Wilhelm Meisters Wanderjahre--Buch 1
by
Johann Wolfgang von Goethe

Part 1 out of 3



Association / Carnegie-Mellon University".

*END*THE SMALL PRINT! FOR PUBLIC DOMAIN ETEXTS*Ver.04.29.93*END*





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Wilhelm Meisters Wanderjahre--Buch 1
oder die Entsagenden





Erstes Buch




Erstes Kapitel



Die Flucht nach Ägypten

Im Schatten eines mächtigen Felsen saß Wilhelm an grauser,
bedeutender Stelle, wo sich der steile Gebirgsweg um eine Ecke herum
schnell nach der Tiefe wendete. Die Sonne stand noch hoch und
erleuchtete die Gipfel der Fichten in den Felsengründen zu seinen
Füßen. Er bemerkte eben etwas in seine Schreibtafel, als Felix, der
umhergeklettert war, mit einem Stein in der Hand zu ihm kam. "Wie
nennt man diesen Stein, Vater?" sagte der Knabe.

"Ich weiß nicht", versetzte Wilhelm.

"Ist das wohl Gold, was darin so glänzt?" sagte jener.

"Es ist keins!" versetzte dieser, "und ich erinnere mich, daß es die
Leute Katzengold nennen."

"Katzengold!" sagte der Knabe lächelnd, "und warum?"

"Wahrscheinlich weil es falsch ist und man die Katzen auch für
falsch hält."

"Das will ich mir merken", sagte der Sohn und steckte den Stein in
die lederne Reisetasche, brachte jedoch sogleich etwas anderes hervor
und fragte: "Was ist das?" --"Eine Frucht", versetzte der Vater, "und
nach den Schuppen zu urteilen, sollte sie mit den Tannenzapfen
verwandt sein."--"Das sieht nicht aus wie ein Zapfen, es ist ja rund.
"--"Wir wollen den Jäger fragen; die kennen den ganzen Wald und alle
Früchte, wissen zu säen, zu pflanzen und zu warten, dann lassen sie
die Stämme wachsen und groß werden, wie sie können."--"Die Jäger
wissen alles; gestern zeigte mir der Bote, wie ein Hirsch über den Weg
gegangen sei, er rief mich zurück und ließ mich die Fährte bemerken,
wie er es nannte; ich war darüber weggesprungen, nun aber sah ich
deutlich ein paar Klauen eingedrückt; es mag ein großer Hirsch
gewesen sein."--"Ich hörte wohl, wie du den Boten ausfragtest."--"Der
wußte viel und ist doch kein Jäger. Ich aber will ein Jäger werden.
Es ist gar zu schön, den ganzen Tag im Walde zu sein und die Vögel zu
hören, zu wissen, wie sie heißen, wo ihre Nester sind, wie man die
Eier aushebt oder die Jungen, wie man sie füttert und wenn man die
Alten fängt: das ist gar zu lustig."

Kaum war dieses gesprochen, so zeigte sich den schroffen Weg herab
eine sonderbare Erscheinung. Zwei Knaben, schön wie der Tag, in
farbigen Jäckchen, die man eher für aufgebundene Hemdchen gehalten
hätte, sprangen einer nach dem andern herunter, und Wilhelm fand
Gelegenheit, sie näher zu betrachten, als sie vor ihm stutzten und
einen Augenblick stillhielten. Um des ältesten Haupt bewegten sich
reiche blonde Locken, auf welche man zuerst blicken mußte, wenn man
ihn sah, und dann zogen seine klarblauen Augen den Blick an sich, der
sich mit Gefallen über seine schöne Gestalt verlor. Der zweite, mehr
einen Freund als einen Bruder vorstellend, war mit braunen und
schlichten Haaren geziert, die ihm über die Schultern herabhingen und
wovon der Widerschein sich in seinen Augen zu spiegeln schien.

Wilhelm hatte nicht Zeit, diese beiden sonderbaren und in der
Wildnis ganz unerwarteten Wesen näher zu betrachten, indem er eine
männliche Stimme vernahm, welche um die Felsecke herum ernst, aber
freundlich herabrief. "Warum steht ihr stille? versperrt uns den Weg
nicht!"

Wilhelm sah aufwärts, und hatten ihn die Kinder in Verwunderung
gesetzt, so erfüllte ihn das, was ihm jetzt zu Augen kam, mit
Erstaunen. Ein derber, tüchtiger, nicht allzu großer junger Mann,
leicht geschürzt, von brauner Haut und schwarzen Haaren, trat kräftig
und sorgfältig den Felsweg herab, indem er hinter sich einen Esel
führte, der erst sein wohlgenährtes und wohlgeputztes Haupt zeigte,
dann aber die schöne Last, die er trug, sehen ließ. Ein sanftes,
liebenswürdiges Weib saß auf einem großen, wohlbeschlagenen Sattel;
in einem blauen Mantel, der sie umgab, hielt sie ein Wochenkind, das
sie an ihre Brust drückte und mit unbeschreiblicher Lieblichkeit
betrachtete. Dem Führer ging's wie den Kindern: er stutzte einen
Augenblick, als er Wilhelmen erblickte. Das Tier verzögerte seinen
Schritt, aber der Abstieg war zu jäh, die Vorüberziehenden konnten
nicht anhalten, und Wilhelm sah sie mit Verwunderung hinter der
vorstehenden Felswand verschwinden.

Nichts war natürlicher, als daß ihn dieses seltsame Gesicht aus
seinen Betrachtungen riß. Neugierig stand er auf und blickte von
seiner Stelle nach der Tiefe hin, ob er sie nicht irgend wieder
hervorkommen sähe. Und eben war er im Begriff, hinabzusteigen und
diese sonderbaren Wandrer zu begrüßen, als Felix heraufkam und sagte:
"Vater, darf ich nicht mit diesen Kindern in ihr Haus? Sie wollen
mich mitnehmen. Du sollst auch mitgehen, hat der Mann zu mir gesagt.
Komm! dort unten halten sie."

"Ich will mit ihnen reden", versetzte Wilhelm.

Er fand sich auf einer Stelle, wo der Weg weniger abhängig war, und
verschlang mit den Augen die wunderlichen Bilder, die seine
Aufmerksamkeit so sehr an sich gezogen hatten. Erst jetzt war es ihm
möglich, noch einen und den andern besondern Umstand zu bemerken. Der
junge, rüstige Mann hatte wirklich eine Polieraxt auf der Schulter
und ein langes, schwankes eisernes Winkelmaß. Die Kinder trugen
große Schilfbüschel, als wenn es Palmen wären; und wenn sie von
dieser Seite den Engeln glichen, so schleppten sie auch wieder kleine
Körbchen mit Eßwaren und glichen dadurch den täglichen Boten, wie sie
über das Gebirg hin und her zu gehen pflegen. Auch hatte die Mutter,
als er sie näher betrachtete, unter dem blauen Mantel ein rötliches,
zart gefärbtes Unterkleid, so daß unser Freund die Flucht nach
Ägypten, die er so oft gemalt gesehen, mit Verwunderung hier vor
seinen Augen wirklich finden mußte.

Man begrüßte sich, und indem Wilhelm vor Erstaunen und
Aufmerksamkeit nicht zu Wort kommen konnte, sagte der junge Mann:
"Unsere Kinder haben in diesem Augenblicke schon Freundschaft gemacht.
Wollt Ihr mit uns, um zu sehen, ob auch zwischen den Erwachsenen ein
gutes Verhältnis entstehen könne?"

Wilhelm bedachte sich ein wenig und versetzte dann: "Der Anblick
eures kleinen Familienzuges erregt Vertrauen und Neigung und, daß
ich's nur gleich gestehe, ebensowohl Neugierde und ein lebhaftes
Verlangen, euch näher kennen zu lernen. Denn im ersten Augenblicke
möchte man bei sich die Frage aufwerfen, ob ihr wirkliche Wanderer
oder ob ihr nur Geister seid, die sich ein Vergnügen daraus machen,
dieses unwirtbare Gebirg durch angenehme Erscheinungen zu beleben."

"So kommt mit in unsere Wohnung", sagte jener. "Kommt mit!" riefen
die Kinder, indem sie den Felix schon mit sich fortzogen. "Kommt mit!"
sagte die Frau, indem sie ihre liebenswürdige Freundlichkeit von
dem Säugling ab auf den Fremdling wendete.

Ohne sich zu bedenken, sagte Wilhelm: "Es tut mir leid, daß ich euch
nicht sogleich folgen kann. Wenigstens diese Nacht noch muß ich oben
auf dem Grenzhause zubringen. Mein Mantelsack, meine Papiere, alles
liegt noch oben, ungepackt und unbesorgt. Damit ich aber Wunsch und
Willen beweise, eurer freundlichen Einladung genugzutun, so gebe ich
euch meinen Felix zum Pfande mit. Morgen bin ich bei euch. Wie weit
ist's hin?"

"Vor Sonnenuntergang erreichen wir noch unsere Wohnung", sagte der
Zimmermann, "und von dem Grenzhause habt Ihr nur noch anderthalb
Stunden. Euer Knabe vermehrt unsern Haushalt für diese Nacht; morgen
erwarten wir Euch."

Der Mann und das Tier setzten sich in Bewegung. Wilhelm sah seinen
Felix mit Behagen in so guter Gesellschaft, er konnte ihn mit den
lieben Engelein vergleichen, gegen die er kräftig abstach. Für seine
Jahre war er nicht groß, aber stämmig, von breiter Brust und
kräftigen Schultern; in seiner Natur war ein eigenes Gemisch von
Herrschen und Dienen; er hatte schon einen Palmzweig und ein Körbchen
ergriffen, womit er beides auszusprechen schien. Schon drohte der Zug
abermals um eine Felswand zu verschwinden, als sich Wilhelm
zusammennahm und nachrief: "Wie soll ich euch aber erfragen?"

"Fragt nur nach Sankt Joseph!" erscholl es aus der Tiefe, und die
ganze Erscheinung war hinter den blauen Schattenwänden verschwunden.
Ein frommer, mehrstimmiger Gesang tönte verhallend aus der Ferne, und
Wilhelm glaubte die Stimme seines Felix zu unterscheiden.

Er stieg aufwärts und verspätete sich dadurch den Sonnenuntergang.
Das himmlische Gestirn, das er mehr denn einmal verloren hatte,
erleuchtete ihn wieder, als er höher trat, und noch war es Tag, als
er an seiner Herberge anlangte. Nochmals erfreute er sich der großen
Gebirgsansicht und zog sich sodann auf sein Zimmer zurück, wo er
sogleich die Feder ergriff und einen Teil der Nacht mit Schreiben
zubrachte.

Wilhelm an Natalien

Nun ist endlich die Höhe erreicht, die Höhe des Gebirgs, das eine
mächtigere Trennung zwischen uns setzen wird als der ganze Landraum
bisher. Für mein Gefühl ist man noch immer in der Nähe seiner Lieben,
solange die Ströme von uns zu ihnen laufen. Heute kann ich mir noch
einbilden, der Zweig, den ich in den Waldbach werfe, könnte füglich zu
ihr hinabschwimmen, könnte in wenigen Tagen vor ihrem Garten landen;
und so sendet unser Geist seine Bilder, das Herz seine Gefühle
bequemer abwärts. Aber drüben, fürchte ich, stellt sich eine
Scheidewand der Einbildungskraft und der Empfindung entgegen. Doch
ist das vielleicht nur eine voreilige Besorglichkeit: denn es wird
wohl auch drüben nicht anders sein als hier. Was könnte mich von dir
scheiden! von dir, der ich auf ewig geeignet bin, wenngleich ein
wundersames Geschick mich von dir trennt und mir den Himmel, dem ich
so nahe stand, unerwartet zuschließt. Ich hatte Zeit, mich zu fassen,
und doch hätte keine Zeit hingereicht, mir diese Fassung zu geben,
hätte ich sie nicht aus deinem Munde gewonnen, von deinen Lippen in
jenem entscheidenden Moment. Wie hätte ich mich losreißen können,
wenn der dauerhafte Faden nicht gesponnen wäre, der uns für die Zeit
und für die Ewigkeit verbinden soll. Doch ich darf ja von allem dem
nicht reden. Deine zarten Gebote will ich nicht übertreten; auf
diesem Gipfel sei es das letztemal, daß ich das Wort Trennung vor dir
ausspreche. Mein Leben soll eine Wanderschaft werden. Sonderbare
Pflichten des Wanderers habe ich auszuüben und ganz eigene Prüfungen
zu bestehen. Wie lächle ich manchmal, wenn ich die Bedingungen
durchlese, die mir der Verein, die ich mir selbst vorschrieb! Manches
wird gehalten, manches übertreten; aber selbst bei der übertretung
dient mir dies Blatt, dieses Zeugnis von meiner letzten Beichte,
meiner letzten Absolution statt eines gebietenden Gewissens, und ich
lenke wieder ein. Ich hüte mich, und meine Fehler stürzen sich nicht
mehr wie Gebirgswasser einer über den andern.

Doch will ich dir gern gestehen, daß ich oft diejenigen Lehrer und
Menschenführer bewundere, die ihren Schülern nur äußere, mechanische
Pflichten auflegen. Sie machen sich's und der Welt leicht. Denn
gerade diesen Teil meiner Verbindlichkeiten, der mir erst der
beschwerlichste, der wunderlichste schien, diesen beobachte ich am
bequemsten, am liebsten.

Nicht über drei Tage soll ich unter einem Dache bleiben. Keine
Herberge soll ich verlassen, ohne daß ich mich wenigstens eine Meile
von ihr entferne. Diese Gebote sind wahrhaft geeignet, meine Jahre
zu Wanderjahren zu machen und zu verhindern, daß auch nicht die
geringste Versuchung des Ansiedelns bei mir sich finde. Dieser
Bedingung habe ich mich bisher genau unterworfen, ja mich der
gegebenen Erlaubnis nicht einmal bedient. Hier ist eigentlich das
erstemal, daß ich stillhalte, das erstemal, daß ich die dritte Nacht
in demselben Bette schlafe. Von hier sende ich dir manches bisher
Vernommene, Beobachtete, Gesparte, und dann geht es morgen früh auf
der andern Seite hinab, fürerst zu einer wunderbaren Familie, zu einer
heiligen Familie möchte ich wohl sagen, von der du in meinem
Tagebuche mehr finden wirst. Jetzt lebe wohl und lege dieses Blatt
mit dem Gefühl aus der Hand, daß es nur eins zu sagen habe, nur eines
sagen und immer wiederholen möchte, aber es nicht sagen, nicht
wiederholen will, bis ich das Glück habe, wieder zu deinen Füßen zu
liegen und auf deinen Händen mich über alle das Entbehren auszuweinen.



Morgens.

Es ist eingepackt. Der Bote schnürt den Mantelsack auf das Reff.
Noch ist die Sonne nicht aufgegangen, die Nebel dampfen aus allen
Gründen; aber der obere Himmel ist heiter. Wir steigen in die
düstere Tiefe hinab, die sich auch bald über unserm Haupte erhellen
wird. Laß mich mein letztes Ach zu dir hinübersenden! Laß meinen
letzten Blick zu dir sich noch mit einer unwillkürlichen Träne füllen!
Ich bin entschieden und entschlossen. Du sollst keine Klagen mehr
von mir hören; du sollst nur hören, was dem Wanderer begegnet. Und
doch kreuzen sich, indem ich schließen will, nochmals tausend
Gedanken, Wünsche, Hoffnungen und Vorsätze. Glücklicherweise treibt
man mich hinweg. Der Bote ruft, und der Wirt räumt schon wieder auf
in meiner Gegenwart, eben als wenn ich hinweg wäre, wie gefühllose,
unvorsichtige Erben vor dem Abscheidenden die Anstalten, sich in
Besitz zu setzen, nicht verbergen.









Zweites Kapitel



Sankt Joseph der Zweite

Schon hatte der Wanderer, seinem Boten auf dem Fuße folgend, steile
Felsen hinter und über sich gelassen, schon durchstrichen sie ein
sanfteres Mittelgebirg und eilten durch manchen wohlbestandnen Wald,
durch manchen freundlichen Wiesengrund immer vorwärts, bis sie sich
endlich an einem Abhange befanden und in ein sorgfältig bebautes, von
Hügeln rings umschlossenes Tal hinabschauten. Ein großes, halb in
Trümmern liegendes, halb wohlerhaltenes Klostergebäude zog sogleich
die Aufmerksamkeit an sich. "Dies ist Sankt Joseph", sagte der Bote;
"jammerschade für die schöne Kirche! Seht nur, wie ihre Säulen und
Pfeiler durch Gebüsch und Bäume noch so wohlerhalten durchsehen, ob
sie gleich schon viele hundert Jahre im Schutt liegt."

"Die Klostergebäude hingegen", versetzte Wilhelm, "sehe ich, sind
noch wohl erhalten."--"Ja", sagte der andere, "es wohnt ein Schaffner
daselbst, der die Wirtschaft besorgt, die Zinsen und Zehnten einnimmt,
welche man weit und breit hierher zu zahlen hat."

Unter diesen Worten waren sie durch das offene Tor in den geräumigen
Hof gelangt, der, von ernsthaften, wohlerhaltenen Gebäuden umgeben,
sich als Aufenthalt einer ruhigen Sammlung ankündigte. Seinen Felix
mit den Engeln von gestern sah er sogleich beschäftigt um einen
Tragkorb, den eine rüstige Frau vor sich gestellt hatte; sie waren im
Begriff, Kirschen zu handeln; eigentlich aber feilschte Felix, der
immer etwas Geld bei sich führte. Nun machte er sogleich als Gast
den Wirt, spendete reichliche Früchte an seine Gespielen, selbst dem
Vater war die Erquickung angenehm, mitten in diesen unfruchtbaren
Mooswäldern, wo die farbigen, glänzenden Früchte noch einmal so schön
erschienen. Sie trage solche weit herauf aus einem großen Garten,
bemerkte die Verkäuferin, um den Preis annehmlich zu machen, der den
Käufern etwas zu hoch geschienen hatte. Der Vater werde bald
zurückkommen, sagten die Kinder, er solle nur einstweilen in den Saal
gehen und dort ausruhen.

Wie verwundert war jedoch Wilhelm, als die Kinder ihn zu dem Raume
führten, den sie den Saal nannten. Gleich aus dem Hofe ging es zu
einer großen Tür hinein, und unser Wanderer fand sich in einer sehr
reinlichen, wohlerhaltenen Kapelle, die aber, wie er wohl sah, zum
häuslichen Gebrauch des täglichen Lebens eingerichtet war. An der
einen Seite stand ein Tisch, ein Sessel, mehrere Stühle und Bänke, an
der andern Seite ein wohlgeschnitztes Gerüst mit bunter Töpferware,
Krügen und Gläsern. Es fehlte nicht an einigen Truhen und Kisten und,
so ordentlich alles war, doch nicht an dem Einladenden des häuslichen,
täglichen Lebens. Das Licht fiel von hohen Fenstern an der Seite
herein. Was aber die Aufmerksamkeit des Wanderers am meisten erregte,
waren farbige, auf die Wand gemalte Bilder, die unter den Fenstern
in ziemlicher Höhe, wie Teppiche, um drei Teile der Kapelle
herumreichten und bis auf ein Getäfel herabgingen, das die übrige
Wand bis zur Erde bedeckte. Die Gemälde stellten die Geschichte des
heiligen Joseph vor. Hier sah man ihn mit einer Zimmerarbeit
beschäftigt; hier begegnete er Marien, und eine Lilie sproßte zwischen
beiden aus dem Boden, indem einige Engel sie lauschend umschwebten.
Hier wird er getraut; es folgt der englische Gruß. Hier sitzt er
mißmutig zwischen angefangener Arbeit, läßt die Axt ruhen und sinnt
darauf, seine Gattin zu verlassen. Zunächst erscheint ihm aber der
Engel im Traum, und seine Lage ändert sich. Mit Andacht betrachtet er
das neugeborene Kind im Stalle zu Bethlehem und betet es an. Bald
darauf folgt ein wundersam schönes Bild. Man sieht mancherlei Holz
gezimmert; eben soll es zusammengesetzt werden, und zufälligerweise
bilden ein paar Stücke ein Kreuz. Das Kind ist auf dem Kreuze
eingeschlafen, die Mutter sitzt daneben und betrachtet es mit inniger
Liebe, und der Pflegevater hält mit der Arbeit inne, um den Schlaf
nicht zu stören. Gleich darauf folgt die Flucht nach Ägypten. Sie
erregte bei dem beschauenden Wanderer ein Lächeln, indem er die
Wiederholung des gestrigen lebendigen Bildes hier an der Wand sah.

Nicht lange war er seinen Betrachtungen überlassen, so trat der Wirt
herein, den er sogleich als den Führer der heiligen Karawane
wiedererkannte. Sie begrüßten sich aufs herzlichste, mancherlei
Gespräche folgten; doch Wilhelms Aufmerksamkeit blieb auf die Gemälde
gerichtet. Der Wirt merkte das Interesse seines Gastes und fing
lächelnd an: "Gewiß, Ihr bewundert die übereinstimmung dieses
Gebäudes mit seinen Bewohnern, die Ihr gestern kennenlerntet. Sie
ist aber vielleicht noch sonderbarer, als man vermuten sollte: das
Gebäude hat eigentlich die Bewohner gemacht. Denn wenn das Leblose
lebendig ist, so kann es auch wohl Lebendiges hervorbringen."

"O ja!" versetzte Wilhelm. "Es sollte mich wundern, wenn der Geist,
der vor Jahrhunderten in dieser Bergöde so gewaltig wirkte und einen
so mächtigen Körper von Gebäuden, Besitzungen und Rechten an sich zog
und dafür mannigfaltige Bildung in der Gegend verbreitete, es sollte
mich wundern, wenn er nicht auch aus diesen Trümmern noch seine
Lebenskraft auf ein lebendiges Wesen ausübte. Laßt uns jedoch nicht
im Allgemeinen verharren, macht mich mit Eurer Geschichte bekannt,
damit ich erfahre, wie es möglich war, daß ohne Spielerei und
Anmaßung die Vergangenheit sich wieder in Euch darstellt und das, was
vorüberging, abermals herantritt."

Eben als Wilhelm belehrende Antwort von den Lippen seines Wirtes
erwartete, rief eine freundliche Stimme im Hofe den Namen Joseph.
Der Wirt hörte darauf und ging nach der Tür.

"Also heißt er auch Joseph!" sagte Wilhelm zu sich selbst. "Das ist
doch sonderbar genug und doch eben nicht so sonderbar, als daß er
seinen Heiligen im Leben darstellt." Er blickte zu gleicher Zeit
nach der Türe und sah die Mutter Gottes von gestern mit dem Manne
sprechen. Sie trennten sich endlich: die Frau ging nach der
gegenüberstehenden Wohnung. "Marie!" rief er ihr nach, "nur noch ein
Wort!"--"Also heißt sie auch Marie!" dachte Wilhelm; "es fehlt nicht
viel, so fühle ich mich achtzehnhundert Jahre zurückversetzt." Er
dachte sich das ernsthaft eingeschlossene Tal, in dem er sich befand,
die Trümmer und die Stille, und eine wundersam altertümliche Stimmung
überfiel ihn. Es war Zeit, daß der Wirt und die Kinder hereintraten.
Die letzteren forderten Wilhelm zu einem Spaziergange auf, indes der
Wirt noch einigen Geschäften vorstehen wollte. Nun ging es durch die
Ruinen des säulenreichen Kirchengebäudes, dessen hohe Giebel und
Wände sich in Wind und Wetter zu befestigen schienen, indessen sich
starke Bäume von alters her auf den breiten Mauerrücken eingewurzelt
hatten und in Gesellschaft von mancherlei Gras, Blumen und Moos kühn
in der Luft hängende Gärten vorstellten. Sanfte Wiesenpfade führten
einen lebhaften Bach hinan, und von einiger Höhe konnte der Wanderer
nun das Gebäude nebst seiner Lage mit so mehr Interesse überschauen,
als ihm dessen Bewohner immer merkwürdiger geworden und durch die
Harmonie mit ihrer Umgebung seine lebhafte Neugier erregt hatten.

Man kehrte zurück und fand in dem frommen Saal einen Tisch gedeckt.
Obenan stand ein Lehnsessel, in den sich die Hausfrau niederließ.
Neben sich hatte sie einen hohen Korb stehen, in welchem das kleine
Kind lag; den Vater sodann zur linken Hand und Wilhelm zur rechten.
Die drei Kinder besetzten den untern Raum des Tisches. Eine alte Magd
brachte ein wohlzubereitetes Essen. Speise--und Trinkgeschirr
deuteten gleichfalls auf vergangene Zeit. Die Kinder gaben Anlaß zur
Unterhaltung, indessen Wilhelm die Gestalt und das Betragen seiner
heiligen Wirtin nicht genugsam beobachten konnte.

Nach Tische zerstreute sich die Gesellschaft; der Wirt führte seinen
Gast an eine schattige Stelle der Ruine, wo man von einem erhöhten
Platze die angenehme Aussicht das Tal hinab vollkommen vor sich hatte
und die Berghöhen des untern Landes mit ihren fruchtbaren Abhängen
und waldigen Rücken hintereinander hinausgeschoben sah. "Es ist
billig", sagte der Wirt, "daß ich Ihre Neugierde befriedige, um so
mehr, als ich an Ihnen fühle, daß Sie imstande sind, auch das
Wunderliche ernsthaft zu nehmen, wenn es auf einem ernsten Grunde
beruht. Diese geistliche Anstalt, von der Sie noch die Reste sehen,
war der heiligen Familie gewidmet und vor alters als Wallfahrt wegen
mancher Wunder berühmt. Die Kirche war der Mutter und dem Sohne
geweiht. Sie ist schon seit mehreren Jahrhunderten zerstört. Die
Kapelle, dem heiligen Pflegevater gewidmet, hat sich erhalten, so auch
der brauchbare Teil der Klostergebäude. Die Einkünfte bezieht schon
seit geraumen Jahren ein weltlicher Fürst, der seinen Schaffner hier
oben hält, und der bin ich, Sohn des vorigen Schaffners, der
gleichfalls seinem Vater in dieser Stelle nachfolgte.

Der heilige Joseph, obgleich jede kirchliche Verehrung hier oben
lange aufgehört hatte, war gegen unsere Familie so wohltätig gewesen,
daß man sich nicht verwundern darf, wenn man sich besonders gut gegen
ihn gesinnt fühlte; und daher kam es, daß man mich in der Taufe
Joseph nannte und dadurch gewissermaßen meine Lebensweise bestimmte.
Ich wuchs heran, und wenn ich mich zu meinem Vater gesellte, indem er
die Einnahmen besorgte, so schloß ich mich ebenso gern, ja noch
lieber an meine Mutter an, welche nach Vermögen gern ausspendete und
durch ihren guten Willen und durch ihre Wohltaten im ganzen Gebirge
bekannt und geliebt war. Sie schickte mich bald da-, bald dorthin,
bald zu bringen, bald zu bestellen, bald zu besorgen, und ich fand
mich sehr leicht in diese Art von frommem Gewerbe.

überhaupt hat das Gebirgsleben etwas Menschlicheres als das Leben
auf dem flachen Lande. Die Bewohner sind einander näher und, wenn
man will, auch ferner; die Bedürfnisse geringer, aber dringender.
Der Mensch ist mehr auf sich gestellt, seinen Händen, seinen Füßen
muß er vertrauen lernen. Der Arbeiter, der Bote, der Lastträger, alle
vereinigen sich in einer Person; auch steht jeder dem andern näher,
begegnet ihm öfter und lebt mit ihm in einem gemeinsamen Treiben.

Da ich noch jung war und meine Schultern nicht viel zu schleppen
vermochten, fiel ich darauf, einen kleinen Esel mit Körben zu
versehen und vor mir her die steilen Fußpfade hinauf und hinab zu
treiben. Der Esel ist im Gebirg kein so verächtlich Tier als im
flachen Lande, wo der Knecht, der mit Pferden pflügt, sich für besser
hält als den andern, der den Acker mit Ochsen umreißt. Und ich ging
um so mehr ohne Bedenken hinter meinem Tiere her, als ich in der
Kapelle früh bemerkt hatte, daß es zur Ehre gelangt war, Gott und
seine Mutter zu tragen. Doch war diese Kapelle damals nicht in dem
Zustande, in welchem sie sich gegenwärtig befindet. Sie ward als ein
Schuppen, ja fast wie ein Stall behandelt. Brennholz, Stangen,
Gerätschaften, Tonnen und Leitern, und was man nur wollte, war
übereinander geschoben. Glücklicherweise, daß die Gemälde so hoch
stehen und die Täfelung etwas aushält. Aber schon als Kind erfreute
ich mich besonders, über alles das Gehölz hin und her zu klettern und
die Bilder zu betrachten, die mir niemand recht auslegen konnte.
Genug, ich wußte, daß der Heilige, dessen Leben oben gezeichnet war,
mein Pate sei, und ich erfreute mich an ihm, als ob er mein Onkel
gewesen wäre. Ich wuchs heran, und weil es eine besondere Bedingung
war, daß der, welcher an das einträgliche Schaffneramt Anspruch
machen wollte, ein Handwerk ausüben mußte, so sollte ich, dem Willen
meiner Eltern gemäß, welche wünschten, daß künftig diese gute Pfründe
auf mich erben möchte, ein Handwerk lernen, und zwar ein solches, das
zugleich hier oben in der Wirtschaft nützlich wäre.

Mein Vater war Bötticher und schaffte alles, was von dieser Arbeit
nötig war, selbst, woraus ihm und dem Ganzen großer Vorteil erwuchs.
Allein ich konnte mich nicht entschließen, ihm darin nachzufolgen.
Mein Verlangen zog mich unwiderstehlich nach dem Zimmerhandwerke,
wovon ich das Arbeitszeug so umständlich und genau, von Jugend auf,
neben meinem Heiligen gemalt gesehen. Ich erklärte meinen Wunsch;
man war mir nicht entgegen, um so weniger, als bei so mancherlei
Baulichkeiten der Zimmermann oft von uns in Anspruch genommen ward,
ja bei einigem Geschick und Liebe zu feinerer Arbeit, besonders in
Waldgegenden, die Tischler--und sogar die Schnitzerkünste ganz nahe
liegen. Und was mich noch mehr in meinen höheren Aussichten
bestärkte, war jenes Gemälde, das leider nunmehr fast ganz verloschen
ist. Sobald Sie wissen, was es vorstellen soll, so werden Sie sich's
entziffern können, wenn ich Sie nachher davor führe. Dem heiligen
Joseph war nichts Geringeres aufgetragen, als einen Thron für den
König Herodes zu machen. Zwischen zwei gegebenen Säulen soll der
Prachtsitz aufgeführt werden. Joseph nimmt sorgfältig das Maß von
Breite und Höhe und arbeitet einen köstlichen Königsthron. Aber wie
erstaunt ist er, wie verlegen, als er den Prachtsessel herbeischafft:
er findet sich zu hoch und nicht breit genug. Mit König Herodes war,
wie bekannt, nicht zu spaßen; der fromme Zimmermeister ist in der
größten Verlegenheit. Das Christkind, gewohnt, ihn überallhin zu
begleiten, ihm in kindlich demütigem Spiel die Werkzeuge nachzutragen,
bemerkt seine Not und ist gleich mit Rat und Tat bei der Hand. Das
Wunderkind verlangt vom Pflegevater, er solle den Thron an der einen
Seite fassen; es greift in die andere Seite des Schnitzwerks, und
beide fangen an zu ziehen. Sehr leicht und bequem, als wär' er von
Leder, zieht sich der Thron in die Breite, verliert verhältnismäßig
an der Höhe und paßt ganz vortrefflich an Ort und Stelle, zum größten
Troste des beruhigten Meisters und zur vollkommenen Zufriedenheit des
Königs.

Jener Thron war in meiner Jugend noch recht gut zu sehen, und an den
Resten der einen Seite werden Sie bemerken können, daß am Schnitzwerk
nichts gespart war, das freilich dem Maler leichter fallen mußte, als
es dem Zimmermann gewesen wäre, wenn man es von ihm verlangt hätte.

Hieraus zog ich aber keine Bedenklichkeit, sondern ich erblickte das
Handwerk, dem ich mich gewidmet hatte, in einem so ehrenvollen Lichte,
daß ich nicht erwarten konnte, bis man mich in die Lehre tat;
welches um so leichter auszuführen war, als in der Nachbarschaft ein
Meister wohnte, der für die ganze Gegend arbeitete und mehrere
Gesellen und Lehrburschen beschäftigen konnte. Ich blieb also in der
Nähe meiner Eltern und setzte gewissermaßen mein voriges Leben fort,
indem ich Feierstunden und Feiertage zu den wohltätigen Botschaften,
die mir meine Mutter aufzutragen fortfuhr, verwendete."







Die Heimsuchung

"So vergingen einige Jahre", fuhr der Erzähler fort. "Ich begriff
die Vorteile des Handwerks sehr bald, und mein Körper, durch Arbeit
ausgebildet, war imstande, alles zu übernehmen, was dabei gefordert
wurde. Nebenher versah ich meinen alten Dienst, den ich der guten
Mutter, oder vielmehr Kranken und Notdürftigen leistete. Ich zog mit
meinem Tier durchs Gebirg, verteilte die Ladung pünktlich und nahm
von Krämern und Kaufleuten rückwärts mit, was uns hier oben fehlte.
Mein Meister war zufrieden mit mir und meine Eltern auch. Schon
hatte ich das Vergnügen, auf meinen Wanderungen manches Haus zu sehen,
das ich mit aufgeführt, das ich verziert hatte. Denn besonders
dieses letzte Einkerben der Balken, dieses Einschneiden von gewissen
einfachen Formen, dieses Einbrennen zierender Figuren, dieses
Rotmalen einiger Vertiefungen, wodurch ein hölzernes Berghaus den so
lustigen Anblick gewährt, solche Künste waren mir besonders
übertragen, weil ich mich am besten aus der Sache zog, der ich immer
den Thron Herodes' und seine Zieraten im Sinne hatte.

Unter den hilfsbedürftigen Personen, für die meine Mutter eine
vorzügliche Sorge trug, standen besonders junge Frauen obenan, die
sich guter Hoffnung befanden, wie ich nach und nach wohl bemerken
konnte, ob man schon in solchen Fällen die Botschaften gegen mich
geheimnisvoll zu behandeln pflegte. Ich hatte dabei niemals einen
unmittelbaren Auftrag, sondern alles ging durch ein gutes Weib,
welche nicht fern das Tal hinab wohnte und Frau Elisabeth genannt
wurde. Meine Mutter, selbst in der Kunst erfahren, die so manchen
gleich beim Eintritt in das Leben zum Leben rettet, stand mit Frau
Elisabeth in fortdauernd gutem Vernehmen, und ich mußte oft von allen
Seiten hören, daß mancher unserer rüstigen Bergbewohner diesen beiden
Frauen sein Dasein zu danken habe. Das Geheimnis, womit mich
Elisabeth jederzeit empfing, die bündigen Antworten auf meine
rätselhaften Fragen, die ich selbst nicht verstand, erregten mir
sonderbare Ehrfurcht für sie, und ihr Haus, das höchst reinlich war,
schien mir eine Art von kleinem Heiligtume vorzustellen.

Indessen hatte ich durch meine Kenntnisse und Handwerkstätigkeit in
der Familie ziemlichen Einfluß gewonnen. Wie mein Vater als
Bötticher für den Keller gesorgt hatte, so sorgte ich nun für Dach
und Fach und verbesserte manchen schadhaften Teil der alten Gebäude.
Besonders wußte ich einige verfallene Scheuern und Remisen für den
häuslichen Gebrauch wieder nutzbar zu machen; und kaum war dieses
geschehen, als ich meine geliebte Kapelle zu räumen und zu reinigen
anfing. In wenigen Tagen war sie in Ordnung, fast wie Ihr sie sehet;
wobei ich mich bemühte, die fehlenden oder beschädigten Teile des
Täfelwerks dem Ganzen gleich wiederherzustellen. Auch solltet Ihr
diese Flügeltüren des Eingangs wohl für alt genug halten; sie sind
aber von meiner Arbeit. Ich habe mehrere Jahre zugebracht, sie in
ruhigen Stunden zu schnitzen, nachdem ich sie vorher aus starken
eichenen Bohlen im ganzen tüchtig zusammengefügt hatte. Was bis zu
dieser Zeit von Gemälden nicht beschädigt oder verloschen war, hat
sich auch noch erhalten, und ich half dem Glasmeister bei einem neuen
Bau, mit der Bedingung, daß er bunte Fenster herstellte.

Hatten jene Bilder und die Gedanken an das Leben des Heiligen meine
Einbildungskraft beschäftigt, so drückte sich das alles nur viel
lebhafter bei mir ein, als ich den Raum wieder für ein Heiligtum
ansehen, darin, besonders zur Sommerszeit, verweilen und über das,
was ich sah oder vermutete, mit Muße nachdenken konnte. Es lag eine
unwiderstehliche Neigung in mir, diesem Heiligen nachzufolgen; und da
sich ähnliche Begebenheiten nicht leicht herbeirufen ließen, so
wollte ich wenigstens von unten auf anfangen, ihm zu gleichen: wie ich
denn wirklich durch den Gebrauch des lastbaren Tiers schon lange
begonnen hatte. Das kleine Geschöpf, dessen ich mich bisher bedient,
wollte mir nicht mehr genügen; ich suchte mir einen viel
stattlicheren Träger aus, sorgte für einen wohlgebauten Sattel, der
zum Reiten wie zum Packen gleich bequem war. Ein paar neue Körbe
wurden angeschafft, und ein Netz von bunten Schnüren, Flocken und
Quasten, mit klingenden Metallstiften untermischt, zierte den Hals
des langohrigen Geschöpfs, das sich nun bald neben seinem Musterbilde
an der Wand zeigen durfte. Niemanden fiel ein, über mich zu spotten,
wenn ich in diesem Aufzuge durchs Gebirge kam: denn man erlaubt ja
gern der Wohltätigkeit eine wunderliche Außenseite.

Indessen hatte sich der Krieg, oder vielmehr die Folge desselben,
unserer Gegend genähert, indem verschiedenemal gefährliche Rotten von
verlaufenem Gesindel sich versammelten und hie und da manche
Gewalttätigkeit, manchen Mutwillen ausübten. Durch die gute Anstalt
der Landmiliz, durch Streifungen und augenblickliche Wachsamkeit
wurde dem übel zwar bald gesteuert; doch verfiel man zu geschwind
wieder in Sorglosigkeit, und ehe man sich's versah, brachen wieder
neue übeltaten hervor.

Lange war es in unserer Gegend still gewesen, und ich zog mit meinem
Saumrosse ruhig die gewohnten Pfade, bis ich eines Tages über die
frisch besäte Waldblöße kam und an dem Rande des Hegegrabens eine
weibliche Gestalt sitzend oder vielmehr liegend fand. Sie schien zu
schlafen oder ohnmächtig zu sein. Ich bemühte mich um sie, und als
sie ihre schönen Augen aufschlug und sich in die Höhe richtete, rief
sie mit Lebhaftigkeit aus: "Wo ist er? habt Ihr ihn gesehen?" Ich
fragte: "Wen?" Sie versetzte: "Meinen Mann!" Bei ihrem höchst
jugendlichen Ansehen war mir diese Antwort unerwartet; doch fuhr ich
nur um desto lieber fort, ihr beizustehen und sie meiner Teilnahme zu
versichern. Ich vernahm, daß die beiden Reisenden sich wegen der
beschwerlichen Fuhrwege von ihrem Wagen entfernt gehabt, um einen
nähern Fußweg einzuschlagen. In der Nähe seien sie von Bewaffneten
überfallen worden, ihr Mann habe sich fechtend entfernt, sie habe ihm
nicht weit folgen können und sei an dieser Stelle liegengeblieben,
sie wisse nicht wie lange. Sie bitte mich inständig, sie zu
verlassen und ihrem Manne nachzueilen. Sie richtete sich auf ihre
Füße, und die schönste, liebenswürdigste Gestalt stand vor mir; doch
konnte ich leicht bemerken, daß sie sich in einem Zustande befinde,
in welchem sie die Beihülfe meiner Mutter und der Frau Elisabeth wohl
bald bedürfen möchte. Wir stritten uns eine Weile: denn ich
verlangte, sie erst in Sicherheit zu bringen; sie verlangte zuerst
Nachricht von ihrem Manne. Sie wollte sich von seiner Spur nicht
entfernen, und alle meine Vorstellungen hätten vielleicht nicht
gefruchtet, wenn nicht eben ein Kommando unserer Miliz, welche durch
die Nachricht von neuen übeltaten rege geworden war, sich durch den
Wald her bewegt hätte. Diese wurden unterrichtet, mit ihnen das
Nötige verabredet, der Ort des Zusammentreffens bestimmt und so für
diesmal die Sache geschlichtet. Geschwind versteckte ich meine Körbe
in eine benachbarte Höhle, die mir schon öfters zur Niederlage gedient
hatte, richtete meinen Sattel zum bequemen Sitz und hob, nicht ohne
eine sonderbare Empfindung, die schöne Last auf mein williges Tier,
das die gewohnten Pfade sogleich von selbst zu finden wußte und mir
Gelegenheit gab, nebenher zu gehen.

Ihr denkt, ohne daß ich es weitläufig beschreibe, wie wunderlich mir
zumute war. Was ich so lange gesucht, hatte ich wirklich gefunden.
Es war mir, als wenn ich träumte, und dann gleich wieder, als ob ich
aus einem Traume erwachte. Diese himmlische Gestalt, wie ich sie
gleichsam in der Luft schweben und vor den grünen Bäumen sich her
bewegen sah, kam mir jetzt wie ein Traum vor, der durch jene Bilder
in der Kapelle sich in meiner Seele erzeugte. Bald schienen mir jene
Bilder nur Träume gewesen zu sein, die sich hier in eine schöne
Wirklichkeit auflösten. Ich fragte sie manches, sie antwortete mir
sanft und gefällig, wie es einer anständig Betrübten ziemt. Oft bat
sie mich, wenn wir auf eine entblößte Höhe kamen, stillezuhalten,
mich umzusehen, zu horchen. Sie bat mich mit solcher Anmut, mit
einem solchen tief wünschenden Blick unter ihren langen schwarzen
Augenwimpern hervor, daß ich alles tun mußte, was nur möglich war; ja
ich erkletterte eine freistehende, hohe, astlose Fichte. Nie war mir
dieses Kunststück meines Handwerks willkommener gewesen; nie hatte
ich mit mehr Zufriedenheit von ähnlichen Gipfeln, bei Festen und
Jahrmärkten, Bänder und seidene Tücher heruntergeholt. Doch kam ich
diesesmal leider ohne Ausbeute; auch oben sah und hörte ich nichts.
Endlich rief sie selbst mir, herabzukommen, und winkte gar lebhaft
mit der Hand; ja, als ich endlich beim Herabgleiten mich in
ziemlicher Höhe losließ und heruntersprang, tat sie einen Schrei, und
eine süße Freundlichkeit verbreitete sich über ihr Gesicht, da sie
mich unbeschädigt vor sich sah.

Was soll ich Euch lange von den hundert Aufmerksamkeiten unterhalten,
womit ich ihr den ganzen Weg über angenehm zu werden, sie zu
zerstreuen suchte. Und wie könnte ich es auch! denn das ist eben die
Eigenschaft der wahren Aufmerksamkeit, daß sie im Augenblick das
Nichts zu Allem macht. Für mein Gefühl waren die Blumen, die ich ihr
brach, die fernen Gegenden, die ich ihr zeigte, die Berge, die Wälder,
die ich ihr nannte, so viel kostbare Schätze, die ich ihr zuzueignen
dachte, um mich mit ihr in Verhältnis zu setzen, wie man es durch
Geschenke zu tun sucht.

Schon hatte sie mich für das ganze Leben gewonnen, als wir in dem
Orte vor der Türe jener guten Frau anlangten und ich schon eine
schmerzliche Trennung vor mir sah. Nochmals durchlief ich ihre ganze
Gestalt, und als meine Augen an den Fuß herabkamen, bückte ich mich,
als wenn ich etwas am Gurte zu tun hätte, und küßte den niedlichsten
Schuh, den ich in meinem Leben gesehen hatte, doch ohne daß sie es
merkte. Ich half ihr herunter, sprang die Stufen hinauf und rief in
die Haustüre: "Frau Elisabeth, Ihr werdet heimgesucht!" Die Gute trat
hervor, und ich sah ihr über die Schultern zum Hause hinaus, wie das
schöne Wesen die Stufen heraufstieg, mit anmutiger Trauer und
innerlichem Selbstgefühl, dann meine würdige Alte freundlich umarmte
und sich von ihr in das bessere Zimmer leiten ließ. Sie schlossen
sich ein, und ich stand bei meinem Esel vor der Tür, wie einer, der
kostbare Waren abgeladen hat und wieder ein ebenso armer Treiber ist
als vorher." Der Lilienstengel

"Ich zauderte noch, mich zu entfernen, denn ich war unschlüssig, was
ich tun sollte, als Frau Elisabeth unter die Türe trat und mich
ersuchte, meine Mutter zu ihr zu berufen, alsdann umherzugehen und wo
möglich von dem Manne Nachricht zu geben. "Marie läßt Euch gar sehr
darum ersuchen", sagte sie. "Kann ich sie nicht noch einmal selbst
sprechen?" versetzte ich.--"Das geht nicht an", sagte Frau Elisabeth,
und wir trennten uns. In kurzer Zeit erreichte ich unsere Wohnung;
meine Mutter war bereit, noch diesen Abend hinabzugehen und der
jungen Fremden hülfreich zu sein. Ich eilte nach dem Lande hinunter
und hoffte, bei dem Amtmann die sichersten Nachrichten zu erhalten.
Allein er war noch selbst in Ungewißheit, und weil er mich kannte,
hieß er mich die Nacht bei ihm verweilen. Sie ward mir unendlich
lang, und immer hatte ich die schöne Gestalt vor Augen, wie sie auf
dem Tiere schwankte und so schmerzhaft freundlich zu mir heruntersah.
Jeden Augenblick hofft' ich auf Nachricht. Ich gönnte und wünschte
dem guten Ehemann das Leben, und doch mochte ich sie mir so gern als
Witwe denken. Das streifende Kommando fand sich nach und nach
zusammen, und nach mancherlei abwechselnden Gerüchten zeigte sich
endlich die Gewißheit, daß der Wagen gerettet, der unglückliche Gatte
aber an seinen Wunden in dem benachbarten Dorfe gestorben sei. Auch
vernahm ich, daß nach der früheren Abrede einige gegangen waren,
diese Trauerbotschaft der Frau Elisabeth zu verkündigen. Also hatte
ich dort nichts mehr zu tun noch zu leisten, und doch trieb mich eine
unendliche Ungeduld, ein unermeßliches Verlangen durch Berg und Wald
wieder vor ihre Türe. Es war Nacht, das Haus verschlossen, ich sah
Licht in den Zimmern, ich sah Schatten sich an den Vorhängen bewegen,
und so saß ich gegenüber auf einer Bank, immer im Begriff anzuklopfen
und immer von mancherlei Betrachtungen zurückgehalten.

Jedoch was erzähl' ich umständlich weiter, was eigentlich kein
Interesse hat. Genug, auch am folgenden Morgen nahm man mich nicht
ins Haus auf. Man wußte die traurige Nachricht, man bedurfte meiner
nicht mehr; man schickte mich zu meinem Vater, an meine Arbeit; man
antwortete nicht auf meine Fragen; man wollte mich los sein.

Acht Tage hatte man es so mit mir getrieben, als mich endlich Frau
Elisabeth hereinrief. "Tretet sachte auf, mein Freund", sagte sie,
"aber kommt getrost näher!" Sie führte mich in ein reinliches Zimmer,
wo ich in der Ecke durch halbgeöffnete Bettvorhänge meine Schöne
aufrecht sitzen sah. Frau Elisabeth trat zu ihr, gleichsam um mich
zu melden, hub etwas vom Bette auf und brachte mir's entgegen: in das
weißeste Zeug gewickelt den schönsten Knaben. Frau Elisabeth hielt
ihn gerade zwischen mich und die Mutter, und auf der Stelle fiel mir
der Lilienstengel ein, der sich auf dem Bilde zwischen Maria und
Joseph als Zeuge eines reinen Verhältnisses aus der Erde hebt. Von
dem Augenblicke an war mir aller Druck vom Herzen genommen; ich war
meiner Sache, ich war meines Glücks gewiß. Ich konnte mit Freiheit
zu ihr treten, mit ihr sprechen, ihr himmlisches Auge ertragen, den
Knaben auf den Arm nehmen und ihm einen herzlichen Kuß auf die Stirn
drücken.

"Wie danke ich Euch für Eure Neigung zu diesem verwaisten Kinde!"
sagte die Mutter. --Unbedachtsam und lebhaft rief ich aus: "Es ist
keine Waise mehr, wenn Ihr wollt!"

Frau Elisabeth, klüger als ich, nahm mir das Kind ab und wußte mich
zu entfernen.

Noch immer dient mir das Andenken jener Zeit zur glücklichsten
Unterhaltung, wenn ich unsere Berge und Täler zu durchwandern
genötigt bin. Noch weiß ich mir den kleinsten Umstand zurückzurufen,
womit ich Euch jedoch, wie billig, verschone. Wochen gingen vorüber;
Maria hatte sich erholt, ich konnte sie öfter sehen, mein Umgang mit
ihr war eine Folge von Diensten und Aufmerksamkeiten. Ihre
Familienverhältnisse erlaubten ihr einen Wohnort nach Belieben. Erst
verweilte sie bei Frau Elisabeth; dann besuchte sie uns, meiner Mutter
und mir für so vielen und freundlichen Beistand zu danken. Sie
gefiel sich bei uns, und ich schmeichelte mir, es geschehe zum Teil
um meinetwillen. Was ich jedoch so gern gesagt hätte und nicht zu
sagen wagte, kam auf eine sonderbare und liebliche Weise zur Sprache,
als ich sie in die Kapelle führte, die ich schon damals zu einem
wohnbaren Saal umgeschaffen hatte. Ich zeigte und erklärte ihr die
Bilder, eins nach dem andern, und entwickelte dabei die Pflichten
eines Pflegevaters auf eine so lebendige und herzliche Weise, daß ihr
die Tränen in die Augen traten und ich mit meiner Bilderdeutung nicht
zu Ende kommen konnte. Ich glaubte ihrer Neigung gewiß zu sein, ob
ich gleich nicht stolz genug war, das Andenken ihres Mannes so
schnell auslöschen zu wollen. Das Gesetz verpflichtet die Witwen zu
einem Trauerjahre, und gewiß ist eine solche Epoche, die den Wechsel
aller irdischen Dinge in sich begreift, einem fühlenden Herzen nötig,
um die schmerzlichen Eindrücke eines großen Verlustes zu mildern.
Man sieht die Blumen welken und die Blätter fallen, aber man sieht
auch Früchte reifen und neue Knospen keimen. Das Leben gehört den
Lebendigen an, und wer lebt, muß auf Wechsel gefaßt sein.

Ich sprach nun mit meiner Mutter über die Angelegenheit, die mir so
sehr am Herzen lag. Sie entdeckte mir darauf, wie schmerzlich Marien
der Tod ihres Mannes gewesen und wie sie sich ganz allein durch den
Gedanken, daß sie für das Kind leben müsse, wieder aufgerichtet habe.
Meine Neigung war den Frauen nicht unbekannt geblieben, und schon
hatte sich Marie an die Vorstellung gewöhnt, mit uns zu leben. Sie
verweilte noch eine Zeitlang in der Nachbarschaft; dann zog sie zu
uns herauf, und wir lebten noch eine Weile in dem frömmsten und
glücklichsten Brautstande. Endlich verbanden wir uns. Jenes erste
Gefühl, das uns zusammengeführt hatte, verlor sich nicht. Die
Pflichten und Freuden des Pflegevaters und Vaters vereinigten sich;
und so überschritt zwar unsere kleine Familie, indem sie sich
vermehrte, ihr Vorbild an Zahl der Personen, aber die Tugenden jenes
Musterbildes an Treue und Reinheit der Gesinnungen wurden von uns
heilig bewahrt und geübt. Und so erhalten wir auch mit freundlicher
Gewohnheit den äußern Schein, zu dem wir zufällig gelangt und der so
gut zu unserm Innern paßt: denn ob wir gleich alle gute Fußgänger und
rüstige Träger sind, so bleibt das lastbare Tier doch immer in
unserer Gesellschaft, um eine oder die andere Bürde fortzubringen,
wenn uns ein Geschäft oder Besuch durch diese Berge und Täler nötigt.
Wie Ihr uns gestern angetroffen habt, so kennt uns die ganze Gegend,
und wir sind stolz darauf, daß unser Wandel von der Art ist, um jenen
heiligen Namen und Gestalten, zu deren Nachahmung wir uns bekennen,
keine Schande zu machen."









Drittes Kapitel



Wilhelm an Natalien

Soeben schließe ich eine angenehme, halb wunderbare Geschichte, die
ich für dich aus dem Munde eines gar wackern Mannes aufgeschrieben
habe. Wenn es nicht ganz seine Worte sind, wenn ich hie und da meine
Gesinnungen bei Gelegenheit der seinigen ausgedrückt habe, so war es
bei der Verwandtschaft, die ich hier mit ihm fühlte, ganz natürlich.
Jene Verehrung seines Weibes, gleicht sie nicht derjenigen, die ich
für dich empfinde? und hat nicht selbst das Zusammentreffen dieser
beiden Liebenden etwas ähnliches mit dem unsrigen? Daß er aber
glücklich genug ist, neben dem Tiere herzugehen, das die doppelt
schöne Bürde trägt, daß er mit seinem Familienzug abends in das alte
Klostertor eindringen kann, daß er unzertrennlich von seiner
Geliebten, von den Seinigen ist, darüber darf ich ihn wohl im stillen
beneiden. Dagegen darf ich nicht einmal mein Schicksal beklagen, weil
ich dir zugesagt habe, zu schweigen und zu dulden, wie du es auch
übernommen hast.

Gar manchen schönen Zug des Zusammenseins dieser frommen und heitern
Menschen muß ich übergehen: denn wie ließe sich alles schreiben!
Einige Tage sind mir angenehm vergangen, aber der dritte mahnt mich
nun, auf meinen weitern Weg bedacht zu sein.

Mit Felix hatte ich heut einen kleinen Handel: denn er wollte fast
mich nötigen, einen meiner guten Vorsätze zu übertreten, die ich dir
angelobt habe. Ein Fehler, ein Unglück, ein Schicksal ist mir's nun
einmal, daß sich, ehe ich mich's versehe, die Gesellschaft um mich
vermehrt, daß ich mir eine neue Bürde auflade, an der ich nachher zu
tragen und zu schleppen habe. Nun soll auf meiner Wanderschaft kein
Dritter uns ein beständiger Geselle werden. Wir wollen und sollen zu
zwei sein und bleiben, und eben schien sich ein neues, eben nicht
erfreuliches Verhältnis anknüpfen zu wollen.

Zu den Kindern des Hauses, mit denen Felix sich spielend diese Tage
her ergötzte, hatte sich ein kleiner, munterer, armer Junge gesellt,
der sich eben brauchen und mißbrauchen ließ, wie es gerade das Spiel
mit sich brachte, und sich sehr geschwind bei Felix in Gunst setzte.
Und ich merkte schon an allerlei Äußerungen, daß dieser sich einen
Gespielen für den nächsten Weg auserkoren hatte. Der Knabe ist hier
in der Gegend bekannt, wird wegen seiner Munterkeit überall geduldet
und empfängt gelegentlich ein Almosen. Mir aber gefiel er nicht, und
ich ersuchte den Hausherrn, ihn zu entfernen. Das geschah auch, aber
Felix war unwillig darüber, und es gab eine kleine Szene.

Bei dieser Gelegenheit macht' ich eine Entdeckung, die mir angenehm
war. In der Ecke der Kapelle oder des Saals stand ein Kasten mit
Steinen, welchen Felix, der seit unserer Wanderung durchs Gebirg eine
gewaltsame Neigung zum Gestein bekommen, eifrig hervorzog und
durchsuchte. Es waren schöne, in die Augen fallende Dinge darunter.
Unser Wirt sagte, das Kind könne sich auslesen, was es wolle. Es sei
dieses Gestein überblieben von einer großen Masse, die ein Fremder
vor kurzem von hier weggesendet. Er nannte ihn Montan, und du kannst
denken, daß ich mich freute, diesen Namen zu hören, unter dem einer
von unsern besten Freunden reist, dem wir so manches schuldig sind.
Indem ich nach Zeit und Umständen fragte, kann ich hoffen, ihn auf
meiner Wanderung bald zu treffen.




Die Nachricht, daß Montan sich in der Nähe befinde, hatte Wilhelmen
nachdenklich gemacht. Er überlegte, daß es nicht bloß dem Zufall zu
überlassen sei, ob er einen so werten Freund wiedersehen solle, und
erkundigte sich daher bei seinem Wirte, ob man nicht wisse, wohin
dieser Reisende seinen Weg gerichtet habe. Niemand hatte davon nähere
Kenntnis, und schon war Wilhelm entschlossen, seine Wanderung nach
dem ersten Plane fortzusetzen, als Felix ausrief: "Wenn der Vater
nicht so eigen wäre, wir wollten Montan schon finden." --"Auf welche
Weise?" fragte Wilhelm. Felix versetzte: "Der kleine Fitz sagte
gestern, er wolle den Herrn wohl aufspüren, der schöne Steine bei sich
habe und sich auch gut darauf verstünde." Nach einigem Hin--und
Widerreden entschloß sich Wilhelm zuletzt, den Versuch zu machen und
dabei auf den verdächtigen Knaben desto mehr Acht zu geben. Dieser
war bald gefunden und brachte, da er vernahm, worauf es abgesehen sei,
Schlegel und Eisen und einen tüchtigen Hammer nebst einem Säckchen
mit und lief in seiner bergmännischen Tracht munter vorauf.

Der Weg ging seitwärts abermals bergauf. Die Kinder sprangen
miteinander von Fels zu Fels, über Stock und Stein, über Bach und
Quelle, und ohne einen Pfad vor sich zu haben, drang Fitz, bald
rechts bald links blickend, eilig hinauf. Da Wilhelm und besonders
der bepackte Bote nicht so schnell folgten, so machten die Knaben den
Weg mehrmals vor--und rückwärts und sangen und pfiffen. Die Gestalt
einiger fremden Bäume erregte die Aufmerksamkeit des Felix, der
nunmehr mit den Lärchen--und Zirbelbäumen zuerst Bekanntschaft machte
und von den wunderbaren Genzianen angezogen ward. Und so fehlte es
der beschwerlichen Wanderung von einer Stelle zur andern nicht an
Unterhaltung.

Der kleine Fitz stand auf einmal still und horchte. Er winkte die
andern herbei: "Hört ihr pochen?" sprach er. "Es ist der Schall
eines Hammers, der den Fels trifft." --"Wir hören's", versetzten die
andern.--"Das ist Montan!" sagte er, "oder jemand, der uns von ihm
Nachricht geben kann."--Als sie dem Schalle nachgingen, der sich von
Zeit zu Zeit wiederholte, trafen sie auf eine Waldblöße und sahen
einen steilen, hohen, nackten Felsen über alles hervorragen, die hohen
Wälder selbst tief unter sich lassend. Auf dem Gipfel erblickten sie
eine Person. Sie stand zu entfernt, um erkannt zu werden. Sogleich
machten sich die Kinder auf, die schroffen Pfade zu erklettern.
Wilhelm folgte mit einiger Beschwerlichkeit, ja Gefahr: denn wer
zuerst einen Felsen hinaufsteigt, geht immer sicherer, weil er sich
die Gelegenheit aussucht; einer, der nachfolgt, sieht nur, wohin
jener gelangt ist, aber nicht wie. Die Knaben erreichten bald den
Gipfel, und Wilhelm vernahm ein lautes Freudengeschrei. "Es ist
Jarno!" rief Felix seinem Vater entgegen, und Jarno trat sogleich an
eine schroffe Stelle, reichte seinem Freunde die Hand und zog ihn
aufwärts. Sie umarmten und bewillkommten sich in der freien
Himmelsluft mit Entzücken.

Kaum aber hatten sie sich losgelassen, als Wilhelm ein Schwindel
überfiel, nicht sowohl um seinetwillen, als weil er die Kinder über
dem ungeheuren Abgrunde hängen sah. Jarno bemerkte es und hieß alle
sogleich niedersetzen. "Es ist nichts natürlicher", sagte er, "als
daß uns vor einem großen Anblick schwindelt, vor dem wir uns
unerwartet befinden, um zugleich unsere Kleinheit und unsere Größe zu
fühlen. Aber es ist ja überhaupt kein echter Genuß als da, wo man
erst schwindeln muß."

"Sind denn das da unten die großen Berge, über die wir gestiegen
sind?" fragte Felix. "Wie klein sehen sie aus! Und hier", fuhr er
fort, indem er ein Stückchen Stein vom Gipfel loslöste, "ist ja schon
das Katzengold wieder; das ist ja wohl überall?"--"Es ist weit und
breit", versetzte Jarno; "und da du nach solchen Dingen fragst, so
merke dir, daß du gegenwärtig auf dem ältesten Gebirge, auf dem
frühesten Gestein dieser Welt sitzest."--"Ist denn die Welt nicht auf
einmal gemacht?" fragte Felix.--"Schwerlich", versetzte Montan; "gut
Ding will Weile haben."--"Da unten ist also wieder anderes Gestein",
sagte Felix, "und dort wieder anderes, und immer wieder anderes!"
indem er von den nächsten Bergen auf die entfernteren und so in die
Ebene hinab wies.

Es war ein sehr schöner Tag, und Jarno ließ sie die herrliche
Aussicht im einzelnen betrachten. Noch standen hie und da mehrere
Gipfel, dem ähnlich, worauf sie sich befanden. Ein mittleres Gebirg
schien heranzustreben, aber erreichte noch lange die Höhe nicht.
Weiter hin verflächte es sich immer mehr, doch zeigten sich wieder
seltsam vorspringende Gestalten. Endlich wurden auch in der Ferne die
Seen, die Flüsse sichtbar, und eine fruchtreiche Gegend schien sich
wie ein Meer auszubreiten. Zog sich der Blick wieder zurück, so drang
er in schauerliche Tiefen, von Wasserfällen durchrauscht,
labyrinthisch miteinander zusammenhängend.

Felix ward des Fragens nicht müde und Jarno gefällig genug, ihm jede
Frage zu beantworten; wobei jedoch Wilhelm zu bemerken glaubte, daß
der Lehrer nicht durchaus wahr und aufrichtig sei. Daher, als die
unruhigen Knaben weiterkletterten, sagte Wilhelm zu seinem Freunde:
"Du hast mit dem Kinde über diese Sachen nicht gesprochen, wie du mit
dir selber darüber sprichst."--"Das ist auch eine starke Forderung",
versetzte Jarno. "Spricht man ja mit sich selbst nicht immer, wie
man denkt, und es ist Pflicht, andern nur dasjenige zu sagen, was sie
aufnehmen können. Der Mensch versteht nichts, als was ihm gemäß ist.
Die Kinder an der Gegenwart festzuhalten, ihnen eine Benennung, eine
Bezeichnung zu überliefern, ist das Beste, was man tun kann. Sie
fragen ohnehin früh genug nach den Ursachen."

"Es ist ihnen nicht zu verdenken", versetzte Wilhelm. "Die
Mannigfaltigkeit der Gegenstände verwirrt jeden, und es ist bequemer,
anstatt sie zu entwickeln, geschwind zu fragen: woher? und
wohin?"--"Und doch kann man", sagte Jarno, "da Kinder die Gegenstände
nur oberflächlich sehen, mit ihnen vom Werden und vom Zweck auch nur
oberflächlich reden."--"Die meisten Menschen", erwiderte Wilhelm,
"bleiben lebenslänglich in diesem Falle und erreichen nicht jene
herrliche Epoche, in der uns das Faßliche gemein und albern vorkommt.
"--"Man kann sie wohl herrlich nennen", versetzte Jarno, "denn es ist
ein Mittelzustand zwischen Verzweiflung und Vergötterung."--"Laß uns
bei dem Knaben verharren", sagte Wilhelm, "der mir nun vor allem
angelegen ist. Er hat nun einmal Freude an dem Gestein gewonnen,
seitdem wir auf der Reise sind. Kannst du mir nicht so viel mitteilen,
daß ich ihm, wenigstens auf eine Zeit, genugtue?"--"Das geht nicht
an", sagte Jarno. "In einem jeden neuen Kreise muß man zuerst wieder
als Kind anfangen, leidenschaftliches Interesse auf die Sache werfen,
sich erst an der Schale freuen, bis man zu dem Kerne zu gelangen das
Glück hat."

"So sage mir denn", versetzte Wilhelm, "wie bist du zu diesen
Kenntnissen und Einsichten gelangt? denn es ist doch so lange noch
nicht her, daß wir auseinandergingen!"--"Mein Freund", versetzte
Jarno, "wir mußten uns resignieren, wo nicht für immer, doch für eine
gute Zeit. Das erste, was einem tüchtigen Menschen unter solchen
Umständen einfällt, ist, ein neues Leben zu beginnen. Neue
Gegenstände sind ihm nicht genug: diese taugen nur zur Zerstreuung; er
fordert ein neues Ganze und stellt sich gleich in dessen Mitte.
"--"Warum denn aber", fiel Wilhelm ihm ein, "gerade dieses
Allerseltsamste, diese einsamste aller Neigungen?"--"Eben deshalb",
rief Jarno, "weil sie einsiedlerisch ist. Die Menschen wollt' ich
meiden. Ihnen ist nicht zu helfen, und sie hindern uns, daß man sich
selbst hilft. Sind sie glücklich, so soll man sie in ihren
Albernheiten gewähren lassen; sind sie unglücklich, so soll man sie
retten, ohne diese Albernheiten anzutasten; und niemand fragt jemals,
ob du glücklich oder unglücklich bist."--"Es steht noch nicht so ganz
schlimm mit ihnen", versetzte Wilhelm lächelnd.-- "Ich will dir dein
Glück nicht absprechen", sagte Jarno. "Wandre nur hin, du zweiter
Diogenes! Laß dein Lämpchen am hellen Tage nicht verlöschen! Dort
hinabwärts liegt eine neue Welt vor dir; aber ich will wetten, es geht
darin zu wie in der alten hinter uns. Wenn du nicht kuppeln und
Schulden bezahlen kannst, so bist du unter ihnen nichts nütze.
"--"Unterhaltender scheinen sie mir doch", versetzte Wilhelm, "als
deine starren Felsen."--"Keineswegs", versetzte Jarno, "denn diese
sind wenigstens nicht zu begreifen."--"Du suchst eine Ausrede",
versetzte Wilhelm, "denn es ist nicht in deiner Art, dich mit Dingen
abzugeben, die keine Hoffnung übriglassen, sie zu begreifen. Sei
aufrichtig und sage mir, was du an diesen kalten und starren
Liebhabereien gefunden hast?"--"Das ist schwer von jeder Liebhaberei
zu sagen, besonders von dieser." Dann besann er sich einen Augenblick
und sprach: "Buchstaben mögen eine schöne Sache sein, und doch sind
sie unzulänglich, die Töne auszudrücken; Töne können wir nicht
entbehren, und doch sind sie bei weitem nicht hinreichend, den
eigentlichen Sinn verlauten zu lassen; am Ende kleben wir am
Buchstaben und am Ton und sind nicht besser dran, als wenn wir sie
ganz entbehrten; was wir mitteilen, was uns überliefert wird, ist
immer nur das Gemeinste, der Mühe gar nicht wert."

"Du willst mir ausweichen", sagte der Freund; "denn was soll das zu
diesen Felsen und Zacken?"--"Wenn ich nun aber", versetzte jener,
"eben diese Spalten und Risse als Buchstaben behandelte, sie zu
entziffern suchte, sie zu Worten bildete und sie fertig zu lesen
lernte, hättest du etwas dagegen?"--"Nein, aber es scheint mir ein
weitläufiges Alphabet."--"Enger, als du denkst; man muß es nur kennen
lernen wie ein anderes auch. Die Natur hat nur eine Schrift, und ich
brauche mich nicht mit so vielen Kritzeleien herumzuschleppen. Hier
darf ich nicht fürchten, wie wohl geschieht, wenn ich mich lange und
liebevoll mit einem Pergament abgegeben habe, daß ein scharfer
Kritikus kommt und mir versichert, das alles sei nur untergeschoben.
"-- Lächelnd versetzte der Freund: "Und doch wird man auch hier deine
Lesarten streitig machen."--"Eben deswegen", sagte jener, "red' ich
mit niemanden darüber und mag auch mit dir, eben weil ich dich liebe,
das schlechte Zeug von öden Worten nicht weiter wechseln und
betrieglich austauschen."









Viertes Kapitel

Beide Freunde waren, nicht ohne Sorgfalt und Mühe, herabgestiegen,
um die Kinder zu erreichen, die sich unten an einem schattigen Orte
gelagert hatten. Fast eifriger als der Mundvorrat wurden die
gesammelten Steinmuster von Montan und Felix ausgepackt. Der letztere
hatte viel zu fragen, der erstere viel zu benennen. Felix freute
sich, daß jener die Namen von allen wisse, und behielt sie schnell im
Gedächtnis. Endlich brachte er noch einen hervor und fragte: "Wie
heißt denn dieser?" Montan betrachtete ihn mit Verwunderung und sagte:
"Wo habt ihr den her?" Fitz antwortete schnell: "Ich habe ihn
gefunden, er ist aus diesem Lande."--"Er ist nicht aus dieser Gegend",
versetzte Montan. Fitz freute sich, den überlegenen Mann in einigem
Zweifel zu sehen.--"Du sollst einen Dukaten haben", sagte Montan,
"wenn du mich an die Stelle bringst, wo er ansteht."-- "Der ist
leicht zu verdienen", versetzte Fitz, "aber nicht gleich."-- "So
bezeichne mir den Ort genau, daß ich ihn gewiß finden kann. Das ist
aber unmöglich: denn es ist ein Kreuzstein, der von St. Jakob in
Compostell kommt und den ein Fremder verloren hat, wenn du ihn nicht
gar entwendet hast, da er so wunderbar aussieht." --"Gebt Euren
Dukaten", sagte Fitz, "dem Reisegefährten in Verwahrung, und ich will
aufrichtig bekennen, wo ich den Stein her habe. In der verfallenen
Kirche zu St. Joseph befindet sich ein gleichfalls verfallener Altar.
Unter den auseinandergebrochenen obern Steinen desselben entdeckt'
ich eine Schicht von diesem Gestein, das jenen zur Grundlage diente,
und schlug davon so viel herunter, als ich habhaft werden konnte.
Wälzte man die obern Steine weg, so würde gewiß noch viel davon zu
finden sein."

"Nimm dein Goldstück", versetzte Montan, "du verdienst es für diese
Entdeckung. Sie ist artig genug. Man freut sich mit Recht, wenn die
leblose Natur ein Gleichnis dessen, was wir lieben und verehren,
hervorbringt. Sie erscheint uns in Gestalt einer Sibylle, die ein
Zeugnis dessen, was von der Ewigkeit her beschlossen ist und erst in
der Zeit wirklich werden soll, zum voraus niederlegt. Hierauf als
auf eine wundervolle, heilige Schicht hatten die Priester ihren Altar
gegründet."

Wilhelm, der eine Zeitlang zugehört und bemerkt hatte, daß manche
Benennung, manche Bezeichnung wiederkam, wiederholte seinen schon
früher geäußerten Wunsch, daß Montan ihm so viel mitteilen möge, als
er zum ersten Unterricht des Knaben nötig hätte.--"Gib das auf",
versetzte Montan. "Es ist nichts schrecklicher als ein Lehrer, der
nicht mehr weiß, als die Schüler allenfalls wissen sollen. Wer
andere lehren will, kann wohl oft das Beste verschweigen, was er weiß,
aber er darf nicht halbwissend sein." "Wo sind denn aber so
vollkommene Lehrer zu finden?"-- "Die triffst du sehr leicht",
versetzte Montan. "Wo denn?" sagte Wilhelm mit einigem Unglauben.
--"Da, wo die Sache zu Hause ist, die du lernen willst", versetzte
Montan. "Den besten Unterricht zieht man aus vollständiger Umgebung.
Lernst du nicht fremde Sprachen in den Ländern am besten, wo sie zu
Hause sind? wo nur diese und keine andere weiter dein Ohr
berührt?"--"Und so wärst du", fragte Wilhelm, "zwischen den Gebirgen
zur Kenntnis der Gebirge gelangt?" "Das versteht sich."--"Ohne mit
Menschen umzugehen?" fragte Wilhelm.-- "Wenigstens nur mit Menschen",
versetzte jener, "die bergartig waren. Da, wo Pygmäen, angereizt
durch Metalladern, den Fels durchwühlen, das Innere der Erde
zugänglich machen und auf alle Weise die schwersten Aufgaben zu lösen
suchen, da ist der Ort, wo der wißbegierige Denkende seinen Platz
nehmen soll. Er sieht handeln, tun, läßt geschehen und erfreut sich
des Geglückten und Mißglückten. Was nützt, ist nur ein Teil des
Bedeutenden. Um einen Gegenstand ganz zu besitzen, zu beherrschen,
muß man ihn um sein selbst willen studieren. Indem ich aber vom
Höchsten und Letzten spreche, wozu man sich erst spät durch vieles
und reiches Gewahrwerden emporhebt, seh' ich die Knaben vor uns, bei
denen klingt es ganz anders. Jede Art von Tätigkeit möchte das Kind
ergreifen, weil alles leicht aussieht, was vortrefflich ausgeübt wird.
Aller Anfang ist schwer! Das mag in einem gewissen Sinne wahr sein;
allgemeiner aber kann man sagen: aller Anfang ist leicht, und die
letzten Stufen werden am schwersten und seltensten erstiegen."
Wilhelm, der indessen nachgedacht hatte, sagte zu Montan: "Solltest
du wirklich zu der überzeugung gegriffen haben, daß die sämtlichen
Tätigkeiten, wie in der Ausübung, so auch im Unterricht zu sondern
seien?"--"Ich weiß mir nichts anderes noch Besseres", erwiderte jener.
"Was der Mensch leisten soll, muß sich als ein zweites Selbst von
ihm ablösen, und wie könnte das möglich sein, wäre sein erstes Selbst
nicht ganz davon durchdrungen?"--"Man hat aber doch eine vielseitige
Bildung für vorteilhaft und notwendig gehalten."--"Sie kann es auch
sein zu ihrer Zeit", versetzte jener; "Vielseitigkeit bereitet
eigentlich nur das Element vor, worin der Einseitige wirken kann, dem
eben jetzt genug Raum gegeben ist. Ja, es ist jetzo die Zeit der
Einseitigkeiten; wohl dem, der es begreift, für sich und andere in
diesem Sinne wirkt. Bei gewissen Dingen versteht sich's durchaus und
sogleich. übe dich zum tüchtigen Violinisten und sei versichert, der
Kapellmeister wird dir deinen Platz im Orchester mit Gunst anweisen.
Mache ein Organ aus dir und erwarte, was für eine Stelle dir die
Menschheit im allgemeinen Leben wohlmeinend zugestehen werde. Laß uns
abbrechen! Wer es nicht glauben will, der gehe seinen Weg, auch der
gelingt zuweilen; ich aber sage: von unten hinauf zu dienen, ist
überall nötig. Sich auf ein Handwerk zu beschränken, ist das Beste.
Für den geringsten Kopf wird es immer ein Handwerk, für den besseren
eine Kunst, und der beste, wenn er eins tut, tut er alles, oder, um
weniger paradox zu sein, in dem einen, was er recht tut, sieht er das
Gleichnis von allem, was recht getan wird."

Dieses Gespräch, das wir nur skizzenhaft wiederliefern, verzog sich
bis gegen Sonnenuntergang, der, so herrlich er war, doch die
Gesellschaft nachdenken ließ, wo man die Nacht zubringen wollte:
"Unter Dach wüßte ich euch nicht zu führen", sagte Fitz; "wollt ihr
aber bei einem guten alten Köhler, an warmer Stätte die Nacht
versitzen oder verliegen, so seid ihr willkommen." Und so folgten
sie ihm alle durch wundersame Pfade zum stillen Ort, wo sich ein
jeder bald einheimisch fühlen sollte.

In der Mitte eines beschränkten Waldraums lag dampfend und wärmend
der wohlgewölbte Kohlenmeiler, an der Seite die Hütte von
Tannenreisern, ein helles Feuerchen daneben. Man setzte sich, man
richtete sich ein. Die Kinder waren sogleich um die Köhlersfrau
geschäftig, welche, gastfreundlich bemüht, erhitzte Brotschnitten mit
Butter zu tränken und durchziehen zu lassen, köstlich fette Bissen
den hungrig Lüsternen bereitete.

Indes nun darauf die Knaben durch die kaum erhellten Fichtenstämme
Versteckens spielten, wie Wölfe heulten, wie Hunde bellten, so daß
auch wohl ein herzhafter Wanderer darüber hätte erschrecken mögen,
besprachen sich die Freunde vertraulich über ihre Zustände. Nun aber
gehörte zu den sonderbaren Verpflichtungen der Entsagenden auch die:
daß sie, zusammentreffend, weder vom Vergangenen noch Künftigen
sprechen durften, nur das Gegenwärtige sollte sie beschäftigen.

Jarno, der von bergmännischen Unternehmungen und den dazu
erforderlichen Kenntnissen und Tatfähigkeiten den Sinn voll hatte,
trug Wilhelmen auf das genaueste und vollständigste mit Leidenschaft
vor, was er sich alles in beiden Weltteilen von solchen
Kunsteinsichten und Fertigkeiten verspreche; wovon sich jedoch der
Freund, der immer nur im menschlichen Herzen den wahren Schatz
gesucht, kaum einen Begriff machen konnte, vielmehr zuletzt lächelnd
erwiderte: "So stehst du ja mit dir selbst im Widerspruch, indem du
erst in deinen ältern Tagen dasjenige zu treiben anfängst, wozu man
von Jugend auf sollte eingeleitet sein." "Keineswegs!" erwiderte
jener; "denn eben daß ich in meiner Kindheit bei einem liebenden
Oheim, einem hohen Bergbeamten, erzogen wurde, daß ich mit den
Pochjungen groß geworden bin, auf dem Berggraben mit ihnen kleine
Rindenschiffchen niederfahren ließ, das hat mich zurück in diesen
Kreis geführt, wo ich mich nun wieder behaglich und verjüngt fühle.
Schwerlich kann dieser Köhlerdampf dir zusagen wie mir, der ich ihn
von Kindheit auf als Weihrauch einzuschlürfen gewohnt bin. Ich habe
viel in der Welt versucht und immer dasselbe gefunden: in der
Gewohnheit ruht das einzige Behagen des Menschen; selbst das
Unangenehme, woran wir uns gewöhnten, vermissen wir ungern. Ich
quälte mich einmal gar lange mit einer Wunde, die nicht heilen wollte,
und als ich endlich genas, war es mir höchst unangenehm, als der
Chirurg ausblieb, sie nicht mehr verband und das Frühstück nicht mehr
mit mir einnahm."

"Ich möchte aber doch", versetzte Wilhelm, "meinem Sohn einen
freieren Blick über die Welt verschaffen, als ein beschränktes
Handwerk zu geben vermag. Man umgrenze den Menschen, wie man wolle,
so schaut er doch zuletzt in seiner Zeit umher; und wie kann er die
begreifen, wenn er nicht einigermaßen weiß, was vorhergegangen ist.
Und müßte er nicht mit Erstaunen in jeden Gewürzladen eintreten, wenn
er keinen Begriff von den Ländern hätte, woher diese unentbehrlichen
Seltsamkeiten bis zu ihm gekommen sind?"

"Wozu die Umstände?" versetzte Jarno; "lese er die Zeitungen wie
jeder Philister und trinke Kaffee wie jede alte Frau. Wenn du es
aber doch nicht lassen kannst und auf eine vollkommene Bildung so
versessen bist, so begreif' ich nicht, wie du so blind sein kannst,
wie du noch lange suchen magst, wie du nicht siehst, daß du dich ganz
in der Nähe einer vortrefflichen Erziehungsanstalt befindest."--"In
der Nähe?" sagte Wilhelm und schüttelte den Kopf. "Freilich!"
versetzte jener; "was siehst du hier?"--"Wo denn?"--"Grad hier vor
der Nase." Jarno streckte seinen Zeigefinger aus und deutete und
rief ungeduldig: "Was ist denn das?" --"Nun denn!" sagte Wilhelm,
"ein Kohlenmeiler; aber was soll das hierzu?"--"Gut! endlich! ein
Kohlenmeiler! Wie verfährt man, um ihn anzurichten?"--"Man stellt
Scheite an--und übereinander."-- "Wenn das getan ist, was geschieht
ferner?"--"Wie mir scheint", sagte Wilhelm, "willst du auf
sokratische Weise mir die Ehre antun, mir begreiflich zu machen, mich
bekennen zu lassen, daß ich äußerst absurd und dickstirnig sei."

"Keineswegs!" versetzte Jarno; "fahre fort, mein Freund, pünktlich
zu antworten. Also! was geschieht nun, wenn der regelmäßige Holzstoß
dicht und doch luftig geschichtet worden?"--"Nun, denn! man zündet
ihn an."-- "Und wenn er nun durchaus entzündet ist, wenn die Flamme
durch jede Ritze durchschlägt, wie beträgt man sich? läßt man's
fortbrennen?"-- "Keineswegs! man deckt eilig mit Rasen und Erde, mit
Kohlengestiebe und was man bei der Hand hat, die durch und durch
dringende Flamme zu."--"Um sie auszulöschen?" --"Keineswegs! um sie
zu dämpfen."--"Und also läßt man ihr so viel Luft als nötig, daß sich
alles mit Glut durchziehe, damit alles recht gar werde. Alsdann
verschließt man jede Ritze, verhindert jeden Ausbruch, damit ja alles
nach und nach in sich selbst verlösche, verkohle, verkühle, zuletzt
auseinandergezogen als verkäufliche Ware an Schmied und Schlosser, an
Bäcker und Koch abgelassen und, wenn es zu Nutzen und Frommen der
lieben Christenheit genugsam gedient, als Asche von Wäscherinnen und
Seifensiedern verbraucht werde."

"Nun", versetzte Wilhelm lachend, "in Bezug auf dieses Gleichnis,
wie siehst du dich denn an?"--"Das ist nicht schwer zu sagen",
erwiderte Jarno, "ich halte mich für einen alten Kohlenkorb tüchtig
büchener Kohlen, dabei aber erlaub' ich mir die Eigenheit, mich nur
um mein selbst willen zu verbrennen, deswegen ich denn den Leuten gar
wunderlich vorkomme."--"Und mich?" sagte Wilhelm, "wie wirst du mich
behandeln?"--"Jetzt besonders", sagte Jarno, "seh' ich dich an wie
einen Wanderstab, der die wunderliche Eigenschaft hat, in jeder Ecke
zu grünen, wo man ihn hinstellt, nirgends aber Wurzel zu fassen. Nun
male dir das Gleichnis weiter aus und lerne begreifen, wenn weder
Förster noch Gärtner, weder Köhler noch Tischer, noch irgendein
Handwerker aus dir etwas zu machen weiß."

Unter solchem Gespräch nun zog Wilhelm, ich weiß nicht zu welchem
Gebrauch, etwas aus dem Busen, das halb wie eine Brieftasche, halb
wie ein Besteck aussah und von Montan als ein Altbekanntes
angesprochen wurde. Unser Freund leugnete nicht, daß er es als eine
Art von Fetisch bei sich trage, in dem Aberglauben, sein Schicksal
hange gewissermaßen von dessen Besitz ab.

Was es aber gewesen, dürfen wir an dieser Stelle dem Leser noch
nicht vertrauen, so viel aber müssen wir sagen, daß hieran sich ein
Gespräch anknüpfte, dessen Resultate sich endlich dahin ergaben, daß
Wilhelm bekannte: wie er schon längst geneigt sei, einem gewissen
besondern Geschäft, einer ganz eigentlich nützlichen Kunst sich zu
widmen, vorausgesetzt, Montan werde sich bei den Verbündeten dahin
verwenden, daß die lästigste aller Lebensbedingungen, nicht länger
als drei Tage an einem Orte zu verweilen, baldigst aufgehoben und ihm
vergönnt werde, sich zu Erreichung seines Zweckes da oder dort, wie
es ihm belieben möge, aufzuhalten. Dies versprach Montan zu bewirken,
nachdem jener feierlich angelobt hatte, die vertraulich
ausgesprochene Absicht unablässig zu verfolgen und den einmal
gefaßten Vorsatz auf das treulichste festzuhalten.

Dieses alles ernstlich durchsprechend und einander unablässig
erwidernd, waren sie von ihrer Nachtstätte, wo sich eine wunderlich
verdächtige Gesellschaft nach und nach versammelt hatte, bei
Tagesanbruch aus dem Wald auf eine Blöße gekommen, an der sie einiges
Wild antrafen, das besonders dem fröhlich auffassenden Felix viel
Freude machte. Man bereitete sich zum Scheiden, denn hier deuteten
die Pfade nach verschiedenen Himmelsgegenden. Fitz ward nun über die
verschiedenen Richtungen befragt, der aber zerstreut schien und gegen
seine Gewohnheit verworrene Antworten gab.

"Du bist überhaupt ein Schelm", sagte Jarno; "diese Männer heute
nacht, die sich um uns herum setzten, kanntest du alle. Es waren
Holzhauer und Bergleute, das mochte hingehen, aber die letzten halt'
ich für Schmuggler, für Wilddiebe, und der lange, ganz letzte, der
immer Zeichen in den Sand schrieb und den die andern mit einiger
Achtung behandelten, war gewiß ein Schatzgräber, mit dem du unter der
Decke spielst."

"Es sind alles gute Leute", ließ Fitz sich darauf vernehmen; "sie
nähren sich kümmerlich, und wenn sie manchmal etwas tun, was die
andern verbieten, so sind es arme Teufel, die sich selbst etwas
erlauben müssen, nur um zu leben."

Eigentlich aber war der kleine, schelmische Junge, da er
Vorbereitungen der Freunde, sich zu trennen, bemerkte, nachdenklich;
er überlegte sich etwas im stillen, denn er stand zweifelhaft,
welchem von beiden Teilen er folgen sollte. Er berechnete seinen
Vorteil: Vater und Sohn gingen leichtsinnig mit dem Silber um, Jarno
aber gar mit dem Golde; diesen nicht loszulassen, hielt er fürs beste.
Daher ergriff er sogleich eine dargebotene Gelegenheit, und als im
Scheiden Jarno zu ihm sagte: "Nun, wenn ich nach St. Joseph komme,
will ich sehen, ob du ehrlich bist, ich werde den Kreuzstein und den
verfallenen Altar suchen."--"Ihr werdet nichts finden", sagte Fitz,
"und ich werde doch ehrlich bleiben; der Stein ist dorther, aber ich
habe sämtliche Stücke weggeschafft und sie hier oben verwahrt. Es ist
ein kostbares Gestein, ohne dasselbe läßt sich kein Schatz heben; man
bezahlt mir ein kleines Stück gar teuer. Ihr hattet ganz recht,
daher kam meine Bekanntschaft mit dem hagern Manne."

Nun gab es neue Verhandlungen, Fitz verpflichtete sich an Jarno,
gegen einen nochmaligen Dukaten, in mäßiger Entfernung ein tüchtiges
Stück dieses seltenen Minerals zu verschaffen, wogegen er den Gang
nach dem Riesenschloß abriet; weil aber dennoch Felix darauf bestand,
dem Boten einschärfte, die Reisenden nicht zu tief hineinzulassen,
denn niemand finde sich aus diesen Höhlen und Klüften jemals wieder
heraus. Man schied, und Fitz versprach, zu guter Zeit in den Hallen
des Riesenschlosses wieder einzutreffen.

Der Bote schritt voran, die beiden folgten; jener war aber kaum den
Berg eine Strecke hinaufgestiegen, als Felix bemerkte, man gehe nicht
den Weg, auf welchen Fitz gedeutet habe. Der Bote versetzte jedoch:
"Ich muß es besser wissen! Denn erst in diesen Tagen hat ein
gewaltiger Sturm die nächste Waldstrecke niedergestürzt; die kreuzweis
übereinandergeworfenen Bäume versperren diesen Weg: folgt mir, ich
bring' euch an Ort und Stelle." Felix verkürzte sich den
beschwerlichen Pfad durch lebhaften Schritt und Sprung von Fels zu
Fels und freute sich über sein erworbenes Wissen, daß er nun von
Granit zu Granit hüpfe.

Und so ging es aufwärts, bis er endlich auf zusammengestürzten
schwarzen Säulen stehenblieb und auf einmal das Riesenschloß vor
Augen sah. Wände und Säulen ragten auf einem einsamen Gipfel hervor,
geschlossene Säulenwände bildeten Pforten an Pforten, Gänge nach
Gängen. Ernstlich warnte der Bote, sich nicht hineinzuverlieren, und
an einem sonnigen, über weite Aussicht gebietenden Flecke, die
Aschenspur seiner Vorgänger bemerkend, war er geschäftig, ein
prasselndes Feuer zu unterhalten. Indem er nun an solchen Stellen
eine frugale Kost zu bereiten schon gewohnt war und Wilhelm in der
himmelweiten Aussicht von der Gegend näher Erkundigung einzog, durch
die er zu wandern gedachte, war Felix verschwunden; er mußte sich in
die Höhle verloren haben, auf Rufen und Pfeifen antwortete er nicht
und kam nicht wieder zum Vorschein.

Wilhelm aber, der, wie es einem Pilger ziemt, auf manche Fälle
vorbereitet war, brachte aus seiner Jagdtasche einen Knaul Bindfaden
hervor, band ihn sorgfältig fest und vertraute sich dem leitenden
Zeichen, an dem er seinen Sohn hineinzuführen schon die Absicht gehabt
hatte. So ging er vorwärts und ließ von Zeit zu Zeit sein Pfeifchen
erschallen, lange vergebens. Endlich aber erklang aus der Tiefe ein
schneidender Pfiff, und bald darauf schaute Felix am Boden aus einer
Kluft des schwarzen Gesteines hervor. "Bist du allein?" lispelte
bedenklich der Knabe.--"Ganz allein!" versetzte der Vater.--"Reiche
mir Scheite! reiche mir Knüttel!" sagte der Knabe, empfing sie und
verschwand, nachdem er ängstlich gerufen hatte: "Laß niemand in die
Höhle!" Nach einiger Zeit aber tauchte er wieder auf, forderte noch
längeres und stärkeres Holz. Der Vater harrte sehnlich auf die
Lösung dieses Rätsels. Endlich erhub sich der Verwegene schnell aus
der Spalte und brachte ein Kästchen mit, nicht größer als ein kleiner
Oktavband, von prächtigem altem Ansehn, es schien von Gold zu sein,
mit Schmelz geziert. "Stecke es zu dir, Vater, und laß es niemand
sehn!" Er erzählte darauf mit Hast, wie er, aus innerem geheimem,
Antrieb, in jene Spalte gekrochen sei und unten einen dämmerhellen
Raum gefunden habe. In demselben stand, wie er sagte, ein großer
eiserner Kasten, zwar nicht verschlossen, dessen Deckel jedoch nicht
zu erheben, kaum zu lüften war. Um nun darüber Herr zu werden, habe
er die Knüttel verlangt, sie teils als Stützen unter den Deckel
gestellt, teils als Keile dazwischengeschoben, zuletzt habe er den
Kasten zwar leer, in einer Ecke desselben jedoch das Prachtbüchlein
gefunden. Sie versprachen sich beiderseits deshalb ein tiefes
Geheimnis.

Mittag war vorüber, etwas hatte man genossen, Fitz war noch nicht,
wie er versprochen, gekommen; Felix aber, besonders unruhig, sehnte
sich von dem Orte weg, wo der Schatz irdischer oder unterirdischer
Wiederforderung ausgesetzt schien. Die Säulen kamen ihm schwärzer,
die Höhlen tiefer vor. Ein Geheimnis war ihm aufgeladen, ein Besitz,
rechtmäßig oder unrechtmäßig? sicher oder unsicher? Die Ungeduld
trieb ihn von der Stelle, er glaubte die Sorge loszuwerden, wenn er
den Platz veränderte.

Sie schlugen den Weg ein nach jenen ausgedehnten Gütern des großen
Landbesitzers, von dessen Reichtum und Sonderbarkeiten man ihnen so
viel erzählt hatte. Felix sprang nicht mehr wie am Morgen, und alle
drei gingen stundenlang vor sich hin. Einigemal wollt' er das
Kästchen sehn, der Vater, auf den Boten hindeutend, wies ihn zur Ruhe.
Nun war er voll Verlangen, Fitz möge kommen. Dann scheute er sich
wieder vor dem Schelmen; bald pfiff er, um ein Zeichen zu geben, dann
reute ihn schon, es getan zu haben, und so dauerte das Schwanken
immerfort, bis Fitz endlich sein Pfeifchen aus der Ferne hören ließ.
Er entschuldigte sein Außenbleiben vom Riesenschlosse, er habe sich
mit Jarno verspätet, der Windbruch habe ihn gehindert; dann forschte
er genau, wie es ihnen zwischen Säulen und Höhlen gegangen sei? Wie
tief sie vorgedrungen? Felix erzählte ihm ein Märchen über das andere,
halb übermütig, halb verlegen; er sah den Vater lächelnd an, zupfte
ihn verstohlen und tat alles mögliche, um an den Tag zu geben, daß er
heimlich besitze und daß er sich verstelle.

Sie waren endlich auf einen Fuhrweg gelangt, der sie bequem zu jenen
Besitztümern hinführen sollte; Fitz aber behauptete, einen näheren
und bessern Weg zu kennen; auf welchem der Bote sie nicht begleiten
wollte und den geraden, breiten, eingeschlagenen Weg vor sich hinging.
Die beiden Wanderer vertrauten dem losen Jungen und glaubten
wohlgetan zu haben, denn nun ging es steil den Berg hinab, durch
einen Wald der hoch--und schlankstämmigsten Lärchenbäume, der, immer
durchsichtiger werdend, ihnen zuletzt die schönste Besitzung, die man
sich nur denken kann, im klarsten Sonnenlichte sehen ließ.

Ein großer Garten, nur der Fruchtbarkeit, wie es schien, gewidmet,
lag, obgleich mit Obstbäumen reichlich ausgestattet, offen vor ihren
Augen, indem er regelmäßig, in mancherlei Abteilungen, einen zwar im
ganzen abhängigen, doch aber mannigfaltig bald erhöhten, bald
vertieften Boden bedeckte. Mehrere Wohnhäuser lagen darin zerstreut,
so daß der Raum verschiedenen Besitzern anzugehören schien, der
jedoch, wie Fitz versicherte, von einem einzigen Herrn beherrscht und
benutzt ward. über den Garten hinaus erblickten sie eine unabsehbare
Landschaft, reichlich bebaut und bepflanzt. Sie konnten Seen und
Flüsse deutlich unterscheiden.

Sie waren den Berg hinab immer näher gekommen und glaubten nun
sogleich im Garten zu sein, als Wilhelm stutzte und Fitz seine
Schadenfreude nicht verbarg: denn eine jähe Kluft am Fuße des Berges
tat sich vor ihnen auf und zeigte gegenüber eine bisher verborgene
hohe Mauer, schroff genug von außen, obgleich von innen durch das
Erdreich völlig ausgefüllt. Ein tiefer Graben trennte sie also von
dem Garten, in den sie unmittelbar hineinsahen. "Wir haben noch
hinüber einen ziemlichen Umweg zu machen", sagte Fitz, "wenn wir die
Straße, die hineinführt, erreichen wollen. Doch weiß ich auch einen
Eingang von dieser Seite, wo wir um ein gutes näher gehen. Die
Gewölbe, durch die das Bergwasser bei Regengüssen in den Garten
geregelt hineinstürzt, öffnen sich hier; sie sind hoch und breit
genug, daß man mit ziemlicher Bequemlichkeit hindurchkommen kann."
Als Felix von Gewölben hörte, konnte er vor Begierde sich nicht
lassen, diesen Eingang zu betreten. Wilhelm folgte den Kindern, und
sie stiegen zusammen die ganz trocken liegenden hohen Stufen dieser
Zuleitungsgewölbe hinunter. Sie befanden sich bald im Hellen, bald im
Dunkeln, je nachdem von Seitenöffnungen her das Licht hereinfiel oder
von Pfeilern und Wänden aufgehalten ward. Endlich gelangten sie auf
einen ziemlich gleichen Fleck und schritten langsam vor, als auf
einmal in ihrer Nähe ein Schuß fiel, zu gleicher Zeit sich zwei
verborgene Eisengitter schlossen und sie von beiden Seiten
einsperrten. Zwar nicht die ganze Gesellschaft: nur Wilhelm und
Felix waren gefangen. Denn Fitz, als der Schuß fiel, sprang sogleich
rückwärts, und das zuschlagende Gitter faßte nur seinen weiten Ärmel;
er aber, sehr geschwind das Jäckchen abwerfend, war entflohen, ohne
sich einen Augenblick aufzuhalten.

Die beiden Eingekerkerten hatten kaum Zeit, sich von ihrem Erstaunen
zu erholen, als sie Menschenstimmen vernahmen, welche sich langsam zu
nähern schienen. Bald darauf traten Bewaffnete mit Fackeln an die
Gitter und neugierigen Blicks, was sie für einen Fang möchten getan
haben. Sie fragten zugleich, ob man sich gutwillig ergeben wolle.
"Hier kann von keinem Ergeben die Rede sein", versetzte Wilhelm; "wir
sind in eurer Gewalt. Eher haben wir Ursache zu fragen, ob ihr uns
schonen wollt. Die einzige Waffe, die wir bei uns haben, liefere ich
euch aus", und mit diesen Worten reichte er seinen Hirschfänger
durchs Gitter; dieses öffnete sich sogleich, und man führte ganz
gelassen die Ankömmlinge mit sich vorwärts, und als man sie einen
Wendelstieg hinaufgebracht hatte, befanden sie sich bald an einem
seltsamen Orte; es war ein geräumiges, reinliches Zimmer, durch
kleine, unter dem Gesimse hergehende Fenster erleuchtet, die
ungeachtet der starken Eisenstäbe Licht genug verbreiteten. Für
Sitze, Schlafstellen, und was man allenfalls sonst in einer mäßigen
Herberge verlangen könnte, war gesorgt, und es schien dem, der sich
hier befand, nichts als die Freiheit zu fehlen.

Wilhelm hatte sich bei seinem Eintritt sogleich niedergesetzt und
überdachte den Zustand; Felix hingegen, nachdem er sich von dem
ersten Erstaunen erholt hatte, brach in eine unglaubliche Wut aus.
Diese steilen Wände, diese hohen Fenster, diese festen Türen, diese
Abgeschlossenheit, diese Einschränkung war ihm ganz neu. Er sah sich
um, er rannte hin und her, stampfte mit den Füßen, weinte, rüttelte
an den Türen, schlug mit den Fäusten dagegen, ja er war im Begriff,
mit dem Schädel dawiderzurennen, hätte nicht Wilhelm ihn gefaßt und
mit Kraft festgehalten.

"Besieh dir das nur ganz gelassen, mein Sohn", fing der Vater an,
"denn Ungeduld und Gewalt helfen uns nicht aus dieser Lage. Das
Geheimnis wird sich aufklären; aber ich müßte mich höchlich irren,
oder wir sind in keine schlechten Hände gefallen. Betrachte diese
Inschriften: "Dem Unschuldigen Befreiung und Ersatz, dem Verführten
Mitleiden, dem Schuldigen ahndende Gerechtigkeit." Alles dieses zeigt
uns an, daß diese Anstalten Werke der Notwendigkeit, nicht der
Grausamkeit sind. Der Mensch hat nur allzusehr Ursache, sich vor dem
Menschen zu schützen. Der Mißwollenden gibt es gar viele, der
Mißtätigen nicht wenige, und um zu leben, wie sich's gehört, ist nicht
genug, immer wohlzutun."

Felix hatte sich zusammengenommen, warf sich aber sogleich auf eine
der Lagerstätten, ohne weiteres äußern noch Erwidern. Der Vater ließ
nicht ab und sprach ferner: "Laß dir diese Erfahrung, die du so früh
und unschuldig machst, ein lebhaftes Zeugnis bleiben, in welchem und
in was für einem vollkommenen Jahrhundert du geboren bist. Welchen
Weg mußte nicht die Menschheit machen, bis sie dahin gelangte, auch
gegen Schuldige gelind, gegen Verbrecher schonend, gegen
Unmenschliche menschlich zu sein! Gewiß waren es Männer göttlicher
Natur, die dies zuerst lehrten, die ihr Leben damit zubrachten, die
Ausübung möglich zu machen und zu beschleunigen. Des Schönen sind die
Menschen selten fähig, öfter des Guten; und wie hoch müssen wir daher
diejenigen halten, die dieses mit großen Aufopferungen zu befördern
suchen."

Diese tröstlich belehrenden Worte, welche die Absicht der
einschließenden Umgebung völlig rein ausdrückten, hatte Felix nicht
vernommen; er lag im tiefsten Schlafe, schöner und frischer als je;
denn eine Leidenschaft, wie sie ihn sonst nicht leicht ergriff, hatte
sein ganzes Innerste auf die vollen Wangen hervorgetrieben. Ihn mit
Gefälligkeit beschauend, stand der Vater, als ein wohlgebildeter
junger Mann hereintrat, der, nachdem er den Ankömmling einige Zeit
freundlich angesehen, anfing, ihn über die Umstände zu befragen, die
ihn auf den ungewöhnlichen Weg und in diese Falle geführt hätten.
Wilhelm erzählte die Begebenheit ganz schlicht, überreichte ihm einige
Papiere, die seine Person aufzuklären dienten, und berief sich auf
den Boten, der nun bald auf dem ordentlichen Wege von einer andern
Seite anlangen müsse. Als dieses alles so weit im klaren war,
ersuchte der Beamte seinen Gast, ihm zu folgen. Felix war nicht zu
erwecken, die Untergebenen trugen ihn daher auf der tüchtigen
Matratze, wie ehmals den unbewußten Ulyß, in die freie Luft.

Wilhelm folgte dem Beamten in ein schönes Gartenzimmer, wo
Erfrischungen aufgesetzt wurden, die er genießen sollte, indessen
jener ging, an höherer Stelle Bericht abzustatten. Als Felix
erwachend ein gedecktes Tischchen, Obst, Wein, Zwieback und zugleich
die Heiterkeit der offenstehenden Türe bemerkte, ward es ihm ganz
wunderlich zumute. Er läuft hinaus, er kehrt zurück, er glaubt
geträumt zu haben; und hatte bald bei so guter Kost und so angenehmer
Umgebung den vorhergegangenen Schrecken und alle Bedrängnis, wie einen
schweren Traum am hellen Morgen, vergessen.

Der Bote war angelangt, der Beamte kam mit ihm und einem andern,
ältlichen, noch freundlichern Manne zurück, und die Sache klärte sich
folgendergestalt auf. Der Herr dieser Besitzung, im höhern Sinne
wohltätig, daß er alles um sich her zum Tun und Schaffen aufregte,
hatte aus seinen unendlichen Baumschulen, seit mehreren Jahren,
fleißigen und sorgfältigen Anbauern die jungen Stämme umsonst,
nachlässigen um einen gewissen Preis und denen, die damit handeln
wollten, gleichfalls, doch um einen billigen, überlassen. Aber auch
diese beiden Klassen forderten umsonst, was die Würdigen umsonst
erhielten, und da man ihnen nicht nachgab, suchten sie die Stämme zu
entwenden. Auf mancherlei Weise war es ihnen gelungen. Dieses
verdroß den Besitzer um so mehr, da nicht allein die Baumschulen
geplündert, sondern auch durch übereilung verderbt worden waren. Man
hatte Spur, daß sie durch die Wasserleitung hereingekommen, und
deshalb eine solche Gitterfalle mit einem Selbstschuß eingerichtet,
der aber nur als Zeichen gelten sollte. Der kleine Knabe hatte sich
unter mancherlei Vorwänden mehrmals im Garten sehen lassen, und es war
nichts natürlicher, als daß er aus Kühnheit und Schelmerei die
Fremden einen Weg führen wollte, den er früher zu anderm Zwecke
ausgefunden. Man hätte gewünscht, seiner habhaft zu werden; indessen
wurde sein Wämschen unter andern gerichtlichen Gegenständen
aufgehoben.









Fünftes Kapitel

Auf dem Wege nach dem Schlosse fand unser Freund zu seiner
Verwunderung nichts, was einem älteren Lustgarten oder einem modernen
Park ähnlich gewesen wäre; gradlinig gepflanzte Fruchtbäume,
Gemüsfelder, große Strecken mit Heilkräutern bestellt, und was nur
irgend brauchbar konnte geachtet werden, übersah er auf sanft
abhängiger Fläche mit einem Blicke. Ein von hohen Linden
umschatteter Platz breitete sich würdig als Vorhalle des ansehnlichen
Gebäudes, eine lange, daranstoßende Allee, gleichen Wuchses und Würde,
gab zu jeder Stunde des Tags Gelegenheit, im Freien zu verkehren und
zu lustwandeln. Eintretend in das Schloß, fand er die Wände der
Hausflur auf eigene Weise bekleidet; große, geographische Abbildungen
aller vier Weltteile fielen ihm in die Augen; stattliche Treppenwände
waren gleichfalls mit Abrissen einzelner Reiche geschmückt, und in
den Hauptsaal eingelassen, fand er sich umgeben von Prospekten der
merkwürdigsten Städte, oben und unten eingefaßt von landschaftlicher
Nachbildung der Gegenden, worin sie gelegen sind, alles kunstreich
dargestellt, so daß die Einzelnheiten deutlich in die Augen fielen
und zugleich ein ununterbrochener Bezug durchaus bemerkbar blieb.

Der Hausherr, ein kleiner, lebhafter Mann von Jahren, bewillkommte
den Gast und fragte, ohne weitere Einleitung, gegen die Wände deutend:
ob ihm vielleicht eine dieser Städte bekannt sei, und ob er daselbst
jemals sich aufgehalten? Von manchem konnte nun der Freund
auslangende Rechenschaft geben und beweisen, daß er mehrere Orte
nicht allein gesehen, sondern auch ihre Zustände und Eigenheiten gar
wohl zu bemerken gewußt.

Der Hausherr klingelte und befahl, ein Zimmer den beiden
Ankömmlingen anzuweisen, auch sie später zum Abendessen zu führen;
dies geschah denn auch. In einem großen Erdsaale entgegneten ihm
zwei Frauenzimmer, wovon die eine mit großer Heiterkeit zu ihm sprach:
"Sie finden hier kleine Gesellschaft, aber gute; ich, die jüngere
Nichte, heiße Hersilie, diese, meine ältere Schwester, nennt man
Juliette, die beiden Herren sind Vater und Sohn, Beamte, die Sie
kennen, Hausfreunde, die alles Vertrauen genießen, das sie verdienen.
Setzen wir uns!" Die beiden Frauenzimmer nahmen Wilhelm in die Mitte,
die Beamten saßen an beiden Enden, Felix an der andern langen Seite,
wo er sich sogleich Hersilien gegenüber gerückt hatte und kein Auge
von ihr verwendete.

Nach vorläufigem allgemeinem Gespräch ergriff Hersilie Gelegenheit
zu sagen: "Damit der Fremde desto schneller mit uns vertraut und in
unsere Unterhaltung eingeweiht werde, muß ich bekennen, daß bei uns
viel gelesen wird und daß wir uns, aus Zufall, Neigung, auch wohl
Widerspruchsgeist, in die verschiedenen Literaturen geteilt haben.
Der Oheim ist fürs Italienische, die Dame hier nimmt es nicht übel,
wenn man sie für eine vollendete Engländerin hält, ich aber halte
mich an die Franzosen, sofern sie heiter und zierlich sind. Hier,
Amtmann Papa erfreut sich des deutschen Altertums, und der Sohn mag
denn, wie billig, dem Neuern, Jüngern seinen Anteil zuwenden.
Hiernach werden Sie uns beurteilen, hiernach teilnehmen, einstimmen
oder streiten; in jedem Sinne werden Sie willkommen sein." Und in
diesem Sinne belebte sich auch die Unterhaltung.

Indessen war die Richtung der feurigen Blicke des schönen Felix
Hersilien keineswegs entgangen, sie fühlte sich überrascht und
geschmeichelt und sendete ihm die vorzüglichsten Bissen, die er
freudig und dankbar empfing. Nun aber, als er beim Nachtisch über
einen Teller Apfel zu ihr hinsah, glaubte sie, in den reizenden
Früchten ebenso viel Rivale zu erblicken. Gedacht, getan, sie faßte
einen Apfel und reichte ihn dem heranwachsenden Abenteurer über den
Tisch hinüber; dieser, hastig zugreifend, fing sogleich zu schälen an;
unverwandt aber nach der reizenden Nachbarin hinblickend, schnitt er
sich tief in den Daumen. Das Blut floß lebhaft; Hersilie sprang auf,
bemühte sich um ihn, und als sie das Blut gestillt, schloß sie die
Wunde mit englischem Pflaster aus ihrem Besteck. Indessen hatte der
Knabe sie angefaßt und wollte sie nicht loslassen; die Störung ward
allgemein, die Tafel aufgehoben, und man bereitete sich zu scheiden.

"Sie lesen doch auch vor Schlafengehn?" fragte Hersilie zu Wilhelm;
"ich schicke Ihnen ein Manuskript, eine übersetzung aus dem
Französischen von meiner Hand, und Sie sollen sagen, ob Ihnen viel
Artigeres vorgekommen ist. Ein verrücktes Mädchen tritt auf, das
möchte keine sonderliche Empfehlung sein, aber wenn ich jemals
närrisch werden möchte, wie mir manchmal die Lust ankommt, so wär' es
auf diese Weise." Die pilgernde Törin

Herr von Revanne, ein reicher Privatmann, besitzt die schönsten
Ländereien seiner Provinz. Nebst Sohn und Schwester bewohnt er ein
Schloß, das eines Fürsten würdig wäre; und in der Tat, wenn sein Park,
seine Wasser, seine Pachtungen, seine Manufakturen, sein Hauswesen
auf sechs Meilen umher die Hälfte der Einwohner ernähren, so ist er
durch sein Ansehn und durch das Gute, das er stiftet, wirklich ein
Fürst.

Vor einigen Jahren spazierte er an den Mauern seines Parks hin auf
der Heerstraße, und ihm gefiel, in einem Lustwäldchen auszuruhen, wo
der Reisende gern verweilt. Hochstämmige Bäume ragen über junges,
dichtes Gebüsch; man ist vor Wind und Sonne geschützt; ein sauber
gefaßter Brunnen sendet sein Wasser über Wurzeln, Steine und Rasen.
Der Spazierende hatte wie gewöhnlich Buch und Flinte bei sich. Nun
versuchte er zu lesen, öfters durch Gesang der Vögel, manchmal durch
Wanderschritte angenehm abgezogen und zerstreut.

Ein schöner Morgen war im Vorrücken, als jung und liebenswürdig ein
Frauenzimmer sich gegen ihn her bewegte. Sie verließ die Straße,
indem sie sich Ruhe und Erquickung an dem frischen Orte zu
versprechen schien, wo er sich befand. Sein Buch fiel ihm aus den
Händen, überrascht wie er war. Die Pilgerin mit den schönsten Augen
von der Welt und einem Gesicht, durch Bewegung angenehm belebt,
zeichnete sich an Körperbau, Gang und Anstand dergestalt aus, daß er
unwillkürlich von seinem Platze aufstand und nach der Straße blickte,
um das Gefolge kommen zu sehen, das er hinter ihr vermutete. Dann zog
die Gestalt abermals, indem sie sich edel gegen ihn verbeugte, seine
Aufmerksamkeit an sich, und ehrerbietig erwiderte er den Gruß. Die
schöne Reisende setzte sich an den Rand des Quells, ohne ein Wort zu
sagen und mit einem Seufzer.

"Seltsame Wirkung der Sympathie!" rief Herr von Revanne, als er mir
die Begebenheit erzählte, "dieser Seufzer ward in der Stille von mir
erwidert. Ich blieb stehen, ohne zu wissen, was ich sagen oder tun
sollte. Meine Augen waren nicht hinreichend, diese Vollkommenheiten
zu fassen. Ausgestreckt wie sie lag, auf einen Ellbogen gelehnt, es
war die schönste Frauengestalt, die man sich denken konnte! Ihre
Schuhe gaben mir zu eigenen Betrachtungen Anlaß; ganz bestaubt,
deuteten sie auf einen langen zurückgelegten Weg, und doch waren ihre
seidenen Strümpfe so blank, als wären sie eben unter dem Glättstein
hervorgegangen. Ihr aufgezogenes Kleid war nicht zerdrückt; ihre
Haare schienen diesen Morgen erst gelockt; feines Weißzeug, feine
Spitzen; sie war angezogen, als wenn sie zum Balle gehen sollte. Auf
eine Landstreicherin deutete nichts an ihr, und doch war sie's; aber
eine beklagenswerte, eine verehrungswürdige.

Zuletzt benutzte ich einige Blicke, die sie auf mich warf, sie zu
fragen, ob sie allein reise. "Ja, mein Herr", sagte sie, "ich bin
allein auf der Welt."--"Wie? Madame, Sie sollten ohne Eltern, ohne
Bekannte sein?"--"Das wollte ich eben nicht sagen, mein Herr. Eltern
hab' ich, und Bekannte genug; aber keine Freunde."-- "Daran", fuhr
ich fort, "können Sie wohl unmöglich schuld sein. Sie haben eine
Gestalt und gewiß auch ein Herz, denen sich viel vergeben läßt."

Sie fühlte die Art von Vorwurf, den mein Kompliment verbarg, und ich
machte mir einen guten Begriff von ihrer Erziehung. Sie öffnete
gegen mich zwei himmlische Augen vom vollkommensten, reinsten Blau,
durchsichtig und glänzend; hierauf sagte sie mit edlem Tone: sie könne
es einem Ehrenmanne, wie ich zu sein scheine, nicht verdenken, wenn
er ein junges Mädchen, das er allein auf der Landstraße treffe,
einigermaßen verdächtig halte: ihr sei das schon öfter entgegen
gewesen; aber ob sie gleich fremd sei, obgleich niemand das Recht habe,
sie auszuforschen, so bitte sie doch zu glauben, daß die Absicht
ihrer Reise mit der gewissenhaftesten Ehrbarkeit bestehen könne.
Ursachen, von denen sie niemand Rechenschaft schuldig sei, nötigten
sie, ihre Schmerzen in der Welt umherzuführen. Sie habe gefunden,
daß die Gefahren, die man für ihr Geschlecht befürchte, nur
eingebildet seien und daß die Ehre eines Weibes, selbst unter
Straßenräubern, nur bei Schwäche des Herzens und der Grundsätze
Gefahr laufe.

übrigens gehe sie nur zu Stunden und auf Wegen, wo sie sich sicher
glaube, spreche nicht mit jedermann und verweile manchmal an
schicklichen Orten, wo sie ihren Unterhalt erwerben könne durch
Dienstleistung in der Art, wonach sie erzogen worden. Hier sank ihre
Stimme, ihre Augenlider neigten sich, und ich sah einige Tränen ihre
Wangen herabfallen.

Ich versetzte darauf, daß ich keineswegs an ihrem guten Herkommen
zweifle, so wenig als an einem achtungswerten Betragen. Ich bedaure
sie nur, daß irgendeine Notwendigkeit sie zu dienen zwinge, da sie so
wert scheine, Diener zu finden; und daß ich, ungeachtet einer
lebhaften Neugierde, nicht weiter in sie dringen wolle, vielmehr mich
durch ihre nähere Bekanntschaft zu überzeugen wünsche, daß sie
überall für ihren Ruf ebenso besorgt sei als für ihre Tugend. Diese
Worte schienen sie abermals zu verletzen, denn sie antwortete: Namen
und Vaterland verberge sie, eben um des Rufs willen, der denn doch am
Ende meistenteils weniger Wirkliches als Mutmaßliches enthalte.
Biete sie ihre Dienste an, so weise sie Zeugnisse der letzten Häuser
vor, wo sie etwas geleistet habe, und verhehle nicht, daß sie über
Vaterland und Familie nicht befragt sein wolle. Darauf bestimme man
sich und stelle dem Himmel oder ihrem Worte die Unschuld ihres ganzen
Lebens und ihre Redlichkeit anheim."

äußerungen dieser Art ließen keine Geistesverwirrung bei der schönen
Abenteurerin argwöhnen. Herr von Revanne, der einen solchen
Entschluß, in die Welt zu laufen, nicht gut begreifen konnte,
vermutete nun, daß man sie vielleicht gegen ihre Neigung habe
verheiraten wollen. Hernach fiel er darauf, ob es nicht etwa gar
Verzweiflung aus Liebe sei; und wunderlich genug, wie es aber mehr zu
gehen pflegt, indem er ihr Liebe für einen andern zutraute, verliebte
er sich selbst und fürchtete, sie möchte weiterreisen. Er konnte
seine Augen nicht von dem schönen Gesicht wegwenden, das von einem
grünen Halblichte verschönert war. Niemals zeigte, wenn es je
Nymphen gab, auf den Rasen sich eine schönere hingestreckt; und die
etwas romanhafte Art dieser Zusammenkunft verbreitete einen Reiz, dem
er nicht zu widerstehen vermochte.

Ohne daher die Sache viel näher zu betrachten, bewog Herr von
Revanne die schöne Unbekannte, sich nach dem Schlosse führen zu
lassen. Sie macht keine Schwierigkeit, sie geht mit und zeigt sich
als eine Person, der die große Welt bekannt ist. Man bringt
Erfrischungen, welche sie annimmt, ohne falsche Höflichkeit und mit
dem anmutigsten Dank. In Erwartung des Mittagessens zeigt man ihr
das Haus. Sie bemerkt nur, was Auszeichnung verdient, es sei an
Möbeln, Malereien, oder es betreffe die schickliche Einteilung der
Zimmer. Sie findet eine Bibliothek, sie kennt die guten Bücher und
spricht darüber mit Geschmack und Bescheidenheit. Kein Geschwätz,
keine Verlegenheit. Bei Tafel ein ebenso edles und natürliches
Betragen und den liebenswürdigsten Ton der Unterhaltung. So weit ist
alles verständig in ihrem Gespräch, und ihr Charakter scheint so
liebenswürdig wie ihre Person.

Nach der Tafel machte sie ein kleiner mutwilliger Zug noch schöner,
und indem sie sich an Fräulein Revanne mit einem Lächeln wendet, sagt
sie: es sei ihr Brauch, ihr Mittagsmahl durch eine Arbeit zu bezahlen
und, sooft es ihr an Geld fehle, Nähnadeln von den Wirtinnen zu
verlangen. "Erlauben Sie", fügte sie hinzu, "daß ich eine Blume auf
einem Ihrer Stickrahmen lasse, damit Sie künftig bei deren Anblick der
armen Unbekannten sich erinnern mögen." Fräulein von Revanne
versetzte darauf, daß es ihr sehr leid tue, keinen aufgezogenen Grund
zu haben, und deshalb das Vergnügen, ihre Geschicklichkeit zu
bewundern, entbehren müsse. Alsbald wendete die Pilgerin ihren Blick
auf das Klavier. "So will ich denn", sagte sie, "meine Schuld mit
Windmünze abtragen, wie es auch ja sonst schon die Art
umherstreifender Sänger war." Sie versuchte das Instrument mit zwei
oder drei Vorspielen, die eine sehr geübte Hand ankündigten. Man
zweifelte nicht mehr, daß sie ein Frauenzimmer von Stande sei,
ausgestattet mit allen liebenswürdigen Geschicklichkeiten. Zuerst
war ihr Spiel aufgeweckt und glänzend; dann ging sie zu ernsten Tönen
über, zu Tönen einer tiefen Trauer, die man zugleich in ihren Augen
erblickte. Sie netzten sich mit Tränen, ihr Gesicht verwandelte sich,
ihre Finger hielten an; aber auf einmal überraschte sie jedermann,
indem sie ein mutwilliges Lied, mit der schönsten Stimme von der Welt,
lustig und lächerlich vorbrachte. Da man in der Folge Ursache hatte
zu glauben, daß diese burleske Romanze sie etwas näher angehe, so
verzeiht man mir wohl, wenn ich sie hier einschalte.



Woher im Mantel so geschwinde,
Da kaum der Tag in Osten graut?
Hat wohl der Freund beim scharfen Winde
Auf einer Wallfahrt sich erbaut?
Wer hat ihm seinen Hut genommen?
Mag er mit Willen barfuß gehn?
Wie ist er in den Wald gekommen
Auf den beschneiten, wilden Höhn?


Gar wunderlich von warmer Stätte,
Wo er sich bessern Spaß versprach,
Und wenn er nicht den Mantel hätte,
Wie gräßlich wäre seine Schmach!
So hat ihn jener Schalk betrogen
Und ihm das Bündel abgepackt:
Der arme Freund ist ausgezogen,
Beinah wie Adam bloß und nackt.


Warum auch ging er solche Wege
Nach jenem Apfel voll Gefahr,
Der freilich schön im Mühlgehege
Wie sonst im Paradiese war!
Er wird den Scherz nicht leicht erneuen;
Er drückte schnell sich aus dem Haus,
Und bricht auf einmal nun im Freien
In bittre, laute Klagen aus:


"Ich las in ihren Feuerblicken
Doch keine Silbe von Verrat!
Sie schien mit mir sich zu entzücken
Und sann auf solche schwarze Tat!
Konnt ich in ihren Armen träumen,
Wie meuchlerisch der Busen schlug?
Sie hieß den raschen Amor säumen,
Und günstig war er uns genug.


Sich meiner Liebe zu erfreuen,
Der Nacht, die nie ein Ende nahm,
Und erst die Mutter anzuschreien
Jetzt eben, als der Morgen kam!
Da drang ein Dutzend Anverwandten
Herein, ein wahrer Menschenstrom!
Da kamen Brüder, guckten Tanten,
Da stand ein Vetter und ein Ohm!


Das war ein Toben, war ein Wüten!
Ein jeder schien ein andres Tier.
Da forderten sie Kranz und Blüten
Mit gräßlichem Geschrei von mir.
"Was dringt ihr alle wie von Sinnen
Auf den unschuld'gen Jüngling ein!
Denn solche Schätze zu gewinnen,
Da muß man viel behender sein.


Weiß Amor seinem schönen Spiele
Doch immer zeitig nachzugehn:
Er läßt fürwahr nicht in der Mühle
Die Blumen sechzehn Jahre stehn."
Da raubten sie das Kleiderbündel
Und wollten auch den Mantel noch.
Wie nur so viel verflucht Gesindel
Im engen Hause sich verkroch!


Da sprang ich auf und tobt' und fluchte,
Gewiß, durch alle durchzugehn.
Ich sah noch einmal die Verruchte,
Und ach! sie war noch immer schön.
Sie alle wichen meinem Grimme,
Doch flog noch manches wilde Wort;
So macht' ich mich mit Donnerstimme
Noch endlich aus der Höhle fort.


Man soll euch Mädchen auf dem Lande
Wie Mädchen aus den Städten fliehn!
So lasset doch den Fraun von Stande
Die Lust, die Diener auszuziehn!
Doch seid ihr auch von den Geübten
Und kennt ihr keine zarte Pflicht,
So ändert immer die Geliebten,
Doch sie verraten müßt ihr nicht."


So singt er in der Winterstunde,
Wo nicht ein armes Hälmchen grünt.
Ich lache seiner tiefen Wunde,
Denn wirklich ist sie wohlverdient;
So geh' es jedem, der am Tage
Sein edles Liebchen frech belügt
Und nachts, mit allzu kühner Wage,
Zu Amors falscher Mühle kriecht.




Wohl war es bedenklich, daß sie sich auf eine solche Weise vergessen
konnte, und dieser Ausfall mochte für ein Anzeichen eines Kopfes
gelten, der sich nicht immer gleich war. "Aber", sagte mir Herr von
Revanne, "auch wir vergaßen alle Betrachtungen, die wir hätten machen
können, ich weiß nicht, wie es zuging. Uns mußte die
unaussprechliche Anmut, womit sie diese Possen vorbrachte, bestochen
haben. Sie spielte neckisch, aber mit Einsicht. Ihre Finger
gehorchten ihr vollkommen, und ihre Stimme war wirklich bezaubernd.
Da sie geendigt hatte, erschien sie so gesetzt wie vorher, und wir
glaubten, sie habe nur den Augenblick der Verdauung erheitern wollen.

Bald darauf bat sie um die Erlaubnis, ihren Weg wieder anzutreten;
aber auf meinen Wink sagte meine Schwester: wenn sie nicht zu eilen
hätte und die Bewirtung ihr nicht mißfiele, so würde es uns ein Fest
sein, sie mehrere Tage bei uns zu sehen. Ich dachte ihr eine
Beschäftigung anzubieten, da sie sich's einmal gefallen ließ zu
bleiben. Doch diesen ersten Tag und den folgenden führten wir sie
nur umher. Sie verleugnete sich nicht einen Augenblick: sie war die
Vernunft, mit aller Anmut begabt. Ihr Geist war fein und treffend,
ihr Gedächtnis so wohl ausgeziert und ihr Gemüt so schön, daß sie gar
oft unsere Bewunderung erregte und alle unsere Aufmerksamkeit
festhielt. Dabei kannte sie die Gesetze eines guten Betragens und
übte sie gegen einen jeden von uns, nicht weniger gegen einige Freunde,
die uns besuchten, so vollkommen aus, daß wir nicht mehr wußten, wie
wir jene Sonderbarkeiten mit einer solchen Erziehung vereinigen
sollten.

Ich wagte wirklich nicht mehr, ihr Dienstvorschläge für mein Haus zu
tun. Meine Schwester, der sie angenehm war, hielt es gleichfalls für
Pflicht, das Zartgefühl der Unbekannten zu schonen. Zusammen
besorgten sie die häuslichen Dinge, und hier ließ sich das gute Kind
öfters bis zur Handarbeit herunter und wußte sich gleich darauf in
alles zu schicken, was höhere Anordnung und Berechnung erheischte.

In kurzer Zeit stellte sie eine Ordnung her, die wir bis jetzt im
Schlosse gar nicht vermißt hatten. Sie war eine sehr verständige
Haushälterin; und da sie damit angefangen hatte, bei uns mit an Tafel
zu sitzen, so zog sie sich nunmehr nicht etwa aus falscher
Bescheidenheit zurück, sondern speiste mit uns ohne Bedenken fort;
aber sie rührte keine Karte, kein Instrument an, als bis sie die
übernommenen Geschäfte zu Ende gebracht hatte.

Nun muß ich freilich gestehen, daß mich das Schicksal dieses
Mädchens innigst zu rühren anfing. Ich bedauerte die Eltern, die
wahrscheinlich eine solche Tochter sehr vermißten; ich seufzte, daß
so sanfte Tugenden, so viele Eigenschaften verlorengehen sollten.
Schon lebte sie mehrere Monate mit uns, und ich hoffte, das Vertrauen,
das wir ihr einzuflößen suchten, würde zuletzt das Geheimnis auf ihre
Lippen bringen. War es ein Unglück, wir konnten helfen; war es ein
Fehler, so ließ sich hoffen, unsere Vermittelung, unser Zeugnis
würden ihr Vergebung eines vorübergehenden Irrtums verschaffen können;
aber alle unsere Freundschaftsversicherungen, unsre Bitten selbst
waren unwirksam. Bemerkte sie die Absicht, einige Aufklärung von ihr
zu gewinnen, so versteckte sie sich hinter allgemeine Sittensprüche,
um sich zu rechtfertigen, ohne uns zu belehren. Zum Beispiel, wenn
wir von ihrem Unglücke sprachen: "Das Unglück", sagte sie, "fällt
über Gute und Böse. Es ist eine wirksame Arzenei, welche die guten
Säfte zugleich mit den üblen angreift."

Suchten wir die Ursache ihrer Flucht aus dem väterlichen Hause zu
entdecken: "Wenn das Reh flieht", sagte sie lächelnd, "so ist es
darum nicht schuldig." Fragten wir, ob sie Verfolgungen erlitten:
"Das ist das Schicksal mancher Mädchen von guter Geburt, Verfolgungen
zu erfahren und auszuhalten. Wer über eine Beleidigung weint, dem
werden mehrere begegnen." Aber wie hatte sie sich entschließen
können, ihr Leben der Roheit der Menge auszusetzen, oder es
wenigstens manchmal ihrem Erbarmen zu verdanken? Darüber lachte sie
wieder und sagte: "Dem Armen, der den Reichen bei Tafel begrüßt, fehlt
es nicht an Verstand." Einmal, als die Unterhaltung sich zum Scherze
neigte, sprachen wir ihr von Liebhabern und fragten sie: ob sie den
frostigen Helden ihrer Romanze nicht kenne? Ich weiß noch recht gut,
dieses Wort schien sie zu durchbohren. Sie öffnete gegen mich ein
Paar Augen, so ernst und streng, daß die meinigen einen solchen Blick
nicht aushalten konnten; und sooft man auch nachher von Liebe sprach,
so konnte man erwarten, die Anmut ihres Wesens und die Lebhaftigkeit
ihres Geistes getrübt zu sehen. Gleich fiel sie in ein Nachdenken,
das wir für Grübeln hielten und das doch wohl nur Schmerz war. Doch
blieb sie im ganzen munter, nur ohne große Lebhaftigkeit, edel, ohne
sich ein Ansehn zu geben, gerade ohne Offenherzigkeit, zurückgezogen
ohne Ängstlichkeit, eher duldsam als sanftmütig, und mehr erkenntlich
als herzlich bei Liebkosungen und Höflichkeiten. Gewiß war es ein
Frauenzimmer, gebildet, einem großen Hause vorzustehn; und doch schien
sie nicht älter als einundzwanzig Jahre.

So zeigte sich diese junge, unerklärliche Person, die mich ganz
eingenommen hatte, binnen zwei Jahren, die es ihr gefiel bei uns zu
verweilen, bis sie mit einer Torheit schloß, die viel seltsamer ist,
als ihre Eigenschaften ehrwürdig und glänzend waren. Mein Sohn,
jünger als ich, wird sich trösten können; was mich betrifft, so
fürchte ich, schwach genug zu sein, sie immer zu vermissen."

Nun will ich die Torheit eines verständigen Frauenzimmers erzählen,
um zu zeigen, daß Torheit oft nichts weiter sei als Vernunft unter
einem andern äußern. Es ist wahr, man wird einen seltsamen
Widerspruch finden zwischen dem edlen Charakter der Pilgerin und der
komischen List, deren sie sich bediente; aber man kennt ja schon zwei
ihrer Ungleichheiten, die Pilgerschaft selbst und das Lied.

Es ist wohl deutlich, daß Herr von Revanne in die Unbekannte
verliebt war. Nun mochte er sich freilich auf sein funfzigjähriges
Gesicht nicht verlassen, ob er so schon frisch und wacker aussah als
ein Dreißiger; vielleicht aber hoffte er, durch seine reine, kindliche
Gesundheit zu gefallen, durch die Güte, Heiterkeit, Sanftheit,
Großmut seine Charakters; vielleicht auch durch sein Vermögen, ob er
gleich zart genug gesinnt war, um zu fühlen, daß man das nicht
erkauft, was keinen Preis hat.

Aber der Sohn von der andern Seite, liebenswürdig, zärtlich, feurig,
ohne sich mehr als sein Vater zu bedenken, stürzte sich über Hals und
Kopf in das Abenteuer. Erst suchte er vorsichtig die Unbekannte zu


 


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