über sich vermochte,
ging und an der Ecke noch einmal zurücksah, kam es ihm vor, als wenn
Marianens Türe sich öffnete und eine dunkle Gestalt sich herausbewegte.
Er war zu weit, um deutlich zu sehen, und eh er sich faßte und recht
aufsah, hatte sich die Erscheinung schon in der Nacht verloren; nur
ganz weit glaubte er sie wieder an einem weißen Hause vorbeistreifen
zu sehen. Er stund und blinzte, und ehe er sich ermannte und
nacheilte, war das Phantom verschwunden. Wohin sollt er ihm folgen?
Welche Straße hatte den Menschen aufgenommen, wenn es einer war?

Wie einer, dem der Blitz die Gegend in einem Winkel erhellte, gleich
darauf mit geblendeten Augen die vorigen Gestalten, den Zusammenhang
der Pfade in der Finsternis vergebens sucht, so war's vor seinen Augen,
so war's in seinem Herzen. Und wie ein Gespenst der Mitternacht, das
ungeheure Schrecken erzeugt, in folgenden Augenblicken der Fassung für
ein Kind des Schreckens gehalten wird und die fürchterliche
Erscheinung Zweifel ohne Ende in der Seele zurückläßt, so war auch
Wilhelm in der größten Unruhe, als er, an einen Eckstein gelehnt, die
Helle des Morgens und das Geschrei der Hähne nicht achtete, bis die
frühen Gewerbe lebendig zu werden anfingen und ihn nach Hause trieben.

Er hatte, wie er zurückkam, das unerwartete Blendwerk mit den
triftigsten Gründen beinahe aus der Seele vertrieben; doch die schöne
Stimmung der Nacht, an die er jetzt auch nur wie an eine Erscheinung
zurückdachte, war auch dahin. Sein Herz zu letzen, ein Siegel seinem
wiederkehrenden Glauben aufzudrücken, nahm er das Halstuch aus der
vorigen Tasche. Das Rauschen eines Zettels, der herausfiel, zog ihm
das Tuch von den Lippen; er hob auf und las:

"So hab ich dich lieb, kleiner Narre! Was war dir auch gestern?
Heute nacht komm ich zu dir. Ich glaube wohl, daß dir's leid tut, von
hier wegzugehen; aber habe Geduld; auf die Messe komm ich dir nach.
Höre, tu mir nicht wieder die schwarzgrünbraune Jacke an, du siehst
drin aus wie die Hexe von Endor. Hab ich dir nicht das weiße
Negligè darum geschickt, daß ich ein weißes Schäfchen in meinen
Armen haben will? Schick mir deine Zettel immer durch die alte
Sibylle; die hat der Teufel selbst zur Iris bestellt."







 


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