Wilhelm Meisters Lehrjahre--Buch 5
by
Johann Wolfgang von Goethe








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Wilhelm Meisters Lehrjahre--Buch 5

Johann Wolfgang von Goethe






Fünftes Buch

Erstes Kapitel

So hatte Wilhelm zu seinen zwei kaum geheilten Wunden abermals eine
frische dritte, die ihm nicht wenig unbequem war. Aurelie wollte
nicht zugeben, daß er sich eines Wundarztes bediente; sie selbst
verband ihn unter allerlei wunderlichen Reden, Zeremonien und Sprüchen
und setzte ihn dadurch in eine sehr peinliche Lage. Doch nicht er
allein, sondern alle Personen, die sich in ihrer Nähe befanden, litten
durch ihre Unruhe und Sonderbarkeit; niemand aber mehr als der kleine
Felix. Das lebhafte Kind war unter einem solchen Druck höchst
ungeduldig und zeigte sich immer unartiger, je mehr sie es tadelte und
zurechtwies.

Der Knabe gefiel sich in gewissen Eigenheiten, die man auch Unarten zu
nennen pflegt und die sie ihm keinesweges nachzusehen gedachte. Er
trank zum Beispiel lieber aus der Flasche als aus dem Glase, und
offenbar schmeckten ihm die Speisen aus der Schüssel besser als von
dem Teller. Eine solche Unschicklichkeit wurde nicht übersehen, und
wenn er nun gar die Türe aufließ oder zuschlug und, wenn ihm etwas
befohlen wurde, entweder nicht von der Stelle wich oder ungestüm
davonrannte, so mußte er eine große Lektion anhören, ohne daß er
darauf je einige Besserung hätte spüren lassen. Vielmehr schien die
Neigung zu Aurelien sich täglich mehr zu verlieren; in seinem Tone war
nichts Zärtliches, wenn er sie Mutter nannte, er hing vielmehr
leidenschaftlich an der alten Amme, die ihm denn freilich allen Willen
ließ.

Aber auch diese war seit einiger Zeit so krank geworden, daß man sie
aus dem Hause in ein stilles Quartier bringen mußte, und Felix hätte
sich ganz allein gesehen, wäre nicht Mignon auch ihm als ein
liebevoller Schutzgeist erschienen. Auf das artigste unterhielten
sich beide Kinder miteinander; sie lehrte ihm kleine Lieder, und er,
der ein sehr gutes Gedächtnis hatte, rezitierte sie oft zur
Verwunderung der Zuhörer. Auch wollte sie ihm die Landkarten erklären,
mit denen sie sich noch immer sehr abgab, wobei sie jedoch nicht mit
der besten Methode verfuhr. Denn eigentlich schien sie bei den
Ländern kein besonderes Interesse zu haben, als ob sie kalt oder warm
seien. Von den Weltpolen, von dem schrecklichen Eise daselbst und von
der zunehmenden Wärme, je mehr man sich von ihnen entfernte, wußte sie
sehr gut Rechenschaft zu geben. Wenn jemand reiste, fragte sie nur,
ob er nach Norden oder nach Süden gehe, und bemühte sich, die Wege auf
ihren kleinen Karten aufzufinden. Besonders wenn Wilhelm von Reisen
sprach, war sie sehr aufmerksam und schien sich immer zu betrüben,
sobald das Gespräch auf eine andere Materie überging. Sowenig man sie
bereden konnte, eine Rolle zu übernehmen oder auch nur, wenn gespielt
wurde, auf das Theater zu gehen, so gern und fleißig lernte sie Oden
und Lieder auswendig und erregte, wenn sie ein solches Gedicht,
gewöhnlich von der ernsten und feierlichen Art, oft unvermutet wie aus
dem Stegreife deklamierte, bei jedermann Erstaunen.

Serlo, der auf jede Spur eines aufkeimenden Talentes zu achten gewohnt
war, suchte sie aufzumuntern; am meisten aber empfahl sie sich ihm
durch einen sehr artigen, mannigfaltigen und manchmal selbst muntern
Gesang, und auf ebendiesem Wege hatte sich der Harfenspieler seine
Gunst erworben.

Serlo, ohne selbst Genie zur Musik zu haben oder irgendein Instrument
zu spielen, wußte ihren hohen Wert zu schätzen; er suchte sich sooft
als möglich diesen Genuß, der mit keinem andern verglichen werden kann,
zu verschaffen. Er hatte wöchentlich einmal Konzert, und nun hatte
sich ihm durch Mignon, den Harfenspieler und Laertes, der auf der
Violine nicht ungeschickt war, eine wunderliche kleine Hauskapelle
gebildet.

Er pflegte zu sagen: "Der Mensch ist so geneigt, sich mir dem
Gemeinsten abzugeben, Geist und Sinne stumpfen sich so leicht gegen
die Eindrücke des Schönen und Vollkommenen ab, daß man die Fähigkeit,
es zu empfinden, bei sich auf alle Weise erhalten sollte. Denn einen
solchen Genuß kann niemand ganz entbehren, und nur die Ungewohntheit,
etwas Gutes zu genießen, ist Ursache, daß viele Menschen schon am
Albernen und Abgeschmackten, wenn es nur neu ist, Vergnügen finden.
Man sollte", sagte er, "alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören,
ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen und, wenn es
möglich zu machen wäre, einige vernünftige Worte sprechen."

Bei diesen Gesinnungen, die Serlo gewissermaßen natürlich waren,
konnte es den Personen, die ihn umgaben, nicht an angenehmer
Unterhaltung fehlen. Mitten in diesem vergnüglichen Zustande brachte
man Wilhelmen eines Tags einen schwarzgesiegelten Brief. Werners
Petschaft deutete auf eine traurige Nachricht, und er erschrak nicht
wenig, als er den Tod seines Vaters nur mit einigen Worten angezeigt
fand. Nach einer unerwarteten, kurzen Krankheit war er aus der Welt
gegangen und hatte seine häuslichen Angelegenheiten in der besten
Ordnung hinterlassen.

Diese unvermutete Nachricht traf Wilhelmen im Innersten. Er fühlte
tief, wie unempfindlich man oft Freunde und Verwandte, solange sie
sich mit uns des irdischen Aufenthaltes erfreuen, vernachlässigt und
nur dann erst die Versäumnis bereut, wenn das schöne Verhältnis
wenigstens für diesmal aufgehoben ist. Auch konnte der Schmerz über
das zeitige Absterben des braven Mannes nur durch das Gefühl gelindert
werden, daß er auf der Welt wenig geliebt, und durch die überzeugung,
daß er wenig genossen habe.

Wilhelms Gedanken wandten sich nun bald auf seine eigenen Verhältnisse,
und er fühlte sich nicht wenig beunruhigt. Der Mensch kann in keine
gefährlichere Lage versetzt werden, als wenn durch äußere Umstände
eine große Veränderung seines Zustandes bewirkt wird, ohne daß seine
Art zu empfinden und zu denken darauf vorbereitet ist. Es gibt
alsdann eine Epoche ohne Epoche, und es entsteht nur ein desto
größerer Widerspruch, je weniger der Mensch bemerkt, daß er zu dem
neuen Zustande noch nicht ausgebildet sei.

Wilhelm sah sich in einem Augenblicke frei, in welchem er mit sich
selbst noch nicht einig werden konnte. Seine Gesinnungen waren edel,
seine Absichten lauter, und seine Vorsätze schienen nicht verwerflich.
Das alles durfte er sich mit einigem Zutrauen selbst bekennen; allein
er hatte Gelegenheit genug gehabt zu bemerken, daß es ihm an Erfahrung
fehle, und er legte daher auf die Erfahrung anderer und auf die
Resultate, die sie daraus mit überzeugung ableiteten, einen
übermäßigen Wert und kam dadurch nur immer mehr in die Irre. Was ihm
fehlte, glaubte er am ersten zu erwerben, wenn er alles Denkwürdige,
was ihm in Büchern und im Gespräch vorkommen mochte, zu erhalten und
zu sammeln unternähme. Er schrieb daher fremde und eigene Meinungen
und Ideen, ja ganze Gespräche, die ihm interessant waren, auf und
hielt leider auf diese Weise das Falsche so gut als das Wahre fest,
blieb viel zu lange an einer Idee, ja man möchte sagen an einer
Sentenz hängen und verließ dabei seine natürliche Denk- und
Handelsweise, indem er oft fremden Lichtern als Leitsternen folgte.
Aureliens Bitterkeit und seines Freundes Laertes kalte Verachtung der
Menschen bestachen öfter als billig war sein Urteil: niemand aber war
ihm gefährlicher gewesen als Jarno, ein Mann, dessen heller Verstand
von gegenwärtigen Dingen ein richtiges, strenges Urteil fällte, dabei
aber den Fehler hatte, daß er diese einzelnen Urteile mit einer Art
von Allgemeinheit aussprach, da doch die Aussprüche des Verstandes
eigentlich nur einmal, und zwar in dem bestimmtesten Falle gelten und
schon unrichtig werden, wenn man sie auf den nächsten anwendet.

So entfernte sich Wilhelm, indem er mit sich selbst einig zu werden
strebte, immer mehr von der heilsamen Einheit, und bei dieser
Verwirrung ward es seinen Leidenschaften um so leichter, alle
Zurüstungen zu ihrem Vorteil zu gebrauchen und ihn über das, was er zu
tun hatte, nur noch mehr zu verwirren.

Serlo benutzte die Todespost zu seinem Vorteil, und wirklich hatte er
auch täglich immer mehr Ursache, an eine andere Einrichtung seines
Schauspiels zu denken. Er mußte entweder seine alten Kontrakte
erneuern, wozu er keine große Lust hatte, indem mehrere Mitglieder,
die sich für unentbehrlich hielten, täglich unleidlicher wurden; oder
er mußte, wohin auch sein Wunsch ging, der Gesellschaft eine ganz neue
Gestalt geben.

Ohne selbst in Wilhelmen zu dringen, regte er Aurelien und Philinen
auf; und die übrigen Gesellen, die sich nach Engagement sehnten,
ließen unserm Freunde gleichfalls keine Ruhe, so daß er mit ziemlicher
Verlegenheit an einem Scheidewege stand. Wer hätte gedacht, daß ein
Brief von Wernern, der ganz im entgegengesetzten Sinne geschrieben war,
ihn endlich zu einer Entschließung hindrängen sollte. Wir lassen nur
den Eingang weg und geben übrigens das Schreiben mit weniger
Veränderung.




V. Buch, 2. Kapitel




Zweites Kapitel

"--So war es, und so muß es denn auch wohl recht sein, daß jeder bei
jeder Gelegenheit seinem Gewerbe nachgeht und seine Tätigkeit zeigt.
Der gute Alte war kaum verschieden, als auch in der nächsten
Viertelstunde schon nichts mehr nach seinem Sinne im Hause geschah.
Freunde, Bekannte und Verwandte drängten sich zu, besonders aber alle
Menschenarten, die bei solchen Gelegenheiten etwas zu gewinnen haben.
Man brachte, man trug, man zahlte, schrieb und rechnete; die einen
holten Wein und Kuchen, die andern tranken und aßen; niemanden sah ich
aber ernsthafter beschäftigt als die Weiber, indem sie die Trauer
aussuchten.

Du wirst mir also verzeihen, mein Lieber, wenn ich bei dieser
Gelegenheit auch an meinen Vorteil dachte, mich deiner Schwester so
hilfreich und tätig als möglich zeigte und ihr, sobald es nur
einigermaßen schicklich war, begreiflich machte, daß es nunmehr unsre
Sache sei, eine Verbindung zu beschleunigen, die unsre Väter aus
allzugroßer Umständlichkeit bisher verzögert hatten.

Nun mußt du aber ja nicht denken, daß es uns eingefallen sei, das
große, leere Haus in Besitz zu nehmen. Wir sind bescheidner und
vernünftiger; unsern Plan sollst du hören. Deine Schwester zieht nach
der Heirat gleich in unser Haus herüber, und sogar auch deine Mutter
mit.

"Wie ist das möglich?" wirst du sagen; "ihr habt ja selbst in dem
Neste kaum Platz." Das ist eben die Kunst, mein Freund! Die
geschickte Einrichtung macht alles möglich, und du glaubst nicht,
wieviel Platz man findet, wenn man wenig Raum braucht. Das große Haus
verkaufen wir, wozu sich sogleich eine gute Gelegenheit darbietet; das
daraus gelöste Geld soll hundertfältige Zinsen tragen.

Ich hoffe, du bist damit einverstanden, und wünsche, daß du nichts von
den unfruchtbaren Liebhabereien deines Vaters und Großvaters geerbt
haben mögest. Dieser setzte seine höchste Glückseligkeit in eine
Anzahl unscheinbarer Kunstwerke, die niemand, ich darf wohl sagen
niemand, mit ihm genießen konnte: jener lebte in einer kostbaren
Einrichtung, die er niemand mit sich genießen ließ. Wir wollen es
anders machen, und ich hoffe deine Beistimmung.

Es ist wahr, ich selbst behalte in unserm ganzen Hause keinen Platz
als den an meinem Schreibepulte, und noch seh ich nicht ab, wo man
künftig eine Wiege hinsetzen will; aber dafür ist der Raum außer dem
Hause desto größer. Die Kaffeehäuser und Klubs für den Mann, die
Spaziergänge und Spazierfahrten für die Frau, und die schönen
Lustörter auf dem Lande für beide. Dabei ist der größte Vorteil, daß
auch unser runder Tisch ganz besetzt ist und es dem Vater unmöglich
wird, Freunde zu sehen, die sich nur desto leichtfertiger über ihn
aufhalten, je mehr er sich Mühe gegeben hat, sie zu bewirten.

Nur nichts überflüssiges im Hause! nur nicht zu viel Möbeln,
Gerätschaften, nur keine Kutsche und Pferde! Nichts als Geld, und
dann auf eine vernünftige Weise jeden Tag getan, was dir beliebt. Nur
keine Garderobe, immer das Neueste und Beste auf dem Leibe; der Mann
mag seinen Rock abtragen und die Frau den ihrigen vertrödeln, sobald
er nur einigermaßen aus der Mode kömmt. Es ist mir nichts
unerträglicher als so ein alter Kram von Besitztum. Wenn man mir den
kostbarsten Edelstein schenken wollte mit der Bedingung, ihn täglich
am Finger zu tragen, ich würde ihn nicht annehmen; denn wie läßt sich
bei einem toten Kapital nur irgendeine Freude denken? Das ist also
mein lustiges Glaubensbekenntnis: seine Geschäfte verrichtet, Geld
geschafft, sich mit den Seinigen lustig gemacht und um die übrige Welt
sich nicht mehr bekümmert, als insofern man sie nutzen kann.

Nun wirst du aber sagen: wie ist denn in eurem saubern Plane an mich
gedacht? Wo soll ich unterkommen, wenn ihr mir das väterliche Haus
verkauft und in dem eurigen nicht der mindeste Raum übrigbleibt?'

Das ist freilich der Hauptpunkt, Brüderchen, und auf den werde ich dir
gleich dienen können, wenn ich dir vorher das gebührende Lob über
deine vortrefflich angewendete Zeit werde entrichtet haben.

Sage nur, wie hast du es angefangen, in so wenigen Wochen ein Kenner
aller nützlichen und interessanten Gegenstände zu werden? Soviel
Fähigkeiten ich an dir kenne, hätte ich dir doch solche Aufmerksamkeit
und solchen Fleiß nicht zugetraut. Dein Tagebuch hat uns überzeugt,
mit welchem Nutzen du die Reise gemacht hast; die Beschreibung der
Eisen- und Kupferhämmer ist vortrefflich und zeigt von vieler Einsicht
in die Sache. Ich habe sie ehemals auch besucht; aber meine Relation,
wenn ich sie dagegenhalte, sieht sehr stümpermäßig aus. Der ganze
Brief über die Leinwandfabrikation ist lehrreich und die Anmerkung
über die Konkurrenz sehr treffend. An einigen Orten hast du Fehler in
der Addition gemacht, die jedoch sehr verzeihlich sind.

Was aber mich und meinen Vater am meisten und höchsten freut, sind
deine gründlichen Einsichten in die Bewirtschaftung und besonders in
die Verbesserung der Feldgüter. Wir haben Hoffnung, ein großes Gut,
das in Sequestration liegt, in einer sehr fruchtbaren Gegend zu
erkaufen. Wir wenden das Geld, das wir aus dem väterlichen Hause
lösen, dazu an; ein Teil wird geborgt, und ein Teil kann stehenbleiben;
und wir rechnen auf dich, daß du dahin ziehst, den Verbesserungen
vorstehst, und so kann, um nicht zuviel zu sagen, das Gut in einigen
Jahren um ein Drittel an Wert steigen; man verkauft es wieder, sucht
ein größeres, verbessert und handelt wieder, und dazu bist du der Mann.
Unsere Federn sollen indes zu Hause nicht müßig sein, und wir wollen
uns bald in einen beneidenswerten Zustand versetzen.

Jetzt lebe wohl! Genieße das Leben auf der Reise und ziehe hin, wo du
es vergnüglich und nützlich findest. Vor dem ersten halben Jahre
bedürfen wir deiner nicht; du kannst dich also nach Belieben in der
Welt umsehen: denn die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf
Reisen. Lebe wohl, ich freue mich, so nahe mit dir verbunden, auch
nunmehr im Geist der Tätigkeit mit dir vereint zu werden."

So gut dieser Brief geschrieben war und soviel ökonomische Wahrheiten
er enthalten mochte, mißfiel er doch Wilhelmen auf mehr als eine Weise.
Das Lob, das er über seine fingierten statistischen, technologischen
und ruralischen Kenntnisse erhielt, war ihm ein stiller Vorwurf; und
das Ideal, das ihm sein Schwager vom Glück des bürgerlichen Lebens
vorzeichnete, reizte ihn keineswegs; vielmehr ward er durch einen
heimlichen Geist des Widerspruchs mit Heftigkeit auf die
entgegengesetzte Seite getrieben. Er überzeugte sich, daß er nur auf
dem Theater die Bildung, die er sich zu geben wünschte, vollenden
könne, und schien in seinem Entschlusse nur desto mehr bestärkt zu
werden, je lebhafter Werner, ohne es zu wissen, sein Gegner geworden
war. Er faßte darauf alle seine Argumente zusammen und bestätigte bei
sich seine Meinung nur um desto mehr, je mehr er Ursache zu haben
glaubte, sie dem klugen Werner in einem günstigen Lichte darzustellen,
und auf diese Weise entstand eine Antwort, die wir gleichfalls
einrücken.




V. Buch, 3. Kapitel




Drittes Kapitel

"Dein Brief ist so wohl geschrieben und so gescheit und klug gedacht,
daß sich nichts mehr dazusetzen läßt. Du wirst mir aber verzeihen,
wenn ich sage, daß man gerade das Gegenteil davon meinen, behaupten
und tun und doch auch recht haben kann. Deine Art, zu sein und zu
denken, geht auf einen unbeschränkten Besitz und auf eine leichte,
lustige Art zu genießen hinaus, und ich brauche dir kaum zu sagen, daß
ich daran nichts, was mich reizte, finden kann.

Zuerst muß ich dir leider bekennen, daß mein Tagebuch aus Not, um
meinem Vater gefällig zu sein, mit Hülfe eines Freundes aus mehreren
Büchern zusammengeschrieben ist und daß ich wohl die darin enthaltenen
Sachen und noch mehrere dieser Art weiß, aber keineswegs verstehe noch
mich damit abgeben mag. Was hilft es mir, gutes Eisen zu fabrizieren,
wenn mein eigenes Inneres voller Schlacken ist? und was, ein Landgut
in Ordnung zu bringen, wenn ich mit mir selber uneins bin?

Daß ich dir's mit einem Worte sage: mich selbst, ganz wie ich da bin,
auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine
Absicht. Noch hege ich ebendiese Gesinnungen, nur daß mir die Mittel,
die mir es möglich machen werden, etwas deutlicher sind. Ich habe
mehr Welt gesehen, als du glaubst, und sie besser benutzt, als du
denkst. Schenke deswegen dem, was ich sage, einige Aufmerksamkeit,
wenn es gleich nicht ganz nach deinem Sinne sein sollte.

Wäre ich ein Edelmann, so wäre unser Streit bald abgetan; da ich aber
nur ein Bürger bin, so muß ich einen eigenen Weg nehmen, und ich
wünsche, daß du mich verstehen mögest. Ich weiß nicht, wie es in
fremden Ländern ist, aber in Deutschland ist nur dem Edelmann eine
gewisse allgemeine, wenn ich sagen darf personelle Ausbildung möglich.
Ein Bürger kann sich Verdienst erwerben und zur höchsten Not seinen
Geist ausbilden; seine Persönlichkeit geht aber verloren, er mag sich
stellen, wie er will. Indem es dem Edelmann, der mit den Vornehmsten
umgeht, zur Pflicht wird, sich selbst einen vornehmen Anstand zu geben,
indem dieser Anstand, da ihm weder Tür noch Tor verschlossen ist, zu
einem freien Anstand wird, da er mit seiner Figur, mit seiner Person,
es sei bei Hofe oder bei der Armee, bezahlen muß: so hat er Ursache,
etwas auf sie zu halten und zu zeigen, daß er etwas auf sie hält.
Eine gewisse feierliche Grazie bei gewöhnlichen Dingen, eine Art von
leichtsinniger Zierlichkeit bei ernsthaften und wichtigen kleidet ihn
wohl, weil er sehen läßt, daß er überall im Gleichgewicht steht. Er
ist eine öffentliche Person, und je ausgebildeter seine Bewegungen, je
sonorer seine Stimme, je gehaltner und gemessener sein ganzes Wesen
ist, desto vollkommner ist er. Wenn er gegen Hohe und Niedre, gegen
Freunde und Verwandte immer ebenderselbe bleibt, so ist nichts an ihm
auszusetzen, man darf ihn nicht anders wünschen. Er sei kalt, aber
verständig; verstellt, aber klug. Wenn er sich äußerlich in jedem
Momente seines Lebens zu beherrschen weiß, so hat niemand eine weitere
Forderung an ihn zu machen, und alles übrige, was er an und um sich
hat, Fähigkeit, Talent, Reichtum, alles scheinen nur Zugaben zu sein.

Nun denke dir irgendeinen Bürger, der an jene Vorzüge nur einigen
Anspruch zu machen gedächte; durchaus muß es ihm mißlingen, und er
müßte desto unglücklicher werden, je mehr sein Naturell ihm zu jener
Art zu sein Fähigkeit und Trieb gegeben hätte.

Wenn der Edelmann im gemeinen Leben gar keine Grenzen kennt, wenn man
aus ihm Könige oder königähnliche Figuren erschaffen kann, so darf er
überall mit einem stillen Bewußtsein vor seinesgleichen treten; er
darf überall vorwärtsdringen, anstatt daß dem Bürger nichts besser
ansteht als das reine, stille Gefühl der Grenzlinie, die ihm gezogen
ist. Er darf nicht fragen: "Was bist du?" sondern nur: "Was hast du?
welche Einsicht, welche Kenntnis, welche Fähigkeit, wieviel Vermögen?"
Wenn der Edelmann durch die Darstellung seiner Person alles gibt, so
gibt der Bürger durch seine Persönlichkeit nichts und soll nichts
geben. Jener darf und soll scheinen; dieser soll nur sein, und was er
scheinen will, ist lächerlich oder abgeschmackt. Jener soll tun und
wirken, dieser soll leisten und schaffen; er soll einzelne Fähigkeiten
ausbilden, um brauchbar zu werden, und es wird schon vorausgesetzt,
daß in seinem Wesen keine Harmonie sei noch sein dürfe, weil er, um
sich auf eine Weise brauchbar zu machen, alles übrige vernachlässigen
muß.

An diesem Unterschiede ist nicht etwa die Anmaßung der Edelleute und
die Nachgiebigkeit der Bürger, sondern die Verfassung der Gesellschaft
selbst schuld; ob sich daran einmal etwas ändern wird und was sich
ändern wird, bekümmert mich wenig; genug, ich habe, wie die Sachen
jetzt stehen, an mich selbst zu denken und wie ich mich selbst und das,
was mir ein unerläßliches Bedürfnis ist, rette und erreiche.

Ich habe nun einmal gerade zu jener harmonischen Ausbildung meiner
Natur, die mir meine Geburt versagt, eine unwiderstehliche Neigung.
Ich habe, seit ich dich verlassen, durch Leibesübung viel gewonnen;
ich habe viel von meiner gewöhnlichen Verlegenheit abgelegt und stelle
mich so ziemlich dar. Ebenso habe ich meine Sprache und Stimme
ausgebildet, und ich darf ohne Eitelkeit sagen, daß ich in
Gesellschaften nicht mißfalle. Nun leugne ich dir nicht, daß mein
Trieb täglich unüberwindlicher wird, eine öffentliche Person zu sein
und in einem weitern Kreise zu gefallen und zu wirken. Dazu kömmt
meine Neigung zur Dichtkunst und zu allem, was mit ihr in Verbindung
steht, und das Bedürfnis, meinen Geist und Geschmack auszubilden,
damit ich nach und nach auch bei dem Genuß, den ich nicht entbehren
kann, nur das Gute wirklich für gut, und das Schöne für schön halte.
Du siehst wohl, daß das alles für mich nur auf dem Theater zu finden
ist und daß ich mich in diesem einzigen Elemente nach Wunsch rühren
und ausbilden kann. Auf den Brettern erscheint der gebildete Mensch
so gut persönlich in seinem Glanz als in den obern Klassen; Geist und
Körper müssen bei jeder Bemühung gleichen Schritt gehen, und ich werde
da so gut sein und scheinen können als irgend anderswo. Suche ich
daneben noch Beschäftigungen, so gibt es dort mechanische Quälereien
genug, und ich kann meiner Geduld tägliche übung verschaffen.

Disputiere mit mir nicht darüber; denn eh du mir schreibst, ist der
Schritt schon geschehen. Wegen der herrschenden Vorurteile will ich
meinen Namen verändern, weil ich mich ohnehin schäme, als Meister
aufzutreten. Lebe wohl. Unser Vermögen ist in so guter Hand, daß ich
mich darum gar nicht bekümmere; was ich brauche, verlange ich
gelegentlich von dir; es wird nicht viel sein, denn ich hoffe, daß
mich meine Kunst auch nähren soll."

Der Brief war kaum abgeschickt, als Wilhelm auf der Stelle Wort hielt
und zu Serlos und der übrigen großen Verwunderung sich auf einmal
erklärte: daß er sich zum Schauspieler widme und einen Kontrakt auf
billige Bedingungen eingehen wolle. Man war hierüber bald einig, denn
Serlo hatte schon früher sich so erklärt, daß Wilhelm und die übrigen
damit gar wohl zufrieden sein konnten. Die ganze verunglückte
Gesellschaft, mit der wir uns so lange unterhalten haben, ward auf
einmal angenommen, ohne daß jedoch, außer etwa Laertes, sich einer
gegen Wilhelmen dankbar erzeigt hätte. Wie sie ohne Zutrauen
gefordert hatten, so empfingen sie ohne Dank. Die meisten wollten
lieber ihre Anstellung dem Einflusse Philinens zuschreiben und
richteten ihre Danksagungen an sie. Indessen wurden die
ausgefertigten Kontrakte unterschrieben, und durch eine unerklärliche
Verknüpfung von Ideen entstand vor Wilhelms Einbildungskraft in dem
Augenblicke, als er seinen fingierten Namen unterzeichnete, das Bild
jenes Waldplatzes, wo er verwundet in Philinens Schoß gelegen. Auf
einem Schimmel kam die liebenswürdige Amazone aus den Büschen, nahte
sich ihm und stieg ab. Ihr menschenfreundliches Bemühen hieß sie
gehen und kommen; endlich stand sie vor ihm. Das Kleid fiel von ihren
Schultern; ihr Gesicht, ihre Gestalt fing an zu glänzen, und sie
verschwand. So schrieb er seinen Namen nur mechanisch hin, ohne zu
wissen, was er tat, und fühlte erst, nachdem er unterzeichnet hatte,
daß Mignon an seiner Seite stand, ihn am Arm hielt und ihm die Hand
leise wegzuziehen versucht hatte.




V. Buch, 4. Kapitel




Viertes Kapitel

Eine der Bedingungen, unter denen Wilhelm sich aufs Theater begab, war
von Serlo nicht ohne Einschränkung zugestanden worden. Jener
verlangte, daß "Hamlet" ganz und unzerstückt aufgeführt werden sollte,
und dieser ließ sich das wunderliche Begehren insofern gefallen, als
es möglich sein würde. Nun hatten sie hierüber bisher manchen Streit
gehabt; denn was möglich oder nicht möglich sei und was man von dem
Stück weglassen könne, ohne es zu zerstücken, darüber waren beide sehr
verschiedener Meinung.

Wilhelm befand sich noch in den glücklichen Zeiten, da man nicht
begreifen kann, daß an einem geliebten Mädchen, an einem verehrten
Schriftsteller irgend etwas mangelhaft sein könne. Unsere Empfindung
von ihnen ist so ganz, so mit sich selbst übereinstimmend, daß wir uns
auch in ihnen eine solche vollkommene Harmonie denken müssen. Serlo
hingegen sonderte gern und beinah zuviel; sein scharfer Verstand
wollte in einem Kunstwerke gewöhnlich nur ein mehr oder weniger
unvollkommenes Ganze erkennen. Er glaubte, so wie man die Stücke
finde, habe man wenig Ursache, mit ihnen so gar bedächtig umzugehen,
und so mußte auch Shakespeare, so mußte besonders "Hamlet" vieles
leiden.

Wilhelm wollte gar nicht hören, wenn jener von der Absonderung der
Spreu von dem Weizen sprach. "Es ist nicht Spreu und Weizen
durcheinander", rief dieser, "es ist ein Stamm, äste, Zweige, Blätter,
Knospen, Blüten und Früchte. Ist nicht eins mit dem andern und durch
das andere?" Jener behauptete, man bringe nicht den ganzen Stamm auf
den Tisch; der Künstler müsse goldene äpfel in silbernen Schalen
seinen Gästen reichen. Sie erschöpften sich in Gleichnissen, und ihre
Meinungen schienen sich immer weiter voneinander zu entfernen.

Gar verzweifeln wollte unser Freund, als Serlo ihm einst nach langem
Streit das einfachste Mittel anriet, sich kurz zu resolvieren, die
Feder zu ergreifen und in dem Trauerspiele, was eben nicht gehen wolle
noch könne, abzustreichen, mehrere Personen in eine zu drängen, und
wenn er mit dieser Art noch nicht bekannt genug sei oder noch nicht
Herz genug dazu habe, so solle er ihm die Arbeit überlassen, und er
wolle bald fertig sein.

"Das ist nicht unserer Abrede gemäß", versetzte Wilhelm. "Wie können
Sie bei soviel Geschmack so leichtsinnig sein?"

"Mein Freund", rief Serlo aus, "Sie werden es auch schon werden. Ich
kenne das Abscheuliche dieser Manier nur zu wohl, die vielleicht noch
auf keinem Theater in der Welt stattgefunden hat. Aber wo ist auch
eins so verwahrlost als das unsere? Zu dieser ekelhaften
Verstümmelung zwingen uns die Autoren, und das Publikum erlaubt sie.
Wieviel Stücke haben wir denn, die nicht über das Maß des Personals,
der Dekorationen und Theatermechanik, der Zeit, des Dialogs und der
physischen Kräfte des Akteurs hinausschritten? Und doch sollen wir
spielen und immer spielen und immer neu spielen. Sollen wir uns dabei
nicht unsers Vorteils bedienen, da wir mit zerstückelten Werken
ebensoviel ausrichten als mit ganzen? Setzt uns das Publikum doch
selbst in den Vorteil! Wenig Deutsche, und vielleicht nur wenige
Menschen aller neuern Nationen haben Gefühl für ein ästhetisches Ganze;
sie loben und tadeln nur stellenweise; sie entzücken sich nur
stellenweise: und für wen ist das ein größeres Glück als für den
Schauspieler, da das Theater immer nur ein gestoppeltes und
gestückeltes Wesen bleibt."

"Ist!" versetzte Wilhelm; "aber muß es denn auch so bleiben, muß denn
alles bleiben, was ist? überzeugen Sie mich ja nicht, daß Sie recht
haben; denn keine Macht in der Welt würde mich bewegen können, einen
Kontrakt zu halten, den ich nur im gröbsten Irrtum geschlossen hätte."

Serlo gab der Sache eine lustige Wendung und ersuchte Wilhelmen, ihre
öftern Gespräche über "Hamlet" nochmals zu bedenken und selbst die
Mittel zu einer glücklichen Bearbeitung zu ersinnen.

Nach einigen Tagen, die er in der Einsamkeit zugebracht hatte, kam
Wilhelm mit frohem Blicke zurück. "Ich müßte mich sehr irren", rief
er aus, "wenn ich nicht gefunden hätte, wie dem Ganzen zu helfen ist;
ja ich bin überzeugt, daß Shakespeare es selbst so würde gemacht haben,
wenn sein Genie nicht auf die Hauptsache so sehr gerichtet und nicht
vielleicht durch die Novellen, nach denen er arbeitete, verführt
worden wäre."

"Lassen Sie hören", sagte Serlo, indem er sich gravitätisch aufs
Kanapee setzte; "ich werde ruhig aufhorchen, aber auch desto strenger
richten."

Wilhelm versetzte: "Mir ist nicht bange; hören Sie nur. Ich
unterscheide nach der genausten Untersuchung, nach der reiflichsten
überlegung in der Komposition dieses Stücks zweierlei: das erste sind
die großen innern Verhältnisse der Personen und der Begebenheiten, die
mächtigen Wirkungen, die aus den Charakteren und Handlungen der
Hauptfiguren entstehen, und diese sind einzeln vortrefflich und die
Folge, in der sie aufgestellt sind, unverbesserlich. Sie können durch
keine Art von Behandlung zerstört, ja kaum verunstaltet werden. Diese
sind's, die jedermann zu sehen verlangt, die niemand anzutasten wagt,
die sich tief in die Seele eindrücken und die man, wie ich höre,
beinahe alle auf das deutsche Theater gebracht hat. Nur hat man, wie
ich glaube, darin gefehlt, daß man das zweite, was bei diesem Stück zu
bemerken ist, ich meine die äußern Verhältnisse der Personen, wodurch
sie von einem Orte zum andern gebracht oder auf diese und jene Weise
durch gewisse zufällige Begebenheiten verbunden werden, für allzu
unbedeutend angesehen, nur im Vorbeigehn davon gesprochen oder sie gar
weggelassen hat. Freilich sind diese Fäden nur dünn und lose, aber
sie gehen doch durch's ganze Stück und halten zusammen, was sonst
auseinanderfiele, auch wirklich auseinanderfällt, wenn man sie
wegschneidet und ein übriges getan zu haben glaubt, daß man die Enden
stehenläßt.

Zu diesen äußern Verhältnissen zähle ich die Unruhen in Norwegen, den
Krieg mit dem jungen Fortinbras, die Gesandtschaft an den alten Oheim,
den geschlichteten Zwist, den Zug des jungen Fortinbras nach Polen und
seine Rückkehr am Ende; angleichen die Rückkehr des Horatio von
Wittenberg, die Lust Hamlets, dahin zu gehen, die Reise des Laertes
nach Frankreich, seine Rückkunft, die Verschickung Hamlets nach
England, seine Gefangenschaft beim Seeräuber, der Tod der beiden
Hofleute auf den Uriasbrief: alles dieses sind Umstände und
Begebenheiten, die einen Roman weit und breit machen können, die aber
der Einheit dieses Stücks, in dem besonders der Held keinen Plan hat,
auf das äußerste schaden und höchst fehlerhaft sind."

"So höre ich Sie einmal gerne!" rief Serlo.

"Fallen Sie mir nicht ein", versetzte Wilhelm, "Sie möchten mich nicht
immer loben. Diese Fehler sind wie flüchtige Stützen eines Gebäudes,
die man nicht wegnehmen darf, ohne vorher eine feste Mauer
unterzuziehen. Mein Vorschlag ist also, an jenen ersten, großen
Situationen gar nicht zu rühren, sondern sie sowohl im ganzen als
einzelnen möglichst zu schonen, aber diese äußern, einzelnen,
zerstreuten und zerstreuenden Motive alle auf einmal wegzuwerfen und
ihnen ein einziges zu substituieren."

"Und das wäre?" fragte Serlo, indem er sich aus seiner ruhigen
Stellung aufhob.

"Es liegt auch schon im Stücke", erwiderte Wilhelm, "nur mache ich den
rechten Gebrauch davon. Es sind die Unruhen in Norwegen. Hier haben
Sie meinen Plan zur Prüfung.

Nach dem Tode des alten Hamlet werden die erst eroberten Norweger
unruhig. Der dortige Statthalter schickt seinen Sohn Horatio, einen
alten Schulfreund Hamlets, der aber an Tapferkeit und Lebensklugheit
allen andern vorgelaufen ist, nach Dänemark, auf die Ausrüstung der
Flotte zu dringen, welche unter dem neuen, der Schwelgerei ergebenen
König nur saumselig vonstatten geht. Horatio kennt den alten König,
denn er hat seinen letzten Schlachten beigewohnt, hat bei ihm in
Gunsten gestanden, und die erste Geisterszene wird dadurch nicht
verlieren. Der neue König gibt sodann dem Horatio Audienz und schickt
den Laertes nach Norwegen mit der Nachricht, daß die Flotte bald
anlanden werde, indes Horatio den Auftrag erhält, die Rüstung
derselben zu beschleunigen; dagegen will die Mutter nicht einwilligen,
daß Hamlet, wie er wünschte, mit Horatio zur See gehe."

"Gott sei Dank!" rief Serlo, "so werden wir auch Wittenberg und die
hohe Schule los, die mir immer ein leidiger Anstoß war. Ich finde
Ihren Gedanken recht gut: denn außer den zwei einzigen fernen Bildern,
Norwegen und der Flotte, braucht der Zuschauer sich nichts zu denken;
das übrige sieht er alles, das übrige geht alles vor, anstatt daß
sonst seine Einbildungskraft in der ganzen Welt herumgejagt würde."

"Sie sehen leicht", versetzte Wilhelm, "wie ich nunmehr auch das
übrige zusammenhalten kann. Wenn Hamlet dem Horatio die Missetat
seines Stiefvaters entdeckt, so rät ihm dieser, mit nach Norwegen zu
gehen, sich der Armee zu versichern und mit gewaffneter Hand
zurückzukehren. Da Hamlet dem König und der Königin zu gefährlich
wird, haben sie kein näheres Mittel, ihn loszuwerden, als ihn nach der
Flotte zu schicken und ihm Rosenkranz und Güldenstern zu Beobachtern
mitzugeben; und da indes Laertes zurückkommt, soll dieser bis zum
Meuchelmord erhitzte Jüngling ihm nachgeschickt werden. Die Flotte
bleibt wegen ungünstigen Windes liegen; Hamlet kehrt nochmals zurück,
seine Wanderung über den Kirchhof kann vielleicht glücklich motiviert
werden; sein Zusammentreffen mit Laertes in Opheliens Grabe ist ein
großer, unentbehrlicher Moment. Hierauf mag der König bedenken, daß
es besser sei, Hamlet auf der Stelle loszuwerden; das Fest der Abreise,
der scheinbaren Versöhnung mit Laertes wird nun feierlich begangen,
wobei man Ritterspiele hält und auch Hamlet und Laertes fechten. Ohne
die vier Leichen kann ich das Stück nicht schließen; es darf niemand
übrigbleiben. Hamlet gibt, da nun das Wahlrecht des Volks wieder
eintritt, seine Stimme sterbend dem Horatio."

"Nur geschwind", versetzte Serlo, "setzen Sie sich hin und arbeiten
das Stück aus; die Idee hat völlig meinen Beifall; nur daß die Lust
nicht verraucht."




V. Buch, 5. Kapitel




Fünftes Kapitel

Wilhelm hatte sich schon lange mit einer übersetzung "Hamlets"
abgegeben; er hatte sich dabei der geistvollen Wielandschen Arbeit
bedient, durch die er überhaupt Shakespearen zuerst kennenlernte. Was
in derselben ausgelassen war, fügte er hinzu, und so war er im Besitz
eines vollständigen Exemplars in dem Augenblicke, da er mit Serlo über
die Behandlung so ziemlich einig geworden war. Er fing nun an, nach
seinem Plane auszuheben und einzuschieben, zu trennen und zu verbinden,
zu verändern und oft wiederherzustellen; denn so zufrieden er auch
mit seiner Idee war, so schien ihm doch bei der Ausführung immer, daß
das Original nur verdorben werde.

Sobald er fertig war, las er es Serlo und der übrigen Gesellschaft vor.
Sie bezeugten sich sehr zufrieden damit; besonders machte Serlo
manche günstige Bemerkung.

"Sie haben", sagte er unter anderm, "sehr richtig empfunden, daß
äußere Umstände dieses Stück begleiten, aber einfacher sein müssen,
als sie uns der große Dichter gegeben hat. Was außer dem Theater
vorgeht, was der Zuschauer nicht sieht, was er sich vorstellen muß,
ist wie ein Hintergrund, vor dem die spielenden Figuren sich bewegen.
Die große, einfache Aussicht auf die Flotte und Norwegen wird dem
Stücke sehr gut tun; nähme man sie ganz weg, so ist es nur eine
Familienszene, und der große Begriff, daß hier ein ganzes königliches
Haus durch innere Verbrechen und Ungeschicklichkeiten zugrunde geht,
wird nicht in seiner ganzen Würde dargestellt. Bliebe aber jener
Hintergrund selbst mannigfaltig, beweglich, konfus: so täte er dem
Eindrucke der Figuren Schaden."

Wilhelm nahm nun wieder die Partie Shakespeares und zeigte, daß er für
Insulaner geschrieben habe, für Engländer, die selbst im Hintergrunde
nur Schiffe und Seereisen, die Küste von Frankreich und Kaper zu sehen
gewohnt sind, und daß, was jenen etwas ganz Gewöhnliches sei, uns
schon zerstreue und verwirre.

Serlo mußte nachgeben, und beide stimmten darin überein, daß, da das
Stück nun einmal auf das deutsche Theater solle, dieser ernstere,
einfachere Hintergrund für unsre Vorstellungsart am besten passen
werde.

Die Rollen hatte man schon früher ausgeteilt; den Polonius übernahm
Serlo; Aurelie Ophelien; Laertes war durch seinen Namen schon
bezeichnet; ein junger, untersetzter, muntrer, neuangekommener
Jüngling erhielt die Rolle des Horatio; nur wegen des Königs und des
Geistes war man in einiger Verlegenheit. Für beide Rollen war nur der
alte Polterer da. Serlo schlug den Pedanten zum Könige vor; wogegen
Wilhelm aber aufs äußerste protestierte. Man konnte sich nicht
entschließen.

Ferner hatte Wilhelm in seinem Stücke die beiden Rollen von Rosenkranz
und Güldenstern stehenlassen. "Warum haben Sie diese nicht in eine
verbunden?" fragte Serlo, "diese Abbreviatur ist doch so leicht
gemacht."

"Gott bewahre mich vor solchen Verkürzungen, die zugleich Sinn und
Wirkung aufheben!" versetzte Wilhelm. "Das, was diese beiden Menschen
sind und tun, kann nicht durch einen vorgestellt werden. In solchen
Kleinigkeiten zeigt sich Shakespeares Größe. Dieses leise Auftreten,
dieses Schmiegen und Biegen, dies Jasagen, Streicheln und Schmeicheln,
diese Behendigkeit, dies Schwänzeln, diese Allheit und Leerheit, diese
rechtliche Schurkerei, diese Unfähigkeit, wie kann sie durch einen
Menschen ausgedrückt werden? Es sollten ihrer wenigstens ein Dutzend
sein, wenn man sie haben könnte; denn sie sind bloß in Gesellschaft
etwas, sie sind die Gesellschaft, und Shakespeare war sehr bescheiden
und weise, daß er nur zwei solche Repräsentanten auftreten ließ.
überdies brauche ich sie in meiner Bearbeitung als ein Paar, das mit
dem einen, guten, trefflichen Horatio kontrastiert."

"Ich verstehe Sie", sagte Serlo, "und wir können uns helfen. Den
einen geben wir Elmiren (so nannte man die älteste Tochter des
Polterers); es kann nicht schaden, wenn sie gut aussehen, und ich will
die Puppen putzen und dressieren, daß es eine Lust sein soll."

Philine freute sich außerordentlich, daß sie die Herzogin in der
kleinen Komödie spielen sollte. "Das will ich so natürlich machen",
rief sie aus, "wie man in der Geschwindigkeit einen zweiten heiratet,
nachdem man den ersten ganz außerordentlich geliebt hat. Ich hoffe
mir den größten Beifall zu erwerben, und jeder Mann soll wünschen, der
dritte zu werden."

Aurelie machte ein verdrießliches Gesicht bei diesen äußerungen; ihr
Widerwille gegen Philinen nahm mit jedem Tage zu.

"Es ist recht schade", sagte Serlo, "daß wir kein Ballett haben; sonst
sollten Sie mir mit Ihrem ersten und zweiten Manne ein Pas de deux
tanzen, und der Alte sollte nach dem Takt einschlafen, und Ihre
Füßchen und Wädchen würden sich dort hinten auf dem Kindertheater ganz
allerliebst ausnehmen."

"Von meinen Wädchen wissen Sie ja wohl nicht viel", versetzte sie
schnippisch, "und was meine Füßchen betrifft", rief sie, indem sie
schnell unter den Tisch reichte, ihre Pantöffelchen heraufholte und
nebeneinander vor Serlo hinstellte: "hier sind die Stelzchen, und ich
gebe Ihnen auf, niedlichere zu finden."

"Es war Ernst!" sagte er, als er die zierlichen Halbschuhe betrachtete.
Gewiß, man konnte nicht leicht etwas Artigers sehen.

Sie waren Pariser Arbeit; Philine hatte sie von der Gräfin zum
Geschenk erhalten, einer Dame, deren schöner Fuß berühmt war.

"Ein reizender Gegenstand!" rief Serlo, "das Herz hüpft mir, wenn ich
sie ansehe."

"Welche Verzuckungen!" sagte Philine.

"Es geht nichts über ein Paar Pantöffelchen von so feiner, schöner
Arbeit", rief Serlo; "doch ist ihr Klang noch reizender als ihr
Anblick." Er hub sie auf und ließ sie einigemal hintereinander
wechselsweise auf den Tisch fallen.

"Was soll das heißen? Nur wieder her damit!" rief Philine.

"Darf ich sagen", versetzte er mit verstellter Bescheidenheit und
schalkhaftem Ernst, "wir andern Junggesellen, die wir nachts meist
allein sind und uns doch wie andre Menschen fürchten und im Dunkeln
uns nach Gesellschaft sehnen, besonders in Wirtshäusern und fremden
Orten, wo es nicht ganz geheuer ist, wir finden es gar tröstlich, wenn
ein gutherziges Kind uns Gesellschaft und Beistand leisten will. Es
ist Nacht, man liegt im Bette, es raschelt, man schaudert, die Türe
tut sich auf, man erkennt ein liebes, pisperndes Stimmchen, es
schleicht was herbei, die Vorhänge rauschen, klipp! klapp! die
Pantoffeln fallen, und husch! man ist nicht mehr allein. Ach der
liebe, der einzige Klang, wenn die Absätzchen auf den Boden
aufschlagen! Je zierlicher sie sind, je feiner klingt's. Man spreche
mir von Philomelen, von rauschenden Bächen, vom Säuseln der Winde und
von allem, was je georgelt und gepfiffen worden ist, ich halte mich an
das Klipp! Klapp!--Klipp! Klapp! ist das schönste Thema zu einem
Rondeau, das man immer wieder von vorne zu hören wünscht."

Philine nahm ihm die Pantoffeln aus den Händen und sagte: "Wie ich sie
krummgetreten habe! Sie sind mir viel zu weit." Dann spielte sie
damit und rieb die Sohlen gegeneinander. "Was das heiß wird!" rief
sie aus, indem sie die eine Sohle flach an die Wange hielt, dann
wieder rieb und sie gegen Serlo hinreichte. Er war gutmütig genug,
nach der Wärme zu fühlen, und "Klipp! Klapp!" rief sie, indem sie ihm
einen derben Schlag mit dem Absatz versetzte, daß er schreiend die
Hand zurückzog. "Ich will euch lehren, bei meinen Pantoffeln was
anders denken!" sagte Philine lachend.

"Und ich will dich lehren, alte Leute wie Kinder anführen!" rief Serlo
dagegen, sprang auf, faßte sie mit Heftigkeit und raubte ihr manchen
Kuß, deren jeden sie sich mit ernstlichem Widerstreben gar künstlich
abzwingen ließ. über dem Balgen fielen ihre langen Haare herunter und
wickelten sich um die Gruppe, der Stuhl schlug an den Boden, und
Aurelie, die von diesem Unwesen innerlich beleidigt war, stand mit
Verdruß auf.




V. Buch, 6. Kapitel




Sechstes Kapitel

Obgleich bei der neuen Bearbeitung "Hamlets" manche Personen
weggefallen waren, so blieb die Anzahl derselben doch immer noch groß
genug, und fast wollte die Gesellschaft nicht hinreichen.

"Wenn das so fortgeht", sagte Serlo, "wird unser Souffleur auch noch
aus dem Loche hervorsteigen müssen, unter uns wandeln und zur Person
werden."

"Schon oft habe ich ihn an seiner Stelle bewundert", versetzte Wilhelm.


"Ich glaube nicht, daß es einen vollkommenern Einhelfer gibt", sagte
Serlo. "Kein Zuschauer wird ihn jemals hören; wir auf dem Theater
verstehen jede Silbe. Er hat sich gleichsam ein eigen Organ dazu
gemacht und ist wie ein Genius, der uns in der Not vernehmlich
zulispelt. Er fühlt, welchen Teil seiner Rolle der Schauspieler
vollkommen innehat, und ahnet von weitem, wenn ihn das Gedächtnis
verlassen will. In einigen Fällen, da ich die Rolle kaum überlesen
konnte, da er sie mir Wort vor Wort vorsagte, spielte ich sie mit
Glück; nur hat er Sonderbarkeiten, die jeden andern unbrauchbar machen
würden: er nimmt so herzlichen Anteil an den Stücken, daß er
pathetische Stellen nicht eben deklamiert, aber doch affektvoll
rezitiert. Mit dieser Unart hat er mich mehr als einmal irregemacht."

"So wie er mich", sagte Aurelie, "mit einer andern Sonderbarkeit einst
an einer sehr gefährlichen Stelle steckenließ."

"Wie war das bei seiner Aufmerksamkeit möglich?" fragte Wilhelm.

"Er wird", versetzte Aurelie, "bei gewissen Stellen so gerührt, daß er
heiße Tränen weint und einige Augenblicke ganz aus der Fassung kommt;
und es sind eigentlich nicht die sogenannten rührenden Stellen, die
ihn in diesen Zustand versetzen; es sind, wenn ich mich deutlich
ausdrücke, die schönen Stellen, aus welchen der reine Geist des
Dichters gleichsam aus hellen, offenen Augen hervorsieht, Stellen, bei
denen wir andern uns nur höchstens freuen und worüber viele Tausende
wegsehen."

"Und warum erscheint er mit dieser zarten Seele nicht auf dem
Theater?"

"Ein heiseres Organ und ein steifes Betragen schließen ihn von der
Bühne und seine hypochondrische Natur von der Gesellschaft aus",
versetzte Serlo. "Wieviel Mühe habe ich mir gegeben, ihn an mich zu
gewöhnen! aber vergebens. Er liest vortrefflich, wie ich nicht wieder
habe lesen hören; niemand hält wie er die zarte Grenzlinie zwischen
Deklamation und affektvoller Rezitation."

"Gefunden!" rief Wilhelm, "gefunden! Welch eine glückliche Entdeckung!
Nun haben wir den Schauspieler, der uns die Stelle vom rauhen
Pyrrhus rezitieren soll."

"Man muß so viel Leidenschaft haben wie Sie", versetzte Serlo, "um
alles zu seinem Endzwecke zu nutzen."

"Gewiß, ich war in der größten Sorge", rief Wilhelm, "daß vielleicht
diese Stelle wegbleiben müßte, und das ganze Stück würde dadurch
gelähmt werden."

"Das kann ich doch nicht einsehen", versetzte Aurelie.

"Ich hoffe, Sie werden bald meiner Meinung sein", sagte Wilhelm.
"Shakespeare führt die ankommenden Schauspieler zu einem doppelten
Endzweck herein. Erst macht der Mann, der den Tod des Priamus mit so
viel eigner Rührung deklamiert, tiefen Eindruck auf den Prinzen selbst;
er schärft das Gewissen des jungen, schwankenden Mannes: und so wird
diese Szene das Präludium zu jener, in welcher das kleine Schauspiel
so große Wirkung auf den König tut. Hamlet fühlt sich durch den
Schauspieler beschämt, der an fremden, an fingierten Leiden so großen
Teil nimmt; und der Gedanke, auf ebendie Weise einen Versuch auf das
Gewissen seines Stiefvaters zu machen, wird dadurch bei ihm sogleich
erregt. Welch ein herrlicher Monolog ist's, der den zweiten Akt
schließt! Wie freue ich mich darauf, ihn zu rezitieren:

"Oh! welch ein Schurke, welch ein niedriger Sklave bin ich!--Ist es
nicht ungeheuer, daß dieser Schauspieler hier, nur durch Erdichtung,
durch einen Traum von Leidenschaft seine Seele so nach seinem Willen
zwingt, daß ihre Wirkung sein ganzes Gesicht entfärbt:--Tränen im Auge!
Verwirrung im Betragen! Gebrochene Stimme! Sein ganzes Wesen von
einem Gefühl durchdrungen! und das alles um nichts--um Hekuba!--Was
ist Hekuba für ihn oder er für Hekuba, daß er um sie weinen sollte?""

"Wenn wir nur unsern Mann auf das Theater bringen können!" sagte
Aurelie.

"Wir müssen", versetzte Serlo, "ihn nach und nach hineinführen. Bei
den Proben mag er die Stelle lesen, und wir sagen, daß wir einen
Schauspieler, der sie spielen soll, erwarten, und so sehen wir, wie
wir ihm näherkommen."

Nachdem sie darüber einig waren, wendete sich das Gespräch auf den
Geist. Wilhelm konnte sich nicht entschließen, die Rolle des lebenden
Königs dem Pedanten zu überlassen, damit der Polterer den Geist
spielen könne, und meinte vielmehr, daß man noch einige Zeit warten
sollte, indem sich doch noch einige Schauspieler gemeldet hätten und
sich unter ihnen der rechte Mann finden könnte.

Man kann sich daher denken, wie verwundert Wilhelm war, als er unter
der Adresse seines Theaternamens abends folgendes Billett mit
wunderbaren Zügen versiegelt auf seinem Tische fand:

"Du bist, o sonderbarer Jüngling, wir wissen es, in großer
Verlegenheit. Du findest kaum Menschen zu deinem "Hamlet", geschweige
Geister. Dein Eifer verdient ein Wunder; Wunder können wir nicht tun,
aber etwas Wunderbares soll geschehen. Hast du Vertrauen, so soll zur
rechten Stunde der Geist erscheinen! Habe Mut und bleibe gefaßt! Es
bedarf keiner Antwort; dein Entschluß wird uns bekannt werden."

Mit diesem seltsamen Blatte eilte er zu Serlo zurück, der es las und
wieder las und endlich mit bedenklicher Miene versicherte: die Sache
sei von Wichtigkeit; man müsse wohl überlegen, ob man es wagen dürfe
und könne. Sie sprachen vieles hin und wider; Aurelie war still und
lächelte von Zeit zu Zeit, und als nach einigen Tagen wieder davon die
Rede war, gab sie nicht undeutlich zu verstehen, daß sie es für einen
Scherz von Serlo halte. Sie bat Wilhelmen, völlig außer Sorge zu sein
und den Geist geduldig zu erwarten.

überhaupt war Serlo von dem besten Humor; denn die abgehenden
Schauspieler gaben sich alle mögliche Mühe, gut zu spielen, damit man
sie ja recht vermissen sollte, und von der Neugierde auf die neue
Gesellschaft konnte er auch die beste Einnahme erwarten.

Sogar hatte der Umgang Wilhelms auf ihn einigen Einfluß gehabt. Er
fing an, mehr über Kunst zu sprechen, denn er war am Ende doch ein
Deutscher, und diese Nation gibt sich gern Rechenschaft von dem, was
sie tut. Wilhelm schrieb sich manche solche Unterredung auf; und wir
werden, da die Erzählung hier nicht so oft unterbrochen werden darf,
denjenigen unsrer Leser, die sich dafür interessieren, solche
dramaturgische Versuche bei einer andern Gelegenheit vorlegen.

Besonders war Serlo eines Abends sehr lustig, als er von der Rolle des
Polonius sprach, wie er sie zu fassen gedachte. "Ich verspreche",
sagte er, "diesmal einen recht würdigen Mann zum besten zu geben; ich
werde die gehörige Ruhe und Sicherheit, Leerheit und Bedeutsamkeit,
Annehmlichkeit und geschmackloses Wesen, Freiheit und Aufpassen,
treuherzige Schalkheit und erlogene Wahrheit da, wo sie hingehören,
recht zierlich aufstellen. Ich will einen solchen grauen, redlichen,
ausdauernden, der Zeit dienenden Halbschelm aufs allerhöflichste
vorstellen und vortragen, und dazu sollen mir die etwas rohen und
groben Pinselstriche unsers Autors gute Dienste leisten. Ich will
reden wie ein Buch, wenn ich mich vorbereitet habe, und wie ein Tor,
wenn ich bei guter Laune bin. Ich werde abgeschmackt sein, um jedem
nach dem Maule zu reden, und immer so fein, es nicht zu merken, wenn
mich die Leute zum besten haben. Nicht leicht habe ich eine Rolle mit
solcher Lust und Schalkheit übernommen."

"Wenn ich nur auch von der meinigen soviel hoffen könnte", sagte
Aurelie. "Ich habe weder Jugend noch Weichheit genug, um mich in
diesen Charakter zu finden. Nur eins weiß ich leider: das Gefühl, das
Ophelien den Kopf verrückt, wird mich nicht verlassen."

"Wir wollen es ja nicht so genau nehmen", sagte Wilhelm; "denn
eigentlich hat mein Wunsch, den Hamlet zu spielen, mich bei allem
Studium des Stücks aufs äußerste irregeführt. Je mehr ich mich in die
Rolle studiere, desto mehr sehe ich, daß in meiner ganzen Gestalt kein
Zug der Physiognomie ist, wie Shakespeare seinen Hamlet aufstellt.
Wenn ich es recht überlege, wie genau in der Rolle alles zusammenhängt,
so getraue ich mir kaum, eine leidliche Wirkung hervorzubringen."

"Sie treten mit großer Gewissenhaftigkeit in Ihre Laufbahn", versetzte
Serlo. "Der Schauspieler schickt sich in die Rolle, wie er kann, und
die Rolle richtet sich nach ihm, wie sie muß. Wie hat aber
Shakespeare seinen Hamlet vorgezeichnet? Ist er Ihnen denn so ganz
unähnlich?"

"Zuvörderst ist Hamlet blond", erwiderte Wilhelm.

"Das heiß ich weit gesucht", sagte Aurelie. "Woher schließen Sie
das?"

"Als Däne, als Nordländer ist er blond von Hause aus und hat blaue
Augen."

"Sollte Shakespeare daran gedacht haben?"

"Bestimmt find ich es nicht ausgedrückt, aber in Verbindung mit andern
Stellen scheint es mir unwidersprechlich. Ihm wird das Fechten sauer,
der Schweiß läuft ihm vom Gesichte, und die Königin spricht: "Er ist
fett, laßt ihn zu Atem kommen." Kann man sich ihn da anders als blond
und wohlbehäglich vorstellen? Denn braune Leute sind in ihrer Jugend
selten in diesem Falle. Paßt nicht auch seine schwankende Melancholie,
seine weiche Trauer, seine tätige Unentschlossenheit besser zu einer
solchen Gestalt, als wenn Sie sich einen schlanken, braunlockigen
Jüngling denken, von dem man mehr Entschlossenheit und Behendigkeit
erwartet?"

"Sie verderben mir die Imagination", rief Aurelie, "weg mit Ihrem
fetten Hamlet! Stellen Sie uns ja nicht Ihren wohlbeleibten Prinzen
vor! Geben Sie uns lieber irgendein Quiproquo, das uns reizt, das uns
rührt. Die Intention des Autors liegt uns nicht so nahe als unser
Vergnügen, und wir verlangen einen Reiz, der uns homogen ist."




V. Buch, 7. Kapitel




Siebentes Kapitel

Einen Abend stritt die Gesellschaft, ob der Roman oder das Drama den
Vorzug verdiene. Serlo versicherte, es sei ein vergeblicher,
mißverstandener Streit; beide könnten in ihrer Art vortrefflich sein,
nur müßten sie sich in den Grenzen ihrer Gattung halten.

"Ich bin selbst noch nicht ganz im klaren darüber", versetzte Wilhelm.

"Wer ist es auch?" sagte Serlo, "und doch wäre es der Mühe wert, daß
man der Sache näherkäme."

Sie sprachen viel herüber und hinüber, und endlich war folgendes
ungefähr das Resultat ihrer Unterhaltung:

Im Roman wie im Drama sehen wir menschliche Natur und Handlung. Der
Unterschied beider Dichtungsarten liegt nicht bloß in der äußern Form,
nicht darin, daß die Personen in dem einen sprechen und daß in dem
andern gewöhnlich von ihnen erzählt wird. Leider viele Dramen sind
nur dialogierte Romane, und es wäre nicht unmöglich, ein Drama in
Briefen zu schreiben.

Im Roman sollen vorzüglich Gesinnungen und Begebenheiten vorgestellt
werden; im Drama Charaktere und Taten. Der Roman muß langsam gehen,
und die Gesinnungen der Hauptfigur müssen, es sei auf welche Weise es
wolle, das Vordringen des Ganzen zur Entwickelung aufhalten. Das
Drama soll eilen, und der Charakter der Hauptfigur muß sich nach dem
Ende drängen und nur aufgehalten werden. Der Romanheld muß leidend,
wenigstens nicht im hohen Grade wirkend sein; von dem dramatischen
verlangt man Wirkung und Tat. Grandison, Clarisse, Pamela, der
Landpriester von Wakefield, Tom Jones selbst sind, wo nicht leidende,
doch retardierende Personen, und alle Begebenheiten werden
gewissermaßen nach ihren Gesinnungen gemodelt. Im Drama modelt der
Held nichts nach sich, alles widersteht ihm, und er räumt und rückt
die Hindernisse aus dem Wege oder unterliegt ihnen.

So vereinigte man sich auch darüber, daß man dem Zufall im Roman gar
wohl sein Spiel erlauben könne; daß er aber immer durch die
Gesinnungen der Personen gelenkt und geleitet werden müsse; daß
hingegen das Schicksal, das die Menschen ohne ihr Zutun durch
unzusammenhängende äußere Umstände zu einer unvorgesehenen Katastrophe
hindrängt, nur im Drama statthabe; daß der Zufall wohl pathetische,
niemals aber tragische Situationen hervorbringen dürfe; das Schicksal
hingegen müsse immer fürchterlich sein und werde im höchsten Sinne
tragisch, wenn es schuldige und unschuldige, voneinander unabhängige
Taten in eine unglückliche Verknüpfung bringt.

Diese Betrachtungen führten wieder auf den wunderlichen "Hamlet" und
auf die Eigenheiten dieses Stücks. Der Held, sagte man, hat
eigentlich auch nur Gesinnungen; es sind nur Begebenheiten, die zu ihm
stoßen, und deswegen hat das Stück etwas von dem Gedehnten des Romans;
weil aber das Schicksal den Plan gezeichnet hat, weil das Stück von
einer fürchterlichen Tat ausgeht und der Held immer vorwärts zu einer
fürchterlichen Tat gedrängt wird, so ist es im höchsten Sinne tragisch
und leidet keinen andern als einen tragischen Ausgang.

Nun sollte Leseprobe gehalten werden, welche Wilhelm eigentlich als
ein Fest ansah. Er hatte die Rollen vorher kollationiert, daß also
von dieser Seite kein Anstoß sein konnte. Die sämtlichen Schauspieler
waren mit dem Stücke bekannt, und er suchte sie nur, ehe sie anfingen,
von der Wichtigkeit einer Leseprobe zu überzeugen. Wie man von jedem
Musikus verlange, daß er bis auf einen gewissen Grad vom Blatte
spielen könne, so solle auch jeder Schauspieler, ja jeder wohlerzogene
Mensch sich üben, vom Blatte zu lesen, einem Drama, einem Gedicht,
einer Erzählung sogleich ihren Charakter abzugewinnen und sie mit
Fertigkeit vorzutragen. Alles Memorieren helfe nichts, wenn der
Schauspieler nicht vorher in den Geist und Sinn des guten
Schriftstellers eingedrungen sei; der Buchstabe könne nichts wirken.

Serlo versicherte, daß er jeder andern Probe, ja der Hauptprobe
nachsehen wolle, sobald der Leseprobe ihr Recht widerfahren sei: "Denn
gewöhnlich", sagte er, "ist nichts lustiger, als wenn Schauspieler von
Studieren sprechen; es kommt mir ebenso vor, als wenn die Freimäurer
von Arbeiten reden."

Die Probe lief nach Wunsch ab, und man kann sagen, daß der Ruhm und
die gute Einnahme der Gesellschaft sich auf diese wenigen
wohlangewandten Stunden gründete.

"Sie haben wohlgetan, mein Freund", sagte Serlo, nachdem sie wieder
allein waren, "daß Sie unsern Mitarbeitern so ernstlich zusprachen,
wenn ich gleich fürchte, daß sie Ihre Wünsche schwerlich erfüllen
werden."

"Wieso?" versetzte Wilhelm.

"Ich habe gefunden", sagte Serlo, "daß, so leicht man der Menschen
Imagination in Bewegung setzen kann, so gern sie sich Märchen erzählen
lassen, ebenso selten ist es, eine Art von produktiver Imagination bei
ihnen zu finden. Bei den Schauspielern ist dieses sehr auffallend.
Jeder ist sehr wohl zufrieden, eine schöne, lobenswürdige, brillante
Rolle zu übernehmen; selten aber tut einer mehr, als sich mit
Selbstgefälligkeit an die Stelle des Helden setzen, ohne sich im
mindesten zu bekümmern, ob ihn auch jemand dafür halten werde. Aber
mit Lebhaftigkeit zu umfassen, was sich der Autor beim Stück gedacht
hat, was man von seiner Individualität hingeben müsse, um einer Rolle
genugzutun, wie man durch eigene überzeugung, man sei ein ganz anderer
Mensch, den Zuschauer gleichfalls zur überzeugung hinreiße, wie man
durch eine innere Wahrheit der Darstellungskraft diese Bretter in
Tempel, diese Pappen in Wälder verwandelt, ist wenigen gegeben. Diese
innere Stärke des Geistes, wodurch ganz allein der Zuschauer getäuscht
wird, diese erlogene Wahrheit, die ganz allein Wirkung hervorbringt,
wodurch ganz allein die Illusion erzielt wird, wer hat davon einen
Begriff?

Lassen Sie uns daher ja nicht zu sehr auf Geist und Empfindung dringen!
Das sicherste Mittel ist, wenn wir unsern Freunden mit Gelassenheit
zuerst den Sinn des Buchstabens erklären und ihnen den Verstand
eröffnen. Wer Anlage hat, eilt alsdann selbst dem geistreichen und
empfindungsvollen Ausdrucke entgegen; und wer sie nicht hat, wird
wenigstens niemals ganz falsch spielen und rezitieren. Ich habe aber
bei Schauspielern, so wie überhaupt, keine schlimmere Anmaßung
gefunden, als wenn jemand Ansprüche an Geist macht, solange ihm der
Buchstabe noch nicht deutlich und geläufig ist."




V. Buch, 8. Kapitel




Achtes Kapitel

Wilhelm kam zur ersten Theaterprobe sehr zeitig und fand sich auf den
Brettern allein. Das Lokal überraschte ihn und gab ihm die
wunderbarsten Erinnerungen. Die Wald- und Dorfdekoration stand genau
so wie auf der Bühne seiner Vaterstadt auch bei einer Probe, als ihm
an jenem Morgen Mariane lebhaft ihre Liebe bekannte und ihm die erste
glückliche Nacht zusagte. Die Bauernhäuser glichen sich auf dem
Theater wie auf dem Lande; die wahre Morgensonne beschien, durch einen
halb offenen Fensterladen hereinfallend, einen Teil der Bank, die
neben der Türe schlecht befestigt war; nur leider schien sie nicht wie
damals auf Marianens Schoß und Busen. Er setzte sich nieder, dachte
dieser wunderbaren übereinstimmung nach und glaubte zu ahnen, daß er
sie vielleicht auf diesem Platze bald wiedersehen werde. Ach, und es
war weiter nichts, als daß ein Nachspiel, zu welchem diese Dekoration
gehörte, damals auf dem deutschen Theater sehr oft gegeben wurde.

In diesen Betrachtungen störten ihn die übrigen ankommenden
Schauspieler, mit denen zugleich zwei Theater- und Garderobenfreunde
hereintreten und Wilhelmen mit Enthusiasmus begrüßten. Der eine war
gewissermaßen an Madame Melina attachiert; der andere aber ein ganz
reiner Freund der Schauspielkunst und beide von der Art, wie sich jede
gute Gesellschaft Freunde wünschen sollte. Man wußte nicht zu sagen,
ob sie das Theater mehr kannten oder liebten. Sie liebten es zu sehr,
um es recht zu kennen; sie kannten es genug, um das Gute zu schätzen
und das Schlechte zu verbannen. Aber bei ihrer Neigung war ihnen das
Mittelmäßige nicht unerträglich, und der herrliche Genuß, mit dem sie
das Gute vor und nach kosteten, war über allen Ausdruck. Das
Mechanische machte ihnen Freude, das Geistige entzückte sie, und ihre
Neigung war so groß, daß auch eine zerstückelte Probe sie in eine Art
von Illusion versetzte. Die Mängel schienen ihnen jederzeit in die
Ferne zu treten, das Gute berührte sie wie ein naher Gegenstand. Kurz,
sie waren Liebhaber, wie sie sich der Künstler in seinem Fache
wünscht. Ihre liebste Wanderung war von den Kulissen ins Parterre,
vom Parterre in die Kulissen, ihr angenehmster Aufenthalt in der
Garderobe, ihre emsigste Beschäftigung, an der Stellung, Kleidung,
Rezitation und Deklamation der Schauspieler etwas zuzustutzen, ihr
lebhaftestes Gespräch über den Effekt, den man hervorgebracht hatte,
und ihre beständigste Bemühung, den Schauspieler aufmerksam, tätig und
genau zu erhalten, ihm etwas zugute oder zuliebe zu tun und ohne
Verschwendung der Gesellschaft manchen Genuß zu verschaffen. Sie
hatten sich beide das ausschließliche Recht verschafft, bei Proben und
Aufführungen auf dem Theater zu erscheinen. Sie waren, was die
Aufführung "Hamlets" betraf, mit Wilhelmen nicht bei allen Stellen
einig; hie und da gab er nach, meistens aber behauptete er seine
Meinung, und im ganzen diente diese Unterhaltung sehr zur Bildung
seines Geschmacks. Er ließ die beiden Freunde sehen, wie sehr er sie
schätze, und sie dagegen weissagten nichts weniger von diesen
vereinten Bemühungen als eine neue Epoche fürs deutsche Theater.

Die Gegenwart dieser beiden Männer war bei den Proben sehr nützlich.
Besonders überzeugten sie unsre Schauspieler, daß man bei der Probe
Stellung und Aktion, wie man sie bei der Aufführung zu zeigen gedenke,
immerfort mit der Rede verbinden und alles zusammen durch Gewohnheit
mechanisch vereinigen müsse. Besonders mit den Händen solle man ja
bei der Probe einer Tragödie keine gemeine Bewegung vornehmen; ein
tragischer Schauspieler, der in der Probe Tabak schnupft, mache sie
immer bange: denn höchstwahrscheinlich werde er an einer solchen
Stelle bei der Aufführung die Prise vermissen. Ja sie hielten dafür,
daß niemand in Stiefeln probieren solle, wenn die Rolle in Schuhen zu
spielen sei. Nichts aber, versicherten sie, schmerze sie mehr, als
wenn die Frauenzimmer in den Proben ihre Hände in die Rockfalten
versteckten.

Außerdem ward durch das Zureden dieser Männer noch etwas sehr Gutes
bewirkt, daß nämlich alle Mannspersonen exerzieren lernten. "Da so
viele Militärrollen vorkommen", sagten sie, "sieht nichts betrübter
aus, als Menschen, die nicht die mindeste Dressur zeigen, in
Hauptmanns- und Majorsuniform auf dem Theater herumschwanken zu sehen."

Wilhelm und Laertes waren die ersten, die sich der Pädagogik eines
Unteroffiziers unterwarfen, und setzten dabei ihre Fechtübungen mit
großer Anstrengung fort.

So viel Mühe gaben sich beide Männer mit der Ausbildung einer
Gesellschaft, die sich so glücklich zusammengefunden hatte. Sie
sorgten für die künftige Zufriedenheit des Publikums, indes sich
dieses über ihre entschiedene Liebhaberei gelegentlich aufhielt. Man
wußte nicht, wieviel Ursache man hatte, ihnen dankbar zu sein,
besonders da sie nicht versäumten, den Schauspielern oft den
Hauptpunkt einzuschärfen, daß es nämlich ihre Pflicht sei, laut und
vernehmlich zu sprechen. Sie fanden hierbei mehr Widerstand und
Unwillen, als sie anfangs gedacht hatten. Die meisten wollten so
gehört sein, wie sie sprachen, und wenige bemühten sich, so zu
sprechen, daß man sie hören könnte. Einige schoben den Fehler aufs
Gebäude, andere sagten, man könne doch nicht schreien, wenn man
natürlich, heimlich oder zärtlich zu sprechen habe.

Unsre Theaterfreunde, die eine unsägliche Geduld hatten, suchten auf
alle Weise diese Verwirrung zu lösen, diesem Eigensinne beizukommen.
Sie sparten weder Gründe noch Schmeicheleien und erreichten zuletzt
doch ihren Endzweck, wobei ihnen das gute Beispiel Wilhelms besonders
zustatten kam. Er bat sich aus, daß sie sich bei den Proben in die
entferntesten Ecken setzen und, sobald sie ihn nicht vollkommen
verstanden, mit dem Schlüssel auf die Bank pochen möchten. Er
artikulierte gut, sprach gemäßigt aus, steigerte den Ton stufenweise
und überschrie sich nicht in den heftigsten Stellen. Die pochenden
Schlüssel hörte man bei jeder Probe weniger; nach und nach ließen sich
die andern dieselbe Operation gefallen, und man konnte hoffen, daß das
Stück endlich in allen Winkeln des Hauses von jedermann würde
verstanden werden.

Man sieht aus diesem Beispiel, wie gern die Menschen ihren Zweck nur
auf ihre eigene Weise erreichen möchten, wieviel Not man hat, ihnen
begreiflich zu machen, was sich eigentlich von selbst versteht, und
wie schwer es ist, denjenigen, der etwas zu leisten wünscht, zur
Erkenntnis der ersten Bedingungen zu bringen, unter denen sein
Vorhaben allein möglich wird.




V. Buch, 9. Kapitel




Neuntes Kapitel

Man fuhr nun fort, die nötigen Anstalten zu Dekorationen und Kleidern,
und was sonst erforderlich war, zu machen. über einige Szenen und
Stellen hatte Wilhelm besondere Grillen, denen Serlo nachgab, teils in
Rücksicht auf den Kontrakt, teils aus überzeugung und weil er hoffte,
Wilhelmen durch diese Gefälligkeit zu gewinnen und in der Folge desto
mehr nach seinen Absichten zu lenken.

So sollte zum Beispiel König und Königin bei der ersten Audienz auf
dem Throne sitzend erscheinen, die Hofleute an den Seiten und Hamlet
unbedeutend unter ihnen stehen. "Hamlet", sagte er, "muß sich ruhig
verhalten; seine schwarze Kleidung unterscheidet ihn schon genug. Er
muß sich eher verbergen als zum Vorschein kommen. Nur dann, wenn die
Audienz geendigt ist, wenn der König mit ihm als Sohn spricht, dann
mag er herbeitreten und die Szene ihren Gang gehen."

Noch eine Hauptschwierigkeit machten die beiden Gemälde, auf die sich
Hamlet in der Szene mit seiner Mutter so heftig bezieht. "Mir sollen",
sagte Wilhelm, "in Lebensgröße beide im Grunde des Zimmers neben der
Haupttüre sichtbar sein, und zwar muß der alte König in völliger
Rüstung, wie der Geist, auf ebender Seite hängen, wo dieser
hervortritt. Ich wünsche, daß die Figur mit der rechten Hand eine
befehlende Stellung annehme, etwas gewandt sei und gleichsam über die
Schulter sehe, damit sie dem Geiste völlig gleiche in dem Augenblicke,
da dieser zur Türe hinausgeht. Es wird eine sehr große Wirkung tun,
wenn in diesem Augenblick Hamlet nach dem Geiste und die Königin nach
dem Bilde sieht. Der Stiefvater mag dann im königlichen Ornat, doch
unscheinbarer als jener, vorgestellt werden."

So gab es noch verschiedene Punkte, von denen wir zu sprechen
vielleicht Gelegenheit haben.

"Sind Sie auch unerbittlich, daß Hamlet am Ende sterben muß?" fragte
Serlo.

"Wie kann ich ihn am Leben erhalten", sagte Wilhelm, "da ihn das ganze
Stück zu Tode drückt? Wir haben ja schon so weitläufig darüber
gesprochen."

"Aber das Publikum wünscht ihn lebendig.'

"Ich will ihm gern jeden andern Gefallen tun, nur diesmal ist's
unmöglich. Wir wünschen auch, daß ein braver, nützlicher Mann, der an
einer chronischen Krankheit stirbt, noch länger leben möge. Die
Familie weint und beschwört den Arzt, der ihn nicht halten kann: und
sowenig als dieser einer Naturnotwendigkeit zu widerstehen vermag,
sowenig können wir einer anerkannten Kunstnotwendigkeit gebieten. Es
ist eine falsche Nachgiebigkeit gegen die Menge, wenn man ihnen die
Empfindungen erregt, die sie haben wollen, und nicht, die sie haben
sollen."

"Wer das Geld bringt, kann die Ware nach seinem Sinne verlangen."

"Gewissermaßen; aber ein großes Publikum verdient, daß man es achte,
daß man es nicht wie Kinder, denen man das Geld abnehmen will,
behandle. Man bringe ihm nach und nach durch das Gute Gefühl und
Geschmack für das Gute bei, und es wird sein Geld mit doppeltem
Vergnügen einlegen, weil ihm der Verstand, ja die Vernunft selbst bei
dieser Ausgabe nichts vorzuwerfen hat. Man kann ihm schmeicheln wie
einem geliebten Kinde, schmeicheln, um es zu bessern, um es künftig
aufzuklären; nicht wie einem Vornehmen und Reichen, um den Irrtum, den
man nutzt, zu verewigen."

So handelten sie noch manches ab, das sich besonders auf die Frage
bezog: was man noch etwa an dem Stücke verändern dürfe und was
unberührt bleiben müsse. Wir lassen uns hierauf nicht weiter ein,
sondern legen vielleicht künftig die neue Bearbeitung "Hamlets" selbst
demjenigen Teile unsrer Leser vor, der sich etwa dafür interessieren
könnte.




V. Buch, 10. Kapitel




Zehntes Kapitel

Die Hauptprobe war vorbei; sie hatte übermäßig lange gedauert. Serlo
und Wilhelm fanden noch manches zu besorgen: denn ungeachtet der
vielen Zeit, die man zur Vorbereitung verwendet hatte, waren doch sehr
notwendige Anstalten bis auf den letzten Augenblick verschoben worden.

So waren zum Beispiel die Gemälde der beiden Könige noch nicht fertig,
und die Szene zwischen Hamlet und seiner Mutter, von der man einen so
großen Effekt hoffte, sah noch sehr mager aus, indem weder der Geist
noch sein gemaltes Ebenbild dabei gegenwärtig war. Serlo scherzte bei
dieser Gelegenheit und sagte: "Wir wären doch im Grunde recht übel
angeführt, wenn der Geist ausbliebe, die Wache wirklich mit der Luft
fechten und unser Souffleur aus der Kulisse den Vortrag des Geistes
supplieren müßte."

"Wir wollen den wunderbaren Freund nicht durch unsern Unglauben
verscheuchen", versetzte Wilhelm; "er kommt gewiß zur rechten Zeit und
wird uns so gut als die Zuschauer überraschen."

"Gewiß", rief Serlo, "ich werde froh sein, wenn das Stück morgen
gegeben ist: es macht uns mehr Umstände, als ich geglaubt habe."

"Aber niemand in der Welt wird froher sein als ich, wenn das Stück
morgen gespielt ist", versetzte Philine, "sowenig mich meine Rolle
drückt. Denn immer und ewig von einer Sache reden zu hören, wobei
doch nichts weiter herauskommt als eine Repräsentation, die, wie so
viele hundert andere, vergessen werden wird, dazu will meine Geduld
nicht hinreichen. Macht doch in Gottes Namen nicht soviel Umstände!
Die Gäste, die vom Tische aufstehen, haben nachher an jedem Gerichte
was auszusetzen; ja wenn man sie zu Hause reden hört, so ist es ihnen
kaum begreiflich, wie sie eine solche Not haben ausstehen können."

"Lassen Sie mich Ihr Gleichnis zu meinem Vorteile brauchen, schönes
Kind", versetzte Wilhelm. "Bedenken Sie, was Natur und Kunst, was
Handel, Gewerke und Gewerbe zusammen schaffen müssen, bis ein Gastmahl
gegeben werden kann. Wieviel Jahre muß der Hirsch im Walde, der Fisch
im Fluß oder Meere zubringen, bis er unsre Tafel zu besetzen würdig
ist, und was hat die Hausfrau, die Köchin nicht alles in der Küche zu
tun! Mit welcher Nachlässigkeit schlürft man die Sorge des
entferntesten Winzers, des Schiffers, des Kellermeisters beim
Nachtische hinunter, als müsse es nur so sein. Und sollten deswegen
alle diese Menschen nicht arbeiten, nicht schaffen und bereiten,
sollte der Hausherr das alles nicht sorgfältig zusammenbringen und
zusammenhalten, weil am Ende der Genuß nur vorübergehend ist? Aber
kein Genuß ist vorübergehend: denn der Eindruck, den er zurückläßt,
ist bleibend, und was man mit Fleiß und Anstrengung tut, teilt dem
Zuschauer selbst eine verborgene Kraft mit, von der man nicht wissen
kann, wie weit sie wirkt."

"Mir ist alles einerlei", versetzte Philine, "nur muß ich auch diesmal
erfahren, daß Männer immer im Widerspruch mit sich selbst sind. Bei
all eurer Gewissenhaftigkeit, den großen Autor nicht verstümmeln zu
wollen, laßt ihr doch den schönsten Gedanken aus dem Stücke."

"Den schönsten?" rief Wilhelm.

"Gewiß den schönsten, auf den sich Hamlet selbst was zugute tut."

"Und der wäre?" rief Serlo.

"Wenn Sie eine Perücke aufhätten", versetzte Philine, "würde ich sie
Ihnen ganz säuberlich abnehmen: denn es scheint nötig, daß man Ihnen
das Verständnis eröffne."

Die andern dachten nach, und die Unterhaltung stockte. Man war
aufgestanden, es war schon spät, man schien auseinandergehen zu wollen.
Als man so unentschlossen dastand, fing Philine ein Liedchen, auf
eine sehr zierliche und gefällige Melodie, zu singen an:


Singet nicht in Trauertönen
Von der Einsamkeit der Nacht;
Nein, sie ist, o holde Schönen,
Zur Geselligkeit gemacht.


Wie das Weib dem Mann gegeben
Als die schönste Hälfte war,
Ist die Nacht das halbe Leben,
Und die schönste Hälfte zwar.


Könnt ihr euch des Tages freuen,
Der nur Freuden unterbricht?
Er ist gut, sich zu zerstreuen;
Zu was anderm taugt er nicht.


Aber wenn in nächt'ger Stunde
Süßer Lampe Dämmrung fließt
Und vom Mund zum nahen Munde
Scherz und Liebe sich ergießt;


Wenn der rasche, lose Knabe,
Der sonst wild und feurig eilt,
Oft bei einer kleinen Gabe
Unter leichten Spielen weilt;


Wenn die Nachtigall Verliebten
Liebevoll ein Liedchen singt,
Das Gefangnen und Betrübten
Nur wie Ach und Wehe klingt:


Mit wie leichtem Herzensregen
Horchet ihr der Glocke nicht,
Die mit zwölf bedächt'gen Schlägen
Ruh und Sicherheit verspricht!


Darum an dem langen Tage
Merke dir es, liebe Brust:
Jeder Tag hat seine Plage,
Und die Nacht hat ihre Lust.



Sie machte eine leichte Verbeugung, als sie geendigt hatte, und Serlo
rief ihr ein lautes Bravo zu. Sie sprang zur Tür hinaus und eilte mit
Gelächter fort. Man hörte sie die Treppe hinunter singen und mit den
Absätzen klappern.

Serlo ging in das Seitenzimmer, und Aurelie blieb vor Wilhelmen, der
ihr eine gute Nacht wünschte, noch einige Augenblicke stehen und sagte.


"Wie sie mir zuwider ist! recht meinem innern Wesen zuwider! bis auf
die kleinsten Zufälligkeiten. Die rechte braune Augenwimper bei den
blonden Haaren, die der Bruder so reizend findet, mag ich gar nicht
ansehn, und die Schramme auf der Stirne hat mir so was Widriges, so
was Niedriges, daß ich immer zehn Schritte von ihr zurücktreten möchte.
Sie erzählte neulich als einen Scherz, ihr Vater habe ihr in ihrer
Kindheit einen Teller an den Kopf geworfen, davon sie noch das Zeichen
trage. Wohl ist sie recht an Augen und Stirne gezeichnet, daß man
sich vor ihr hüten möge."

Wilhelm antwortete nichts, und Aurelie schien mit mehr Unwillen
fortzufahren:

"Es ist mir beinahe unmöglich, ein freundliches, höfliches Wort mit
ihr zu reden, so sehr hasse ich sie, und doch ist sie so anschmiegend.
Ich wollte, wir wären sie los. Auch Sie, mein Freund, haben eine
gewisse Gefälligkeit gegen dieses Geschöpf, ein Betragen, das mich in
der Seele kränkt, eine Aufmerksamkeit, die an Achtung grenzt und die
sie, bei Gott, nicht verdiente"

"Wie sie ist, bin ich ihr Dank schuldig", versetzte Wilhelm; "ihre
Aufführung ist zu tadeln; ihrem Charakter muß ich Gerechtigkeit
widerfahren lassen."

"Charakter!" rief Aurelie, "glauben Sie, daß so eine Kreatur einen
Charakter hat? O ihr Männer, daran erkenne ich euch! Solcher Frauen
seid ihr wert!"

"Sollten Sie mich in Verdacht haben, meine Freundin?" versetzte
Wilhelm. "Ich will von jeder Minute Rechenschaft geben, die ich mit
ihr zugebracht habe."

"Nun, nun", sagte Aurelie, "es ist spät, wir wollen nicht streiten.
Alle wie einer, einer wie alle! Gute Nacht, mein Freund! gute Nacht,
mein feiner Paradiesvogel!"

Wilhelm fragte, wie er zu diesem Ehrentitel komme.

"Ein andermal", versetzte Aurelie, "ein andermal. Man sagt, sie
hätten keine Füße, sie schwebten in der Luft und nährten sich vom
äther. Es ist aber ein Märchen", fuhr sie fort, "eine poetische
Fiktion. Gute Nacht, laßt Euch was Schönes träumen, wenn Ihr Glück
habt."

Sie ging in ihr Zimmer und ließ ihn allein; er eilte auf das seinige.

Halb unwillig ging er auf und nieder. Der scherzende, aber
entschiedne Ton Aureliens hatte ihn beleidigt: er fühlte tief, wie
unrecht sie ihm tat. Philine konnte er nicht widrig, nicht unhold
begegnen; sie hatte nichts gegen ihn verbrochen, und dann fühlte er
sich so fern von jeder Neigung zu ihr, daß er recht stolz und
standhaft vor sich selbst bestehen konnte.

Eben war er im Begriffe, sich auszuziehen, nach seinem Lager zu gehen
und die Vorhänge aufzuschlagen, als er zu seiner größten Verwunderung
ein Paar Frauenpantoffeln vor dem Bett erblickte; der eine stand, der
andere lag.--Es waren Philinens Pantoffeln, die er nur zu gut erkannte;
er glaubte auch eine Unordnung an den Vorhängen zu sehen, ja es
schien, als bewegten sie sich; er stand und sah mit unverwandten Augen
hin.

Eine neue Gemütsbewegung, die er für Verdruß hielt, versetzte ihm den
Atem; und nach einer kurzen Pause, in der er sich erholt hatte, rief
er gefaßt:

"Stehen Sie auf, Philine! Was soll das heißen? Wo ist Ihre Klugheit,
Ihr gutes Betragen? Sollen wir morgen das Märchen des Hauses werden?"

Es rührte sich nichts.

"Ich scherze nicht", fuhr er fort, "diese Neckereien sind bei mir übel
angewandt."

Kein Laut! Keine Bewegung!

Entschlossen und unmutig ging er endlich auf das Bette zu und riß die
Vorhänge voneinander. "Stehen Sie auf", sagte er, "wenn ich Ihnen
nicht das Zimmer diese Nacht überlassen soll."

Mit großem Erstaunen fand er sein Bette leer, die Kissen und Decken in
schönsten Ruhe. Er sah sich um, suchte nach, suchte alles durch und
fand keine Spur von dem Schalk. Hinter dem Bette, dem Ofen, den
Schränken war nichts zu sehen; er suchte emsiger und emsiger; ja ein
boshafter Zuschauer hätte glauben mögen, er suche, um zu finden.

Kein Schlaf stellte sich ein; er setzte die Pantoffeln auf seinen
Tisch, ging auf und nieder, blieb manchmal bei dem Tische stehen, und
ein schelmischer Genius, der ihn belauschte, will versichern: er habe
sich einen großen Teil der Nacht mit den allerliebsten Stelzchen
beschäftigt; er habe sie mit einem gewissen Interesse angesehen,
behandelt, damit gespielt und sich erst gegen Morgen in seinen
Kleidern aufs Bette geworfen, wo er unter den seltsamsten Phantasien
einschlummerte.

Und wirklich schlief er noch, als Serlo hereintrat und rief "Wo sind
Sie? Noch im Bette? Unmöglich! Ich suchte Sie auf dem Theater, wo
noch so mancherlei zu tun ist."




V. Buch, 11. Kapitel




Eilftes Kapitel

Vor- und Nachmittag verflossen eilig. Das Haus war schon voll, und
Wilhelm eilte, sich anzuziehen. Nicht mit der Behaglichkeit, mit der
er die Maske zum erstenmal anprobierte, konnte er sie gegenwärtig
anlegen; er zog sich an, um fertig zu werden. Als er zu den Frauen
ins Versammlungszimmer kam, beriefen sie ihn einstimmig, daß nichts
recht sitze; der schöne Federbusch sei verschoben, die Schnalle passe
nicht; man fing wieder an, aufzutrennen, zu nähen, zusammenzustecken.
Die Symphonie ging an, Philine hatte etwas gegen die Krause
einzuwenden, Aurelie viel an dem Mantel auszusetzen. "Laßt mich, ihr
Kinder!" rief er, "diese Nachlässigkeit wird mich erst recht zum
Hamlet machen." Die Frauen ließen ihn nicht los und fuhren fort zu
putzen. Die Symphonie hatte aufgehört, und das Stück war angegangen.
Er besah sich im Spiegel, drückte den Hut tiefer ins Gesicht und
erneuerte die Schminke.

In diesem Augenblick stürzte jemand herein und rief: "Der Geist! der
Geist!"

Wilhelm hatte den ganzen Tag nicht Zeit gehabt, an die Hauptsorge zu
denken, ob der Geist auch kommen werde. Nun war sie ganz weggenommen,
und man hatte die wunderlichste Gastrolle zu erwarten. Der
Theatermeister kam und fragte über dieses und jenes; Wilhelm hatte
nicht Zeit, sich nach dem Gespenst umzusehen, und eilte nur, sich am
Throne einzufinden, wo König und Königin schon von ihrem Hofe umgeben
in aller Herrlichkeit glänzten; er hörte nur noch die letzten Worte
des Horatio, der über die Erscheinung des Geistes ganz verwirrt sprach
und fast seine Rolle vergessen zu haben schien.

Der Zwischenvorhang ging in die Höhe, und er sah das volle Haus vor
sich. Nachdem Horatio seine Rede gehalten und vom Könige abgefertigt
war, drängte er sich an Hamlet, und als ob er sich ihm, dem Prinzen,
präsentiere, sagte er: "Der Teufel steckt in dem Harnische! Er hat
uns alle in Furcht gejagt."

In der Zwischenzeit sah man nur zwei große Männer in weißen Mänteln
und Kapuzen in den Kulissen stehen, und Wilhelm, dem in der
Zerstreuung, Unruhe und Verlegenheit der erste Monolog, wie er glaubte,
mißglückt war, trat, ob ihn gleich ein lebhafter Beifall beim Abgehen
begleitete, in der schauerlichen dramatischen Winternacht wirklich
recht unbehaglich auf. Doch nahm er sich zusammen und sprach die so
zweckmäßig angebrachte Stelle über das Schmausen und Trinken der
Nordländer mit der gehörigen Gleichgültigkeit, vergaß, so wie die
Zuschauer, darüber des Geistes und erschrak wirklich, als Horatio
ausrief: "Seht her, es kommt!" Er fuhr mit Heftigkeit herum, und die
edle, große Gestalt, der leise, unhörbare Tritt, die leichte Bewegung
in der schwer scheinenden Rüstung machten einen so starken Eindruck
auf ihn, daß er wie versteinert dastand und nur mit halber Stimme:
"Ihr Engel und himmlischen Geister, beschützt uns!" ausrufen konnte.
Er starrte ihn an, holte einigemal Atem und brachte die Anrede an den
Geist so verwirrt, zerstückt und gezwungen vor, daß die größte Kunst
sie nicht so trefflich hätte ausdrücken können.

Seine übersetzung dieser Stelle kam ihm sehr zustatten. Er hatte sich
nahe an das Original gehalten, dessen Wortstellung ihm die Verfassung
eines überraschten, erschreckten, von Entsetzen ergriffenen Gemüts
einzig auszudrücken schien.

"Sei du ein guter Geist, sei ein verdammter Kobold, bringe Düfte des
Himmels mit dir oder Dämpfe der Hölle, sei Gutes oder Böses dein
Beginnen, du kommst in einer so würdigen Gestalt, ja ich rede mit dir,
ich nenne dich Hamlet, König, Vater, o antworte mir!"-Man spürte im
Publiko die größte Wirkung. Der Geist winkte, der Prinz folgte ihm
unter dem lautesten Beifall.

Das Theater verwandelte sich, und als sie auf den entfernten Platz
kamen, hielt der Geist unvermutet inne und wandte sich um; dadurch kam
ihm Hamlet etwas zu nahe zu stehen. Mit Verlangen und Neugierde sah
Wilhelm sogleich zwischen das niedergelassene Visier hinein, konnte
aber nur tiefliegende Augen neben einer wohlgebildeten Nase erblicken.
Furchtsam ausspähend stand er vor ihm; allein als die ersten Töne aus
dem Helme hervordrangen, als eine wohlklingende, nur ein wenig rauhe
Stimme sich in den Worten hören ließ: "Ich bin der Geist deines
Vaters", trat Wilhelm einige Schritte schaudernd zurück, und das ganze
Publikum schauderte. Die Stimme schien jedermann bekannt, und Wilhelm
glaubte eine ähnlichkeit mit der Stimme seines Vaters zu bemerken.
Diese wunderbaren Empfindungen und Erinnerungen, die Neugierde, den
seltsamen Freund zu entdecken, und die Sorge, ihn zu beleidigen,
selbst die Unschicklichkeit, ihm als Schauspieler in dieser Situation
zu nahe zu treten, bewegten Wilhelmen nach entgegengesetzten Seiten.
Er veränderte während der langen Erzählung des Geistes seine Stellung
so oft, schien so unbestimmt und verlegen, so aufmerksam und so
zerstreut, daß sein Spiel eine allgemeine Bewunderung so wie der Geist
ein allgemeines Entsetzen erregte. Dieser sprach mehr mit einem
tiefen Gefühl des Verdrusses als des Jammers, aber eines geistigen,
langsamen und unübersehlichen Verdrusses. Es war der Mißmut einer
großen Seele, die von allem Irdischen getrennt ist und doch
unendlichen Leiden unterliegt. Zuletzt versank der Geist, aber auf
eine sonderbare Art: denn ein leichter, grauer, durchsichtiger Flor,
der wie ein Dampf aus der Versenkung zu steigen schien, legte sich
über ihn weg und zog sich mit ihm hinunter.

Nun kamen Hamlets Freunde zurück und schwuren auf das Schwert. Da war
der alte Maulwurf so geschäftig unter der Erde, daß er ihnen, wo sie
auch stehen mochten, immer unter den Füßen rief: "Schwört!" und sie,
als ob der Boden unter ihnen brennte, schnell von einem Ort zum andern
eilten. Auch erschien da, wo sie standen, jedesmal eine kleine Flamme
aus dem Boden, vermehrte die Wirkung und hinterließ bei allen
Zuschauern den tiefsten Eindruck.

Nun ging das Stück unaufhaltsam seinen Gang fort, nichts mißglückte,
alles geriet; das Publikum bezeigte seine Zufriedenheit; die Lust und
der Mut der Schauspieler schien mit jeder Szene zuzunehmen.




V. Buch, 12. Kapitel




Zwölftes Kapitel

Der Vorhang fiel, und der lebhafteste Beifall erscholl aus allen Ecken
und Enden. Die vier fürstlichen Leichen sprangen behend in die Höhe
und umarmten sich vor Freuden. Polonius und Ophelia kamen auch aus
ihren Gräbern hervor und hörten noch mit lebhaftem Vergnügen, wie
Horatio, als er zum Ankündigen heraustrat, auf das heftigste
beklatscht wurde. Man wollte ihn zu keiner Anzeige eines andern
Stücks lassen, sondern begehrte mit Ungestüm die Wiederholung des
heutigen.

"Nun haben wir gewonnen", rief Serlo, "aber auch heute abend kein
vernünftig Wort mehr! Alles kommt auf den ersten Eindruck an. Man
soll ja keinem Schauspieler übelnehmen, wenn er bei seinen Debüts
vorsichtig und eigensinnig ist."

Der Kassier kam und überreichte ihm eine schwere Kasse. "Wir haben
gut debütiert", rief er aus, "und das Vorurteil wird uns zustatten
kommen. Wo ist denn nun das versprochene Abendessen? Wir dürfen es
uns heute schmecken lassen."

Sie hatten ausgemacht, daß sie in ihren Theaterkleidern beisammen
bleiben und sich selbst ein Fest feiern wollten. Wilhelm hatte
unternommen, das Lokal, und Madame Melina, das Essen zu besorgen.

Ein Zimmer, worin man sonst zu malen pflegte, war aufs beste gesäubert,
mit allerlei kleinen Dekorationen umstellt und so herausgeputzt
worden, daß es halb einem Garten, halb einem Säulengange ähnlich sah.
Beim Hereintreten wurde die Gesellschaft von dem Glanz vieler Lichter
geblendet, die einen feierlichen Schein durch den Dampf des süßesten
Räucherwerks, das man nicht gespart hatte, über eine wohl geschmückte
und bestellte Tafel verbreiteten. Mit Ausrufungen tobte man die
Anstalten und nahm wirklich mit Anstand Platz; es schien, als wenn
eine königliche Familie im Geisterreiche zusammenkäme. Wilhelm saß
zwischen Aurelien und Madame Melina; Serlo zwischen Philinen und
Elmiren; niemand war mit sich selbst noch mit seinem Platze
unzufrieden.

Die beiden Theaterfreunde, die sich gleichfalls eingefunden hatten,
vermehrten das Glück der Gesellschaft. Sie waren einigemal während
der Vorstellung auf die Bühne gekommen und konnten nicht genug von
ihrer eignen und von des Publikums Zufriedenheit sprechen; nunmehr
ging's aber ans Besondere; jedes ward für seinen Teil reichlich
belohnt.

Mit einer unglaublichen Lebhaftigkeit ward ein Verdienst nach dem
andern, eine Stelle nach der andern herausgehoben. Dem Souffleur, der
bescheiden am Ende der Tafel saß, ward ein großes Lob über seinen
rauhen Pyrrhus; die Fechtübung Hamlets und Laertes' konnte man nicht
genug erheben; Opheliens Trauer war über allen Ausdruck schön und
erhaben; von Polonius' Spiel durfte man gar nicht sprechen; jeder
Gegenwärtige hörte sein Lob in dem andern und durch ihn.

Aber auch der abwesende Geist nahm seinen Teil Lob und Bewunderung
hinweg. Er hatte die Rolle mit einem sehr glücklichen Organ und in
einem großen Sinne gesprochen, und man wunderte sich am meisten, daß
er von allem, was bei der Gesellschaft vorgegangen war, unterrichtet
schien. Er glich völlig dem gemalten Bilde, als wenn er dem Künstler
gestanden hätte, und die Theaterfreunde konnten nicht genug rühmen,
wie schauerlich es ausgesehen habe, als er unfern von dem Gemälde
hervorgetreten und vor seinem Ebenbilde vorbeigeschritten sei.
Wahrheit und Irrtum habe sich dabei so sonderbar vermischt, und man
habe wirklich sich überzeugt, daß die Königin die eine Gestalt nicht
sehe. Madame Melina ward bei dieser Gelegenheit sehr gelobt, daß sie
bei dieser Stelle in die Höhe nach dem Bilde gestarrt, indes Hamlet
nieder auf den Geist gewiesen.

Man erkundigte sich, wie das Gespenst habe hereinschleichen können,
und erfuhr vom Theatermeister, daß zu einer hintern Türe, die sonst
immer mit Dekorationen verstellt sei, diesen Abend aber, weil man den
gotischen Saal gebraucht, frei geworden, zwei große Figuren in weißen
Mänteln und Kapuzen hereingekommen, die man voneinander nicht
unterscheiden können, und so seien sie nach geendigtem dritten Akt
wahrscheinlich auch wieder hinausgegangen.

Serlo lobte besonders an ihm, daß er nicht so schneidermäßig gejammert
und sogar am Ende eine Stelle, die einem so großen Helden besser zieme,
seinen Sohn zu befeuern, angebracht habe. Wilhelm hatte sie im
Gedächtnis behalten und versprach, sie ins Manuskript nachzutragen.

Man hatte in der Freude des Gastmahls nicht bemerkt, daß die Kinder
und der Harfenspieler fehlten; bald aber machten sie eine sehr
angenehme Erscheinung. Denn sie traten zusammen herein, sehr
abenteuerlich ausgeputzt; Felix schlug den Triangel, Mignon das
Tamburin, und der Alte hatte die schwere Harfe umgehangen und spielte
sie, indem er sie vor sich trug. Sie zogen um den Tisch und sangen
allerlei Lieder. Man gab ihnen zu essen, und die Gäste glaubten den
Kindern eine Wohltat zu erzeigen, wenn sie ihnen so viel süßen Wein
gäben, als sie nur trinken wollten; denn die Gesellschaft selbst hatte
die köstlichen Flaschen nicht geschont, welche diesen Abend als ein
Geschenk der Theaterfreunde in einigen Körben angekommen waren. Die
Kinder sprangen und sangen fort, und besonders war Mignon ausgelassen,
wie man sie niemals gesehen. Sie schlug das Tamburin mit aller
möglichen Zierlichkeit und Lebhaftigkeit, indem sie bald mit
druckendem Finger auf dem Felle schnell hin und her schnurrte, bald
mit dem Rücken der Hand, bald mit den Knöcheln daraufpochte, ja mit
abwechselnden Rhythmen das Pergament bald wider die Knie, bald wider
den Kopf schlug, bald schüttelnd die Schellen allein klingen ließ und
so aus dem einfachsten Instrumente gar verschiedene Töne hervorlockte.
Nachdem sie lange gelärmt hatten, setzten sie sich in einen
Lehnsessel, der gerade Wilhelmen gegenüber am Tische leer geblieben
war.

"Bleibt von dem Sessel weg!" rief Serlo, "er steht vermutlich für den
Geist da; wenn er kommt, kann's euch übel gehen."

"Ich fürchte ihn nicht", rief Mignon; "kommt er, so stehen wir auf.
Es ist mein Oheim, er tut mir nichts zuleide." Diese Rede verstand
niemand, als wer wußte, daß sie ihren vermeintlichen Vater den "Großen
Teufel" genannt hatte.

Die Gesellschaft sah einander an und ward noch mehr in dem Verdacht
bestärkt, daß Serlo um die Erscheinung des Geistes wisse. Man
schwatzte und trank, und die Mädchen sahen von Zeit zu Zeit furchtsam
nach der Türe.

Die Kinder, die, in dem großen Sessel sitzend, nur wie Pulcinellpuppen
aus dem Kasten über den Tisch hervorragten, fingen an, auf diese Weise
ein Stück aufzuführen. Mignon machte den schnurrenden Ton sehr artig
nach, und sie stießen zuletzt die Köpfe dergestalt zusammen und auf
die Tischkante, wie es eigentlich nur Holzpuppen aushalten können.
Mignon ward bis zur Wut lustig, und die Gesellschaft, sosehr sie
anfangs über den Scherz gelacht hatte, mußte zuletzt Einhalt tun.
Aber wenig half das Zureden, denn nun sprang sie auf und raste, die
Schellentrommel in der Hand, um den Tisch herum. Ihre Haare flogen,
und indem sie den Kopf zurück und alle ihre Glieder gleichsam in die
Luft warf, schien sie einer Mänade ähnlich, deren wilde und beinah
unmögliche Stellungen uns auf alten Monumenten noch oft in Erstaunen
setzen.

Durch das Talent der Kinder und ihren Lärm aufgereizt, suchte
jedermann zur Unterhaltung der Gesellschaft etwas beizutragen. Die
Frauenzimmer sangen einige Kanons, Laertes ließ eine Nachtigall hören,
und der Pedant gab ein Konzert pianissimo auf der Maultrommel.
Indessen spielten die Nachbarn und Nachbarinnen allerlei Spiele, wobei
sich die Hände begegnen und vermischen, und es fehlte manchem Paare
nicht am Ausdruck einer hoffnungsvollen Zärtlichkeit. Madame Melina
besonders schien eine lebhafte Neigung zu Wilhelmen nicht zu verhehlen.
Es war spät in der Nacht, und Aurelie, die fast allein noch
Herrschaft über sich behalten hatte, ermahnte die übrigen, indem sie
aufstand, auseinanderzugehen.

Serlo gab noch zum Abschied ein Feuerwerk, indem er mit dem Munde auf
eine fast unbegreifliche Weise den Ton der Raketen, Schwärmer und
Feuerräder nachzuahmen wußte. Man durfte die Augen nur zumachen, so
war die Täuschung vollkommen. Indessen war jedermann aufgestanden,
und man reichte den Frauenzimmern den Arm, sie nach Hause zu führen.
Wilhelm ging zuletzt mit Aurelien. Auf der Treppe begegnete ihnen der
Theatermeister und sagte: "Hier ist der Schleier, worin der Geist
verschwand. Er ist an der Versenkung hängengeblieben, und wir haben
ihn eben gefunden."--"Eine wunderbare Reliquie!" rief Wilhelm und nahm
ihn ab.

In dem Augenblicke fühlte er sich am linken Arme ergriffen und
zugleich einen sehr heftigen Schmerz. Mignon hatte sich versteckt
gehabt, hatte ihn angefaßt und ihn in den Arm gebissen. Sie fuhr an
ihm die Treppe hinunter und verschwand.

Als die Gesellschaft in die freie Luft kam, merkte fast jedes, daß man
für diesen Abend des Guten zuviel genossen hatte. Ohne Abschied zu
nehmen, verlor man sich auseinander.

Wilhelm hatte kaum seine Stube erreicht, als er seine Kleider abwarf
und nach ausgelöschtem Licht ins Bett eilte. Der Schlaf wollte
sogleich sich seiner bemeistern; allein ein Geräusch, das in seiner
Stube hinter dem Ofen zu entstehen schien, machte ihn aufmerksam.
Eben schwebte vor seiner erhitzten Phantasie das Bild des
geharnischten Königs; er richtete sich auf, das Gespenst anzureden,
als er sich von zarten Armen umschlungen, seinen Mund mit lebhaften
Küssen verschlossen und eine Brust an der seinigen fühlte, die er
wegzustoßen nicht Mut hatte.




V. Buch, 13. Kapitel




Dreizehntes Kapitel

Wilhelm fuhr des andern Morgens mit einer unbehaglichen Empfindung in
die Höhe und fand sein Bett leer. Von dem nicht völlig
ausgeschlafenen Rausche war ihm der Kopf düster, und die Erinnerung an
den unbekannten nächtlichen Besuch machte ihn unruhig. Sein erster
Verdacht fiel auf Philinen, und doch schien der liebliche Körper, den
er in seine Arme geschlossen hatte, nicht der ihrige gewesen zu sein.
Unter lebhaften Liebkosungen war unser Freund an der Seite dieses
seltsamen, stummen Besuches eingeschlafen, und nun war weiter keine
Spur mehr davon zu entdecken. Er sprang auf, und indem er sich anzog,
fand er seine Türe, die er sonst zu verriegeln pflegte, nur angelehnt
und wußte sich nicht zu erinnern, ob er sie gestern abend
zugeschlossen hatte.

Am wunderbarsten aber erschien ihm der Schleier des Geistes, den er
auf seinem Bette fand. Er hatte ihn mit heraufgebracht und
wahrscheinlich selbst dahin geworfen. Es war ein grauer Flor, an
dessen Saum er eine Schrift mit schwarzen Buchstaben gestickt sah. Er
entfaltete sie und las die Worte: "Zum ersten- und letztenmal! Flieh!
Jüngling, flieh!" Er war betroffen und wußte nicht, was er sagen
sollte.

In eben dem Augenblick trat Mignon herein und brachte ihm das
Frühstück. Wilhelm erstaunte über den Anblick des Kindes, ja man kann
sagen, er erschrak. Sie schien diese Nacht größer geworden zu sein;
sie trat mit einem hohen, edlen Anstand vor ihn hin und sah ihm sehr
ernsthaft in die Augen, so daß er den Blick nicht ertragen konnte.
Sie rührte ihn nicht an wie sonst, da sie gewöhnlich ihm die Hand
drückte, seine Wange, seinen Mund, seinen Arm oder seine Schulter
küßte, sondern ging, nachdem sie seine Sachen in Ordnung gebracht,
stillschweigend wieder fort.

Die Zeit einer angesetzten Leseprobe kam nun herbei; man versammelte
sich, und alle waren durch das gestrige Fest verstimmt. Wilhelm nahm
sich zusammen, so gut er konnte, um nicht gleich anfangs gegen seine
so lebhaft gepredigten Grundsätze zu verstoßen. Seine große übung
half ihm durch; denn übung und Gewohnheit müssen in jeder Kunst die
Lücken ausfüllen, welche Genie und Laune so oft lassen würden.

Eigentlich aber konnte man bei dieser Gelegenheit die Bemerkung recht
wahr finden, daß man keinen Zustand, der länger dauern, ja der
eigentlich ein Beruf, eine Lebensweise werden soll, mit einer
Feierlichkeit anfangen dürfe. Man feire nur, was glücklich vollendet
ist; alle Zeremonien zum Anfange erschöpfen Lust und Kräfte, die das
Streben hervorbringen und uns bei einer fortgesetzten Mühe beistehen
sollen. Unter allen Festen ist das Hochzeitfest das unschicklichste;
keines sollte mehr in Stille, Demut und Hoffnung begangen werden als
dieses.

So schlich der Tag nun weiter, und Wilhelmen war noch keiner jemals so
alltäglich vorgekommen. Statt der gewöhnlichen Unterhaltung abends
fing man zu gähnen an; das Interesse an "Hamlet" war erschöpft, und
man fand eher unbequem, daß er des folgenden Tages zum zweitenmal
vorgestellt werden sollte. Wilhelm zeigte den Schleier des Geistes
vor; man mußte daraus schließen, daß er nicht wiederkommen werde.
Serlo war besonders dieser Meinung; er schien mit den Ratschlägen der
wunderbaren Gestalt sehr vertraut zu sein; dagegen ließen sich aber
die Worte: "Flieh! Jüngling, flieh!" nicht erklären. Wie konnte
Serlo mit jemanden einstimmen, der den vorzüglichsten Schauspieler
seiner Gesellschaft zu entfernen die Absicht zu haben schien.

Notwendig war es nunmehr, die Rolle des Geistes dem Polterer und die
Rolle des Königs dem Pedanten zu geben. Beide erklärten, daß sie
schon einstudiert seien, und es war kein Wunder, denn bei den vielen
Proben und der weitläufigen Behandlung dieses Stücks waren alle so
damit bekannt geworden, daß sie sämtlich gar leicht mit den Rollen
hätten wechseln können. Doch probierte man einiges in der
Geschwindigkeit, und als man spät genug auseinanderging, flüsterte
Philine beim Abschiede Wilhelmen leise zu: "Ich muß meine Pantoffeln
holen; du schiebst doch den Riegel nicht vor?" Diese Worte setzten
ihn, als er auf seine Stube kam, in ziemliche Verlegenheit; denn die
Vermutung, daß der Gast der vorigen Nacht Philine gewesen, ward
dadurch bestärkt, und wir sind auch genötigt, uns zu dieser Meinung zu
schlagen, besonders da wir die Ursachen, welche ihn hierüber
zweifelhaft machten und ihm einen andern, sonderbaren Argwohn
einflößen mußten, nicht entdecken können. Er ging unruhig einigemal
in seinem Zimmer auf und ab und hatte wirklich den Riegel noch nicht
vorgeschoben.

Auf einmal stürzte Mignon in das Zimmer, faßte ihn an und rief:
"Meister! Rette das Haus! Es brennt!" Wilhelm sprang vor die Türe,
und ein gewaltiger Rauch drängte sich die obere Treppe herunter ihm
entgegen. Auf der Gasse hörte man schon das Feuergeschrei, und der
Harfenspieler kam, sein Instrument in der Hand, durch den Rauch
atemlos die Treppe herunter. Aurelie stürzte aus ihrem Zimmer und
warf den kleinen Felix in Wilhelms Arme.

"Retten Sie das Kind!" rief sie, "wir wollen nach dem übrigen greifen."

Wilhelm, der die Gefahr nicht für so groß hielt, gedachte zuerst nach
dem Ursprunge des Brandes hinzudringen, um ihn vielleicht noch im
Anfange zu ersticken. Er gab dem Alten das Kind und befahl ihm, die
steinerne Wendeltreppe hinunter, die durch ein kleines Gartengewölbe
in den Garten führte, zu eilen und mit den Kindern im Freien zu
bleiben. Mignon nahm ein Licht, ihm zu leuchten. Wilhelm bat darauf
Aurelien, ihre Sachen auf ebendiesem Wege zu retten. Er selbst drang
durch den Rauch hinauf; aber vergebens setzte er sich der Gefahr aus.
Die Flamme schien von dem benachbarten Hause herüberzudringen und
hatte schon das Holzwerk des Bodens und eine leichte Treppe gefaßt;
andre, die zur Rettung herbeieilten, litten wie er vom Qualm und Feuer.
Doch sprach er ihnen Mut ein und rief nach Wasser; er beschwor sie,
der Flamme nur Schritt vor Schritt zu weichen, und versprach, bei
ihnen zu bleiben. In diesem Augenblick sprang Mignon herauf und rief:
"Meister! Rette deinen Felix! Der Alte ist rasend! Der Alte bringt
ihn um!" Wilhelm sprang, ohne sich zu besinnen, die Treppe hinab, und
Mignon folgte ihm an den Fersen.

Auf den letzten Stufen, die ins Gartengewölbe führten, blieb er mit
Entsetzen stehen. Große Bündel Stroh und Reisholz, die man daselbst
aufgehäuft hatte, brannten mit heller Flamme; Felix lag am Boden und
schrie; der Alte stand mit niedergesenktem Haupte seitwärts an der
Wand. "Was machst du, Unglücklicher?" rief Wilhelm. Der Alte schwieg,
Mignon hatte den Felix aufgehoben und schleppte mit Mühe den Knaben
in den Garten, indes Wilhelm das Feuer auseinanderzuzerren und zu
dämpfen strebte, aber dadurch nur die Gewalt und Lebhaftigkeit der
Flamme vermehrte. Endlich mußte er mit verbrannten Augenwimpern und
Haaren auch in den Garten fliehen, indem er den Alten mit durch die
Flamme riß, der ihm mit versengtem Barte unwillig folgte.

Wilhelm eilte sogleich, die Kinder im Garten zu suchen. Auf der
Schwelle eines entfernten Lusthäuschens fand er sie, und Mignon tat
ihr möglichstes, den Kleinen zu beruhigen. Wilhelm nahm ihn auf den
Schoß, fragte ihn, befühlte ihn und konnte nichts Zusammenhängendes
aus beiden Kindern herausbringen.

Indessen hatte das Feuer gewaltsam mehrere Häuser ergriffen und
erhellte die ganze Gegend. Wilhelm besah das Kind beim roten Schein
der Flamme; er konnte keine Wunde, kein Blut, ja keine Beule
wahrnehmen. Er betastete es überall, es gab kein Zeichen von Schmerz
von sich, es beruhigte sich vielmehr nach und nach und fing an, sich
über die Flamme zu verwundern, ja sich über die schönen, der Ordnung
nach, wie eine Illumination, brennenden Sparren und Gebälke zu
erfreuen.

Wilhelm dachte nicht an die Kleider und was er sonst verloren haben
konnte; er fühlte stark, wie wert ihm diese beiden menschlichen
Geschöpfe seien, die er einer so großen Gefahr entronnen sah. Er
drückte den Kleinen mit einer ganz neuen Empfindung an sein Herz und
wollte auch Mignon mit freudiger Zärtlichkeit umarmen, die es aber
sanft ablehnte, ihn bei der Hand nahm und sie festhielt.

"Meister", sagte sie (noch niemals als diesen Abend hatte sie ihm
diesen Namen gegeben, denn anfangs pflegte sie ihn Herr und nachher
Vater zu nennen), "Meister! wir sind einer großen Gefahr entronnen:
dein Felix war am Tode."

Durch viele Fragen erfuhr endlich Wilhelm, daß der Harfenspieler, als
sie in das Gewölbe gekommen, ihr das Licht aus der Hand gerissen und
das Stroh sogleich angezündet habe. Darauf habe er den Felix
niedergesetzt, mit wunderlichen Gebärden die Hände auf des Kindes Kopf
gelegt und ein Messer gezogen, als wenn er ihn opfern wolle. Sie sei
zugesprungen und habe ihm das Messer aus der Hand gerissen; sie habe
geschrien, und einer vom Hause, der einige Sachen nach dem Garten zu
gerettet, sei ihr zu Hülfe gekommen, der müsse aber in der Verwirrung
wieder weggegangen sein und den Alten und das Kind allein gelassen
haben.

Zwei bis drei Häuser standen in vollen Flammen. In den Garten hatte
sich niemand retten können wegen des Brandes im Gartengewölbe.
Wilhelm war verlegen wegen seiner Freunde, weniger wegen seiner Sachen.
Er getraute sich nicht, die Kinder zu verlassen, und sah das Unglück
sich immer vergrößern.

Er brachte einige Stunden in einer bänglichen Lage zu. Felix war auf
seinem Schoße eingeschlafen, Mignon lag neben ihm und hielt seine Hand
fest. Endlich hatten die getroffenen Anstalten dem Feuer Einhalt
getan. Die ausgebrannten Gebäude stürzten zusammen, der Morgen kam
herbei, die Kinder fingen an zu frieren, und ihm selbst ward in seiner
leichten Kleidung der fallende Tau fast unerträglich. Er führte sie
zu den Trümmern des zusammengestürzten Gebäudes, und sie fanden neben
einem Kohlen- und Aschenhaufen eine sehr behagliche Wärme.

Der anbrechende Tag brachte nun alle Freunde und Bekannte nach und
nach zusammen. Jedermann hatte sich gerettet, niemand hatte viel
verloren.

Wilhelms Koffer fand sich auch wieder, und Serlo trieb, als es gegen
zehn Uhr ging, zur Probe von "Hamlet", wenigstens einiger Szenen, die
mit neuen Schauspielern besetzt waren. Er hatte darauf noch einige
Debatten mit der Polizei. Die Geistlichkeit verlangte: daß nach einem
solchen Strafgerichte Gottes das Schauspielhaus geschlossen bleiben
sollte, und Serlo behauptete: daß teils zum Ersatz dessen, was er
diese Nacht verloren, teils zur Aufheiterung der erschreckten Gemüter
die Aufführung eines interessanten Stückes mehr als jemals am Platz
sei. Diese letzte Meinung drang durch, und das Haus war gefüllt. Die
Schauspieler spielten mit seltenem Feuer und mit mehr
leidenschaftlicher Freiheit als das erstemal. Die Zuschauer, deren
Gefühl durch die schreckliche nächtliche Szene erhöht und durch die
Langeweile eines zerstreuten und verdorbenen Tages noch mehr auf eine
interessante Unterhaltung gespannt war, hatten mehr Empfänglichkeit
für das Außerordentliche. Der größte Teil waren neue, durch den Ruf
des Stücks herbeigezogene Zuschauer, die keine Vergleichung mit dem
ersten Abend anstellen konnten. Der Polterer spielte ganz im Sinne
des unbekannten Geistes, und der Pedant hatte seinem Vorgänger
gleichfalls gut aufgepaßt; daneben kam ihm seine Erbärmlichkeit sehr
zustatten, daß ihm Hamlet wirklich nicht unrecht tat, wenn er ihn,
trotz seines Purpurmantels und Hermelinkragens, einen
zusammengeflickten Lumpenkönig schalt.

Sonderbarer als er war vielleicht niemand zum Throne gelangt; und
obgleich die übrigen, besonders aber Philine, sich über seine neue
Würde äußerst lustig machten, so ließ er doch merken, daß der Graf,
als ein großer Kenner, das und noch viel mehr von ihm beim ersten
Anblick vorausgesagt habe; dagegen ermahnte ihn Philine zur Demut und
versicherte: sie werde ihm gelegentlich die Rockärmel pudern, damit er
sich jener unglücklichen Nacht im Schlosse erinnern und die Krone mit
Bescheidenheit tragen möge.




V. Buch, 14. Kapitel




Vierzehntes Kapitel

Man hatte sich in der Geschwindigkeit nach Quartieren umgesehen, und
die Gesellschaft war dadurch sehr zerstreut worden. Wilhelm hatte das
Lusthaus in dem Garten, bei dem er die Nacht zugebracht, liebgewonnen;
er erhielt leicht die Schlüssel dazu und richtete sich daselbst ein;
da aber Aurelie in ihrer neuen Wohnung sehr eng war, mußte er den
Felix bei sich behalten, und Mignon wollte den Knaben nicht verlassen.

Die Kinder hatten ein artiges Zimmer in dem ersten Stocke eingenommen,
Wilhelm hatte sich in dem untern Saale eingerichtet. Die Kinder
schliefen, aber er konnte keine Ruhe finden.

Neben dem anmutigen Garten, den der eben aufgegangene Vollmond
herrlich erleuchtete, standen die traurigen Ruinen, von denen hier und
da noch Dampf aufstieg; die Luft war angenehm und die Nacht
außerordentlich schön. Philine hatte beim Herausgehen aus dem Theater
ihn mit dem Ellenbogen angestrichen und ihm einige Worte zugelispelt,
die er aber nicht verstanden hatte. Er war verwirrt und verdrießlich
und wußte nicht, was er erwarten oder tun sollte. Philine hatte ihn
einige Tage gemieden und ihm nur diesen Abend wieder ein Zeichen
gegeben. Leider war nun die Türe verbrannt, die er nicht zuschließen
sollte, und die Pantöffelchen waren in Rauch aufgegangen. Wie die
Schöne in den Garten kommen wollte, wenn es ihre Absicht war, wußte er
nicht. Er wünschte sie nicht zu sehen, und doch hätte er sich gar zu
gern mit ihr erklären mögen.

Was ihm aber noch schwerer auf dem Herzen lag, war das Schicksal des
Harfenspielers, den man nicht wieder gesehen hatte. Wilhelm fürchtete,
man würde ihn beim Aufräumen tot unter dem Schutte finden. Wilhelm
hatte gegen jedermann den Verdacht verborgen, den er hegte, daß der
Alte schuld an dem Brande sei. Denn er kam ihm zuerst von dem
brennenden und rauchenden Boden entgegen, und die Verzweiflung im
Gartengewölbe schien die Folge eines solchen unglücklichen Ereignisses
zu sein. Doch war es bei der Untersuchung, welche die Polizei
sogleich anstellte, wahrscheinlich geworden, daß nicht in dem Hause,
wo sie wohnten, sondern in dem dritten davon der Brand entstanden sei,
der sich auch sogleich unter den Dächern weggeschlichen hatte.

Wilhelm überlegte das alles in einer Laube sitzend, als er in einem
nahen Gange jemanden schleichen hörte. An dem traurigen Gesange, der
sogleich angestimmt ward, erkannte er den Harfenspieler. Das Lied,
das er sehr wohl verstehen konnte, enthielt den Trost eines
Unglücklichen, der sich dem Wahnsinne ganz nahe fühlt. Leider hat
Wilhelm davon nur die letzte Strophe behalten.


An die Türen will ich schleichen,
Still und sittsam will ich stehn,
Fromme Hand wird Nahrung reichen,
Und ich werde weitergehn.
Jeder wird sich glücklich scheinen,
Wenn mein Bild vor ihm erscheint,
Eine Träne wird er weinen,
Und ich weiß nicht, was er weint.



Unter diesen Worten war er an die Gartentüre gekommen, die nach einer
entlegenen Straße ging; er wollte, da er sie verschlossen fand, an den
Spalieren übersteigen; allein Wilhelm hielt ihn zurück und redete ihn
freundlich an. Der Alte bat ihn, aufzuschließen, weil er fliehen
wolle und müsse. Wilhelm stellte ihm vor, daß er wohl aus dem Garten,
aber nicht aus der Stadt könne, und zeigte ihm, wie sehr er sich durch
einen solchen Schritt verdächtig mache; allein vergebens! Der Alte
bestand auf seinem Sinne. Wilhelm gab nicht nach und drängte ihn
endlich halb mit Gewalt ins Gartenhaus, schloß sich daselbst mit ihm
ein und führte ein wunderbares Gespräch mit ihm, das wir aber, um
unsere Leser nicht mit unzusammenhängenden Ideen und bänglichen
Empfindungen zu quälen, lieber verschweigen als ausführlich mitteilen.




V. Buch, 15. Kapitel




Funfzehntes Kapitel

Aus der großen Verlegenheit, worin sich Wilhelm befand, was er mit dem
unglücklichen Alten beginnen sollte, der so deutliche Spuren des
Wahnsinns zeigte, riß ihn Laertes noch am selbigen Morgen. Dieser,
der nach seiner alten Gewohnheit überall zu sein pflegte, hatte auf
dem Kaffeehaus einen Mann gesehen, der vor einiger Zeit die heftigsten
Anfälle von Melancholie erduldete. Man hatte ihn einem
Landgeistlichen anvertraut, der sich ein besonders Geschäft daraus
machte, dergleichen Leute zu behandeln. Auch diesmal war es ihm
gelungen; noch war er in der Stadt, und die Familie des
Wiederhergestellten erzeigte ihm große Ehre.

Wilhelm eilte sogleich, den Mann aufzusuchen, vertraute ihm den Fall
und ward mit ihm einig. Man wußte unter gewissen Vorwänden ihm den
Alten zu übergeben. Die Scheidung schmerzte Wilhelmen tief, und nur
die Hoffnung, ihn wiederhergestellt zu sehen, konnte sie ihm
einigermaßen erträglich machen, so sehr war er gewohnt, den Mann um
sich zu sehen und seine geistreichen und herzlichen Töne zu vernehmen.
Die Harfe war mit verbrannt; man suchte eine andere, die man ihm auf
die Reise mitgab.

Auch hatte das Feuer die kleine Garderobe Mignons verzehrt, und als
man ihr wieder etwas Neues schaffen wollte, tat Aurelie den Vorschlag,
daß man sie doch endlich als Mädchen kleiden solle.

"Nun gar nicht!" rief Mignon aus und bestand mit großer Lebhaftigkeit
auf ihrer alten Tracht, worin man ihr denn auch willfahren mußte.

Die Gesellschaft hatte nicht viel Zeit, sich zu besinnen; die
Vorstellungen gingen ihren Gang.

Wilhelm horchte oft ins Publikum, und nur selten kam ihm eine Stimme
entgegen, wie er sie zu hören wünschte, ja öfters vernahm er, was ihn
betrübte oder verdroß. So erzählte zum Beispiel gleich nach der
ersten Aufführung "Hamlets" ein junger Mensch mit großer Lebhaftigkeit,
wie zufrieden er an jenem Abend im Schauspielhause gewesen. Wilhelm
lauschte und hörte zu seiner großen Beschämung, daß der junge Mann zum
Verdruß seiner Hintermänner den Hut aufbehalten und ihn hartnäckig das
ganze Stück hindurch nicht abgetan hatte, welcher Heldentat er sich
mit dem größten Vergnügen erinnerte.

Ein anderer versicherte: Wilhelm habe die Rolle des Laertes sehr gut
gespielt; hingegen mit dem Schauspieler, der den Hamlet unternommen,
könne man nicht ebenso zufrieden sein. Diese Verwechslung war nicht
ganz unnatürlich, denn Wilhelm und Laertes glichen sich, wiewohl in
einem sehr entfernten Sinne.

Ein dritter lobte sein Spiel, besonders in der Szene mit der Mutter,
aufs lebhafteste und bedauerte nur: daß eben in diesem feurigen
Augenblick ein weißes Band unter der Weste hervorgesehen habe, wodurch
die Illusion äußerst gestört worden sei.

In dem Innern der Gesellschaft gingen indessen allerlei Veränderungen
vor. Philine hatte seit jenem Abend nach dem Brande Wilhelmen auch
nicht das geringste Zeichen einer Annäherung gegeben. Sie hatte, wie
es schien vorsätzlich, ein entfernteres Quartier gemietet, vertrug
sich mit Elmiren und kam seltener zu Serlo, womit Aurelie wohl
zufrieden war. Serlo, der ihr immer gewogen blieb, besuchte sie
manchmal, besonders da er Elmiren bei ihr zu finden hoffte, und nahm
eines Abends Wilhelmen mit sich. Beide waren im Hereintreten sehr
verwundert, als sie Philinen in dem zweiten Zimmer in den Armen eines
jungen Offiziers sahen, der eine rote Uniform und weiße Unterkleider
anhatte, dessen abgewendetes Gesicht sie aber nicht sehen konnten.
Philine kam ihren besuchenden Freunden in das Vorzimmer entgegen und
verschloß das andere. "Sie überraschen mich bei einem wunderbaren
Abenteuer!" rief sie aus.

"So wunderbar ist es nicht", sagte Serlo; "lassen Sie uns den hübschen,
jungen, beneidenswerten Freund sehen; Sie haben uns ohnedem schon so
zugestutzt, daß wir nicht eifersüchtig sein dürfen."

"Ich muß Ihnen diesen Verdacht noch eine Zeitlang lassen", sagte
Philine scherzend; "doch kann ich Sie versichern, daß es nur eine gute
Freundin ist, die sich einige Tage unbekannt bei mir aufhalten will.
Sie sollen ihre Schicksale künftig erfahren, ja vielleicht das
interessante Mädchen selbst kennenlernen, und ich werde wahrscheinlich
alsdann Ursache haben, meine Bescheidenheit und Nachsicht zu üben;
denn ich fürchte, die Herren werden über ihre neue Bekanntschaft ihre
alte Freundin vergessen."

Wilhelm stand versteinert da; denn gleich beim ersten Anblick hatte
ihn die rote Uniform an den so sehr geliebten Rock Marianens erinnert;
es war ihre Gestalt, es waren ihre blonden Haare, nur schien ihm der
gegenwärtige Offizier etwas größer zu sein.

"Um des Himmels willen!" rief er aus, "lassen Sie uns mehr von Ihrer
Freundin wissen, lassen Sie uns das verkleidete Mädchen sehen. Wir
sind nun einmal Teilnehmer des Geheimnisses; wir wollen versprechen,
wir wollen schwören, aber lassen Sie uns das Mädchen sehen!"

"O wie er in Feuer ist!" rief Philine, "nur gelassen, nur geduldig,
heute wird einmal nichts draus."

"So lassen Sie uns nur ihren Namen wissen!" rief Wilhelm.

"Das wäre alsdann ein schönes Geheimnis", versetzte Philine.

"Wenigstens nur den Vornamen."

"Wenn Sie ihn raten, meinetwegen. Dreimal dürfen Sie raten, aber
nicht öfter; Sie könnten mich sonst durch den ganzen Kalender
durchführen."

"Gut", sagte Wilhelm; "Cecilie also?"

"Nichts von Cecilien!"

"Henriette?"

"Keineswegs! Nehmen Sie sich in acht! Ihre Neugierde wird
ausschlafen müssen."

Wilhelm zauderte und zitterte; er wollte seinen Mund auftun, aber die
Sprache versagte ihm. "Mariane?" stammelte er endlich, "Mariane!"

"Bravo!" rief Philine, "getroffen!" indem sie sich nach ihrer
Gewohnheit auf dem Absatze herumdrehte.

Wilhelm konnte kein Wort hervorbringen, und Serlo, der seine
Gemütsbewegung nicht bemerkte, fuhr fort, in Philinen zu dringen, daß
sie die Türe öffnen sollte.

Wie verwundert waren daher beide, als Wilhelm auf einmal heftig ihre
Neckerei unterbrach, sich Philinen zu Füßen warf und sie mit dem
lebhaftesten Ausdrucke der Leidenschaft bat und beschwor. "Lassen Sie
mich das Mädchen sehen", rief er aus, "sie ist mein, es ist meine
Mariane! Sie, nach der ich mich alle Tage meines Lebens gesehnt habe,
sie, die mir noch immer statt aller andern Weiber in der Welt ist!
Gehen Sie wenigstens zu ihr hinein, sagen Sie ihr, daß ich hier bin,
daß der Mensch hier ist, der seine erste Liebe und das ganze Glück
seiner Jugend an sie knüpfte. Er will sich rechtfertigen, daß er sie
unfreundlich verließ, er will sie um Verzeihung bitten, er will ihr
vergeben, was sie auch gegen ihn gefehlt haben mag, er will sogar
keine Ansprüche an sie mehr machen, wenn er sie nur noch einmal sehen
kann, wenn er nur sehen kann, daß sie lebt und glücklich ist!"

Philine schüttelte den Kopf und sagte: "Mein Freund, reden Sie leise!
Betriegen wir uns nicht; und ist das Frauenzimmer wirklich Ihre
Freundin, so müssen wir sie schonen, denn sie vermutet keinesweges,
Sie hier zu sehen. Ganz andere Angelegenheiten führen sie hierher,
und das wissen Sie doch, man möchte oft lieber ein Gespenst als einen
alten Liebhaber zur unrechten Zeit vor Augen sehen. Ich will sie
fragen, ich will sie vorbereiten, und wir wollen überlegen, was zu tun
ist. Ich schreibe Ihnen morgen ein Billett, zu welcher Stunde Sie
kommen sollen, oder ob Sie kommen dürfen; gehorchen Sie mir pünktlich,
denn ich schwöre, niemand soll gegen meinen und meiner Freundin Willen
dieses liebenswürdige Geschöpf mit Augen sehen. Meine Türen werde ich
besser verschlossen halten, und mit Axt und Beil werden Sie mich nicht
besuchen wollen."

Wilhelm beschwor sie, Serlo redete ihr zu; vergebens! Beide Freunde
mußten zuletzt nachgeben, das Zimmer und das Haus räumen.

Welche unruhige Nacht Wilhelm zubrachte, wird sich jedermann denken.
Wie langsam die Stunden des Tages dahinzogen, in denen er Philinens
Billett erwartete, läßt sich begreifen. Unglücklicherweise mußte er
selbigen Abend spielen; er hatte niemals eine größere Pein
ausgestanden. Nach geendigtem Stücke eilte er zu Philinen, ohne nur
zu fragen, ob er eingeladen worden. Er fand ihre Türe verschlossen,
und die Hausleute sagten: Mademoiselle sei heute früh mit einem jungen
Offizier weggefahren; sie habe zwar gesagt, daß sie in einigen Tagen
wiederkomme, man glaube es aber nicht, weil sie alles bezahlt und ihre
Sachen mitgenommen habe.

Wilhelm war außer sich über diese Nachricht. Er eilte zu Laertes und
schlug ihm vor, ihr nachzusetzen und, es koste, was es wolle, über
ihren Begleiter Gewißheit zu erlangen. Laertes dagegen verwies seinem
Freunde seine Leidenschaft und Leichtgläubigkeit. "Ich will wetten",
sagte er, "es ist niemand anders als Friedrich. Der Junge ist von
gutem Hause, ich weiß es recht wohl; er ist unsinnig in das Mädchen
verliebt und hat wahrscheinlich seinen Verwandten so viel Geld
angelockt, daß er wieder eine Zeitlang mit ihr leben kann."

Durch diese Einwendungen ward Wilhelm nicht überzeugt, doch
zweifelhaft. Laertes stellte ihm vor, wie unwahrscheinlich das
Märchen sei, das Philine ihnen vorgespiegelt hatte, wie Figur und Haar
sehr gut auf Friedrichen passe, wie sie bei zwölf Stunden Vorsprung so
leicht nicht einzuholen sein würden und hauptsächlich, wie Serlo
keinen von ihnen beiden beim Schauspiele entbehren könne.

Durch all diese Gründe wurde Wilhelm endlich nur so weit gebracht, daß
er Verzicht darauf tat, selbst nachzusetzen. Laertes wußte noch in
selbiger Nacht einen tüchtigen Mann zu schaffen, dem man den Auftrag
geben konnte. Es war ein gesetzter Mann, der mehreren Herrschaften
auf Reisen als Kurier und Führer gedient hatte und eben jetzt ohne
Beschäftigung stillelag. Man gab ihm Geld, man unterrichtete ihn von
der ganzen Sache, mit dem Auftrage, daß er die Flüchtlinge aufsuchen
und einholen, sie alsdann nicht aus den Augen lassen und die Freunde
sogleich, wo und wie er sie fände, benachrichtigen solle. Er setzte
sich in derselbigen Stunde zu Pferde und ritt dem zweideutigen Paare
nach, und Wilhelm war durch diese Anstalt wenigstens einigermaßen
beruhigt.




V. Buch, 16. Kapitel--1




Sechzehntes Kapitel

Die Entfernung Philinens machte keine auffallende Sensation weder auf
dem Theater noch im Publiko. Es war ihr mit allem wenig Ernst; die
Frauen haßten sie durchgängig, und die Männer hätten sie lieber unter
vier Augen als auf dem Theater gesehen, und so war ihr schönes und für
die Bühne selbst glückliches Talent verloren. Die übrigen Glieder der
Gesellschaft gaben sich desto mehr Mühe; Madame Melina besonders tat
sich durch Fleiß und Aufmerksamkeit sehr hervor. Sie merkte, wie
sonst, Wilhelmen seine Grundsätze ab, richtete sich nach seiner
Theorie und seinem Beispiel und hatte zeither ein ich weiß nicht was
in ihrem Wesen, das sie interessanter machte. Sie erlangte bald ein
richtiges Spiel und gewann den natürlichen Ton der Unterhaltung
vollkommen und den der Empfindung bis auf einen gewissen Grad. Sie
wußte sich in Serlos Launen zu schicken und befliß sich des Singens
ihm zu Gefallen, worin sie auch bald so weit kam, als man dessen zur
geselligen Unterhaltung bedarf.

Durch einige neu angenommene Schauspieler ward die Gesellschaft noch
vollständiger, und indem Wilhelm und Serlo jeder in seiner Art wirkte,
jener bei jedem Stücke auf den Sinn und Ton des Ganzen drang, dieser
die einzelnen Teile gewissenhaft durcharbeitete, belebte ein
lobenswürdiger Eifer auch die Schauspieler, und das Publikum nahm an
ihnen einen lebhaften Anteil.

"Wir sind auf einem guten Wege", sagte Serlo einst, "und wenn wir so
fortfahren, wird das Publikum auch bald auf dem rechten sein. Man
kann die Menschen sehr leicht durch tolle und unschickliche
Darstellungen irremachen; aber man lege ihnen das Vernünftige und
Schickliche auf eine interessante Weise vor, so werden sie gewiß
darnach greifen.

Was unserm Theater hauptsächlich fehlt und warum weder Schauspieler
noch Zuschauer zur Besinnung kommen, ist, daß es darauf im ganzen zu
bunt aussieht und daß man nirgends eine Grenze hat, woran man sein
Urteil anlehnen könnte. Es scheint mir kein Vorteil zu sein, daß wir
unser Theater gleichsam zu einem unendlichen Naturschauplatze
ausgeweitet haben; doch kann jetzt weder Direktor noch Schauspieler
sich in die Enge ziehen, bis vielleicht der Geschmack der Nation in
der Folge den rechten Kreis selbst bezeichnet. Eine jede gute
Sozietät existiert nur unter gewissen Bedingungen, so auch ein gutes
Theater. Gewisse Manieren und Redensarten, gewisse Gegenstände und
Arten des Betragens müssen ausgeschlossen sein. Man wird nicht ärmer,
wenn man sein Hauswesen zusammenzieht."

Sie waren hierüber mehr oder weniger einig und uneinig. Wilhelm und
die meisten waren auf der Seite des englischen, Serlo und einige auf
der Seite des französischen Theaters.

Man ward einig, in leeren Stunden, deren ein Schauspieler leider so
viele hat, in Gesellschaft die berühmtesten Schauspiele beider Theater
durchzugehen und das Beste und Nachahmenswerte derselben zu bemerken.
Man machte auch wirklich einen Anfang mit einigen französischen
Stücken. Aurelie entfernte sich jedesmal, sobald die Vorlesung anging.
Anfangs hielt man sie für krank; einst aber fragte sie Wilhelm
darüber, dem es aufgefallen war.

"Ich werde bei keiner solchen Vorlesung gegenwärtig sein", sagte sie,
"denn wie soll ich hören und urteilen, wenn mir das Herz zerrissen
ist? Ich hasse die französische Sprache von ganzer Seele."

"Wie kann man einer Sprache feind sein", rief Wilhelm aus, "der man
den größten Teil seiner Bildung schuldig ist und der wir noch viel
schuldig werden müssen, ehe unser Wesen eine Gestalt gewinnen kann?"

"Es ist kein Vorurteil!" versetzte Aurelie, "ein unglücklicher
Eindruck, eine verhaßte Erinnerung an meinen treulosen Freund hat mir
die Lust an dieser schönen und ausgebildeten Sprache geraubt. Wie ich
sie jetzt von ganzem Herzen hasse! Während der Zeit unserer
freundschaftlichen Verbindung schrieb er Deutsch, und welch ein
herzliches, wahres, kräftiges Deutsch! Nun, da er mich los sein
wollte, fing er an, Französisch zu schreiben, das vorher manchmal nur
im Scherze geschehen war. Ich fühlte, ich merkte, was es bedeuten
sollte. Was er in seiner Muttersprache zu sagen errötete, konnte er
nun mit gutem Gewissen hinschreiben. Zu Reservationen, Halbheiten und
Lügen ist es eine treffliche Sprache; sie ist eine perfide Sprache!
Ich finde, Gott sei Dank! kein deutsches Wort, um "perfid" in seinem
ganzen Umfange auszudrücken. Unser armseliges treulos ist ein
unschuldiges Kind dagegen. Perfid ist treulos mit Genuß, mit übermut
und Schadenfreude. Oh, die Ausbildung einer Nation ist zu beneiden,
die so feine Schattierungen in einem Worte auszudrücken weiß!
Französisch ist recht die Sprache der Welt, wert, die allgemeine
Sprache zu sein, damit sie sich nur alle untereinander recht betrügen
und belügen können! Seine französischen Briefe ließen sich noch immer
gut genug lesen. Wenn man sich's einbilden wollte, klangen sie warm
und selbst leidenschaftlich; doch genau besehen waren es Phrasen,
vermaledeite Phrasen! Er hat mir alle Freude an der ganzen Sprache,
an der französischen Literatur, selbst an dem schönen und köstlichen
Ausdruck edler Seelen in dieser Mundart verdorben; mich schaudert,
wenn ich ein französisches Wort höre!"

Auf diese Weise konnte sie stundenlang fortfahren, ihren Unmut zu
zeigen und jede andere Unterhaltung zu unterbrechen oder zu verstimmen.
Serlo machte früher oder später ihren launischen äußerungen mit
einiger Bitterkeit ein Ende; aber gewöhnlich war für diesen Abend das
Gespräch zerstört.

überhaupt ist es leider der Fall, daß alles, was durch mehrere
zusammentreffende Menschen und Umstände hervorgebracht werden soll,
keine lange Zeit sich vollkommen erhalten kann. Von einer
Theatergesellschaft so gut wie von einem Reiche, von einem Zirkel
Freunde so gut wie von einer Armee läßt sich gewöhnlich der Moment
angeben, wenn sie auf der höchsten Stufe ihrer Vollkommenheit, ihrer
übereinstimmung, ihrer Zufriedenheit und Tätigkeit standen; oft aber
verändert sich schnell das Personal, neue Glieder treten hinzu, die
Personen passen nicht mehr zu den Umständen, die Umstände nicht mehr
zu den Personen; es wird alles anders, und was vorher verbunden war,
fällt nunmehr bald auseinander. So konnte man sagen, daß Serlos
Gesellschaft eine Zeitlang so vollkommen war, als irgend eine deutsche
sich hätte rühmen können. Die meisten Schauspieler standen an ihrem
Platze; alle hatten genug zu tun, und alle taten gern, was zu tun war.
Ihre persönlichen Verhältnisse waren leidlich, und jedes schien in
seiner Kunst viel zu versprechen, weil jedes die ersten Schritte mit
Feuer und Munterkeit tat. Bald aber entdeckte sich, daß ein Teil doch
nur Automaten waren, die nur das erreichen konnten, wohin man ohne
Gefühl gelangen kann, und bald mischten sich die Leidenschaften
dazwischen, die gewöhnlich jeder guten Einrichtung im Wege stehen und
alles so leicht auseinanderzerren, was vernünftige und wohldenkende
Menschen zusammenzuhalten wünschen.

Philinens Abgang war nicht so unbedeutend, als man anfangs glaubte.
Sie hatte mit großer Geschicklichkeit Serlo zu unterhalten und die
übrigen mehr oder weniger zu reizen gewußt. Sie ertrug Aureliens
Heftigkeit mit großer Geduld, und ihr eigenstes Geschäft war,
Wilhelmen zu schmeicheln. So war sie eine Art von Bindungsmittel fürs
Ganze, und ihr Verlust mußte bald fühlbar werden.

Serlo konnte ohne eine kleine Liebschaft nicht leben. Elmire, die in
weniger Zeit herangewachsen und, man könnte beinahe sagen, schön
geworden war, hatte schon lange seine Aufmerksamkeit erregt, und
Philine war klug genug, diese Leidenschaft, die sie merkte, zu
begünstigen. "Man muß sich", pflegte sie zu sagen, "beizeiten aufs
Kuppeln legen; es bleibt uns doch weiter nichts übrig, wenn wir alt
werden." Dadurch hatten sich Serlo und Elmire dergestalt genähert,
daß sie nach Philinens Abschiede bald einig wurden, und der kleine
Roman interessierte sie beide um so mehr, als sie ihn vor dem Alten,
der über eine solche Unregelmäßigkeit keinen Scherz verstanden hätte,
geheimzuhalten alle Ursache hatten. Elmirens Schwester war mit im
Verständnis, und Serlo mußte beiden Mädchen daher vieles nachsehen.
Eine ihrer größten Untugenden war eine unmäßige Näscherei, ja, wenn
man will, eine unleidliche Gefräßigkeit, worin sie Philinen
keinesweges glichen, die dadurch einen neuen Schein von
Liebenswürdigkeit erhielt, daß sie gleichsam nur von der Luft lebte,
sehr wenig aß und nur den Schaum eines Champagnerglases mit der
größten Zierlichkeit wegschlürfte.

Nun aber mußte Serlo, wenn er seiner Schönen gefallen wollte, das
Frühstück mit dem Mittagessen verbinden und an dieses durch ein
Vesperbrot das Abendessen anknüpfen. Dabei hatte Serlo einen Plan,
dessen Ausführung ihn beunruhigte. Er glaubte eine gewisse Neigung
zwischen Wilhelmen und Aurelien zu entdecken und wünschte sehr, daß
sie ernstlich werden möchte. Er hoffte den ganzen mechanischen Teil
der Theaterwirtschaft Wilhelmen aufzubürden und an ihm, wie an seinem
ersten Schwager, ein treues und fleißiges Werkzeug zu finden. Schon
hatte er ihm nach und nach den größten Teil der Besorgung unmerklich
übertragen, Aurelie führte die Kasse, und Serlo lebte wieder wie in
früheren Zeiten ganz nach seinem Sinne. Doch war etwas, was sowohl
ihn als seine Schwester heimlich kränkte.

Das Publikum hat eine eigene Art, gegen öffentliche Menschen von
anerkanntem Verdienste zu verfahren; es fängt nach und nach an,
gleichgültig gegen sie zu werden, und begünstigt viel geringere, aber
neu erscheinende Talente; es macht an jene übertriebene Forderungen
und läßt sich von diesen alles gefallen.

Serlo und Aurelie hatten Gelegenheit genug, hierüber Betrachtungen
anzustellen. Die neuen Ankömmlinge, besonders die jungen und
wohlgebildeten, hatten alle Aufmerksamkeit, allen Beifall auf sich
gezogen, und beide Geschwister mußten die meiste Zeit, nach ihren
eifrigsten Bemühungen, ohne den willkommenen Klang der
zusammenschlagenden Hände abtreten. Freilich kamen dazu noch
besondere Ursachen. Aureliens Stolz war auffallend, und von ihrer
Verachtung des Publikums waren viele unterrichtet. Serlo schmeichelte
zwar jedermann im einzelnen, aber seine spitzen Reden über das Ganze
waren doch auch öfters herumgetragen und wiederholt worden. Die neuen
Glieder hingegen waren teils fremd und unbekannt, teils jung,
liebenswürdig und hülfsbedürftig und hatten also auch sämtlich Gönner
gefunden.

Nun gab es auch bald innerliche Unruhen und manches Mißvergnügen; denn
kaum bemerkte man, daß Wilhelm die Beschäftigung eines Regisseurs
übernommen hatte, so fingen die meisten Schauspieler um desto mehr an,
unartig zu werden, als er nach seiner Weise etwas mehr Ordnung und
Genauigkeit in das Ganze zu bringen wünschte und besonders darauf
bestand, daß alles Mechanische vor allen Dingen pünktlich und
ordentlich gehen solle.

In kurzer Zeit war das ganze Verhältnis, das wirklich eine Zeitlang
beinahe idealisch gehalten hatte, so gemein, als man es nur irgend bei
einem herumreisenden Theater finden mag. Und leider in dem
Augenblicke, als Wilhelm durch Mühe, Fleiß und Anstrengung sich mit
allen Erfordernissen des Metiers bekannt gemacht und seine Person
sowohl als seine Geschäftigkeit vollkommen dazu gebildet hatte, schien
es ihm endlich in trüben Stunden, daß dieses Handwerk weniger als
irgendein anders den nötigen Aufwand von Zeit und Kräften verdiene.
Das Geschäft war lästig und die Belohnung gering. Er hätte jedes
andere lieber übernommen, bei dem man doch, wenn es vorbei ist, der
Ruhe des Geistes genießen kann, als dieses, wo man nach überstandenen
mechanischen Mühseligkeiten noch durch die höchste Anstrengung des
Geistes und der Empfindung erst das Ziel seiner Tätigkeit erreichen
soll. Er mußte die Klagen Aureliens über die Verschwendung des
Bruders hören, er mußte die Winke Serlos mißverstehen, wenn dieser ihn
zu einer Heirat mit der Schwester von ferne zu leiten suchte. Er
hatte dabei seinen Kummer zu verbergen, der ihn auf das tiefste
drückte, indem der nach dem zweideutigen Offizier fortgeschickte Bote
nicht zurückkam, auch nichts von sich hören ließ und unser Freund
daher seine Mariane zum zweitenmal verloren zu haben fürchten mußte.

Zu eben der Zeit fiel eine allgemeine Trauer ein, wodurch man genötigt
ward, das Theater auf einige Wochen zu schließen. Er ergriff diese
Zwischenzeit, um jenen Geistlichen zu besuchen, bei welchem der
Harfenspieler in der Kost war. Er fand ihn in einer angenehmen Gegend,
und das erste, was er in dem Pfarrhofe erblickte, war der Alte, der
einem Knaben auf seinem Instrumente Lektion gab. Er bezeugte viel
Freude, Wilhelmen wiederzusehen, stand auf und reichte ihm die Hand
und sagte: "Sie sehen, daß ich in der Welt doch noch zu etwas nütze
bin; Sie erlauben, daß ich fortfahre, denn die Stunden sind eingeteilt."

Der Geistliche begrüßte Wilhelmen auf das freundlichste und erzählte
ihm, daß der Alte sich schon recht gut anlasse und daß man Hoffnung zu
seiner völligen Genesung habe.

Ihr Gespräch fiel natürlich auf die Methode, Wahnsinnige zu kurieren.

"Außer dem Physischen", sagte der Geistliche, "das uns oft
unüberwindliche Schwierigkeiten in den Weg legt und worüber ich einen
denkenden Arzt zu Rate ziehe, finde ich die Mittel, vom Wahnsinne zu
heilen, sehr einfach. Es sind ebendieselben, wodurch man gesunde
Menschen hindert, wahnsinnig zu werden. Man errege ihre
Selbsttätigkeit, man gewöhne sie an Ordnung, man gebe ihnen einen
Begriff, daß sie ihr Sein und Schicksal mit so vielen gemein haben,
daß das außerordentliche Talent, das größte Glück und das höchste
Unglück nur kleine Abweichungen von dem Gewöhnlichen sind; so wird
sich kein Wahnsinn einschleichen und, wenn er da ist, nach und nach
wieder verschwinden. Ich habe des alten Mannes Stunden eingeteilt, er
unterrichtet einige Kinder auf der Harfe, er hilft im Garten arbeiten
und ist schon viel heiterer. Er wünscht von dem Kohle zu genießen,
den er pflanzt, und wünscht meinen Sohn, dem er die Harfe auf den
Todesfall geschenkt hat, recht emsig zu unterrichten, damit sie der
Knabe ja auch brauchen könne. Als Geistlicher suche ich ihm über
seine wunderbaren Skrupel nur wenig zu sagen, aber ein tätiges Leben
führt so viele Ereignisse herbei, daß er bald fühlen muß, daß jede Art
von Zweifel nur durch Wirksamkeit gehoben werden kann. Ich gehe
sachte zu Werke; wenn ich ihm aber noch seinen Bart und seine Kutte
wegnehmen kann, so habe ich viel gewonnen: denn es bringt uns nichts
näher dem Wahnsinn, als wenn wir uns vor andern auszeichnen, und
nichts erhält so sehr den gemeinen Verstand, als im allgemeinen Sinne
mit vielen Menschen zu leben. Wie vieles ist leider nicht in unserer
Erziehung und in unsern bürgerlichen Einrichtungen, wodurch wir uns
und unsere Kinder zur Tollheit vorbereiten."

Wilhelm verweilte bei diesem vernünftigen Manne einige Tage und erfuhr
die interessantesten Geschichten, nicht allein von verrückten Menschen,
sondern auch von solchen, die man für klug, ja für weise zu halten
pflegt und deren Eigentümlichkeiten nahe an den Wahnsinn grenzen.

Dreifach belebt aber ward die Unterhaltung, als der Medikus eintrat,
der den Geistlichen, seinen Freund, öfters zu besuchen und ihm bei
seinen menschenfreundlichen Bemühungen beizustehen pflegte. Es war
ein ältlicher Mann, der bei einer schwächlichen Gesundheit viele Jahre
in Ausübung der edelsten Pflichten zugebracht hatte. Er war ein
großer Freund vom Landleben und konnte fast nicht anders als in freier
Luft sein; dabei war er äußerst gesellig und tätig und hatte seit
vielen Jahren eine besondere Neigung, mit allen Landgeistlichen
Freundschaft zu stiften. Jedem, an dem er eine nützliche
Beschäftigung kannte, suchte er auf alle Weise beizustehen; andern,
die noch unbestimmt waren, suchte er eine Liebhaberei einzureden; und
da er zugleich mit den Edelleuten, Amtmännern und Gerichtshaltern in
Verbindung stand, so hatte er in Zeit von zwanzig Jahren sehr viel im
stillen zur Kultur mancher Zweige der Landwirtschaft beigetragen und
alles, was dem Felde, Tieren und Menschen ersprießlich ist, in
Bewegung gebracht und so die wahrste Aufklärung befördert. Für den
Menschen, sagte er, sei nur das eine ein Unglück, wenn sich irgendeine
Idee bei ihm festsetze, die keinen Einfluß ins tätige Leben habe oder
ihn wohl gar vom tätigen Leben abziehe. "Ich habe", sagte er,
"gegenwärtig einen solchen Fall an einem vornehmen und reichen Ehepaar,
wo mir bis jetzt noch alle Kunst mißglückt ist; fast gehört der Fall
in Ihr Fach, lieber Pastor, und dieser junge Mann wird ihn nicht
weitererzählen.

In der Abwesenheit eines vornehmen Mannes verkleidete man, mit einem
nicht ganz lobenswürdigen Scherze, einen jungen Menschen in die
Hauskleidung dieses Herrn. Seine Gemahlin sollte dadurch angeführt
werden, und ob man mir es gleich nur als eine Posse erzählt hat, so
fürchte ich doch sehr, man hatte die Absicht, die edle, liebenswürdige
Dame vom rechten Wege abzuleiten. Der Gemahl kommt unvermutet zurück,
tritt in sein Zimmer, glaubt sich selbst zu sehen und fällt von der
Zeit an in eine Melancholie, in der er die überzeugung nährt, daß er
bald sterben werde.

Er überläßt sich Personen, die ihm mit religiösen Ideen schmeicheln,
und ich sehe nicht, wie er abzuhalten ist, mit seiner Gemahlin unter
die Herrenhuter zu gehen und den größten Teil seines Vermögens, da er
keine Kinder hat, seinen Verwandten zu entziehen."

"Mit seiner Gemahlin?" rief Wilhelm, den diese Erzählung nicht wenig
erschreckt hatte, ungestüm aus.

"Und leider", versetzte der Arzt, der in Wilhelms Ausrufung nur eine
menschenfreundliche Teilnahme zu hören glaubte, "ist diese Dame mit
einem noch tiefern Kummer behaftet, der ihr eine Entfernung von der
Welt nicht widerlich macht. Eben dieser junge Mensch nimmt Abschied
von ihr, sie ist nicht vorsichtig genug, eine aufkeimende Neigung zu
verbergen; er wird kühn, schließt sie in seine Arme und drückt ihr das
große, mit Brillanten besetzte Porträt ihres Gemahls gewaltsam wider
die Brust. Sie empfindet einen heftigen Schmerz, der nach und nach
vergeht, erst eine kleine Röte und dann keine Spur zurückläßt. Ich
bin als Mensch überzeugt, daß sie sich nichts weiter vorzuwerfen hat;
ich bin als Arzt gewiß, daß dieser Druck keine üblen Folgen haben
werde, aber sie läßt sich nicht ausreden, es sei eine Verhärtung da,
und wenn man ihr durch das Gefühl den Wahn benehmen will, so behauptet
sie, nur in diesem Augenblick sei nichts zu fühlen; sie hat sich fest
eingebildet, es werde dieses übel mit einem Krebsschaden sich endigen,
und so ist ihre Jugend, ihre Liebenswürdigkeit für sie und andere
völlig verloren."

"Ich Unglückseliger!" rief Wilhelm, indem er sich vor die Stirne
schlug und aus der Gesellschaft ins Feld lief. Er hatte sich noch nie
in einem solchen Zustande befunden.




V. Buch, 16. Kapitel--2




Der Arzt und der Geistliche, über diese seltsame Entdeckung höchlich
erstaunt, hatten abends genug mit ihm zu tun, als er zurückkam und bei
dem umständlichem Bekenntnis dieser Begebenheit sich aufs lebhafteste
anklagte. Beide Männer nahmen den größten Anteil an ihm, besonders da
er ihnen seine übrige Lage nun auch mit schwarzen Farben der
augenblicklichen Stimmung malte.

Den andern Tag ließ sich der Arzt nicht lange bitten, mit ihm nach der
Stadt zu gehen, um ihm Gesellschaft zu leisten, um Aurelien, die ihr
Freund in bedenklichen Umständen zurückgelassen hatte, wo möglich
Hülfe zu verschaffen.

Sie fanden sie auch wirklich schlimmer, als sie vermuteten. Sie hatte
eine Art von überspringendem Fieber, dem um so weniger beizukommen war,
als sie die Anfälle nach ihrer Art vorsätzlich unterhielt und
verstärkte. Der Fremde ward nicht als Arzt eingeführt und betrug sich
sehr gefällig und klug. Man sprach über den Zustand ihres Körpers und
ihres Geistes, und der neue Freund erzählte manche Geschichten, wie
Personen ungeachtet einer solchen Kränklichkeit ein hohes Alter
erreichen könnten; nichts aber sei schädlicher in solchen Fällen als
eine vorsätzliche Erneuerung leidenschaftlicher Empfindungen.
Besonders verbarg er nicht, daß er diejenigen Personen sehr glücklich
gefunden habe, die bei einer nicht ganz herzustellenden kränklichen
Anlage wahrhaft religiöse Gesinnungen bei sich zu nähren bestimmt
gewesen wären. Er sagte das auf eine sehr bescheidene Weise und
gleichsam historisch und versprach dabei, seinen neuen Freunden eine
sehr interessante Lektüre an einem Manuskript zu verschaffen, das er
aus den Händen einer nunmehr abgeschiedenen vortrefflichen Freundin
erhalten habe. "Es ist mir unendlich wert", sagte er, "und ich
vertraue Ihnen das Original selbst an. Nur der Titel ist von meiner
Hand: "Bekenntnisse einer schönen Seele"."

über diätetische und medizinische Behandlung der unglücklichen,
aufgespannten Aurelie vertraute der Arzt Wilhelmen noch seinen besten
Rat, versprach zu schreiben und womöglich selbst wiederzukommen.

Inzwischen hatte sich in Wilhelms Abwesenheit eine Veränderung
vorbereitet, die er nicht vermuten konnte. Wilhelm hatte während der
Zeit seiner Regie das ganze Geschäft mit einer gewissen Freiheit und
Liberalität behandelt, vorzüglich auf die Sache gesehen und besonders
bei Kleidungen, Dekorationen und Requisiten alles reichlich und
anständig angeschafft, auch, um den guten Willen der Leute zu erhalten,
ihrem Eigennutze geschmeichelt, da er ihnen durch edlere Motive nicht
beikommen konnte; und er fand sich hierzu um so mehr berechtigt, als
Serlo selbst keine Ansprüche machte, ein genauer Wirt zu sein, den
Glanz seines Theaters gerne loben hörte und zufrieden war, wenn
Aurelie, welche die ganze Haushaltung führte, nach Abzug aller Kosten
versicherte, daß sie keine Schulden habe, und noch soviel hergab, als
nötig war, die Schulden abzutragen, die Serlo unterdessen durch
außerordentliche Freigebigkeit gegen seine Schönen und sonst etwa auf
sich geladen haben mochte.

Melina, der indessen die Garderobe besorgte, hatte, kalt und
heimtückisch wie er war, der Sache im stillen zugesehen und wußte bei
der Entfernung Wilhelms und bei der zunehmenden Krankheit Aureliens
Serlo fühlbar zu machen, daß man eigentlich mehr einnehmen, weniger
ausgeben und entweder etwas zurücklegen oder doch am Ende nach Willkür
noch lustiger leben könne. Serlo hörte das gern, und Melina wagte
sich mit seinem Plane hervor.

"Ich will", sagte er, "nicht behaupten, daß einer von den
Schauspielern gegenwärtig zuviel Gage hat: es sind verdienstvolle
Leute, und sie würden an jedem Orte willkommen sein; allein für die
Einnahme, die sie uns verschaffen, erhalten sie doch zuviel. Mein
Vorschlag wäre, eine Oper einzurichten, und was das Schauspiel
betrifft, so muß ich Ihnen sagen, Sie sind der Mann, allein ein ganzes
Schauspiel auszumachen. Müssen Sie jetzt nicht selbst erfahren, daß
man Ihre Verdienste verkennt? Nicht, weil Ihre Mitspieler
vortrefflich, sondern weil sie gut sind, läßt man Ihrem
außerordentlichen Talente keine Gerechtigkeit mehr widerfahren.

Stellen Sie sich, wie wohl sonst geschehen ist, nur allein hin, suchen
Sie mittelmäßige, ja ich darf sagen: schlechte Leute für geringe Gage
an sich zu ziehen, stutzen Sie das Volk, wie Sie es so sehr verstehen,
im Mechanischen zu, wenden Sie das übrige an die Oper, und Sie werden
sehen, daß Sie mit derselben Mühe und mit denselben Kosten mehr
Zufriedenheit erregen und ungleich mehr Geld als bisher gewinnen
werden."

Serlo war zu sehr geschmeichelt, als daß seine Einwendungen einige
Stärke hätten haben sollen. Er gestand Melinan gern zu, daß er bei
seiner Liebhaberei zur Musik längst so etwas gewünscht habe; doch sehe
er freilich ein, daß die Neigung des Publikums dadurch noch mehr auf
Abwege geleitet und daß bei so einer Vermischung eines Theaters, das
nicht recht Oper, nicht recht Schauspiel sei, notwendig der überrest
von Geschmack an einem bestimmten und ausführlichen Kunstwerke sich
völlig verlieren müsse.

Melina scherzte nicht ganz fein über Wilhelms pedantische Ideale
dieser Art, über die Anmaßung, das Publikum zu bilden, statt sich von
ihm bilden zu lassen, und beide vereinigten sich mit großer
überzeugung, daß man nur Geld einnehmen, reich werden oder sich lustig
machen solle, und verbargen sich kaum, daß sie nur jener Personen los
zu sein wünschten, die ihrem Plane im Wege standen. Melina bedauerte,
daß die schwächliche Gesundheit Aureliens ihr kein langes Leben
verspreche, dachte aber gerade das Gegenteil. Serlo schien zu
beklagen, daß Wilhelm nicht Sänger sei, und gab dadurch zu verstehen,
daß er ihn für bald entbehrlich halte. Melina trat mit einem ganzen
Register von Ersparnissen, die zu machen seien, hervor, und Serlo sah
in ihm seinen ersten Schwager dreifach ersetzt. Sie fühlten wohl, daß
sie sich über diese Unterredung das Geheimnis zuzusagen hatten, wurden
dadurch nur noch mehr aneinandergeknüpft und nahmen Gelegenheit,
insgeheim über alles, was vorkam, sich zu besprechen, was Aurelie und
Wilhelm unternahmen, zu tadeln und ihr neues Projekt in Gedanken immer
mehr auszuarbeiten.

So verschwiegen auch beide über ihren Plan sein mochten und sowenig
sie durch Worte sich verrieten, so waren sie doch nicht politisch
genug, in dem Betragen ihre Gesinnungen zu verbergen. Melina
widersetzte sich Wilhelmen in manchen Fällen, die in seinem Kreise
lagen, und Serlo, der niemals glimpflich mit seiner Schwester
umgegangen war, ward nur bitterer, je mehr ihre Kränklichkeit zunahm
und je mehr sie bei ihren ungleichen, leidenschaftlichen Launen
Schonung verdient hätte.

Zu eben dieser Zeit nahm man "Emilie Galotti" vor. Dieses Stück war
sehr glücklich besetzt, und alle konnten in dem beschränkten Kreise
dieses Trauerspiels die ganze Mannigfaltigkeit ihres Spieles zeigen.
Serlo war als Marinelli an seinem Platze, Odoardo ward sehr gut
vorgetragen, Madame Melina spielte die Mutter mit vieler Einsicht,
Elmire zeichnete sich in der Rolle Emiliens zu ihrem Vorteil aus,
Laertes trat als Appiani mit vielem Anstand auf, und Wilhelm hatte ein
Studium von mehreren Monaten auf die Rolle des Prinzen verwendet. Bei
dieser Gelegenheit hatte er sowohl mit sich selbst als mit Serlo und
Aurelien die Frage oft abgehandelt: welch ein Unterschied sich
zwischen einem edlen und vornehmen Betragen zeige und inwiefern jenes
in diesem, dieses aber nicht in jenem enthalten zu sein brauche.

Serlo, der selbst als Marinelli den Hofmann rein, ohne Karikatur
vorstellte, äußerte über diesen Punkt manchen guten Gedanken. "Der
vornehme Anstand", sagte er, "ist schwer nachzuahmen, weil er
eigentlich negativ ist und eine lange anhaltende übung voraussetzt.
Denn man soll nicht etwa in seinem Benehmen etwas darstellen, das
Würde anzeigt: denn leicht fällt man dadurch in ein förmliches,
stolzes Wesen; man soll vielmehr nur alles vermeiden, was unwürdig,
was gemein ist; man soll sich nie vergessen, immer auf sich und andere
achthaben, sich nichts vergeben, andern nicht zuviel, nicht zuwenig
tun, durch nichts gerührt scheinen, durch nichts bewegt werden, sich
niemals übereilen, sich in jedem Momente zu fassen wissen und so ein
äußeres Gleichgewicht erhalten, innerlich mag es stürmen, wie es will.
Der edle Mensch kann sich in Momenten vernachlässigen, der vornehme
nie. Dieser ist wie ein sehr wohlgekleideter Mann: er wird sich
nirgends anlehnen, und jedermann wird sich hüten, an ihn zu streichen;
er unterscheidet sich vor andern, und doch darf er nicht allein
stehenbleiben; denn wie in jeder Kunst, also auch in dieser, soll
zuletzt das Schwerste mit Leichtigkeit ausgeführt werden; so soll der
Vornehme ungeachtet aller Absonderung immer mit andern verbunden
scheinen, nirgends steif, überall gewandt sein, immer als der Erste
erscheinen und sich nie als ein solcher aufdringen.

Man sieht also, daß man, um vornehm zu scheinen, wirklich vornehm sein
müsse; man sieht, warum Frauen im Durchschnitt sich eher dieses
Ansehen geben können als Männer, warum Hofleute und Soldaten am
schnellsten zu diesem Anstande gelangen."

Wilhelm verzweifelte nun fast an seiner Rolle, allein Serlo half ihm
wieder auf, indem er ihm über das Einzelne die feinsten Bemerkungen
mitteilte und ihn dergestalt ausstattete daß er bei der Aufführung,
wenigstens in den Augen der Menge, einen recht feinen Prinzen
darstellte.

Serlo hatte versprochen, ihm nach der Vorstellung die Bemerkungen
mitzuteilen, die er noch allenfalls über ihn machen würde; allein ein
unangenehmer Streit zwischen Bruder und Schwester hinderte jede
kritische Unterhaltung. Aurelie hatte die Rolle der Orsina auf eine
Weise gespielt, wie man sie wohl niemals wieder sehen wird. Sie war
mit der Rolle überhaupt sehr bekannt und hatte sie in den Proben
gleichgültig behandelt; bei der Aufführung selbst aber zog sie, möchte
man sagen, alle Schleusen ihres individuellen Kummers auf, und es ward
dadurch eine Darstellung, wie sie sich kein Dichter in dem ersten
Feuer der Empfindung hätte denken können. Ein unmäßiger Beifall des
Publikums belohnte ihre schmerzlichen Bemühungen, aber sie lag auch
halb ohnmächtig in einem Sessel, als man sie nach der Aufführung
aufsuchte.

Serlo hatte schon über ihr übertriebenes Spiel, wie er es nannte, und
über die Entblößung ihres innersten Herzens vor dem Publikum, das doch
mehr oder weniger mit jener fatalen Geschichte bekannt war, seinen
Unwillen zu erkennen gegeben und, wie er es im Zorn zu tun pflegte,
mit den Zähnen geknirscht und mit den Füßen gestampft. "Laßt sie",
sagte er, als er sie von den übrigen umgeben in dem Sessel fand, "sie
wird noch ehstens ganz nackt auf das Theater treten, und dann wird
erst der Beifall recht vollkommen sein."

"Undankbarer!" rief sie aus, "Unmenschlicher! Man wird mich bald
nackt dahin tragen, wo kein Beifall mehr zu unsern Ohren kommt!" Mit
diesen Worten sprang sie auf und eilte nach der Türe. Die Magd hatte
versäumt, ihr den Mantel zu bringen, die Portechaise war nicht da; es
hatte geregnet, und ein sehr rauher Wind zog durch die Straßen. Man
redete ihr vergebens zu, denn sie war übermäßig erhitzt; sie ging
vorsätzlich langsam und lobte die Kühlung, die sie recht begierig
einzusaugen schien. Kaum war sie zu Hause, als sie vor Heiserkeit
kaum ein Wort mehr sprechen konnte; sie gestand aber nicht, daß sie im
Nacken und den Rücken hinab eine völlige Steifigkeit fühlte. Nicht
lange, so überfiel sie eine Art von Lähmung der Zunge, so daß sie ein
Wort fürs andere sprach; man brachte sie zu Bette, durch häufig
angewandte Mittel legte sich ein übel, indem sich das andere zeigte.
Das Fieber ward stark und ihr Zustand gefährlich.

Den andern Morgen hatte sie eine ruhige Stunde. Sie ließ Wilhelm
rufen und übergab ihm einen Brief. "Dieses Blatt", sagte sie, "wartet
schon lange auf diesen Augenblick. Ich fühle, daß das Ende meines
Lebens bald herannaht; versprechen Sie mir, daß Sie es selbst abgeben
und daß Sie durch wenige Worte meine Leiden an dem Ungetreuen rächen
wollen. Er ist nicht fühllos, und wenigstens soll ihn mein Tod einen
Augenblick schmerzen."

Wilhelm übernahm den Brief, indem er sie jedoch tröstete und den
Gedanken des Todes von ihr entfernen wollte.

"Nein", versetzte sie, "benehmen Sie mir nicht meine nächste Hoffnung.
Ich habe ihn lange erwartet und will ihn freudig in die Arme
schließen."

Kurz darauf kam das vom Arzt versprochene Manuskript an. Sie ersuchte
Wilhelmen, ihr daraus vorzulesen, und die Wirkung, die es tat, wird
der Leser am besten beurteilen können, wenn er sich mit dem folgenden
Buche bekannt gemacht hat. Das heftige und trotzige Wesen unsrer
armen Freundin ward auf einmal gelindert. Sie nahm den Brief zurück
und schrieb einen andern, wie es schien in sehr sanfter Stimmung; auch
forderte sie Wilhelmen auf, ihren Freund, wenn er irgend durch die
Nachricht ihres Todes betrübt werden sollte, zu trösten, ihn zu
versichern, daß sie ihm verziehen habe und daß sie ihm alles Glück
wünsche.

Von dieser Zeit an war sie sehr still und schien sich nur mit wenigen
Ideen zu beschäftigen, die sie sich aus dem Manuskript eigen zu machen
suchte, woraus ihr Wilhelm von Zeit zu Zeit vorlesen mußte. Die
Abnahme ihrer Kräfte war nicht sichtbar, und unvermutet fand sie
Wilhelm eines Morgens tot, als er sie besuchen wollte.

Bei der Achtung, die er für sie, gehabt, und bei der Gewohnheit, mit
ihr zu leben, war ihm ihr Verlust sehr schmerzlich. Sie war die
einzige Person, die es eigentlich gut mit ihm meinte, und die Kälte
Serlos in der letzten Zeit hatte er nur allzusehr gefühlt. Er eilte
daher, die aufgetragene Botschaft auszurichten, und wünschte sich auf
einige Zeit zu entfernen. Von der andern Seite war für Melina diese
Abreise sehr erwünscht: denn dieser hatte sich bei der weitläufigen
Korrespondenz, die er unterhielt, gleich mit einem Sänger und einer
Sängerin eingelassen, die das Publikum einstweilen durch
Zwischenspiele zur künftigen Oper vorbereiten sollten. Der Verlust
Aureliens und Wilhelms Entfernung sollten auf diese Weise in der
ersten Zeit übertragen werden, und unser Freund war mit allem
zufrieden, was ihm seinen Urlaub auf einige Wochen erleichterte.

Er hatte sich eine sonderbar wichtige Idee von seinem Auftrage gemacht.
Der Tod seiner Freundin hatte ihn tief gerührt, und da er sie so
frühzeitig von dem Schauplatze abtreten sah, mußte er notwendig gegen
den, der ihr Leben verkürzt und dieses kurze Leben ihr so qualvoll
gemacht, feindselig gesinnt sein.

Ungeachtet der letzten gelinden Worte der Sterbenden nahm er sich doch
vor, bei überreichung des Briefs ein strenges Gericht über den
ungetreuen Freund ergehen zu lassen, und da er sich nicht einer
zufälligen Stimmung vertrauen wollte, dachte er an eine Rede, die in
der Ausarbeitung pathetischer als billig ward. Nachdem er sich völlig
von der guten Komposition seines Aufsatzes überzeugt hatte, machte er,
indem er ihn auswendig lernte, Anstalt zu seiner Abreise. Mignon war
beim Einpacken gegenwärtig und fragte ihn, ob er nach Süden oder nach
Norden reise, und als sie das letzte von ihm erfuhr, sagte sie. "So
will ich dich hier wieder erwarten." Sie bat ihn um die Perlenschnur
Marianens, die er dem lieben Geschöpf nicht versagen konnte; das
Halstuch hatte sie schon. Dagegen steckte sie ihm den Schleier des
Geistes in den Mantelsack, ob er ihr gleich sagte, daß ihm dieser Flor
zu keinem Gebrauch sei.

Melina übernahm die Regie, und seine Frau versprach, auf die Kinder
ein mütterliches Auge zu haben, von denen sich Wilhelm ungern losriß.
Felix war sehr lustig beim Abschied, und als man ihn fragte, was er
wolle mitgebracht haben, sagte er: "Höre! bringe mir einen Vater mit."
Mignon nahm den Scheidenden bei der Hand, und indem sie, auf die
Zehen gehoben, ihm einen treuherzigen und lebhaften Kuß, doch ohne
Zärtlichkeit, auf die Lippen drückte, sagte sie: "Meister! vergiß uns
nicht und komm bald wieder."

Und so lassen wir unsern Freund unter tausend Gedanken und
Empfindungen seine Reise antreten und zeichnen hier noch zum Schlusse
ein Gedicht auf, das Mignon mit großem Ausdruck einigemal rezitiert
hatte und das wir früher mitzuteilen durch den Drang so mancher
sonderbaren Ereignisse verhindert wurden.


Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen,
Denn mein Geheimnis ist mir Pflicht;
Ich möchte dir mein ganzes Innre zeigen,
Allein das Schicksal will es nicht.


Zur rechten Zeit vertreibt der Sonne Lauf
Die finstre Nacht, und sie muß sich erhellen,
Der harte Fels schließt seinen Busen auf,
Mißgönnt der Erde nicht die tiefverborgnen Quellen.


Ein jeder sucht im Arm des Freundes Ruh,
Dort kann die Brust in Klagen sich ergießen;
Allein ein Schwur drückt mir die Lippen zu,
Und nur ein Gott vermag sie aufzuschließen.







 


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