Wilhelm Meisters Wanderjahre--Buch 1
by
Johann Wolfgang von Goethe

Part 3 out of 3



Julie. Nicht wahr, jetzt "lieb", da Sie mich los sind.

Lucidor. Nur ein Wort! Auf Ihnen lastet eine schwere
Verantwortlichkeit; was sollte der Händedruck, da Sie meine
überschreckliche Stellung kannten und fühlen mußten? So gründlich
Boshaftes ist mir in der Welt noch nichts vorgekommen.

Julie. Danken Sie Gott, nun wär's abgebüßt, alles ist verziehen.
Ich wollte Sie nicht, das ist wahr, aber daß Sie mich ganz und gar
nicht wollten, das verzeiht kein Mädchen, und dieser Händedruck war,
merken Sie sich's! für den Schalk. Ich gestehe, es war schalkischer
als billig, und ich verzeihe mir nur, indem ich Ihnen vergebe, und so
sei denn alles vergeben und vergessen! Hier meine Hand.

Er schlug ein, sie rief: "Da sind wir schon wieder! in unserm Park
schon wieder, und so geht's bald um die weite Welt und auch wohl
zurück; wir treffen uns wieder."

Sie waren vor dem Gartensaal schon angelangt, er schien leer; die
Gesellschaft hatte sich, im Unbehagen, die Tafelzeit überlang
verschoben zu sehen, zum Spazieren bewegt. Antoni aber und Lucinde
traten hervor. Julie warf sich aus dem Wagen ihrem Freund entgegen,
sie dankte in einer herzlichen Umarmung und enthielt sich nicht der
freudigsten Tränen. Des edlen Mannes Wange rötete sich, seine Züge
traten entfaltet hervor, sein Auge blickte feucht, und ein schöner,
bedeutender Jüngling erschien aus der Hülle.

Und so zogen beide Paare zur Gesellschaft, mit Gefühlen, die der
schönste Traum nicht zu geben vermochte.









Zehntes Kapitel

Vater und Sohn waren, von einem Reitknecht begleitet, durch eine
angenehme Gegend gekommen, als dieser, im Angesicht einer hohen Mauer,
die einen weiten Bezirk zu umschließen schien, stillehaltend,
bedeutete, sie möchten nun zu Fuße sich dem großen Tore nähern, weil
kein Pferd in diesen Kreis eingelassen würde. Sie zogen die Glocke,
das Tor eröffnete sich, ohne daß eine Menschengestalt sichtbar
geworden wäre, und sie gingen auf ein altes Gebäude los, das zwischen
uralten Stämmen von Buchen und Eichen ihnen entgegenschimmerte.
Wunderbar war es anzusehen, denn so alt es der Form nach schien, so
war es doch, als wenn Maurer und Steinmetzen soeben erst abgegangen
wären, dergestalt neu, vollständig und nett erschienen die Fugen wie
die ausgearbeiteten Verzierungen.

Der metallne, schwere Ring an einer wohlgeschnitzten Pforte lud sie
ein zu klopfen, welches Felix mutwillig etwas unsanft verrichtete;
auch diese Tür sprang auf, und sie fanden zunächst auf der Hausflur
ein Frauenzimmer sitzen von mittlerem Alter, am Stickrahmen mit einer
wohlgezeichneten Arbeit beschäftigt. Diese begrüßte sogleich die
Ankommenden als schon gemeldet und begann ein heiteres Lied zu singen,
worauf sogleich aus einer benachbarten Türe ein Frauenzimmer
heraustrat, das man für die Beschließerin und tätige Haushälterin,
nach den Anhängseln ihres Gürtels, ohne weiteres zu erkennen hatte.
Auch diese freundlich grüßend führte die Fremden eine Treppe hinauf
und eröffnete ihnen einen Saal, der sie ernsthaft ansprach, weit,
hoch, ringsum getäfelt, oben drüber eine Reihenfolge historischer
Schilderungen. Zwei Personen traten ihnen entgegen, ein jüngeres
Frauenzimmer und ein ältlicher Mann.

Jene hieß den Gast sogleich freimütig willkommen. "Sie sind", sagte
sie, "als einer der Unsern angemeldet. Wie soll ich Ihnen aber kurz
und gut den Gegenwärtigen vorstellen? Er ist unser Hausfreund im
schönsten und weitesten Sinne, bei Tage der belehrende Gesellschafter,
bei Nacht Astronom, und Arzt zu jeder Stunde."

"Und ich", versetzte dieser freundlich, "empfehle Ihnen dieses
Frauenzimmer als die bei Tage unermüdete Geschäftige, bei Nacht,
wenn's not tut, gleich bei der Hand, und immerfort die heiterste
Lebensbegleiterin."

Angela, so nannte man die durch Gestalt und Betragen einnehmende
Schöne, verkündigte sodann die Ankunft Makariens; ein grüner Vorhang
zog sich auf, und eine Ältliche, wunderwürdige Dame ward auf einem
Lehnsessel von zwei jungen, hübschen Mädchen hereingeschoben, wie von
zwei andern ein runder Tisch mit erwünschtem Frühstück. In einem
Winkel der ringsumher gehenden massiven eichenen Bänke waren Kissen
gelegt, darauf setzten sich die obigen dreie, Makarie in ihrem Sessel
gegen ihnen über. Felix verzehrte sein Frühstück stehend, im Saal
umherwandelnd und die ritterlichen Bilder über dem Getäfel neugierig
betrachtend.

Makarie sprach zu Wilhelm als einem Vertrauten, sie schien sich in
geistreicher Schilderung ihrer Verwandten zu erfreuen; es war, als
wenn sie die innere Natur eines jeden durch die ihn umgebende
individuelle Maske durchschaute. Die Personen, welche Wilhelm kannte,
standen wie verklärt vor seiner Seele, das einsichtige Wohlwollen der
unschätzbaren Frau hatte die Schale losgelöst und den gesunden Kern
veredelt und belebt.

Nachdem nun diese angenehmen Gegenstände durch die freundlichste
Behandlung erschöpft waren, sprach sie zu dem würdigen Gesellschafter:
"Sie werden von der Gegenwart dieses neuen Freundes nicht wiederum
Anlaß zu einer Entschuldigung finden und die versprochene
Unterhaltung abermals verspäten; er scheint von der Art, wohl auch
daran teilzunehmen."

Jener aber versetzte darauf: "Sie wissen, welche Schwierigkeit es
ist, sich über diese Gegenstände zu erklären, denn es ist von nichts
wenigerem als von dem Mißbrauch fürtrefflicher und weit auslangender
Mittel die Rede."

"Ich geb' es zu", versetzte Makarie, "denn man kommt in doppelte
Verlegenheit. Spricht man von Mißbrauch, so scheint man die Würde des
Mittels selbst anzutasten, denn es liegt ja immer noch in dem
Mißbrauch verborgen; spricht man von Mittel, so kann man kaum zugeben,
daß seine Gründlichkeit und Würde irgendeinen Mißbrauch zulasse.
Indessen, da wir unter uns sind, nichts festsetzen, nichts nach außen
wirken, sondern nur uns aufklären wollen, so kann das Gespräch immer
vorwärtsgehen."

"Doch müßten wir", versetzte der bedächtige Mann, "vorher anfragen,
ob unser neuer Freund auch Lust habe, an einer gewissermaßen abstrusen
Materie teilzunehmen, und ob er nicht vorzöge, in seinem Zimmer einer
nötigen Ruhe zu pflegen. Sollte wohl unsere Angelegenheit, außer dem
Zusammenhange, ohne Kenntnis, wie wir darauf gelangt, von ihm gern
und günstig aufgenommen werden?"

"Wenn ich das, was Sie gesagt haben, mir durch etwas Analoges
erklären möchte, so scheint es ungefähr der Fall zu sein, wenn man
die Heuchelei angreift und eines Angriffs auf die Religion
beschuldigt werden kann."

"Wir können die Analogie gelten lassen", versetzte der Hausfreund,
"denn es ist auch hier von einem Komplex mehrerer bedeutender
Menschen, von einer hohen Wissenschaft, von einer wichtigen Kunst und,
daß ich kurz sei, von der Mathematik die Rede."

"Ich habe", versetzte Wilhelm, "wenn ich auch über die fremdesten
Gegenstände sprechen hörte, mir immer etwas daraus nehmen können: denn
alles, was den einen Menschen interessiert, wird auch in dem andern
einen Anklang finden."

"Vorausgesetzt", sagte jener, "daß er sich eine gewisse Freiheit des
Geistes erworben habe; und da wir Ihnen dies zutrauen, so will ich
von meiner Seite wenigstens Ihrem Verharren nichts entgegenstellen."

"Was aber fangen wir mit Felix an?" fragte Makarie, "welcher, wie
ich sehe, mit der Betrachtung jener Bilder schon fertig ist und
einige Ungeduld merken läßt."

"Vergönnt mir, diesem Frauenzimmer etwas ins Ohr zu sagen",
versetzte Felix, raunte Angela etwas stille zu, die sich mit ihm
entfernte, bald aber lächelnd zurückkam, da denn der Hausfreund
folgendermaßen zu reden anfing.

"In solchen Fällen, wo man irgend eine Mißbilligung, einen Tadel,
auch nur ein Bedenken aussprechen soll, nehme ich nicht gern die
Initiative; ich suche mir eine Autorität, bei welcher ich mich
beruhigen kann, indem ich finde, daß mir ein anderer zur Seite steht.
Loben tu' ich ohne Bedenken, denn warum soll ich verschweigen, wenn
mir etwas zusagt? sollte es auch meine Beschränktheit ausdrücken, so
hab' ich mich deren nicht zu schämen; tadle ich aber, so kann mir
begegnen, daß ich etwas Fürtreffliches abweise, und dadurch zieh' ich
mir die Mißbilligung anderer zu, die es besser verstehen; ich muß mich
zurücknehmen, wenn ich aufgeklärt werde. Deswegen bring' ich hier
einiges Geschriebene, sogar übersetzungen mit: denn ich traue in
solchen Dingen meiner Nation so wenig als mir selbst; eine Zustimmung
aus der Ferne und Fremde scheint mir mehr Sicherheit zu geben." Er
fing nunmehr nach erhaltener Erlaubnis folgendermaßen zu lesen an.--

Wenn wir aber uns bewogen finden, diesen werten Mann nicht lesen zu
lassen, so werden es unsere Gönner wahrscheinlich geneigt aufnehmen,
denn was oben gegen das Verweilen Wilhelms bei dieser Unterhaltung
gesagt worden, gilt noch mehr in dem Falle, in welchem wir uns
befinden. Unsere Freunde haben einen Roman in die Hand genommen, und
wenn dieser hie und da schon mehr als billig didaktisch geworden, so
finden wir doch geraten, die Geduld unserer Wohlwollenden nicht noch
weiter auf die Probe zu stellen. Die Papiere, die uns vorliegen,
gedenken wir an einem andern Orte abdrucken zu lassen und fahren
diesmal im Geschichtlichen ohne weiteres fort, da wir selbst
ungeduldig sind, als obwaltende Rätsel endlich aufgeklärt zu sehen.

Enthalten können wir uns aber doch nicht, ferner einiges zu erwähnen,
was noch vor dem abendlichen Scheiden dieser edlen Gesellschaft zur
Sprache kam. Wilhelm, nachdem er jener Vorlesung aufmerksam zugehört,
äußerte ganz unbewunden: "Hier vernehme ich von großen Naturgaben,
Fähigkeiten und Fertigkeiten, und doch zuletzt, bei ihrer Anwendung,
manches Bedenken. Sollte ich mich darüber ins Kurze fassen, so würde
ich ausrufen: "Große Gedanken und ein reines Herz, das ist's, was wir
uns von Gott erbitten sollten!""

Diesen verständigen Worten Beifall gebend, löste die Versammlung
sich auf, der Astronom aber versprach, Wilhelm in dieser herrlichen,
klaren Nacht an den Wundern des gestirnten Himmels vollkommen
teilnehmen zu lassen.

Nach einigen Stunden ließ der Astronom seinen Gast die Treppen zur
Sternwarte sich hinaufwinden und zuletzt allein auf die völlig freie
Fläche eines runden, hohen Turmes heraustreten. Die heiterste Nacht,
von allen Sternen leuchtend und funkelnd, umgab den Schauenden,
welcher zum erstenmale das hohe Himmelsgewölbe in seiner ganzen
Herrlichkeit zu erblicken glaubte. Denn im gemeinen Leben,
abgerechnet die ungünstige Witterung, die uns so oft den Glanzraum
des Äthers verbirgt, hindern uns zu Hause bald Dächer und Giebel,
auswärts bald Wälder und Felsen, am meisten aber überall die inneren
Beunruhigungen des Gemüts, die, uns alle Umwelt mehr als Nebel und
Mißwetter zu verdüstern, sich hin und her bewegen.

Ergriffen und erstaunt hielt er sich beide Augen zu. Das Ungeheure
hört auf, erhaben zu sein, es überreicht unsre Fassungskraft, es
droht, uns zu vernichten. "Was bin ich denn gegen das All?" sprach
er zu seinem Geiste; "wie kann ich ihm gegenüber, wie kann ich in
seiner Mitte stehen?" Nach einem kurzen überdenken jedoch fuhr er
fort: "Das Resultat unsres heutigen Abends löst ja auch das Rätsel
des gegenwärtigen Augenblicks. Wie kann sich der Mensch gegen das
Unendliche stellen, als wenn er alle geistigen Kräfte, die nach
vielen Seiten hingezogen werden, in seinem Innersten, Tiefsten
versammelt, wenn er sich fragt: "Darfst du dich in der Mitte dieser
ewig lebendigen Ordnung auch nur denken, sobald sich nicht
gleichfalls in dir ein beharrlich Bewegtes, um einen reinen
Mittelpunkt kreisend, hervortut? Und selbst wenn es dir schwer würde,
diesen Mittelpunkt in deinem Busen aufzufinden, so würdest du ihn
daran erkennen, daß eine wohlwollende, wohltätige Wirkung von ihm
ausgeht und von ihm Zeugnis gibt."

Wer soll, wer kann aber auf sein vergangenes Leben zurückblicken,
ohne gewissermaßen irre zu werden, da er meistens finden wird, daß
sein Wollen richtig, sein Tun falsch, sein Begehren tadelhaft und
sein Erlangen dennoch erwünscht gewesen?

Wie oft hast du diese Gestirne leuchten gesehen, und haben sie dich
nicht jederzeit anders gefunden? sie aber sind immer dieselbigen und
sagen immer dasselbige: "Wir bezeichnen", wiederholten sie, "durch
unsern gesetzmäßigen Gang Tag und Stunde; frage dich auch, wie
verhältst du dich zu Tag und Stunde?"--Und so kann ich denn diesmal
antworten: "Des gegenwärtigen Verhältnisses hab' ich mich nicht zu
schämen, meine Absicht ist, einen edlen Familienkreis in allen seinen
Gliedern erwünscht verbunden herzustellen; der Weg ist bezeichnet.
Ich soll erforschen, was edle Seelen auseinanderhält, soll Hindernisse
wegräumen, von welcher Art sie auch seien." Dies darfst du vor
diesen himmlischen Heerscharen bekennen; achteten sie deiner, sie
würden zwar über deine Beschränktheit lächeln, aber sie ehrten gewiß
deinen Vorsatz und begünstigten dessen Erfüllung."

Bei diesen Worten oder Gedanken wendete er sich, umherzusehen, da
fiel ihm Jupiter in die Augen, das Glücksgestirn, so herrlich
leuchtend als je; er nahm das Omen als günstig auf und verharrte
freudig in diesem Anschauen eine Zeitlang.

Hierauf sogleich berief ihn der Astronom herabzukommen und ließ ihn
eben dieses Gestirn durch ein vollkommenes Fernrohr in bedeutender
Größe, begleitet von seinen Monden, als ein himmlisches Wunder
anschauen.

Als unser Freund lange darin versunken geblieben, wendete er sich um
und sprach zu dem Sternfreunde: "Ich weiß nicht, ob ich ihnen danken
soll, daß Sie mir dieses Gestirn so über alles Maß näher gerückt.
Als ich es vorhin sah, stand es im Verhältnis zu dem übrigen
Unzähligen des Himmels und zu mir selbst; jetzt aber tritt es in
meiner Einbildungskraft unverhältnismäßig hervor, und ich weiß nicht,
ob ich die übrigen Scharen gleicherweise heranzuführen wünschen sollte.
Sie werden mich einengen, mich beängstigen."

So erging sich unser Freund nach seiner Gewohnheit weiter, und es
kam bei dieser Gelegenheit manches Unerwartete zur Sprache. Auf
einiges Erwidern des Kunstverständigen versetzte Wilhelm: "Ich
begreife recht gut, daß es euch Himmelskundigen die größte Freude
gewähren muß, das ungeheure Weltall nach und nach so heranzuziehen,
wie ich hier den Planeten sah und sehe. Aber erlauben Sie mir, es
auszusprechen: ich habe im Leben überhaupt und im Durchschnitt
gefunden, daß diese Mittel, wodurch wir unsern Sinnen zu Hülfe kommen,
keine sittlich günstige Wirkung auf den Menschen ausüben. Wer durch
Brillen sieht, hält sich für klüger, als er ist, denn sein äußerer
Sinn wird dadurch mit seiner innern Urteilsfähigkeit außer
Gleichgewicht gesetzt; es gehört eine höhere Kultur dazu, deren nur
vorzügliche Menschen fähig sind, ihr Inneres, Wahres mit diesem von
außen herangerückten Falschen einigermaßen auszugleichen. Sooft ich
durch eine Brille sehe, bin ich ein anderer Mensch und gefalle mir
selbst nicht; ich sehe mehr, als ich sehen sollte, die schärfer
gesehene Welt harmoniert nicht mit meinem Innern, und ich lege die
Gläser geschwind wieder weg, wenn meine Neugierde, wie dieses oder
jenes in der Ferne beschaffen sein möchte, befriedigt ist."

Auf einige scherzhafte Bemerkungen des Astronomen fuhr Wilhelm fort:
"Wir werden diese Gläser so wenig als irgendein Maschinenwesen aus
der Welt bannen, aber dem Sittenbeobachter ist es wichtig, zu
erforschen und zu wissen, woher sich manches in die Menschheit
eingeschlichen hat, worüber man sich beklagt. So bin ich z. B.
überzeugt, daß die Gewohnheit, Annäherungsbrillen zu tragen, an dem
Dünkel unserer jungen Leute hauptsächlich schuld hat."

Unter diesen Gesprächen war die Nacht weit vorgerückt, worauf der im
Wachen bewährte Mann seinem jungen Freunde den Vorschlag tat, sich
auf dem Feldbette niederzulegen und einige Zeit zu schlafen, um
alsdann mit frischerem Blick die dem Aufgang der Sonne voreilende
Venus, welche eben heute in ihrem vollendeten Glanze zu erscheinen
verspräche, zu schauen und zu begrüßen.

Wilhelm, der sich bis auf den Augenblick recht straff und munter
erhalten hatte, fühlte auf diese Anmutung des wohlwollenden,
vorsorglichen Mannes sich wirklich erschöpft, er legte sich nieder
und war augenblicklich in den tiefsten Schlaf gesunken.

Geweckt von dem Sternkundigen sprang Wilhelm auf und eilte zum
Fenster: dort staunte, starrte er einen Augenblick, dann rief er
enthusiastisch: "Welche Herrlichkeit! welch ein Wunder!" Andere Worte
des Entzückens folgten, aber ihm blieb der Anblick immer ein Wunder,
ein großes Wunder.

"Daß Ihnen dieses liebenswürdige Gestirn, das heute in Fülle und
Herrlichkeit wie selten erscheint, überraschend entgegentreten würde,
konnt' ich voraussehen, aber das darf ich wohl aussprechen, ohne kalt
gescholten zu werden: kein Wunder seh' ich, durchaus kein Wunder!"

"Wie könnten Sie auch?" versetzte Wilhelm, "da ich es mitbringe, da
ich es in mir trage, da ich nicht weiß, wie mir geschieht. Lassen
Sie mich noch immer stumm und staunend hinblicken, sodann vernehmen
Sie!" Nach einer Pause fuhr er fort: "Ich lag sanft, aber tief
eingeschlafen, da fand ich mich in den gestrigen Saal versetzt, aber
allein. Der grüne Vorhang ging auf, Makariens Sessel bewegte sich
hervor, von selbst wie ein belebtes Wesen; er glänzte golden, ihre
Kleider schienen priesterlich, ihr Anblick leuchtete sanft; ich war
im Begriff, mich niederzuwerfen. Wolken entwickelten sich um ihre
Füße, steigend hoben sie flügelartig die heilige Gestalt empor, an
der Stelle ihres herrlichen Angesichtes sah ich zuletzt, zwischen
sich teilendem Gewölk, einen Stern blinken, der immer aufwärts
getragen wurde und durch das eröffnete Deckengewölbe sich mit dem
ganzen Sternhimmel vereinigte, der sich immer zu verbreiten und alles
zu umschließen schien. In dem Augenblick wecken Sie mich auf,
schlaftrunken taumle ich nach dem Fenster, den Stern noch lebhaft in
meinem Auge, und wie ich nun hinblicke der Morgenstern, von gleicher
Schönheit, obschon vielleicht nicht von gleicher strahlender
Herrlichkeit, wirklich vor mir! Dieser wirkliche, da droben
schwebende Stern setzte sich an die Stelle des geträumten, er zehrt
auf, was an dem erscheinenden Herrliches war, aber ich schaue doch
fort und fort, und Sie schauen ja mit mir, was eigentlich vor meinen
Augen zugleich mit dem Nebel des Schlafes hätte verschwinden sollen."

Der Astronom rief aus: "Wunder, ja Wunder! Sie wissen selbst nicht,
welche wundersame Rede Sie führten. Möge uns nur dies nicht auf den
Abschied der Herrlichen hindeuten, welcher früher oder später eine
solche Apotheose beschieden ist."

Den andern Morgen eilte Wilhelm, um seinen Felix aufzusuchen, der
sich früh ganz in der Stille weggeschlichen hatte, nach dem Garten,
den er zu seiner Verwunderung durch eine Anzahl Mädchen bearbeitet
sah; alle, wo nicht schön, doch keine häßlich, keine, die das
zwanzigste Jahr erreicht zu haben schien. Sie waren verschiedentlich
gekleidet, als verschiedenen Ortschaften angehörig, tätig, heiter
grüßend und fortarbeitend.

Ihm begegnete Angela, welche die Arbeit anzuordnen und zu beurteilen
auf und ab ging; ihr ließ der Gast seine Verwunderung über eine so
hübsche, lebenstätige Kolonie vermerken. "Diese", versetzte sie,
"stirbt nicht aus, ändert sich, aber bleibt immer dieselbe. Denn mit
dem zwanzigsten Jahr treten diese, so wie die sämtlichen
Bewohnerinnen unserer Stiftung, ins tätige Leben, meistens in den
Ehestand. Alle jungen Männer der Nachbarschaft, die sich eine
wackere Gattin wünschen, sind aufmerksam auf dasjenige, was sich bei
uns entwickelt. Auch sind unsre Zöglinge hier nicht etwan eingesperrt,
sie haben sich schon auf manchem Jahrmarkte umgesehen, sind gesehen
worden, gewünscht und verlobt; und so warten denn mehrere Familien
schon aufmerksam, wenn bei uns wieder Platz wird, um die Ihrigen
einzuführen." Nachdem diese Angelegenheit besprochen war, konnte der
Gast seiner neuen Freundin den Wunsch nicht bergen, das gestern abend
Vorgelesene nochmals durchzusehen. "Den Hauptsinn der Unterhaltung
habe ich gefaßt", sagte er; "nun möcht' ich aber auch das einzelne,
wovon die Rede war, näher kennen lernen."

"Diesen Wunsch", versetzte jene, "zu befriedigen, finde ich mich
glücklicherweise sogleich in dem Falle; das Verhältnis, das Ihnen so
schnell zu unserm Innersten gegeben ward, berechtigt mich, Ihnen zu
sagen, daß jene Papiere schon in meinen Händen und von mir nebst
andern Blättern sorgfältig aufgehoben werden. Meine Herrin", fuhr
sie fort, "ist von der Wichtigkeit des augenblicklichen Gesprächs
höchlich überzeugt; dabei gehe vorüber, sagt sie, was kein Buch
enthält, und doch wieder das Beste, was Bücher jemals enthalten haben.
Deshalb machte sie mir's zur Pflicht, einzelne gute Gedanken
aufzubewahren, die aus einem geistreichen Gespräch, wie Samenkörner
aus einer vielästigen Pflanze, hervorspringen. "Ist man treu", sagt
sie, "das Gegenwärtige festzuhalten, so wird man erst Freude an der
überlieferung haben, indem wir den besten Gedanken schon
ausgesprochen, das liebenswürdigste Gefühl schon ausgedrückt finden.
Hiedurch kommen wir zum Anschauen jener übereinstimmung, wozu der
Mensch berufen ist, wozu er sich oft wider seinen Willen finden muß,
da er sich gar zu gern einbildet, die Welt fange mit ihm von vorne an.
""

Angela fuhr fort, dem Gaste weiter zu vertrauen, daß dadurch ein
bedeutendes Archiv entstanden sei, woraus sie in schlaflosen Nächten
manchmal ein Blatt Makarien vorlese; bei welcher Gelegenheit denn
wieder auf eine merkwürdige Weise tausend Einzelnheiten
hervorspringen, eben als wenn eine Masse Quecksilber fällt und sich
nach allen Seiten hin in die vielfachsten unzähligen Kügelchen
zerteilt.

Auf seine Frage, inwiefern dieses Archiv als Geheimnis bewahrt werde,
eröffnete sie: daß allerdings nur die nächste Umgebung davon
Kenntnis habe, doch wolle sie es wohl verantworten und ihm, da er
Lust bezeige, sogleich einige Hefte vorlegen.

Unter diesem Gartengespräche waren sie gegen das Schloß gelangt, und
in die Zimmer eines Seitengebäudes eintretend, sagte sie lächelnd:
"Ich habe bei dieser Gelegenheit Ihnen noch ein Geheimnis zu
vertrauen, worauf Sie am wenigsten vorbereitet sind." Sie ließ ihn
darauf durch einen Vorhang in ein Kabinett hineinblicken, wo er,
freilich zu großer Verwunderung, seinen Felix schreibend an einem
Tische sitzen sah und sich nicht gleich diesen unerwarteten Fleiß
enträtseln konnte. Bald aber ward er belehrt, als Angela ihm
entdeckte, daß der Knabe jenen Augenblick seines Verschwindens hiezu
angewendet und erklärt, Schreiben und Reiten sei das einzige, wozu er
Lust habe.

Unser Freund ward sodann in ein Zimmer geführt, wo er in Schränken
ringsum viele wohlgeordnete Papiere zu sehen hatte. Rubriken mancher
Art deuteten auf den verschiedensten Inhalt, Einsicht und Ordnung
leuchtete hervor. Als nun Wilhelm solche Vorzüge pries, eignete das
Verdienst derselben Angela dem Hausfreunde zu; die Anlage nicht allein,
sondern auch in schwierigen Fällen die Einschaltung wisse er mit
eigener übersicht bestimmt zu leiten. Darauf suchte sie die gestern
vorgelesenen Manuskripte vor und vergönnte dem Begierigen, sich
derselben sowie alles übrigen zu bedienen und nicht nur Einsicht
davon, sondern auch Abschrift zu nehmen.

Hier nun mußte der Freund bescheiden zu Werke gehen, denn es fand
sich nur allzuviel Anziehendes und Wünschenswertes; besonders achtete
er die Hefte kurzer, kaum zusammenhängender Sätze höchst
schätzenswert. Resultate waren es, die, wenn wir nicht ihre
Veranlassung wissen, als paradox erscheinen, uns aber nötigen,
vermittelst eines umgekehrten Findens und Erfindens rückwärtszugehen
und uns die Filiation solcher Gedanken von weit her, von unten herauf
wo möglich zu vergegenwärtigen.

Auch dergleichen dürfen wir aus oben angeführten Ursachen keinen
Platz einräumen. Jedoch werden wir die erste sich darbietende
Gelegenheit nicht versäumen und am schicklichen Orte auch das hier
Gewonnene mit Auswahl darzubringen wissen.





Am dritten Tage morgens begab sich unser Freund zu Angela, und nicht
ohne einige Verlegenheit stand er vor ihr. "Heute soll ich scheiden",
sprach er, "und von der trefflichen Frau, bei der ich gestern den
ganzen Tag leider nicht vorgelassen worden, meine letzten Aufträge
erhalten. Hier nun liegt mir etwas auf dem Herzen, auf dem ganzen
innern Sinn, worüber ich aufgeklärt zu sein wünschte. Wenn es
möglich ist, so gönnen Sie mir diese Wohltat."

"Ich glaube Sie zu verstehen", sagte die Angenehme, "doch sprechen
Sie weiter."--"Ein wunderbarer Traum", fuhr er fort, "einige Worte
des ernsten Himmelskundigen, ein abgesondertes, verschlossenes Fach
in den zugänglichen Schränken, mit der Inschrift: "Makariens
Eigenheiten", diese Veranlassungen gesellen sich zu einer innern
Stimme, die mir zuruft, die Bemühung um jene Himmelslichter sei nicht
etwa nur eine wissenschaftliche Liebhaberei, ein Bestreben nach
Kenntnis des Sternenalls, vielmehr sei zu vermuten: es liege hier ein
ganz eigenes Verhältnis Makariens zu den Gestirnen verborgen, das zu
erkennen mir höchst wichtig sein müßte. Ich bin weder neugierig noch
zudringlich, aber dies ist ein so wissenswerter Fall für den
Geist--und Sinnforscher, daß ich mich nicht enthalten kann anzufragen:
ob man zu so vielem Vertrauen nicht auch noch dieses übermaß zu
vergönnen belieben möchte?"--"Dieses zu gewähren, bin ich berechtigt",
versetzte die Gefällige. "Ihr merkwürdiger Traum ist zwar Makarien
ein Geheimnis geblieben, aber ich habe mit dem Hausfreund Ihr
sonderbares geistiges Eingreifen, Ihr unvermutetes Erfassen der
tiefsten Geheimnisse betrachtet und überlegt, und wir dürfen uns
ermutigen, Sie weiterzuführen. Lassen Sie mich nun zuvörderst
gleichnisweise reden! Bei schwer begreiflichen Dingen tut man wohl,
sich auf diese Weise zu helfen.

Wie man von dem Dichter sagt, die Elemente der sichtlichen Welt
seien in seiner Natur innerlichst verborgen und hätten sich nur aus
ihm nach und nach zu entwickeln, daß ihm nichts in der Welt zum
Anschauen komme, was er nicht vorher in der Ahnung gelebt: ebenso sind,
wie es scheinen will, Makarien die Verhältnisse unsres Sonnensystems
von Anfang an, erst ruhend, sodann sich nach und nach entwickelnd,
fernerhin sich immer deutlicher belebend, gründlich eingeboren. Erst
litt sie an diesen Erscheinungen, dann vergnügte sie sich daran, und
mit den Jahren wuchs das Entzücken. Nicht eher jedoch kam sie
hierüber zur Einheit und Beruhigung, als bis sie den Beistand, den
Freund gewonnen hatte, dessen Verdienst Sie auch schon genugsam kennen
lernten.

Als Mathematiker und Philosoph ungläubig von Anfang, war er lange
zweifelhaft, ob diese Anschauung nicht etwa angelernt sei; denn
Makarie mußte gestehen, frühzeitig Unterricht in der Astronomie
genossen und sich leidenschaftlich damit beschäftigt zu haben.
Daneben berichtete sie aber auch: wie sie viele Jahre ihres Lebens
die innern Erscheinungen mit dem äußern Gewahrwerden zusammengehalten
und verglichen, aber niemals hierin eine übereinstimmung finden
können.

Der Wissende ließ sich hierauf dasjenige, was sie schaute, welches
ihr nur von Zeit zu Zeit ganz deutlich war, auf das genaueste
vortragen, stellte Berechnungen an und folgerte daraus, daß sie nicht
sowohl das ganze Sonnensystem in sich trage, sondern daß sie sich
vielmehr geistig als ein integrierender Teil darin bewege. Er verfuhr
nach dieser Voraussetzung, und seine Calculs wurden auf eine
unglaubliche Weise durch ihre Aussagen bestätigt.

So viel nur darf ich Ihnen diesmal vertrauen, und auch dieses
eröffne ich nur mit der dringenden Bitte, gegen niemanden hievon
irgendein Wort zu erwähnen. Denn sollte nicht jeder Verständige und
Vernünftige, bei dem reinsten Wohlwollen, dergleichen äußerungen für
Phantasien, für übelverstandene Erinnerungen eines früher
eingelernten Wissens halten und erklären? Die Familie selbst weiß
nichts Näheres hievon, diese geheimen Anschauungen, die entzückenden
Gesichte sind es, die bei den Ihrigen als Krankheit gelten, wodurch
sie augenblicklich gehindert sei, an der Welt und ihren Interessen
teilzunehmen. Dies, mein Freund, verwahren Sie im stillen und lassen
sich auch gegen Lenardo nichts merken."

Gegen Abend ward unser Wanderer Makarien nochmals vorgestellt; gar
manches anmutig Belehrende kam zur Sprache, davon wir nachstehendes
auswählen.

"Von Natur besitzen wir keinen Fehler, der nicht zur Tugend, keine
Tugend, die nicht zum Fehler werden könnte. Diese letzten sind
gerade die bedenklichsten. Zu dieser Betrachtung hat mir vorzüglich
der wunderbare Neffe Anlaß gegeben, der junge Mann, von dem Sie in der
Familie manches Seltsame gehört haben und den ich, wie die Meinigen
sagen, mehr als billig, schonend und liebend behandle.

Von Jugend auf entwickelte sich in ihm eine gewisse muntere,
technische Fertigkeit, der er sich ganz hingab und darin glücklich zu
mancher Kenntnis und Meisterschaft fortschritt. Späterhin war alles,
was er von Reisen nach Hause schickte, immer das Künstlichste,
Klügste, Feinste, Zarteste von Handarbeit, auf das Land hindeutend, wo
er sich eben befand und welches wir erraten sollten. Hieraus möchte
man schließen, daß er ein trockner, unteilnehmender, in
äußerlichkeiten befangener Mensch sei und bleibe; auch war er im
Gespräch zum Eingreifen an allgemeinen, sittlichen Betrachtungen nicht
aufgelegt, aber er besaß im stillen und geheimen einen wunderbar
feinen praktischen Takt des Guten und Bösen, des Löblichen und
Unlöblichen, daß ich ihn weder gegen Ältere noch jüngere, weder gegen
Obere noch Untere jemals habe fehlen sehen. Aber diese angeborne
Gewissenhaftigkeit, ungeregelt wie sie war, bildete sich im einzelnen
zu grillenhafter Schwäche; er mochte sogar sich Pflichten erfinden,
da wo sie nicht gefordert wurden, und sich ganz ohne Not irgendeinmal
als Schuldner bekennen.

Nach seinem ganzen Reiseverfahren, besonders aber nach den
Vorbereitungen zu seiner Wiederkunft, glaube ich, daß er wähnt,
früher ein weibliches Wesen unseres Kreises verletzt zu haben, deren
Schicksal ihn jetzt beunruhigt, wovon er sich befreit und erlöst
fühlen würde, sobald er vernehmen könnte, daß es ihr wohl gehe, und
das Weitere wird Angela mit Ihnen besprechen. Nehmen Sie
gegenwärtigen Brief und bereiten unsrer Familie ein glückliches
Zusammenfinden. Aufrichtig gestanden: ich wünschte, ihn auf dieser
Erde nochmals zu sehen und im Abscheiden ihn herzlich zu segnen."









Eilftes Kapitel



Das nußbraune Mädchen

Nachdem Wilhelm seinen Auftrag umständlich und genau ausgerichtet,
versetzte Lenardo mit einem Lächeln: "So sehr ich Ihnen verbunden bin
für das, was ich durch Sie erfahre, so muß ich doch noch eine Frage
hinzufügen. Hat Ihnen die Tante nicht am Schluß noch anempfohlen,
mir eine unbedeutend scheinende Sache zu berichten?" Der andere
besann sich einen Augenblick. "Ja", sagte er darauf, "ich entsinne
mich. Sie erwähnte eines Frauenzimmers, das sie Valerine nannte.
Von dieser sollte ich Ihnen sagen, daß sie glücklich verheiratet sei
und sich in einem wünschenswerten Zustande befinde."

"Sie wälzen mir einen Stein vom Herzen", versetzte Lenardo. "Ich
gehe nun gern nach Hause zurück, weil ich nicht fürchten muß, daß die
Erinnerung an dieses Mädchen mir an Ort und Stelle zum Vorwurf
gereiche."

"Es ziemt sich nicht für mich zu fragen, welch Verhältnis Sie zu ihr
gehabt", sagte Wilhelm; "genug, Sie können ruhig sein, wenn Sie auf
irgendeine Weise an dem Schicksal des Mädchens teilnehmen."

"Es ist das wunderlichste Verhältnis von der Welt", sagte Lenardo;
"keinesweges ein Liebesverhältnis, wie man sich's denken könnte. Ich
darf Ihnen wohl vertrauen und erzählen, was eigentlich keine
Geschichte ist. Was müssen Sie aber denken, wenn ich Ihnen sage, daß
mein zauderndes Zurückreisen, daß die Furcht, in unsere Wohnung
zurückzukehren, daß diese seltsamen Anstalten und Fragen, wie es bei
uns aussehe, eigentlich nur zur Absicht haben, nebenher zu erfahren,
wie es mit diesem Kinde stehe.

Denn glauben Sie", fuhr er fort, "ich weiß übrigens sehr gut, daß
man Menschen, die man kennt, auf geraume Zeit verlassen kann, ohne
sie verändert wiederzufinden, und so denke ich auch bei den Meinigen
bald wieder völlig zu Hause zu sein. Um dies einzige Wesen war es
mir zu tun, dessen Zustand sich verändern mußte und sich, Dank sei es
dem Himmel, ins Bessere verändert hat."

"Sie machen mich neugierig", sagte Wilhelm. "Sie lassen mich etwas
ganz Besonderes erwarten."

"Ich halte es wenigstens dafür", versetzte Lenardo und fing seine
Erzählung folgendermaßen an.

"Die herkömmliche Kreisfahrt durch das gesittete Europa in meinen
Jünglingsjahren zu bestehen, war ein fester Vorsatz, den ich von
Jugend auf hegte, dessen Ausführung sich aber von Zeit zu Zeit, wie
es zu gehen pflegt, verzögerte. Das Nächste zog mich an, hielt mich
fest, und das Entfernte verlor immer mehr seinen Reiz, je mehr ich
davon las oder erzählen hörte. Doch endlich, angetrieben durch
meinen Oheim, angelockt durch Freunde, die sich vor mir in die Welt
hinausbegeben hatten, ward der Entschluß gefaßt, und zwar geschwinder,
ehe wir es uns alle versahen.

Mein Oheim, der eigentlich das Beste dazu tun mußte, um die Reise
möglich zu machen, hatte sogleich kein anderes Augenmerk. Sie kennen
ihn und seine Eigenheit, wie er immer nur auf eines losgeht und das
erst zustande bringt, und inzwischen alles andere ruhen und schweigen
muß; wodurch er denn freilich vieles geleistet hat, was über die
Kräfte eines Particuliers zu gehen scheint. Diese Reise kam ihm
einigermaßen unerwartet; doch wußte er sich sogleich zu fassen.
Einige Bauten, die er unternommen, ja sogar angefangen hatte, wurden
eingestellt, und weil er sein Erspartes niemals angreifen will, so sah
er sich als ein kluger Finanzmann nach andern Mitteln um. Das
Nächste war, ausstehende Schulden, besonders Pachtreste,
einzukassieren; denn auch dieses gehörte mit zu seiner Art und Weise,
daß er gegen Schuldner nachsichtig war, solange er bis auf einen
gewissen Grad selbst nichts bedurfte. Sein Geschäftsmann erhielt die
Liste; diesem war die Ausführung überlassen. Vom einzelnen erfuhren
wir nichts; nur hörte ich im Vorbeigehen, daß der Pachter eines
unserer Güter, mit dem der Oheim lange Geduld gehabt hatte, endlich
wirklich ausgetrieben, seine Kaution zu kärglichem Ersatz des
Ausfalls innebehalten und das Gut anderweit verpachtet werden sollte.
Es war dieser Mann von Art der "Stillen im Lande", aber nicht, wie
seinesgleichen, dabei klug und tätig; wegen seiner Frömmigkeit und
Güte zwar geliebt, doch wegen seiner Schwäche als Haushalter
gescholten. Nach seiner Frauen Tode war eine Tochter, die man nur
das nußbraune Mädchen nannte, ob sie schon rüstig und entschlossen zu
werden versprach, doch viel zu jung, um entschieden einzugreifen;
genug, es ging mit dem Mann rückwärts, ohne daß die Nachsicht des
Onkels sein Schicksal hätte aufhalten können.

Ich hatte meine Reise im Sinn, und die Mittel dazu mußt' ich
billigen. Alles war bereit, das Packen und Loslösen ging an, die
Augenblicke drängten sich. Eines Abends durchstrich ich noch einmal
den Park, um Abschied von den bekannten Bäumen und Sträuchen zu nehmen,
als mir auf einmal Valerine in den Weg trat: denn so hieß das
Mädchen; das andere war nur ein Scherzname, durch ihre bräunliche
Gesichtsfarbe veranlaßt. Sie trat mit in den Weg."

Lenardo hielt einen Augenblick nachdenkend inne. "Wie ist mir
denn?" sagte er; "hieß sie auch Valerine? Ja doch", fuhr er fort;
"doch war der Scherzname gewöhnlicher. Genug, das braune Mädchen
trat mir in den Weg und bat mich dringend, für ihren Vater, für sie
ein gutes Wort bei meinem Oheim einzulegen. Da ich wußte, wie die
Sache stand, und ich wohl sah, daß es schwer, ja unmöglich sein würde,
in diesem Augenblick etwas für sie zu tun, so sagte ich's ihr
aufrichtig und setzte die eigne Schuld ihres Vaters in ein
ungünstiges Licht.

Sie antwortete mir darauf mit so viel Klarheit und zugleich mit so
viel kindlicher Schonung und Liebe, daß sie mich ganz für sich
einnahm und daß ich, wäre es meine eigene Kasse gewesen, sie sogleich
durch Gewährung ihrer Bitte glücklich gemacht hätte. Nun waren es
aber die Einkünfte meines Oheims; es waren seine Anstalten, seine
Befehle; bei seiner Denkweise, bei dem, was bisher schon geschehen,
war nichts zu hoffen. Von jeher hielt ich ein Versprechen hochheilig.
Wer etwas von mir verlangte, setzte mich in Verlegenheit. Ich hatte
mir es so angewöhnt abzuschlagen, daß ich sogar das nicht versprach,
was ich zu halten gedachte. Diese Gewohnheit kam mir auch diesmal
zustatten. Ihre Gründe ruhten auf Individualität und Neigung, die
meinigen auf Pflicht und Verstand, und ich leugne nicht, daß sie mir
am Ende selbst zu hart vorkamen. Wir hatten schon einigemal dasselbe
wiederholt, ohne einander zu überzeugen, als die Not sie beredter
machte, ein unvermeidlicher Untergang, den sie vor sich sah, ihr
Tränen aus den Augen preßte. Ihr gefaßtes Wesen verließ sie nicht
ganz; aber sie sprach lebhaft, mit Bewegung, und indem ich immer noch
Kälte und Gelassenheit heuchelte, kehrte sich ihr ganzes Gemüt nach
außen. Ich wünschte die Szene zu endigen; aber auf einmal lag sie zu
meinen Füßen, hatte meine Hand gefaßt, geküßt, und sah so gut, so
liebenswürdig flehend zu mir herauf, daß ich mir in dem Augenblick
meiner selbst nicht bewußt war. Schnell sagte ich, indem ich sie
aufhob: "Ich will das Mögliche tun, beruhige dich, mein Kind!" und so
wandte ich mich nach einem Seitenwege. "Tun Sie das Unmögliche!"
rief sie mir nach.-- Ich weiß nicht mehr, was ich sagen wollte, aber
ich sagte: "Ich will", und stockte. "Tun Sie's!" rief sie auf einmal,
mit einem Ausdruck von himmlischer Hoffnung. Ich grüßte sie und
eilte fort.

Den Oheim wollte ich nicht zuerst angehen, denn ich kannte ihn nur
zu gut, daß man ihn an das Einzelne nicht erinnern durfte, wenn er
sich das Ganze vorgesetzt hatte. Ich suchte den Geschäftsträger; er
war weggeritten; Gäste kamen den Abend, Freunde, die Abschied nehmen
wollten. Man spielte, man speiste bis tief in die Nacht. Sie blieben
den andern Tag, und die Zerstreuung vermischte jenes Bild der
dringend Bittenden. Der Geschäftsträger kam zurück, er war
geschäftiger und überdrängter als nie. Jedermann fragte nach ihm.
Er hatte nicht Zeit, mich zu hören: doch machte ich einen Versuch, ihn
festzuhalten; allein kaum hatte ich jenen frommen Pachter genannt, so
wies er mich mit Lebhaftigkeit zurück: "Sagen Sie dem Onkel um Gottes
willen davon nichts, wenn Sie zuletzt nicht noch Verdruß haben wollen.
"--Der Tag meiner Abreise war festgesetzt; ich hatte Briefe zu
schreiben, Gäste zu empfangen, Besuche in der Nachbarschaft abzulegen.
Meine Leute waren zu meiner bisherigen Bedienung hinreichend,
keineswegs aber gewandt, das Geschäft der Abreise zu erleichtern.
Alles lag auf mir; und doch, als mir der Geschäftsmann zuletzt in der
Nacht eine Stunde gab, um unsere Geldangelegenheiten zu ordnen, wagte
ich nochmals, für Valerinens Vater zu bitten.

"Lieber Baron", sagte der bewegliche Mann, "wie kann Ihnen nur so
etwas einfallen? Ich habe heute ohnehin mit Ihrem Oheim einen
schweren Stand gehabt; denn was Sie nötig haben, um sich hier
loszumachen, beläuft sich weit höher, als wir glaubten. Dies ist zwar
ganz natürlich, aber doch beschwerlich. Besonders hat der alte Herr
keine Freude, wenn die Sache abgetan scheint und noch manches
hintennachhinkt; das ist nun aber oft so, und wir andern müssen es
ausbaden. über die Strenge, womit die ausstehenden Schulden
eingetrieben werden sollen, hat er sich selbst ein Gesetz gemacht; er
ist darüber mit sich einig, und man möchte ihn wohl schwer zur
Nachgiebigkeit bewegen. Tun Sie es nicht, ich bitte Sie! es ist ganz
vergebens."

Ich ließ mich mit meinem Gesuch zurückschrecken, jedoch nicht ganz.
Ich drang in ihn, da doch die Ausführung von ihm abhänge, gelind und
billig zu verfahren. Er versprach alles, nach Art solcher Personen,
um für den Augenblick in Ruhe zu kommen. Er ward mich los; der Drang,
die Zerstreuung wuchs! ich saß im Wagen und kehrte jedem Anteil, den
ich zu Hause haben konnte, den Rücken.

Ein lebhafter Eindruck ist wie eine andere Wunde; man fühlt sie
nicht, indem man sie empfängt. Erst später fängt sie an zu schmerzen
und zu eitern. Mir ging es so mit jener Begebenheit im Garten.
Sooft ich einsam, sooft ich unbeschäftigt war, trat mir jenes Bild
des flehenden Mädchens, mit der ganzen Umgebung, mit jedem Baum und
Strauch, dem Platz, wo sie knieete, dem Weg, den ich einschlug, mich
von ihr zu entfernen, das Ganze zusammen wie ein frisches Bild vor
die Seele. Es war ein unauslöschlicher Eindruck, der wohl von andern
Bildern und Teilnahmen beschattet, verdeckt, aber niemals vertilgt
werden konnte. Immer erneut trat er in jeder stillen Stunde hervor,
und je länger es währte, desto schmerzlicher fühlte ich die Schuld,
die ich gegen meine Grundsätze, meine Gewohnheit auf mich geladen
hatte, obgleich nicht ausdrücklich, nur stotternd, zum erstenmal in
solchem Falle verlegen.

Ich verfehlte nicht, in den ersten Briefen unsern Geschäftsmann zu
fragen, wie die Sache gegangen. Er antwortete dilatorisch. Dann
setzte er aus, diesen Punkt zu erwidern; dann waren seine Worte
zweideutig, zuletzt schwieg er ganz. Die Entfernung wuchs, mehr
Gegenstände traten zwischen mich und meine Heimat; ich ward zu
manchen Beobachtungen, mancher Teilnahme aufgefordert; das Bild
verschwand, das Mädchen fast bis auf den Namen. Seltener trat ihr
Andenken hervor, und meine Grille, mich nicht durch Briefe, nur durch
Zeichen mit den Meinigen zu unterhalten, trug viel dazu bei, meinen
frühern Zustand mit allen seinen Bedingungen beinahe verschwinden zu
machen. Nur jetzt, da ich mich dem Hause nähere, da ich meiner
Familie, was sie bisher entbehrt, mit Zinsen zu erstatten gedenke,
jetzt überfällt mich diese wunderliche Reue --ich muß sie selbst
wunderlich nennen--wieder mit aller Gewalt. Die Gestalt des Mädchens
frischt sich auf mit den Gestalten der Meinigen, und ich fürchte
nichts mehr, als zu vernehmen, sie sei in dem Unglück, in das ich sie
gestoßen, zugrunde gegangen; denn mir schien mein Unterlassen ein
Handeln zu ihrem Verderben, eine Förderung ihres traurigen Schicksals.
Schon tausendmal habe ich mir gesagt, daß dieses Gefühl im Grunde
nur eine Schwachheit sei, daß ich früh zu jenem Gesetz, nie zu
versprechen, nur aus Furcht der Reue, nicht aus einer edlern
Empfindung getrieben worden. Und nun scheint sich eben die Reue, die
ich geflohen, an mir zu rächen, indem sie diesen Fall statt tausend
ergreift, um mich zu peinigen. Dabei ist das Bild, die Vorstellung,
die mich quält, so angenehm, so liebenswürdig, daß ich gern dabei
verweile. Und denke ich daran, so scheint der Kuß, den sie auf meine
Hand gedrückt, mich noch zu brennen."

Lenardo schwieg, und Wilhelm versetzte schnell und fröhlich: "So
hätte ich Ihnen denn keinen größern Dienst erzeigen können als durch
den Nachsatz meines Vortrags, wie manchmal in einem Postskript das
Interessanteste des Briefes enthalten sein kann. Zwar weiß ich nur
wenig von Valerinen: denn ich erfuhr von ihr nur im Vorbeigehen; aber
gewiß ist sie die Gattin eines wohlhabenden Gutsbesitzers und lebt
vergnügt, wie mir die Tante noch beim Abschied versicherte."

"Schön", sagte Lenardo: "nun hält mich nichts ab. Sie haben mich
absolviert, und wir wollen sogleich zu den Meinigen, die mich ohnehin
länger, als billig ist, erwarten." Wilhelm erwiderte darauf.
"Leider kann ich Sie nicht begleiten: denn eine sonderbare
Verpflichtung liegt mir ob, nirgends länger als drei Tage zu verweilen
und die Orte, die ich verlasse, in einem Jahr nicht wieder zu
betreten. Verzeihen Sie, wenn ich den Grund dieser Sonderbarkeit
nicht aussprechen darf."

"Es tut mir sehr leid", sagte Lenardo, "daß wir Sie so bald
verlieren, daß ich nicht auch etwas für Sie mitwirken kann. Doch da
Sie einmal auf dem Wege sind, mir wohlzutun, so können Sie mich sehr
glücklich machen, wenn Sie Valerinen besuchten, sich von ihrem
Zustand genau unterrichteten und mir alsdann schriftlich oder
mündlich-- der dritte Ort einer Zusammenkunft wird sich schon
finden--zu meiner Beruhigung ausführliche Nachricht erteilten."

Dieser Vorschlag wurde weiter besprochen; Valerinens Aufenthalt
hatte man Wilhelmen genannt. Er übernahm es, sie zu besuchen; ein
dritter Ort wurde festgesetzt, wohin der Baron kommen und auch den
Felix mitbringen sollte, der indessen bei den Frauenzimmern
zurückgeblieben war.

Lenardo und Wilhelm hatten ihren Weg, nebeneinander reitend, auf
angenehmen Wiesen unter mancherlei Gesprächen eine Zeitlang
fortgesetzt, als sie sich nunmehr der Fahrstraße näherten und den
Wagen des Barons einholten, der, von seinem Herrn begleitet, die
Heimat wiederfinden sollte. Hier wollten die Freunde sich trennen,
und Wilhelm nahm mit wenigen, freundlichen Worten Abschied und
versprach dem Baron nochmals baldige Nachricht von Valerinen.

"Wenn ich bedenke", versetzte Lenardo, "daß es nur ein kleiner Umweg
wäre, wenn ich Sie begleitete, warum sollte ich Valerinen nicht
selbst aufsuchen? warum nicht selbst von ihrem glücklichen Zustande
mich überzeugen? Sie waren so freundlich, sich zum Boten anzubieten;
warum wollten Sie nicht mein Begleiter sein? Denn einen Begleiter muß
ich haben, einen sittlichen Beistand, wie man sich rechtliche
Beistände nimmt, wenn man dem Gerichtshandel nicht ganz gewachsen zu
sein glaubt."

Die Einreden Wilhelms, daß man zu Hause den so lange Abwesenden
erwarte, daß es einen sonderbaren Eindruck machen möchte, wenn der
Wagen allein käme, und was dergleichen mehr war, vermochten nichts
über Lenardo, und Wilhelm mußte sich zuletzt entschließen, den
Begleiter abzugeben, wobei ihm wegen der zu fürchtenden Folgen nicht
wohl zumute war.

Die Bedienten wurden daher unterrichtet, was sie bei der Ankunft
sagen sollten, und die Freunde schlugen nunmehr den Weg ein, der zu
Valerinens Wohnort führte. Die Gegend schien reich und fruchtbar und
der wahre Sitz des Landbaues. So war denn auch in dem Bezirk, welcher
Valerinens Gatten gehörte, der Boden durchaus gut und mit Sorgfalt
bestellt. Wilhelm hatte Zeit, die Landschaft genau zu betrachten,
indem Lenardo schweigend neben ihm ritt. Endlich fing dieser an:
"Ein anderer an meiner Stelle würde sich vielleicht Valerinen
unerkannt zu nähern suchen; denn es ist immer ein peinliches Gefühl,
vor die Augen derjenigen zu treten, die man verletzt hat; aber ich
will das lieber übernehmen und den Vorwurf ertragen, den ich von ihren
ersten Blicken befürchte, als daß ich mich durch Vermummung und
Unwahrheit davor sicherstelle. Unwahrheit kann uns ebensosehr in
Verlegenheit setzen als Wahrheit; und wenn wir abwägen, wie oft uns
diese oder jene nutzt, so möchte es doch immer der Mühe wert sein,
sich ein für allemal dem Wahren zu ergeben. Lassen Sie uns also
getrost vorwärtsgehen; ich will mich nennen und Sie als meinen Freund
und Gefährten einführen."

Nun waren sie an den Gutshof gekommen und stiegen in dem Bezirk
desselben ab. Ein ansehnlicher Mann, einfach gekleidet, den sie für
einen Pachter halten konnten, trat ihnen entgegen und kündigte sich
als Herrn des Hauses an. Lenardo nannte sich, und der Besitzer schien
höchst erfreut, ihn zu sehen und kennen zu lernen. "Was wird meine
Frau sagen", rief er aus, "wenn sie den Neffen ihres Wohltäters
wiedersieht! Nicht genug kann sie erwähnen und erzählen, was sie und
ihr Vater Ihrem Oheim schuldig ist."

Welche sonderbare Betrachtungen kreuzten sich schnell in Lenardos
Geist. "Versteckt dieser Mann, der so redlich aussieht, seine
Bitterkeit hinter ein freundlich Gesicht und glatte Worte? Ist er
imstande, seinen Vorwürfen eine so gefällige Außenseite zu geben?
Denn hat mein Oheim nicht diese Familie unglücklich gemacht? und kann
es ihm unbekannt geblieben sein? Oder", so dachte er sich's mit
schneller Hoffnung, "ist die Sache nicht so übel geworden, als du
denkst? denn eine ganz bestimmte Nachricht hast du ja doch niemals
gehabt." Solche Vermutungen wechselten hin und her, indem der
Hausherr anspannen ließ, um seine Gattin holen zu lassen, die in der
Nachbarschaft einen Besuch machte.

"Wenn ich Sie indessen, bis meine Frau kommt, auf meine Weise
unterhalten und zugleich meine Geschäfte fortsetzen darf, so machen
Sie einige Schritte mit mir aufs Feld und sehen sich um, wie ich
meine Wirtschaft betreibe: denn gewiß ist Ihnen, als einem großen
Gutsbesitzer, nichts angelegener als die edle Wissenschaft, die edle
Kunst des Feldbaues." Lenardo widersprach nicht; Wilhelm
unterrichtete sich gern; und der Landmann hatte seinen Grund und Boden,
den er unumschränkt besaß und beherrschte, vollkommen gut inne; was
er vornahm, war der Absicht gemäß; was er säete und pflanzte,
durchaus am rechten Ort; er wußte die Behandlung und die Ursachen
derselben so deutlich anzugeben, daß es ein jeder begriff und für
möglich gehalten hätte, dasselbe zu tun und zu leisten: ein Wahn, in
den man leicht verfällt, wenn man einem Meister zusieht, dem alles
bequem von der Hand geht.

Die Fremden erzeugten sich sehr zufrieden und konnten nichts als Lob
und Billigung erteilen. Er nahm es dankbar und freundlich auf, fügte
jedoch hinzu: "Nun muß ich Ihnen aber auch meine schwache Seite
zeigen, die freilich an jedem zu bemerken ist, der sich einem
Gegenstand ausschließlich ergibt." Er führte sie auf seinen Hof,
zeigte ihnen seine Werkzeuge, den Vorrat derselben sowie den Vorrat
von allem erdenklichen Geräte und dessen Zubehör. "Man tadelte mich
oft", sagte er dabei, "daß ich hierin zu weit gehe; allein ich kann
mich deshalb nicht schelten. Glücklich ist der, dem sein Geschäft
auch zur Puppe wird, der mit demselbigen zuletzt noch spielt und sich
an dem ergötzt, was ihm sein Zustand zur Pflicht macht."

Die beiden Freunde ließen es an Fragen und Erkundigungen nicht
fehlen. Besonders erfreute sich Wilhelm an den allgemeinen
Bemerkungen, zu denen dieser Mann aufgelegt schien, und verfehlte
nicht, sie zu erwidern; indessen Lenardo, mehr in sich gekehrt, an dem
Glück Valerinens, das er in diesem Zustande für gewiß hielt, stillen
Teil nahm, obgleich mit einem leisen Gefühl von Unbehagen, von dem er
sich keine Rechenschaft zu geben wußte.

Man war schon ins Haus zurückgekehrt, als der Wagen der Besitzerin
vorfuhr. Man eilte ihr entgegen; aber wie erstaunte, wie erschrak
Lenardo, als er sie aussteigen sah. Sie war es nicht, es war das
nußbraune Mädchen nicht, vielmehr gerade das Gegenteil; zwar auch eine
schöne, schlanke Gestalt, aber blond, mit allen Vorteilen, die
Blondinen eigen sind.

Diese Schönheit, diese Anmut erschreckte Lenardon. Seine Augen
hatten das braune Mädchen gesucht; nun leuchtete ihm ein ganz anderes
entgegen. Auch dieser Züge erinnerte er sich; ihre Anrede, ihr
Betragen versetzten ihn bald aus jeder Ungewißheit: es war die Tochter
des Gerichtshalters, der bei dem Oheim in großem Ansehen stand,
deshalb denn auch dieser bei der Ausstattung sehr viel getan und dem
neuen Paare behülflich gewesen. Dies alles und mehr noch wurde von
der jungen Frau zum Antrittsgruße fröhlich erzählt, mit einer Freude,
wie sie die überraschung eines Wiedersehens ungezwungen äußern läßt.
Ob man sich wiedererkenne, wurde gefragt; die Veränderungen der
Gestalt wurden beredet, welche merklich genug bei Personen dieses
Alters gefunden werden. Valerine war immer angenehm, dann aber
höchst liebenswürdig, wenn Fröhlichkeit sie aus dem gewöhnlichen
gleichgültigen Zustande herausriß. Die Gesellschaft ward gesprächig
und die Unterhaltung so lebhaft, daß Lenardo sich fassen und seine
Bestürzung verbergen konnte. Wilhelm, dem der Freund geschwind genug
von diesem seltsamen Ereignis einen Wink gegeben hatte, tat sein
mögliches, um diesem beizustehen; und Valerinens kleine Eitelkeit, daß
der Baron, noch ehe er die Seinigen gesehen, sich ihrer erinnert, bei
ihr eingekehrt sei, ließ sie auch nicht den mindesten Verdacht
schöpfen, daß hier eine andere Absicht oder ein Mißgriff obwalte.

Man blieb bis tief in die Nacht beisammen, obgleich beide Freunde
nach einem vertraulichen Gespräch sich sehnten, das denn auch
sogleich begann, als sie sich in dem Gastzimmer allein sahen.

"Ich soll, so scheint es", sagte Lenardo, "meine Qual nicht
loswerden. Eine unglückliche Verwechslung des Namens, merke ich,
verdoppelt sie. Diese blonde Schönheit habe ich oft mit jener
Braunen, die man keine Schönheit nennen durfte, spielen sehen; ja ich
trieb mich selbst mit ihnen, obgleich so vieles älter, in den Feldern
und Gärten herum. Beide machten nicht den geringsten Eindruck auf
mich; ich habe nur den Namen der einen behalten und ihn der andern
beigelegt. Nun finde ich die, die mich nichts angeht, nach ihrer
Weise über die Maßen glücklich, indessen die andere, wer weiß wohin,
in die Welt geworfen ist."

Den folgenden Morgen waren die Freunde beinahe früher auf als die
tätigen Landleute. Das Vergnügen, ihre Gäste zu sehen, hatte
Valerinen gleichfalls zeitig geweckt. Sie ahnete nicht, mit welchen
Gesinnungen sie zum Frühstück kamen. Wilhelm, der wohl einsah, daß
ohne Nachricht von dem nußbraunen Mädchen Lenardo sich in der
peinlichsten Lage befinde, brachte das Gespräch auf frühere Zeiten,
auf Gespielen, aufs Lokal, das er selbst kannte, auf andere
Erinnerungen, so daß Valerine zuletzt ganz natürlich darauf kam, des
nußbraunen Mädchens zu erwähnen und ihren Namen auszusprechen.

Kaum hatte Lenardo den Namen Nachodine gehört, so entsann er sich
dessen vollkommen; aber auch mit dem Namen kehrte das Bild jener
Bittenden zurück, mit einer solchen Gewalt, daß ihm das Weitere ganz
unerträglich fiel, als Valerine mit warmem Anteil die Auspfändung des
frommen Pachters, seine Resignation und seinen Auszug erzählte, und
wie er sich auf seine Tochter gelehnt, die ein kleines Bündel
getragen. Lenardo glaubte zu versinken. Unglücklicher--und
glücklicherweise erging sich Valerine in einer gewissen
Umständlichkeit, die Lenardon das Herz zerrreißend, ihm dennoch
möglich machte, mit Beihülfe seines Gefährten, einige Fassung zu
zeigen.

Man schied unter vollen, aufrichtigen Bitten des Ehepaars um baldige
Wiederkunft und einer halben, geheuchelten Zusage beider Gäste. Und
wie dem Menschen, der sich selbst was Gutes gönnt, alles zum Glück
schlägt, so legte Valerine zuletzt das Schweigen Lenardos, seine
sichtbare Zerstreuung beim Abschied, sein hastiges Wegeilen zu ihrem
Vorteil aus und konnte sich, obgleich treue und liebevolle Gattin
eines wackern Landmanns, doch nicht enthalten, an einer
wiederaufwachenden oder neuentstehenden Neigung, wie sie sich's
auslegte, ihres ehemaligen Gutsherrn einiges Behagen zu finden.

Nach diesem sonderbaren Ereignis sagte Lenardo: "Daß wir, bei so
schönen Hoffnungen, ganz nahe vor dem Hafen scheitern, darüber kann
ich mich nur einigermaßen trösten, mich nur für den Augenblick
beruhigen und den Meinen entgegengehen, wenn ich betrachte, daß der
Himmel Sie mir zugeführt hat, Sie, dem es bei seiner eigentümlichen
Sendung gleichgültig ist, wohin und wozu er seinen Weg richtet.
Nehmen Sie es über sich, Nachodinen aufzusuchen und mir Nachricht von
ihr zu geben. Ist sie glücklich, so bin ich zufrieden; ist sie
unglücklich, so helfen Sie ihr auf meine Kosten. Handeln Sie ohne
Rücksichten, sparen, schonen Sie nichts."

"Nach welcher Weltgegend aber", sagte Wilhelm lächelnd, "hab' ich
denn meine Schritte zu richten? Wenn Sie keine Ahnung haben, wie
soll ich damit begabt sein?"

"Hören Sie!" antwortete Lenardo. "In voriger Nacht, wo Sie mich als
einen Verzweifelten rastlos auf und ab gehen sahen, wo ich
leidenschaftlich in Kopf und Herzen alles durcheinanderwarf, da kam
ein alter Freund mir vor den Geist, ein würdiger Mann, der, ohne mich
eben zu hofmeistern, auf meine Jugend großen Einfluß gehabt hat. Gern
hätt' ich mir ihn, wenigstens teilweise, als Reisegefährten erbeten,
wenn er nicht wundersam durch die schönsten Kunst--und altertümlichen
Seltenheiten an seine Wohnung geknüpft wäre, die er nur auf
Augenblicke verläßt. Dieser, weiß ich, genießt einer ausgebreiteten
Bekanntschaft mit allem, was in dieser Welt durch irgendeinen edlen
Faden verbunden ist; zu ihm eilen Sie, ihm erzählen Sie, wie ich es
vorgetragen, und es steht zu hoffen, daß ihm sein zartes Gefühl
irgend einen Ort, eine Gegend andeuten werde, wo sie zu finden sein
möchte. In meiner Bedrängnis fiel es mir ein, daß der Vater des
Kindes sich zu den Frommen zählte, und ich ward im Augenblick fromm
genug, mich an die moralische Weltordnung zu wenden und zu bitten:
sie möge sich hier zu meinen Gunsten einmal wunderbar gnädig
offenbaren."

"Noch eine Schwierigkeit", versetzte Wilhelm, "bleibt jedoch zu
lösen: wo soll ich mit meinem Felix hin? denn auf so ganz ungewissen
Wegen möcht' ich ihn nicht mit mir führen und ihn doch auch nicht
gerne von mir lassen; denn mich dünkt, der Sohn entwickele sich
nirgends besser als in Gegenwart des Vaters."

"Keineswegs!" erwiderte Lenardo, "dies ist ein holder väterlicher
Irrtum: der Vater behält immer eine Art von despotischem Verhältnis
zu seinem Sohn, dessen Tugenden er nicht anerkennt und an dessen
Fehlern er sich freut; deswegen die Alten schon zu sagen pflegten:
"Der Helden Söhne werden Taugenichtse", und ich habe mich weit genug
in der Welt umgesehen, um hierüber ins klare zu kommen.
Glücklicherweise wird unser alter Freund, an den ich Ihnen sogleich
ein eiliges Schreiben verfasse, auch hierüber die beste Auskunft
geben. Als ich ihn vor Jahren das letztemal sah, erzählte er mir gar
manches von einer pädagogischen Verbindung, die ich nur für eine Art
von Utopien halten konnte; es schien mir, als sei, unter dem Bilde
der Wirklichkeit, eine Reihe von Ideen, Gedanken, Vorschlägen und
Vorsätzen gemeint, die freilich zusammenhingen, aber in dem
gewöhnlichen Laufe der Dinge wohl schwerlich zusammentreffen möchten.
Weil ich ihn aber kenne, weil er gern durch Bilder das Mögliche und
Unmögliche verwirklichen mag, so ließ ich es gut sein, und nun kommt
es uns zugute; er weiß gewiß Ihnen Ort und Umstände zu bezeichnen,
wie Sie Ihren Knaben getrost vertrauen und von einer weisen Leitung
das Beste hoffen können."

Im Dahinreiten sich auf diese Weise unterhaltend, erblickten sie
eine edle Villa, die Gebäude im ernst-freundlichen Geschmack, freien
Vorraum und in weiter, würdiger Umgebung wohlbestandene Bäume; Türen
und Schaltern aber durchaus verschlossen, alles einsam, doch
wohlerhalten anzusehen. Von einem ältlichen Manne, der sich am
Eingang zu beschäftigen schien, erfuhren sie, dies sei das Erbteil
eines jungen Mannes, dem es von seinem in hohem Alter erst kurz
verstorbenen Vater soeben hinterlassen worden.

Auf weiteres Befragen wurden sie belehrt: dem Erben sei hier leider
alles zu fertig, er habe hier nichts mehr zu tun und das Vorhandene
zu genießen sei gerade nicht seine Sache; deswegen er sich denn ein
Lokal näher am Gebirge ausgesucht, wo er für sich und seine Gesellen
Mooshütten baue und eine Art von jägerischer Einsiedelei anlegen wolle.
Was den Berichtenden selbst betraf, vernahmen sie, er sei der
mitgeerbte Kastellan, sorge aufs genaueste für Erhaltung und
Reinlichkeit, damit irgendein Enkel, in die Neigung und Besitzung des
Großvaters eingreifend, alles finde, wie dieser es verlassen hat.

Nachdem sie ihren Weg einige Zeit stillschweigend fortgesetzt,
begann Lenardo mit der Betrachtung, daß es die Eigenheit des Menschen
sei, von vorn anfangen zu wollen; worauf der Freund erwiderte, dies
lasse sich wohl erklären und entschuldigen, weil doch, genau genommen,
jeder wirklich von vorn anfängt. "Sind doch", rief er aus, "keinem
die Leiden erlassen, von denen seine Vorfahren gepeinigt wurden; kann
man ihm verdenken, daß er von ihren Freuden nichts missen will?"

Lenardo versetzte hierauf: "Sie ermutigen mich zu gestehen, daß ich
eigentlich auf nichts gerne wirken mag als auf das, was ich selbst
geschaffen habe. Niemals mocht' ich einen Diener, den ich nicht vom
Knaben heraufgebildet, kein Pferd, das ich nicht selbst zugeritten.
In Gefolg dieser Sinnesart will ich denn auch gern bekennen, daß ich
unwiderstehlich nach uranfänglichen Zuständen hingezogen werde, daß
meine Reisen durch alle hochgebildeten Länder und Völker diese
Gefühle nicht abstumpfen können, daß meine Einbildungskraft sich über
dem Meer ein Behagen sucht und daß ein bisher vernachlässigter
Familienbesitz in jenen frischen Gegenden mich hoffen läßt, ein im
stillen gefaßter, meinen Wünschen gemäß nach und nach heranreifender
Plan werde sich endlich ausführen lassen."

"Dagegen wüßt' ich nichts einzuwenden", versetzte Wilhelm, "ein
solcher Gedanke, ins Neue und Unbestimmte gewendet, hat etwas Eigenes,
Großes. Nur bitt' ich zu bedenken, daß ein solches Unternehmen nur
einer Gesamtheit glücken kann. Sie gehen hinüber und finden dort
schon Familienbesitzungen, wie ich weiß; die Meinigen hegen gleiche
Plane und haben sich dort schon angesiedelt; vereinigen Sie sich mit
diesen umsichtigen, klugen und kräftigen Menschen, für beide Teile
muß sich dadurch das Geschäft erleichtern und erweitern."

Unter solchen Gesprächen waren die Freunde an den Ort gelangt, wo
sie nunmehr scheiden sollten. Beide setzten sich nieder, zu
schreiben; Lenardo empfahl seinen Freund dem oberwähnten sonderbaren
Mann, Wilhelm trug den Zustand seines neuen Lebensgenossen den
Verbündeten vor, woraus, wie natürlich, ein Empfehlungsschreiben
entstand; worin er zum Schluß auch seine mit Jarno besprochene
Angelegenheit empfahl und die Gründe nochmals auseinandersetzte,
warum er von der unbequemen Bedingung, die ihn zum ewigen Juden
stempelte, baldmöglichst befreit zu sein wünsche.

Beim Auswechseln dieser Briefe jedoch konnte sich Wilhelm nicht
erwehren, seinem Freund nochmals gewisse Bedenklichkeiten ans Herz zu
legen.

"Ich halte es", sprach er, "in meiner Lage für den
wünschenswertesten Auftrag, Sie, edler Mann, von einer Gemütsunruhe
zu befreien und zugleich ein menschliches Geschöpf aus dem Elende zu
retten, wenn es sich darin befinden sollte. Ein solches Ziel kann
man als einen Stern ansehen, nach dem man schifft, wenn man auch nicht
weiß, was man unterwegs antreffen, unterwegs begegnen werde. Doch
darf ich mir dabei die Gefahr nicht leugnen, in der Sie auf jeden
Fall noch immer schweben. Wären Sie nicht ein Mann, der durchaus sein
Wort zu geben ablehnt, ich würde von Ihnen das Versprechen verlangen,
dieses weibliche Wesen, das Ihnen so teuer zu stehen kommt, nicht
wiederzusehen, sich zu begnügen, wenn ich Ihnen melde, daß es ihr
wohlgeht; es sei nun, daß ich sie wirklich glücklich finde oder ihr
Glück zu befördern imstande bin. Da ich Sie aber zu einem Versprechen
weder vermögen kann noch will, so beschwöre ich Sie bei allem, was
Ihnen wert und heilig ist, sich und den Ihrigen und mir, dem
neuerworbenen Freund, zuliebe, keine Annäherung, es sei unter welchem
Vorwand es wolle, zu jener Vermißten sich zu erlauben; von mir nicht
zu verlangen, daß ich den Ort und die Stelle, wo ich sie finde, die
Gegend, wo ich sie lasse, näher bezeichne oder gar ausspreche: Sie
glauben meinem Wort, daß es ihr wohl geht und sind losgesprochen und
beruhigt."

Lenardo lächelte und versetzte: "Leisten Sie mir diesen Dienst, und
ich werde dankbar sein. Was Sie tun wollen und können, sei Ihnen
anheimgegeben, und mich überlassen Sie der Zeit, dem Verstande und wo
möglich der Vernunft."

"Verzeihen Sie", versetzte Wilhelm; "wer jedoch weiß, unter welchen
seltsamen Formen die Neigung sich bei uns einschleicht, dem muß es
bange werden, wenn er voraussieht, ein Freund könne dasjenige
wünschen, was ihm in seinen Zuständen, seinen Verhältnissen notwendig
Unglück und Verwirrung bringen müßte."

"Ich hoffe", sagte Lenardo, "wenn ich das Mädchen glücklich weiß,
bin ich sie los."

Die Freunde schieden, jeder nach seiner Seite.









Zwölftes Kapitel

Auf einem kurzen und angenehmen Wege war Wilhelm nach der Stadt
gekommen, wohin sein Brief lautete. Er fand sie heiter und wohlgebaut;
allein ihr neues Ansehn zeigte nur allzudeutlich, daß sie kurz
vorher durch den Brand müsse gelitten haben. Die Adresse seines
Briefes führte ihn zu dem letzten, kleinen, verschonten Teil, an ein
Haus von alter, ernster Bauart, doch wohlerhalten und reinlichen
Ansehns. Trübe Fensterscheiben, wundersam gefügt, deuteten auf
erfreuliche Farbenpracht von innen. Und so entsprach denn auch
wirklich das Innere dem Äußern. In saubern Räumen zeigten sich
überall Gerätschaften, die schon einigen Generationen mochten gedient
haben, untermischt mit wenigem Neuen. Der Hausherr empfing ihn
freundlich in einem gleich ausgestatteten Zimmer. Diese Uhren hatten
schon mancher Geburts--und Sterbestunde geschlagen, und was
umherstand, erinnerte, daß Vergangenheit auch in die Gegenwart
übergehen könne.

Der Ankommende gab seinen Brief ab, den der Empfänger aber, ohne ihn
zu eröffnen, beiseitelegte und in einem heitern Gespräche seinen Gast
unmittelbar kennen zu lernen suchte. Sie wurden bald vertraut, und
als Wilhelm, gegen sonstige Gewohnheit, seine Blicke betrachtend im
Zimmer umherschweifen ließ, sagte der gute Alte: "Meine Umgebung
erregt Ihre Aufmerksamkeit. Sie sehen hier, wie lange etwas dauern
kann, und man muß doch auch dergleichen sehen, zum Gegengewicht
dessen, was in der Welt so schnell wechselt und sich verändert.
Dieser Teekessel diente schon meinen Eltern und war ein Zeuge unserer
abendlichen Familienversammlungen, dieser kupferne Kaminschirm
schützt mich noch immer vor dem Feuer, das diese alte, mächtige Zange
anschürt; und so geht es durch alles durch. Anteil und Tätigkeit
konnt' ich daher auf gar viele andere Gegenstände wenden, weil ich
mich mit der Veränderung dieser äußern Bedürfnisse, die so vieler
Menschen Zeit und Kräfte wegnimmt, nicht weiter beschäftigte. Eine
liebevolle Aufmerksamkeit auf das, was der Mensch besitzt, macht ihn
reich, indem er sich einen Schatz der Erinnerung an gleichgültigen
Dingen dadurch anhäuft. Ich habe einen jungen Mann gekannt, der eine
Stecknadel dem geliebten Mädchen, Abschied nehmend, entwendete, den
Busenstreif täglich damit zusteckte und diesen gehegten und
gepflegten Schatz von einer großen, mehrjährigen Fahrt wieder
zurückbrachte. Uns andern kleinen Menschen ist dies wohl als eine
Tugend anzurechnen."

"Mancher bringt wohl auch", versetzte Wilhelm, "von einer so weiten,
großen Reise einen Stachel im Herzen mit zurück, den er vielleicht
lieber los wäre." Der Alte schien von Lenardos Zustande nichts zu
wissen, ob er gleich den Brief inzwischen erbrochen und gelesen hatte,
denn er ging zu den vorigen Betrachtungen wieder zurück. "Die
Beharrlichkeit auf dem Besitz", fuhr er fort, "gibt uns in manchen
Fällen die größte Energie. Diesem Eigensinn bin ich die Rettung
meines Hauses schuldig. Als die Stadt brannte, wollte man auch bei
mir flüchten und retten. Ich verbot's, befahl, Fenster und Türen zu
schließen, und wandte mich mit mehreren Nachbarn gegen die Flamme.
Unserer Anstrengung gelang es, diesen Zipfel der Stadt
aufrechtzuerhalten. Den andern Morgen stand alles noch bei mir, wie
Sie es sehen und wie es beinahe seit hundert Jahren gestanden hat."--
"Mit allem dem", sagte Wilhelm, "werden Sie mir gestehen, daß der
Mensch der Veränderung nicht widersteht, welche die Zeit hervorbringt.
"-- "Freilich", sagte der Alte, "aber doch der am längsten sich
erhält, hat auch etwas geleistet.

Ja sogar über unser Dasein hinaus sind wir fähig, zu erhalten und zu
sichern; wir überliefern Kenntnisse, wir übertragen Gesinnungen so
gut als Besitz, und da mir es nun vorzüglich um den letzten zu tun
ist, so hab' ich deshalb seit langer Zeit wunderliche Vorsicht
gebraucht, auf ganz eigene Vorkehrungen gesonnen; nur spät aber ist
mir's gelungen, meinen Wunsch erfüllt zu sehen.

Gewöhnlich zerstreut der Sohn, was der Vater gesammelt hat, sammelt
etwas anders, oder auf andere Weise. Kann man jedoch den Enkel, die
neue Generation abwarten, so kommen dieselben Neigungen, dieselben
Ansichten wieder zum Vorschein. Und so hab' ich denn endlich, durch
Sorgfalt unserer pädagogischen Freunde, einen tüchtigen jungen Mann
erworben, welcher womöglich noch mehr auf hergebrachten Besitz hält
als ich selbst und eine heftige Neigung zu wunderlichen Dingen
empfindet. Mein Zutrauen hat er entschieden durch die gewaltsamen
Anstrengungen erworben, womit ihm das Feuer von unserer Wohnung
abzuwehren gelang; doppelt und dreifach hat er den Schatz verdient,
dessen Besitz ich ihm zu überlassen gedenke; ja er ist ihm schon
übergeben, und seit der Zeit mehrt sich unser Vorrat auf eine
wundersame Weise.

Nicht alles jedoch, was Sie hier sehen, ist unser. Vielmehr, wie
Sie sonst bei Pfandinhabern manches fremde Juwel erblicken, so kann
ich Ihnen bei uns Kostbarkeiten bezeichnen, die man, unter den
verschiedensten Umständen, besserer Aufbewahrung halber hier
niedergestellt." Wilhelm gedachte des herrlichen Kästchens, das er
ohnehin nicht gern auf der Reise mit sich herumführen wollte, und
enthielt sich nicht, es dem Freunde zu zeigen. Der Alte betrachtete
es mit Aufmerksamkeit, gab die Zeit an, wann es verfertigt sein
könnte, und wies etwas ähnliches vor. Wilhelm brachte zur Sprache:
ob man es wohl eröffnen sollte? Der Alte war nicht der Meinung.
"Ich glaube zwar, daß man es ohne sonderliche Beschädigung tun könne",
sagte er; "allein da Sie es durch einen so wunderbaren Zufall
erhalten haben, so sollten Sie daran Ihr Glück prüfen. Denn wenn Sie
glücklich geboren sind und wenn dieses Kästchen etwas bedeutet, so
muß sich gelegentlich der Schlüssel dazu finden, und gerade da, wo
Sie ihn am wenigsten erwarten."--"Es gibt wohl solche Fälle",
versetzte Wilhelm. "Ich habe selbst einige erlebt", erwiderte der
Alte. "und hier sehen Sie den merkwürdigsten vor sich. Von diesem
elfenbeinernen Kruzifix besaß ich seit dreißig Jahren den Körper mit
Haupt und Füßen aus einem Stücke, der Gegenstand sowohl als die
herrlichste Kunst ward sorgfältig in dem kostbarsten Lädchen
aufbewahrt; vor ungefähr zehn Jahren erhielt ich das dazugehörige
Kreuz mit der Inschrift, und ich ließ mich verführen, durch den
geschicktesten Bildschnitzer unserer Zeit die Arme ansetzen zu lassen;
aber wie weit war der Gute hinter seinem Vorgänger zurückgeblieben;
doch es mochte stehen, mehr zu erbaulichen Betrachtungen als zu
Bewunderung des Kunstfleißes.

Nun denken Sie mein Ergötzen! Vor kurzem erhalt' ich die ersten,
echten Arme, wie Sie solche zur lieblichsten Harmonie hier angefügt
sehen, und ich, entzückt über ein so glückliches Zusammentreffen,
enthalte mich nicht, die Schicksale der christlichen Religion hieran
zu erkennen, die, oft genug zergliedert und zerstreut, sich doch
endlich immer wieder am Kreuze zusammenfinden muß."

Wilhelm bewunderte das Bild und die seltsame Fügung. "Ich werde
Ihrem Rat folgen", setzte er hinzu; "bleibe das Kästchen verschlossen,
bis der Schlüssel sich findet, und wenn es bis ans Ende meines
Lebens liegen sollte."--"Wer lange lebt", sagte der Alte, "sieht
manches versammelt und manches auseinanderfallen."

Der junge Besitzgenosse trat soeben herein, und Wilhelm erklärte
seinen Vorsatz, das Kästchen ihrem Gewahrsam zu übergeben. Nun ward
ein großes Buch herbeigeschafft, das anvertraute Gut eingeschrieben;
mit manchen beobachteten Zeremonien und Bedingungen ein Empfangschein
ausgestellt, der zwar auf jeden Vorzeigenden lautete, aber nur auf ein
mit dem Empfänger verabredetes Zeichen honoriert werden sollte.

Als dieses alles vollbracht war, überlegte man den Inhalt des
Briefes, zuerst sich über das Unterkommen des guten Felix beratend,
wobei der alte Freund sich ohne weiteres zu einigen Maximen bekannte,
welche der Erziehung zum Grunde liegen sollten.

"Allem Leben, allem Tun, aller Kunst muß das Handwerk vorausgehen,
welches nur in der Beschränkung erworben wird. Eines recht wissen
und ausüben gibt höhere Bildung als Halbheit im Hundertfältigen. Da,
wo ich Sie hinweise, hat man alle Tätigkeiten gesondert; geprüft
werden die Zöglinge auf jedem Schritt; dabei erkennt man, wo seine
Natur eigentlich hinstrebt, ob er sich gleich mit zerstreuten
Wünschen bald da-, bald dorthin wendet. Weise Männer lassen den
Knaben unter der Hand dasjenige finden, was ihm gemäß ist, sie
verkürzen die Umwege, durch welche der Mensch von seiner Bestimmung,
nur allzu gefällig, abirren mag.

Sodann", fuhr er fort, "darf ich hoffen, aus jenem herrlich
gegründeten Mittelpunkt wird man Sie auf den Weg leiten, wo jenes
gute Mädchen zu finden ist, das einen so sonderbaren Eindruck auf
Ihren Freund machte, der den Wert eines unschuldigen, unglücklichen
Geschöpfes durch sittliches Gefühl und Betrachtung so hoch erhöht hat,
daß er dessen Dasein zum Zweck und Ziel seines Lebens zu machen
genötigt war. Ich hoffe, Sie werden ihn beruhigen können; denn die
Vorsehung hat tausend Mittel, die Gefallenen zu erheben und die
Niedergebeugten aufzurichten. Manchmal sieht unser Schicksal aus wie
ein Fruchtbaum im Winter. Wer sollte bei dem traurigen Ansehn
desselben wohl denken, daß diese starren Äste, diese zackigen Zweige
im nächsten Frühjahr wieder grünen, blühen, sodann Früchte tragen
könnten; doch wir hoffen's, wir wissen's."



 


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