Wilhelm Meisters Wanderjahre--Buch 3
by
Johann Wolfgang von Goethe

Part 1 out of 4



Association / Carnegie-Mellon University".

*END*THE SMALL PRINT! FOR PUBLIC DOMAIN ETEXTS*Ver.04.29.93*END*





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Wilhelm Meisters Wanderjahre--Buch 3
oder die Entsagenden






Drittes Buch



Erstes Kapitel

Nach allem diesem, und was daraus erfolgen mochte, war nun Wilhelms
erstes Anliegen, sich den Verbündeten wieder zu nähern und mit
irgendeiner Abteilung derselben irgendwo zusammenzutreffen. Er zog
daher sein Täfelchen zu Rat und begab sich auf den Weg, der ihn vor
andern ans Ziel zu führen versprach. Weil er aber, den günstigsten
Punkt zu erreichen, quer durchs Land gehen mußte, so sah er sich
genötigt, die Reise zu Fuße zu machen und das Gepäck hinter sich her
tragen zu lassen. Für seinen Gang aber ward er auf jedem Schritte
reichlich belohnt, indem er unerwartet ganz allerliebste Gegenden
antraf; es waren solche, wie sie das letzte Gebirg gegen die Fläche
zu bildet, bebuschte Hügel, die sanften Abhänge haushälterisch
benutzt, alle Flächen grün, nirgends etwas Steiles, Unfruchtbares und
Ungepflügtes zu sehen. Nun gelangte er zum Haupttale, worein die
Seitenwasser sich ergossen; auch dieses war sorgfältig bebaut, anmutig
übersehbar, schlanke Bäume bezeichneten die Krümmung des
durchziehenden Flusses und einströmender Bäche, und als er die Karte,
seinen Wegweiser, vornahm, sah er zu seiner Verwunderung, daß die
gezogene Linie dieses Tal gerade durchschnitt und er sich also vorerst
wenigstens auf rechtem Weg befinde.

Ein altes, wohlerhaltenes, zu verschiedenen Zeiten erneuertes Schloß
zeigte sich auf einem bebuschten Hügel; am Fuße desselben zog ein
heiterer Flecken sich hin mit vorstehendem, in die Augen fallendem
Wirtshaus; auf letzteres ging er zu und ward zwar freundlich von dem
Wirt empfangen, jedoch mit Entschuldigung, daß man ihn ohne Erlaubnis
einer Gesellschaft nicht aufnehmen könne, die den ganzen Gasthof auf
einige Zeit gemietet habe; deswegen er alle Gäste in die ältere,
weiter hinauf liegende Herberge verweisen müsse. Nach einer kurzen
Unterredung schien der Mann sich zu bedenken und sagte: "Zwar findet
sich jetzt niemand im Hause, doch es ist eben Sonnabend, und der Vogt
kann nicht lange ausbleiben, der wöchentlich alle Rechnungen
berichtigt und seine Bestellungen für das Nächste macht. Wahrlich, es
ist eine schickliche Ordnung unter diesen Männern und eine Lust, mit
ihnen zu verkehren, ob sie gleich genau sind, denn man hat zwar
keinen großen, aber einen sichern Gewinn." Er hieß darauf den neuen
Gast in dem obern großen Vorsaal sich gedulden und, was ferner sich
ereignen möchte, abwarten.

Hier fand nun der Herantretende einen weiten, saubern Raum, außer
Bänken und Tischen völlig leer; desto mehr verwunderte er sich, eine
große Tafel über einer Tür angebracht zu sehen, worauf die Worte in
goldnen Buchstaben zu lesen waren: "Ubi homines sunt modi sunt";
welches wir deutsch erklären, daß da, wo Menschen in Gesellschaft
zusammentreten, sogleich die Art und Weise, wie sie zusammen sein und
bleiben mögen, sich ausbilde. Dieser Spruch gab unserm Wanderer zu
denken, er nahm ihn als gute Vorbedeutung, indem er das hier
bekräftigt fand, was er mehrmals in seinem Leben als vernünftig und
fördersam erkannt hatte. Es dauerte nicht lange, so erschien der Vogt,
welcher, von dem Wirte vorbereitet, nach einer kurzen Unterredung
und keinem sonderlichen Ausforschen ihn unter folgenden Bedingungen
aufnahm: drei Tage zu bleiben, an allem, was vorgehen möchte, ruhig
teilzunehmen und, es geschehe, was wolle, nicht nach der Ursache zu
fragen, so wenig als beim Abschied nach der Zeche. Das alles mußte
der Reisende sich gefallen lassen, weil der Beauftragte in keinem
Punkte nachgeben konnte.

Eben wollte der Vogt sich entfernen, als ein Gesang die Treppe
herauf scholl; zwei hübsche junge Männer kamen singend heran, denen
jener durch ein einfaches Zeichen zu verstehen gab, der Gast sei
aufgenommen. Ihren Gesang nicht unterbrechend, begrüßten sie ihn
freundlich, duettierten gar anmutig, und man konnte sehr leicht
bemerken, daß sie völlig eingeübt und ihrer Kunst Meister seien. Als
Wilhelm die aufmerksamste Teilnahme bewies, schlossen sie und fragten:
ob ihm nicht auch manchmal ein Lied bei seinen Fußwanderungen
einfalle und das er so vor sich hin singe? "Mir ist zwar von der
Natur", versetzte Wilhelm, "eine glückliche Stimme versagt, aber
innerlich scheint mir oft ein geheimer Genius etwas Rhythmisches
vorzuflüstern, so daß ich mich beim Wandern jedesmal im Takt bewege
und zugleich leise Töne zu vernehmen glaube, wodurch denn irgendein
Lied begleitet wird, das sich mir auf eine oder die andere Weise
gefällig vergegenwärtigt."

"Erinnert Ihr Euch eines solchen, so schreibt es uns auf", sagten
jene; "wir wollen sehen, ob wir Euren singenden Dämon zu begleiten
wissen." Er nahm hierauf ein Blatt aus seiner Schreibtafel und
übergab ihnen folgendes:



"Von dem Berge zu den Hügeln,
Niederab das Tal entlang,
Da erklingt es wie von Flügeln,
Da bewegt sich's wie Gesang;
Und dem unbedingten Triebe
Folget Freude, folget Rat;
Und dein Streben, sei's in Liebe,
Und dein Leben sei die Tat."




Nach kurzem Bedenken ertönte sogleich ein freudiger, dem
Wanderschritt angemessener Zweigesang, der, bei Wiederholung und
Verschränkung immer fortschreitend, den Hörenden mit hinriß; er war
im Zweifel, ob dies seine eigne Melodie, sein früheres Thema, oder ob
sie jetzt erst so angepaßt sei, daß keine andere Bewegung denkbar wäre.
Die Sänger hatten sich eine Zeitlang auf diese Weise vergnüglich
ergangen, als zwei tüchtige Burschen herantreten, die man an ihren
Attributen sogleich für Maurer anerkannte, zwei aber, die ihnen
folgten, für Zimmerleute halten mußte. Diese viere, ihr
Handwerkszeug sachte niederlegend, horchten dem Gesang und fielen gar
bald sicher und entschieden in denselben mit ein, so daß eine
vollständige Wandergesellschaft über Berg und Tal dem Gefühl
dahinzuschreiten schien und Wilhelm glaubte, nie etwas so Anmutiges,
Herz und Sinn Erhebendes vernommen zu haben. Dieser Genuß jedoch
sollte noch erhöht und bis zum Letzten gesteigert werden, als eine
riesenhafte Figur, die Treppe heraufsteigend, einen starken, festen
Schritt mit dem besten Willen kaum zu mäßigen imstande war. Ein
schwer bepacktes Reff setzte er sogleich in die Ecke, sich aber auf
eine Bank nieder, die zu krachen anfing, worüber die andern lachten,
ohne jedoch aus ihrem Gesang zu fallen. Sehr überrascht aber fand
sich Wilhelm, als mit einer ungeheuren Baßstimme dieses Enakskind
gleichfalls einzufallen begann. Der Saal schütterte, und bedeutend
war es, daß er den Refrain an seinem Teile sogleich verändert und
zwar dergestalt sang:



"Du im Leben nichts verschiebe;
Sei dein Leben Tat um Tat!"




Ferner konnte man denn auch gar bald bemerken, daß er das Tempo zu
einem langsameren Schritt herniederziehe und die übrigen nötige, sich
ihm zu fügen. Als man zuletzt geschlossen und sich genugsam
befriedigt hatte, warfen ihm die andern vor, als wenn er getrachtet
habe, sie irrezumachen. "Keineswegs", rief er aus, "ihr seid es, die
ihr mich irrezumachen gedenkt; aus meinem Schritt wollt ihr mich
bringen, der gemäßigt und sicher sein muß, wenn ich mit meiner Bürde
bergauf, bergab schreite und doch zuletzt zur bestimmten Stunde
eintreffen und euch befriedigen soll."

Einer nach dem andern ging nunmehr zu dem Vogt hinein, und Wilhelm
konnte wohl bemerken, daß es auf eine Abrechnung angesehen sei,
wornach er sich nun nicht weiter erkundigen durfte. In der
Zwischenzeit kamen ein Paar muntere, schöne Knaben, eine Tafel in der
Geschwindigkeit zu bereiten, mäßig mit Speise und Wein zu besetzen,
worauf der heraustretende Vogt sie nunmehr alle sich mit ihm
niederzulassen einlud. Die Knaben warteten auf, vergaßen sich aber
auch nicht und nahmen stehend ihren Anteil dahin. Wilhelm erinnerte
sich ähnlicher Szenen, da er noch unter den Schauspielern hauste,
doch schien ihm die gegenwärtige Gesellschaft viel ernster, nicht zum
Scherz auf Schein, sondern auf bedeutende Lebenszwecke gerichtet.

Das Gespräch der Handwerker mit dem Vogt belehrte den Gast hierüber
aufs klarste. Die vier tüchtigen jungen Leute waren in der Nähe
tätig, wo ein gewaltsamer Brand die anmutigste Landstadt in Asche
gelegt hatte; nicht weniger hörte man, daß der wackere Vogt mit
Anschaffung des Holzes und sonstiger Baumaterialien beschäftigt sei,
welches dem Gast um so rätselhafter vorkam, als sämtliche Männer hier
nicht wie Einheimische, sondern wie Vorüberwandernde sich in allem
übrigen ankündigten. Zum Schlusse der Tafel holte St. Christoph, so
nannten sie den Riesen, ein beseitigtes gutes Glas Wein zum
Schlaftrunk, und ein heiterer Gesang hielt noch einige Zeit die
Gesellschaft für das Ohr zusammen, die dem Blick bereits
auseinandergegangen war; worauf denn Wilhelm in ein Zimmer geführt
wurde von der anmutigsten Lage. Der Vollmond, eine reiche Flur
beleuchtend, war schon herauf und weckte ähnliche und gleiche
Erinnerungen in dem Busen unseres Wanderers. Die Geister aller lieben
Freunde zogen bei ihm vorüber, besonders aber war ihm Lenardos Bild
so lebendig, daß er ihn unmittelbar vor sich zu sehen glaubte. Dies
alles gab ihm ein inniges Behagen zur nächtlichen Ruhe, als er durch
den wunderlichsten Laut beinahe erschreckt worden wäre. Es klang aus
der Ferne her, und doch schien es im Hause selbst zu sein, denn das
Haus zitterte manchmal, und die Balken dröhnten, wenn der Ton zu
seiner größten Kraft stieg. Wilhelm, der sonst ein zartes Ohr hatte,
alle Töne zu unterscheiden, konnte doch sich für nichts bestimmen; er
verglich es dem Schnarren einer großen Orgelpfeife, die vor lauter
Umfang keinen entschiedenen Ton von sich gibt. Ob dieses
Nachtschrecken gegen Morgen nachließ, oder ob Wilhelm, nach und nach
daran gewöhnt, nicht mehr dafür empfindlich war, ist schwer
auszumitteln; genug, er schlief ein und ward von der aufgehenden Sonne
anmutig erweckt.

Kaum hatte ihm einer der dienenden Knaben das Frühstück gebracht,
als eine Figur hereintrat, die er am Abendtische bemerkt hatte, ohne
über deren Eigenschaften klar zu werden. Es war ein wohlgebauter,
breitschultriger, auch behender Mann, der sich durch ausgekramtes
Gerät als Barbier ankündigte und sich bereitete, Wilhelmen diesen so
erwünschten Dienst zu leisten. übrigens schwieg er still, und das
Geschäft war mit sehr leichter Hand vollbracht, ohne daß er
irgendeinen Laut von sich gegeben hätte. Wilhelm begann daher und
sprach: "Eure Kunst versteht Ihr meisterlich, und ich wüßte nicht, daß
ich ein zarteres Messer jemals an meinen Wangen gefühlt hätte,
zugleich scheint Ihr aber die Gesetze der Gesellschaft genau zu
beobachten."

Schalkhaft lächelnd, den Finger auf den Mund legend, schlich der
Schweigsame zur Türe hinaus. "Wahrlich!" rief ihm Wilhelm nach: "Ihr
seid jener Rotmantel, wo nicht selbst, doch wenigstens gewiß ein
Abkömmling; es ist Euer Glück, daß Ihr den Gegendienst von mir nicht
verlangen wollt, Ihr würdet Euch dabei schlecht befunden haben."

Kaum hatte dieser wunderliche Mann sich entfernt, als der bekannte
Vogt hereintrat, zur Tafel für diesen Mittag eine Einladung
ausrichtend, welche gleichfalls ziemlich seltsam klang: das Band, so
sagte der Einladende ausdrücklich, heiße den Fremden willkommen,
berufe denselben zum Mittagsmahle und freue sich der Hoffnung, mit
ihm in ein näheres Verhältnis zu treten. Man erkundigte sich ferner
nach dem Befinden des Gastes, und wie er mit der Bewirtung zufrieden
sei; der denn von allem, was ihm begegnet war, nur mit Lob sprechen
konnte. Freilich hätte er sich gern bei diesem Manne, wie vorher bei
dem schweigsamen Barbier, nach dem entsetzlichen Ton erkundigt, der
ihn diese Nacht, wo nicht geängstigt, doch beunruhigt hatte; seines
Angelöbnisses jedoch eingedenk, enthielt er sich jeder Frage und
hoffte, ohne zudringlich zu sein, aus Neigung der Gesellschaft oder
zufällig nach seinen Wünschen belehrt zu werden.

Als der Freund sich allein befand, dachte er über die wunderliche
Person erst nach, die ihn hatte einladen lassen, und wußte nicht
recht, was er daraus machen sollte. Einen oder mehrere Vorgesetzte
durch ein Neutrum anzukündigen, kam ihm allzu bedenklich vor. übrigens
war es so still um ihn her, daß er nie einen stilleren Sonntag erlebt
zu haben glaubte; er verließ das Haus, vernahm aber ein
Glockengeläute und ging nach dem Städtchen zu. Die Messe war eben
geendigt, und unter den sich herausdrängenden Einwohnern und
Landleuten erblickte er drei Bekannte von gestern, einen
Zimmergesellen, einen Maurer und einen Knaben. Später bemerkte er
unter den protestantischen Gottesverehrern gerade die drei andern.
Wie die übrigen ihrer Andacht pflegen mochten, ward nicht bekannt, so
viel aber getraute er sich zu schließen, daß in dieser Gesellschaft
eine entschiedene Religionsfreiheit obwalte.

Zu Mittag kam demselben am Schloßtore der Vogt entgegen, ihn durch
mancherlei Hallen in einen großen Vorsaal zu führen, wo er ihn
niedersetzen hieß. Viele Personen gingen vorbei, in einen
anstoßenden Saalraum hinein. Die schon bekannten waren darunter zu
sehen, selbst St. Christoph schritt vorüber; alle grüßten den Vogt
und den Ankömmling. Was dem Freund dabei am meisten auffiel, war,
daß er nur Handwerker zu sehen glaubte, alle nach gewohnter Weise,
aber höchst reinlich gekleidet; wenige, die er allenfalls für
Kanzleiverwandte gehalten hätte.

Als nun keine neuen Gäste weiter zudrangen, führte der Vogt unsern
Freund durch die stattliche Pforte in einen weitläufigen Saal; dort
war eine unübersehbare Tafel gedeckt, an deren unterem Ende er
vorbeigeführt wurde, nach oben zu, wo er drei Personen quer vorstehen
sah. Aber von welchem Erstaunen ward er ergriffen, als er in die Nähe
trat und Lenardo, kaum noch erkannt, ihm um den Hals fiel. Von
dieser überraschung hatte man sich noch nicht erholt, als ein Zweiter
Wilhelmen gleichfalls feurig und lebhaft umarmte und sich als den
wunderlichen Friedrich, Nataliens Bruder, zu erkennen gab. Das
Entzücken der Freunde verbreitete sich über alle Gegenwärtigen; ein
Freud--und Segensruf erscholl die ganze Tafel her. Auf einmal aber,
als man sich gesetzt, ward alles still und das Gastmahl mit einer
gewissen Feierlichkeit aufgetragen und eingenommen.

Gegen Ende der Tafel gab Lenardo ein Zeichen, zwei Sänger standen
auf, und Wilhelm verwunderte sich sehr, sein gestriges Lied
wiederholt zu hören, das wir, der nächsten Folge wegen, hier wieder
einzurücken für nötig finden.



"Von dem Berge zu den Hügeln,
Niederab das Tal entlang,
Da erklingt es wie von Flügeln,
Da bewegt sich's wie Gesang;
Und dem unbedingten Triebe
Folget Freude, folget Rat;
Und dein Streben, sei's in Liebe,
Und dein Leben sei die Tat."




Kaum hatte dieser Zwiegesang, von einem gefällig mäßigen Chor
begleitet, sich zum Ende geneigt, als gegenüber sich zwei andere
Sänger ungestüm erhuben, welche mit ernster Heftigkeit das Lied mehr
umkehrten als fortsetzten, zur Verwunderung des Ankömmlings aber sich
also vernehmen ließen:



"Denn die Bande sind zerrissen,
Das Vertrauen ist verletzt;
Kann ich sagen, kann ich wissen,
Welchem Zufall ausgesetzt
Ich nun scheiden, ich nun wandern,
Wie die Witwe trauervoll,
Statt dem einen mit dem andern
Fort und fort mich wenden soll!"




Der Chor, in diese Strophe einfallend, ward immer zahlreicher, immer
mächtiger, und doch konnte man die Stimme des heiligen Christoph, vom
untern Ende der Tafel her, gar bald unterscheiden. Beinahe furchtbar
schwoll zuletzt die Trauer; ein unmutiger Mut brachte, bei
Gewandtheit der Sänger, etwas Fugenhaftes in das Ganze, daß es unserm
Freunde wie schauderhaft auffiel. Wirklich schienen alle völlig
gleichen Sinnes zu sein und ihr eignes Schicksal eben kurz vor dem
Aufbruche zu betrauern. Die wundersamsten Wiederholungen, das öftere
Wiederaufleben eines beinahe ermattenden Gesanges schien zuletzt dem
Bande selbst gefährlich; Lenardo stand auf, und alle setzten sich
sogleich nieder, den Hymnus unterbrechend. Jener begann mit
freundlichen Worten: "Zwar kann ich euch nicht tadeln, daß ihr euch
das Schicksal, das uns allen bevorsteht, immer vergegenwärtigt, um zu
demselben jede Stunde bereit zu sein. Haben doch lebensmüde, bejahrte
Männer den Ihrigen zugerufen: "Gedenke zu sterben!", so dürfen wir
lebenslustige jüngere wohl uns immerfort ermuntern und ermahnen mit
den heitern Worten: "Gedenke zu wandern!"; dabei ist aber wohlgetan,
mit Maß und Heiterkeit dessen zu erwähnen, was man entweder willig
unternimmt, oder wozu man sich genötigt glaubt. Ihr wißt am besten,
was unter uns fest steht und was beweglich ist; gebt uns dies auch in
erfreulichen, aufmunternden Tönen zu genießen, worauf denn dieses
Abschiedsglas für diesmal gebracht sei!" Er leerte sodann seinen
Becher und setzte sich nieder; die vier Sänger standen sogleich auf
und begannen in abgeleiteten, sich anschließenden Tönen:



"Bleibe nicht am Boden heften,
Frisch gewagt und frisch hinaus!
Kopf und Arm mit heitern Kräften,
überall sind sie zu Haus;
Wo wir uns der Sonne freuen,
Sind wir jede Sorge los:
Daß wir uns in ihr zerstreuen,
Darum ist die Welt so groß."




Bei dem wiederholenden Chorgesange stand Lenardo auf und mit ihm
alle; sein Wink setzte die ganze Tischgesellschaft in singende
Bewegung; die unteren zogen, St. Christoph voran, paarweis zum Saale
hinaus, und der angestimmte Wandergesang ward immer heiterer und
freier; besonders aber nahm er sich sehr gut aus, als die
Gesellschaft, in den terrassierten Schloßgärten versammelt, von hier
aus das geräumige Tal übersah, in dessen Fülle und Anmut man sich
wohl gern verloren hätte. Indessen die Menge sich nach Belieben
hier--und dorthin zerstreute, machte man Wilhelmen mit dem dritten
Vorsitzenden bekannt. Es war der Amtmann, der das gräfliche,
zwischen mehreren Standesherrschaften liegende Schloß dieser
Gesellschaft, so lange sie hier zu verweilen für gut fände,
einzuräumen und ihr vielfache Vorteile zu verschaffen gewußt, dagegen
aber auch, als ein kluger Mann, die Anwesenheit so seltener Gäste zu
nutzen verstand. Denn indem er für billige Preise seine Fruchtböden
auftat und, was sonst noch zu Nahrung und Notdurft erforderlich wäre,
zu verschaffen wußte, so wurden bei solcher Gelegenheit längst
vernachlässigte Dachreihen umgelegt, Dachstühle hergestellt, Mauern
unterfahren, Planken gerichtet und andere Mängel auf den Grad gehoben,
daß ein längst vernachlässigtes, in Verfall geratenes Besitztum
verblühender Familien den frohen Anblick einer lebendig benutzten
Wohnlichkeit gewährte und das Zeugnis gab: Leben schaffe Leben, und,
wer andern nützlich sei, auch sie ihm zu nutzen in die Notwendigkeit
versetze.





Zweites Kapitel


Hersilie an Wilhelm

Mein Zustand kommt mir vor wie ein Trauerspiel des Alfieri; da die
Vertrauten völlig ermangeln, so muß zuletzt alles in Monologen
verhandelt werden, und fürwahr, eine Korrespondenz mit Ihnen ist
einem Monolog vollkommen gleich; denn Ihre Antworten nehmen eigentlich
wie ein Echo unsre Silben nur oberflächlich auf, um sie verhallen zu
lassen. Haben Sie auch nur ein einzigmal etwas erwidert, worauf man
wieder hätte erwidern können? Parierend, ablehnend sind Ihre Briefe!
Indem ich aufstehe, Ihnen entgegenzutreten, so weisen Sie mich wieder
auf den Sessel zurück.





Vorstehendes war schon einige Tage geschrieben; nun findet sich ein
neuer Drang und Gelegenheit, Gegenwärtiges an Lenardo zu bringen;
dort findet Sie's, oder man weiß Sie zu finden. Wo es Sie aber auch
antreffen mag, lautet meine Rede dahin, daß, wenn Sie, nach gelesenem
diesem Blatt, nicht gleich vom Sitze aufspringen und als frommer
Wanderer sich eilig bei mir einstellen, so erklär' ich Sie für den
männlichsten aller Männer, d. h dem die liebenswürdigste aller
Eigenschaften unsers Geschlechts völlig abgeht; ich verstehe darunter
die Neugierde, die mich eben in dem Augenblick auf das entschiedenste
quält.

Kurz und gut! Zu Ihrem Prachtkästchen ist das Schlüsselchen
gefunden; das darf aber niemand wissen als ich und Sie. Wie es in
meine Hände gekommen, vernehmen Sie nun.

Vor einigen Tagen empfängt unser Gerichtshalter eine Ausfertigung
von fremder Behörde, worin gefragt wird, ob nicht ein Knabe sich zu
der und der Zeit in der Nachbarschaft aufgehalten, allerlei Streiche
verübt und endlich bei einem verwegenen Unternehmen seine Jacke
eingebüßt habe.

Wie dieser Schelm nun bezeichnet war, blieb kein Zweifel übrig, es
sei jener Fitz, von dem Felix so viel zu erzählen wußte und den er
sich oft als Spielkameraden zurückwünschte.

Nun erbat sich jene Stelle die benannte Kleidung, wenn sie noch
vorhanden wäre, weil der in Untersuchung geratene Knabe sich darauf
berufe. Von dieser Zumutung spricht nun unser Gerichtshalter
gelegentlich und zeigt das Kittelchen vor, eh' er es absendet.

Mich treibt ein guter oder böser Geist, in die Brusttasche zu
greifen; ein winzig kleines, stachlichtes Etwas kommt mir in die Hand;
ich, die ich sonst so apprehensiv, kitzlich und schreckhaft bin,
schließe die Hand, schließe sie, schweige, und das Kleid wird
fortgeschickt. Sogleich ergreift mich von allen Empfindungen die
wunderlichste. Beim ersten verstohlenen Blick seh' ich, errat' ich,
zu Ihrem Kästchen sei es der Schlüssel. Nun gab es wunderliche
Gewissenszweifel, mancherlei Skrupel stiegen bei mir auf. Den Fund zu
offenbaren, herzugeben, war mir unmöglich: was soll es jenen
Gerichten, da es dem Freunde so nützlich sein kann! Dann wollte sich
mancherlei von Recht und Pflicht wieder auftun, welche mich aber nicht
überstimmen konnten.

Da sehen Sie nun, in was für einen Zustand mich die Freundschaft
versetzt; ein famoses Organ entwickelt sich plötzlich, Ihnen zuliebe;
welch ein wunderlich Ereignis! Möchte das nicht mehr als
Freundschaft sein, was meinem Gewissen dergestalt die Waage hält!
Wundersam bin ich beunruhigt, zwischen Schuld und Neugier; ich mache
mir hundert Grillen und Märchen, was alles daraus erfolgen könnte:
mit Recht und Gericht ist nicht zu spaßen. Hersilie, das unbefangene,
gelegentlich übermütige Wesen, in einen Kriminalprozeß verwickelt,
denn darauf geht's doch hinaus, und was bleibt mir da übrig, als an
den Freund zu denken, um dessentwillen ich das alles leide! Ich habe
sonst auch an Sie gedacht, aber mit Pausen, jetzt aber unaufhörlich;
jetzt, wenn mir das Herz schlägt und ich ans siebente Gebot denke, so
muß ich mich an Sie wenden als den Heiligen, der das Verbrechen
veranlaßt und mich auch wohl wieder entbinden kann; und so wird
allein die Eröffnung des Kästchens mich beruhigen. Die Neugierde
wird doppelt mächtig. Kommen Sie eiligst und bringen das Kästchen
mit. Für welchen Richterstuhl eigentlich das Geheimnis gehöre, das
wollen wir unter uns ausmachen; bis dahin bleibt es unter uns;
niemand wisse darum, es sei auch, wer es sei.





Hier aber, mein Freund, nun schließlich zu dieser Abbildung des
Rätsels was sagen Sie? Erinnert es nicht an Pfeile mit Widerhaken?
Gott sei uns gnädig! Aber das Kästchen muß zwischen mir und Ihnen
erst uneröffnet stehen und dann eröffnet das Weitere selbst befehlen.
Ich wollte, es fände sich gar nichts drinnen, und was ich sonst noch
wollte und was ich sonst noch alles erzählen könnte doch sei Ihnen
das vorenthalten, damit Sie desto eiliger sich auf den Weg machen.

Und nun mädchenhaft genug noch eine Nachschrift! Was geht aber mich
und Sie eigentlich das Kästchen an? Es gehört Felix, der hat's
entdeckt, hat sich's zugeeignet, den müssen wir herbeiholen, ohne
seine Gegenwart sollen wir's nicht öffnen.

Und was das wieder für Umstände sind! das schiebt sich und
verschiebt sich.

Was ziehen Sie so in der Welt herum? Kommen Sie! bringen Sie den
holden Knaben mit, den ich auch einmal wieder sehen möchte.

Und nun geht's da wieder an, der Vater und der Sohn! tun Sie, was
Sie können, aber kommen Sie beide.





Drittes Kapitel

Vorstehender wunderliche Brief war freilich schon lange geschrieben
und hin und wider getragen worden, bis er endlich, der Aufschrift
gemäß, diesmal abgegeben werden konnte. Wilhelm nahm sich vor, mit
dem ersten Boten, dessen Absendung bevorstand, freundlich, aber
ablehnend zu antworten. Hersilie schien die Entfernung nicht zu
berechnen, und er war gegenwärtig zu ernstlich beschäftigt, als daß
ihn auch nur die mindeste Neugierde, was in jenem Kästchen befindlich
sein möchte, hätte reizen dürfen.

Auch gaben ihm einige Unfälle, die den derbsten Gliedern dieser
tüchtigen Gesellschaft begegneten, Gelegenheit, sich meisterhaft in
der von ihm ergriffenen Kunst zu beweisen. Und wie ein Wort das
andere gibt, so folgt noch glücklicher eine Tat aus der andern, und
wenn dadurch zuletzt auch wieder Worte veranlaßt werden, so sind
diese um so fruchtbarer und geisterhebender. Die Unterhaltungen
waren daher so belehrend als ergötzlich, denn die Freunde gaben sich
wechselseitig Rechenschaft vom Gange des bisherigen Lernens und Tuns,
woraus eine Bildung entstanden war, die sie wechselseitig erstaunen
machte, dergestalt, daß sie sich untereinander erst selbst wieder
mußten kennen lernen.

Eines Abends also fing Wilhelm seine Erzählung an: "Meine Studien
als Wundarzt suchte ich sogleich in einer großen Anstalt der größten
Stadt, wo sie nur allein möglich wird, zu fördern; zur Anatomie als
Grundstudium wendete ich mich sogleich mit Eifer.

Auf eine sonderbare Weise, welche niemand erraten würde, war ich
schon in Kenntnis der menschlichen Gestalt weit vorgeschritten, und
zwar während meiner theatralischen Laufbahn; alles genau besehen,
spielt denn doch der körperliche Mensch da die Hauptrolle, ein
schöner Mann, eine schöne Frau! Ist der Direktor glücklich genug,
ihrer habhaft zu werden, so sind Komödien--und Tragödiendichter
geborgen. Der losere Zustand, in dem eine solche Gesellschaft lebt,
macht ihre Genossen mehr mit der eigentlichen Schönheit der
unverhüllten Glieder bekannt als irgendein anderes Verhältnis; selbst
verschiedene Kostüms nötigen, zur Evidenz zu bringen, was sonst
herkömmlich verhüllt wird. Hievon hätt' ich viel zu sagen, so auch
von körperlichen Mängeln, welche der kluge Schauspieler an sich und
andern kennen muß, um sie, wo nicht zu verbessern, wenigstens zu
verbergen, und auf diese Weise war ich vorbereitet genug, dem
anatomischen Vortrag, der die äußern Teile näher kennen lehrte, eine
folgerechte Aufmerksamkeit zu schenken; so wie mir denn auch die
innern Teile nicht fremd waren, indem ein gewisses Vorgefühl davon mir
immer gegenwärtig geblieben war. Unangenehm hindernd war bei dem
Studium die immer wiederholte Klage vom Mangel der Gegenstände, über
die nicht hinreichende Anzahl der verbliebenen Körper, die man zu so
hohen Zwecken unter das Messer wünschte. Solche, wo nicht
hinreichend, doch in möglichstes Zahl zu verschaffen, hatte man harte
Gesetze ergehen lassen, nicht allein Verbrecher, die ihr Individuum
in jedem Sinne verwirkt, sondern auch andere körperlich, geistig
verwahrloste Umgekommene wurden in Anspruch genommen.

Mit dem Bedürfnis wuchs die Strenge und mit dieser der Widerwille
des Volks, das in sittlicher und religioser Ansicht seine
Persönlichkeit und die Persönlichkeit geliebter Personen nicht
aufgeben kann.

Immer weiter aber stieg das übel, indem die verwirrende Sorge
hervortrat, daß man auch sogar für die friedlichen Gräber geliebter
Abgeschiedener zu fürchten habe. Kein Alter, keine Würde, weder
Hohes noch Niedriges war in seiner Ruhestätte mehr sicher; der Hügel,
den man mit Blumen geschmückt, die Inschriften, mit denen man das
Andenken zu erhalten getrachtet, nichts konnte gegen die einträgliche
Raubsucht schützen; der schmerzlichste Abschied schien aufs
grausamste gestört, und indem man sich vom Grabe wegwendete, mußte
schon die Furcht empfunden werden, die geschmückten, beruhigten
Glieder geliebter Personen getrennt, verschleppt und entwürdigt zu
wissen.

Alles dieses kam wiederholt und immer durchgedroschener zur Sprache,
ohne daß irgend jemand an ein Hülfsmittel gedacht hätte oder daran
hätte denken können, und immer allgemeiner wurden die Beschwerden,
als junge Männer, die mit Aufmerksamkeit den Lehrvortrag gehört, sich
auch mit Hand und Auge von dem bisher Gesehenen und Vernommenen
überzeugen und sich die so notwendige Kenntnis immer tiefer und
lebendiger der Einbildungskraft überliefern wollten.

In solchen Augenblicken entsteht eine Art von unnatürlichem
wissenschaftlichem Hunger, welcher nach der widerwärtigsten
Befriedigung wie nach dem Anmutigsten und Notwendigsten zu begehren
aufregt.

Schon einige Zeit hatte ein solcher Aufschub und Aufenthalt die
Wissens--und Tatlustigen beschäftigt und unterhalten, als endlich ein
Fall, über den die Stadt in Bewegung geriet, eines Morgens das Für
und Wider für einige Stunden heftig hervorrief. Ein sehr schönes
Mädchen, verwirrt durch unglückliche Liebe, hatte den Tod im Wasser
gesucht und gefunden; die Anatomie bemächtigte sich derselbigen;
vergebens war die Bemühung der Eltern, Verwandten, ja des Liebhabers
selbst, der nur durch falschen Argwohn verdächtig geworden. Die
obern Behörden, die soeben das Gesetz geschärft hatten, durften keine
Ausnahme bewilligen; auch eilte man, so schnell als möglich die Beute
zu benutzen und zur Benutzung zu verteilen."

Wilhelm, der als nächster Aspirant gleichfalls berufen wurde, fand
vor dem Sitze, den man ihm anwies, auf einem saubern Breite, reinlich
zugedeckt, eine bedenkliche Aufgabe; denn als er die Hülle wegnahm,
lag der schönste weibliche Arm zu erblicken, der sich wohl jemals um
den Hals eines Jünglings geschlungen hatte. Er hielt sein Besteck in
der Hand und getraute sich nicht, es zu eröffnen; er stand und
getraute nicht niederzusitzen. Der Widerwille, dieses herrliche
Naturerzeugnis noch weiter zu entstellen, stritt mit der Anforderung,
welche der wissensbegierige Mann an sich zu machen hat und welcher
sämtliche Umhersitzende Genüge leisteten.

In diesen Augenblicken trat ein ansehnlicher Mann zu ihm, den er
zwar als einen seltenen, aber immer als einen sehr aufmerksamen
Zuhörer und Zuschauer bemerkt und demselben schon nachgefragt hatte;
niemand aber konnte nähere Auskunft geben; daß es ein Bildhauer sei,
darin war man einig; man hielt ihn aber auch für einen Goldmacher, der
in einem großen, alten Hause wohne, dessen erste Flur allein den
Besuchenden oder bei ihm Beschäftigten zugänglich, die übrigen
sämtlichen Räume jedoch verschlossen seien. Dieser Mann hatte sich
Wilhelmen verschiedentlich genähert, war mit ihm aus der Stunde
gegangen, wobei er jedoch alle weitere Verbindung und Erklärung zu
vermeiden schien.

Diesmal jedoch sprach er mit einer gewissen Offenheit: "Ich sehe,
Sie zaudern, Sie staunen das schöne Gebild an, ohne es zerstören zu
können; setzen Sie sich über das Gildegefühl hinaus und folgen Sie
mir." Hiermit deckte er den Arm wieder zu, gab dem Saaldiener einen
Wink, und beide verließen den Ort. Schweigend gingen sie
nebeneinander her, als der Halbbekannte vor einem großen Tore
stillestand, dessen Pförtchen er aufschloß und unsern Freund
hineinnötigte, der sich sodann auf einer Tenne befand, groß, geräumig,
wie wir sie in alten Kaufhäusern sehen, wo die ankommenden Kisten
und Ballen sogleich untergefahren werden. Hier standen Gipsabgüsse
von Statuen und Büsten, auch Bohlenverschläge gepackt und leer. "Es
sieht hier kaufmännisch aus", sagte der Mann; "der von hier aus
mögliche Wassertransport ist für mich unschätzbar." Dieses alles
paßte nun ganz gut zu dem Gewerb eines Bildhauers; ebenso konnte
Wilhelm nichts anders finden, als der freundliche Wirt ihn wenige
Stufen hinauf in ein geräumiges Zimmer führte, das ringsumher mit
Hoch--und Flachgebilden, mit größeren und kleineren Figuren, Büsten
und wohl auch einzelnen Gliedern der schönsten Gestalten geziert war.
Mit Vergnügen betrachtete unser Freund dies alles und horchte gern
den belehrenden Worten seines Wirtes, ob er gleich noch eine große
Kluft zwischen diesen künstlerischen Arbeiten und den
wissenschaftlichen Bestrebungen, von denen sie herkamen, gewahren
mußte. Endlich sagte der Hausbesitzer mit einigem Ernst: "Warum ich
Sie hierher führe, werden Sie leicht einsehen; diese Türe", fuhr er
fort, indem er sich nach der Seite wandte, "liegt näher an der
Saaltüre, woher wir kommen, als Sie denken mögen." Wilhelm trat
hinein und hatte freilich zu erstaunen, als er, statt wie in den
vorigen Nachbildung lebender Gestalten zu sehen, hier die Wände
durchaus mit anatomischen Zergliederungen ausgestattet fand; sie
mochten in Wachs oder sonstiger Masse verfertigt sein, genug, sie
hatten durchaus das frische, farbige Ansehen erst fertig gewordener
Präparate. "Hier, mein Freund", sagte der Künstler, "hier sehen Sie
schätzenswerte Surrogate für jene Bemühungen, die wir, mit dem
Widerwillen der Welt, zu unzeitigen Augenblicken mit Ekel oft und
großer Sorgfalt dem Verderben oder einem widerwärtigen Aufbewahren
vorbereiten. Ich muß dieses Geschäft im tiefsten Geheimnis betreiben,
denn Sie haben gewiß oft schon Männer vom Fach mit Geringschätzung
davon reden hören. Ich lasse mich nicht irremachen und bereite etwas
vor, welches in der Folge gewiß von großer Einwirkung sein wird. Der
Chirurg besonders, wenn er sich zum plastischen Begriff erhebt, wird
der ewig fortbildenden Natur bei jeder Verletzung gewiß am besten zu
Hülfe kommen; den Arzt selbst würde ein solcher Begriff bei seinen
Funktionen erheben. Doch lassen Sie uns nicht viel Worte machen!
Sie sollen in kurzem erfahren, daß Aufbauen mehr belehrt als
Einreißen, Verbinden mehr als Trennen, Totes beleben mehr als das
Getötete noch weiter töten; kurz also, wollen Sie mein Schüler sein?"
Und auf Bejahung legte der Wissende dem Gaste das Knochenskelett
eines weiblichen Armes vor, in der Stellung, wie sie jenen vor kurzem
vor sich gesehen hatten. "Ich habe", fuhr der Meister fort, "zu
bemerken gehabt, wie Sie der Bänderlehre durchaus Aufmerksamkeit
schenkten und mit Recht, denn mit ihnen beginnt sich für uns das tote
Knochengerassel erst wieder zu beleben; Hesekiel mußte sein
Gebeinfeld sich erst auf diese Weise wieder sammeln und fügen sehen,
ehe die Glieder sich regen, die Arme tasten und die Füße sich
aufrichten konnten. Hier ist biegsam Masse, Stäbchen und was sonst
nötig sein möchte; nun versuchen Sie Ihr Glück."

Der neue Schüler nahm seine Gedanken zusammen, und als er die
Knochenteile näher zu betrachten anfing, sah er, daß diese künstlich
von Holz geschnitzt seien. "Ich habe", versetzte der Lehrer, "einen
geschickten Mann, dessen Kunst nach Brote ging, indem die Heiligen
und Märtyrer, die er zu schnitzen gewohnt war, keinen Abgang mehr
fanden, ihn hab' ich darauf geleitet, sich der Skelettbildung zu
bemächtigen und solche im großen wie im kleinen naturgemäß zu
befördern."

Nun tat unser Freund sein Bestes und erwarb sich den Beifall des
Anleitenden. Dabei war es ihm angenehm, sich zu erproben, wie stark
oder schwach die Erinnerung sei, und er fand zu vergnüglicher
überraschung, daß sie durch die Tat wieder hervorgerufen werde; er
gewann Leidenschaft für diese Arbeit und ersuchte den Meister, in
seine Wohnung aufgenommen zu werden. Hier nun arbeitete er
unablässig; auch waren die Knochen und Knöchelchen des Armes in
kurzer Zeit gar schicklich verbunden. Von hier aber sollten die
Sehnen und Muskeln ausgehen, und es schien eine völlige Unmöglichkeit,
den ganzen Körper auf diese Weise nach allen seinen Teilen
gleichmäßig herzustellen. Hiebei tröstete ihn der Lehrer, indem er
die Vervielfältigung durch Abformung sehen ließ, da denn das
Nacharbeiten, das Reinbilden der Exemplare eben wieder neue
Anstrengung, neue Aufmerksamkeit verlangte.

Alles, worein der Mensch sich ernstlich einläßt, ist ein Unendliches;
nur durch wetteifernde Tätigkeit weiß er sich dagegen zu helfen;
auch kam Wilhelm bald über den Zustand von Gefühl seines Unvermögens,
welches immer eine Art von Verzweiflung ist, hinaus und fand sich
behaglich bei der Arbeit. "Es freut mich", sagte der Meister, "daß
Sie sich in diese Verfahrungsart zu schicken wissen und daß Sie mir
ein Zeugnis geben, wie fruchtbar eine solche Methode sei, wenn sie
auch von den Meistern des Fachs nicht anerkannt wird. Es muß eine
Schule geben, und diese wird sich vorzüglich mit überlieferung
beschäftigen; was bisher geschehen ist, soll auch künftig geschehen,
das ist gut und mag und soll so sein. Wo aber die Schule stockt, das
muß man bemerken und wissen; das Lebendige muß man ergreifen und üben,
aber im stillen, sonst wird man gehindert und hindert andere. Sie
haben lebendig gefühlt und zeigen es durch Tat, Verbinden heißt mehr
als Trennen, Nachbilden mehr als Ansehen."

Wilhelm erfuhr nun, daß solche Modelle im stillen schon weit
verbreitet seien, aber zu größter Verwunderung vernahm er, daß das
Vorrätige eingepackt und über See gehen solle. Dieser wackere
Künstler hatte sich schon mit Lothario und jenen Befreundeten in
Verhältnis gesetzt; man fand die Gründung einer solchen Schule in
jenen sich heranbildenden Provinzen ganz besonders am Platze, ja
höchst notwendig, besonders unter natürlich gesitteten, wohldenkenden
Menschen, für welche die wirkliche Zergliederung immer etwas
Kannibalisches hat. "Geben Sie zu, daß der größte Teil von ärzten
und Wundärzten nur einen allgemeinen Eindruck des zergliederten
menschlichen Körpers in Gedanken behält und damit auszukommen glaubt,
so werden gewiß solche Modelle hinreichen, die in seinem Geiste nach
und nach erlöschenden Bilder wieder anzufrischen und ihm gerade das
Nötige lebendig zu erhalten. Ja es kommt auf Neigung und Liebhaberei
an, so werden sich die zartesten Resultate der Zergliederungskunst
nachbilden lassen. Leistet dies ja schon Zeichenfeder, Pinsel und
Grabstichel."

Hier öffnete er ein Seitenschränkchen und ließ die Gesichtsnerven
auf die wundersamste Weise nachgebildet erblicken. "Dies ist leider",
sprach er, "das letzte Kunststück eines abgeschiedenen jungen
Gehülfen, der mir die beste Hoffnung gab, meine Gedanken
durchzuführen und meine Wünsche nützlich auszubreiten."

über die Einwirkung dieser Behandlungsweise nach manchen Seiten hin
wurde gar viel zwischen beiden gesprochen, auch war das Verhältnis
zur bildenden Kunst ein Gegenstand merkwürdiger Unterhaltung. Ein
auffallendes, schönes Beispiel, wie auf diese Weise vorwärts und
rückwärts zu arbeiten sei, ergab sich aus diesen Mitteilungen. Der
Meister hatte einen schönen Sturz eines antiken Jünglings in eine
bildsame Masse abgegossen und suchte nun mit Einsicht die ideelle
Gestalt von der Epiderm zu entblößen und das schöne Lebendige in ein
reales Muskelpräparat zu verwandeln. "Auch hier finden sich Mittel
und Zweck so nahe beisammen, und ich will gern gestehen, daß ich über
den Mitteln den Zweck vernachlässigt habe, doch nicht ganz mit eigener
Schuld; der Mensch ohne Hülle ist eigentlich der Mensch, der
Bildhauer steht unmittelbar an der Seite der Elohim, als sie den
unförmlichen, widerwärtigen Ton zu dem herrlichsten Gebilde
umzuschaffen wußten; solche göttliche Gedanken muß er hegen, dem
Reinen ist alles rein, warum nicht die unmittelbare Absicht Gottes in
der Natur? Aber vom Jahrhundert kann man dies nicht verlangen, ohne
Feigenblätter und Tierfelle kommt es nicht aus, und das ist noch viel
zu wenig. Kaum hatte ich etwas gelernt, so verlangten sie von mir
würdige Männer in Schlafröcken und weiten ärmeln und zahllosen Falten;
da wendete ich mich rückwärts, und da ich das, was ich verstand,
nicht einmal zum Ausdruck des Schönen anwenden durfte, so wählte ich,
nützlich zu sein, und auch dies ist von Bedeutung. Wird mein Wunsch
erfüllt, wird es als brauchbar anerkannt, daß, wie in so viel andern
Dingen, Nachbildung und das Nachgebildete der Einbildungskraft und
dem Gedächtnis zu Hülfe kommen, da, wo den Menschengeist eine gewisse
Frische verläßt, so wird gewiß mancher bildende Künstler sich, wie
ich es getan, herumwenden und lieber euch in die Hand arbeiten, als
daß er gegen überzeugung und Gefühl ein widerwärtiges Handwerk treibe."

Hieran schloß sich die Betrachtung, daß es eben schön sei zu
bemerken, wie Kunst und Technik sich immer gleichsam die Waage halten
und so nah verwandt immer eine zu der andern sich hinneigt, so daß
die Kunst nicht sinken kann, ohne in löbliches Handwerk überzugehen,
das Handwerk sich nicht steigern, ohne kunstreich zu werden.

Beide Personen fügten und gewöhnten sich so vollkommen aneinander,
daß sie sich nur ungern trennten, als es nötig ward, um ihren
eigentlichen großen Zwecken entgegenzusehen.

"Damit man aber nicht glaube", sagte der Meister, "daß wir uns von
der Natur ausschließen und sie verleugnen wollen, so eröffnen wir
eine frische Aussicht. Drüben über dem Meere, wo gewisse
menschenwürdige Gesinnungen sich immerfort steigern, muß man endlich
bei Abschaffung der Todesstrafe weitläufige Kastelle, ummauerte
Bezirke bauen, um den ruhigen Bürger gegen Verbrechen zu schützen und
das Verbrechen nicht straflos walten und wirken zu lassen. Dort,
mein Freund, in diesen traurigen Bezirken, lassen Sie uns dem äskulap
eine Kapelle vorbehalten, dort, so abgesondert wie die Strafe selbst,
werde unser Wissen immerfort an solchen Gegenständen erfrischt, deren
Zerstückelung unser menschliches Gefühl nicht verletze, bei deren
Anblick uns nicht, wie es Ihnen bei jenem schönen, unschuldigen Arm
erging, das Messer in der Hand stocke und alle Wißbegierde vor dem
Gefühl der Menschlichkeit ausgelöscht werde."

"Dieses", sagte Wilhelm, "waren unsre letzten Gespräche, ich sah die
wohlgepackten Kisten den Fluß hinabschwimmen, ihnen die glücklichste
Fahrt und uns eine gemeinsame frohe Gegenwart beim Auspacken
wünschend."

Unser Freund hatte diesen Vortrag mit Geist und Enthusiasmus wie
geführt so geendigt, besonders aber mit einer gewissen Lebhaftigkeit
der Stimme und Sprache, die man in der neuem Zeit nicht an ihm
gewohnt war. Da er jedoch am Schluß seiner Rede zu bemerken glaubte,
daß Lenardo, wie zerstreut und abwesend, das Vorgetragene nicht zu
verfolgen schien, Friedrich hingegen gelächelt, einigemal beinahe den
Kopf geschüttelt habe, so fiel dem zart empfindenden Mienenkenner
eine so geringe Zustimmung bei der Sache, die ihm höchst wichtig
schien, dergestalt auf, daß er nicht unterlassen konnte, seine
Freunde deshalb zu berufen.

Friedrich erklärte sich hierüber ganz einfach und aufrichtig, er
könne das Vornehmen zwar löblich und gut, keineswegs aber für so
bedeutend, am wenigsten aber für ausführbar halten. Diese Meinung
suchte er durch Gründe zu unterstützen, von der Art, wie sie
demjenigen, der für eine Sache eingenommen ist und sie durchzusetzen
gedenkt, mehr, als man sich vorstellen mag, beleidigend auffällt.
Deshalb denn auch unser plastischer Anatom, nachdem er einige Zeit
geduldig zuzuhören schien, lebhaft erwiderte:

"Du hast Vorzüge, mein guter Friedrich, die dir niemand leugnen wird,
ich am wenigsten, aber hier sprichst du wie gewöhnliche Menschen
gewöhnlich; am Neuen sehen sie nur das Seltsame, im Seltenen jedoch
alsobald das Bedeutende zu erblicken, dazu gehört schon mehr. Für
euch muß erst alles in Tat übergehen, es muß geschehen, als möglich,
als wirklich vor Augen treten, und dann laßt ihr es auch gut sein wie
etwas anderes. Was du vorbringst, hör' ich schon zum voraus von
Unterrichteten und Laien wiederholen; von jenen aus Vorurteil und
Bequemlichkeit, von diesen aus Gleichgültigkeit. Ein Vorhaben wie das
ausgesprochene kann vielleicht nur in einer neuen Welt durchgeführt
werden, wo der Geist Mut fassen muß, zu einem unerläßlichen Bedürfnis
neue Mittel auszuforschen, weil es an den herkömmlichen durchaus
ermangelt. Da regt sich die Erfindung, da gesellt sich die Kühnheit,
die Beharrlichkeit der Notwendigkeit hinzu.

Jeder Arzt, er mag mit Heilmitteln oder mit der Hand zu Werke gehen,
ist nichts ohne die genauste Kenntnis der äußern und innern Glieder
des Menschen, und es reicht keineswegs hin, auf Schulen flüchtige
Kenntnis hievon genommen, sich von Gestalt, Lage, Zusammenhang der
mannigfaltigsten Teile des unerforschlichen Organismus einen
oberflächlichen Begriff gemacht zu haben. Täglich soll der Arzt, dem
es Ernst ist, in der Wiederholung dieses Wissens, dieses Anschauens
sich zu üben, sich den Zusammenhang dieses lebendigen Wunders immer
vor Geist und Auge zu erneuern alle Gelegenheit suchen. Kennte er
seinen Vorteil, er würde, da ihm die Zeit zu solchen Arbeiten
ermangelt, einen Anatomen in Sold nehmen, der, nach seiner Anleitung,
für ihn im stillen beschäftigt, gleichsam in Gegenwart aller
Verwicklungen des verflochtensten Lebens, auf die schwierigsten
Fragen sogleich zu antworten verstände.

Je mehr man dies einsehen wird, je lebhafter, heftiger,
leidenschaftlicher wird das Studium der Zergliederung getrieben
werden. Aber in eben dem Maße werden sich die Mittel vermindern; die
Gegenstände, die Körper, auf die solche Studien zu gründen sind, sie
werden fehlen, seltener, teurer werden, und ein wahrhafter Konflikt
zwischen Lebendigen und Toten wird entstehen.

In der alten Weit ist alles Schlendrian, wo man das Neue immer auf
die alte, das Wachsende nach starrer Weise behandeln will. Dieser
Konflikt, den ich ankündige zwischen Toten und Lebendigen, er wird
auf Leben und Tod gehen, man wird erschrecken, man wird untersuchen,
Gesetze geben und nichts ausrichten. Vorsicht und Verbot helfen in
solchen Fällen nichts; man muß von vorn anfangen. Und das ist's, was
mein Meister und ich in den neuen Zuständen zu leisten hoffen, und
zwar nichts Neues, es ist schon da; aber das, was jetzo Kunst ist, muß
Handwerk werden, was im Besondern geschieht, muß im Allgemeinen
möglich werden, und nichts kann sich verbreiten, als was anerkannt
ist. Unter Tun und Leisten muß anerkannt werden als das einzige
Mittel in einer entschiedenen Bedrängnis, welche besonders große
Städte bedroht. Ich will die Worte meines Meisters anführen, aber
merkt auf! Er sprach eines Tages im größten Vertrauen:

"Der Zeitungsleser findet Artikel interessant und lustig beinah,
wenn er von Auferstehungsmännern erzählen hört. Erst stahlen sie die
Körper in tiefem Geheimnis; dagegen stellt man Wächter auf: sie
kommen mit gewaffneter Schar, um sich ihrer Beute gewaltsam zu
bemächtigen. Und das Schlimmste zum Schlimmen wird sich ereignen, ich
darf es nicht laut sagen, denn ich würde, zwar nicht als
Mitschuldiger, aber doch als zufälliger Mitwisser, in die
gefährlichste Untersuchung verwickelt werden, wo man mich in jedem
Fall bestrafen müßte, weil ich die Untat, sobald ich sie entdeckt
hatte, den Gerichten nicht anzeigte. Ihnen gesteh' ich's, mein
Freund, in dieser Stadt hat man gemordet, um den dringenden, gut
bezahlenden Anatomen einen Gegenstand zu verschaffen. Der entseelte
Körper lag vor uns. Ich darf die Szene nicht ausmalen. Er entdeckte
die Untat, ich aber auch, wir sahen einander an und schwiegen beide;
wir sahen vor uns hin und schwiegen und gingen ans Geschäft. --Und
dies ist's, mein Freund, was mich zwischen Wachs und Gips gebannt hat;
dies ist's, was gewiß auch Sie bei der Kunst festhalten wird, welche
früher oder später vor allen übrigen wird gepriesen werden.""

Friedrich sprang auf, schlug in die Hände und wollte des Bravorufens
kein Ende machen, so daß Wilhelm zuletzt im Ernst böse wurde. "Bravo!"
rief jener aus, "nun erkenne ich dich wieder! Das erstemal seit
langer Zeit hast du wieder gesprochen wie einer, dem etwas wahrhaft
am Herzen liegt; zum erstenmal hat der Fluß der Rede dich wieder
fortgerissen, du hast dich als einen solchen erwiesen, der etwas zu
tun und es anzupreisen imstande ist."

Lenardo nahm hierauf das Wort und vermittelte diese kleine
Mißhelligkeit vollkommen. "Ich schien abwesend", sprach er, "aber nur
deshalb, weil ich mehr als gegenwärtig war. Ich erinnerte mich
nämlich des großen Kabinetts dieser Art, das ich auf meinen Reisen
gesehen und welches mich dergestalt interessierte, daß der Kustode,
der, um nach Gewohnheit fertig zu werden, die auswendig gelernte
Schnurre herzubeten anfing, gar bald, da er der Künstler selber war,
aus der Rolle fiel und sich als einen kenntnisreichen Demonstrator
bewies.

Der merkwürdige Gegensatz, im hohen Sommer in kühlen Zimmern, bei
schwüler Wärme draußen, diejenigen Gegenstände vor mir zu sehen,
denen man im strengsten Winter sich kaum zu nähern getraut. Hier
diente bequem alles der Wißbegierde. In größter Gelassenheit und
schönster Ordnung zeigte er mir die Wunder des menschlichen Baues und
freute sich, mich überzeugen zu können, daß zum ersten Anfang und zu
später Erinnerung eine solche Anstalt vollkommen hinreichend sei;
wobei denn einem jeden frei bleibe, in der mittlern Zeit sich an die
Natur zu wenden und bei schicklicher Gelegenheit sich um diesen oder
jenen besondern Teil zu erkundigen. Er bat mich, ihn zu empfehlen.
Denn nur einem einzigen, großen, auswärtigen Museum habe er eine
solche Sammlung gearbeitet, die Universitäten aber widerständen
durchaus dem Unternehmen, weil die Meister der Kunst wohl Prosektoren,
aber keine Proplastiker zu bilden wüßten.

Hiernach hielt ich denn diesen geschickten Mann für den einzigen in
der Welt, und nun hören wir, daß ein anderer auf dieselbe Weise
bemüht ist; wer weiß, wo noch ein Dritter und Vierter an das
Tageslicht hervortritt. Wir wollen von unsrer Seite dieser
Angelegenheit einen Anstoß geben. Die Empfehlung muß von außen
herkommen, und in unsern neuen Verhältnissen soll das nützliche
Unternehmen gewiß gefördert werden."





Viertes Kapitel

Des andern Morgens beizeiten trat Friedrich mit einem Hefte in der
Hand in Wilhelms Zimmer, und ihm solches überreichend, sprach er:
"Gestern abend hatte ich vor allen Euren Tugenden, welche
herzuerzählen Ihr umständlich genug wart, nicht Raum, von mir und
meinen Vorzügen zu reden, deren ich mich wohl auch zu rühmen habe und
die mich zu einem würdigen Mitglied dieser großen Karawane stempeln.
Beschaut hier dieses Heft, und Ihr werdet ein Probestück anerkennen."

Wilhelm überlief die Blätter mit schnellen Blicken und sah,
leserlich angenehm, obschon flüchtig geschrieben, die gestrige
Relation seiner anatomischen Studien, fast Wort vor Wort, wie er sie
abgestattet hatte, weshalb er denn seine Verwunderung nicht bergen
konnte.

"Ihr wißt", erwiderte Friedrich, "das Grundgesetz unserer Verbindung;
in irgendeinem Fache muß einer vollkommen sein, wenn er Anspruch auf
Mitgenossenschaft machen will. Nun zerbrach ich mir den Kopf, worin
mir's denn gelingen könnte, und wußte nichts aufzufinden, so nahe mir
es auch lag, daß mich niemand an Gedächtnis übertreffe, niemand an
einer schnellen, leichten, leserlichen Hand. Dieser angenehmen
Eigenschaften erinnert Ihr Euch wohl von unsrer theatralischen
Laufbahn her, wo wir unser Pulver nach Sperlingen verschossen, ohne
daran zu denken, daß ein Schuß, vernünftiger angebracht, auch wohl
einen Hasen in die Küche schaffe. Wie oft hab' ich nicht ohne Buch
souffliert, wie oft in wenigen Stunden die Rollen aus dem Gedächtnis
geschrieben! Das war Euch damals recht, Ihr dachtet, es müßte so
sein; ich auch, und es wäre mir nicht eingefallen, wie sehr es mir
zustatten kommen könne. Der Abbé machte zuerst die Entdeckung; er
fand, daß das Wasser auf seine Mühle sei, er versuchte, mich zu üben,
und mir gefiel, was mir so leicht ward und einen ernsten Mann
befriedigte. Und nun bin ich, wo's not tut, gleich eine ganze
Kanzlei, außerdem führen wir noch so eine zweibeinige Rechenmaschine
bei uns, und kein Fürst mit noch so viel Beamten ist besser versehen
als unsre Vorgesetzten."

Heiteres Gespräch über dergleichen Tätigkeiten führte die Gedanken
auf andere Glieder der Gesellschaft. "Solltet Ihr wohl denken",
sagte Friedrich, "daß das unnützeste Geschöpf von der Welt, wie es
schien, meine Philine, das nützlichste Glied der großen Kette werden
wird? Legt ihr ein Stück Tuch hin, stellt Männer, stellt Frauen ihr
vors Gesicht: ohne Maß zu nehmen, schneidet sie aus dem Ganzen und
weiß dabei alle Flecken und Gehren dergestalt zu nutzen, daß großer
Vorteil daraus entsteht, und das alles ohne Papiermaß. Ein
glücklicher geistiger Blick lehrt sie das alles, sie sieht den
Menschen an und schneidet, dann mag er hingehen, wohin er will, sie
schneidet fort und schafft ihm einen Rock auf den Leib wie angegossen.
Doch das wäre nicht möglich, hätte sie nicht auch eine Nähterin
herangezogen, Montans Lydie, die nun einmal still geworden ist und
still bleibt, aber auch reinlich näht wie keine, Stich für Stich wie
Perlen, wie gestickt. Das ist nun, was aus den Menschen werden kann;
eigentlich hängt so viel Unnützes um uns herum, aus Gewohnheit,
Neigung, Zerstreuung und Willkür, ein Lumpenmantel zusammengespettelt.
Was die Natur mit uns gewollt, das Vorzüglichste, was sie in uns
gelegt, können wir deshalb weder auffinden noch ausüben."

Allgemeine Betrachtungen über die Vorteile der geselligen Verbindung,
die sich so glücklich zusammengefunden, eröffneten die schönsten
Aussichten.

Als nun Lenardo sich hierauf zu ihnen gesellte, ward er von
Wilhelmen ersucht, auch von sich zu sprechen, von dem Lebensgange,
den er bisher geführt, von der Art, wie er sich und andere gefördert,
freundliche Nachricht zu erteilen.

"Sie erinnern sich gar wohl, mein Bester", versetzte Lenardo, "in
welchem wundersamen, leidenschaftlichen Zustande Sie mich den ersten
Augenblick unserer neuen Bekanntschaft getroffen; ich war versunken,
verschlungen in das wunderlichste Verlangen, in eine unwiderstehliche
Begierde, es konnte damals nur von der nächsten Stunde die Rede sein,
vom schweren Leiden, das mir bereitet war, das mir selbst zu schärfen
ich mich so emsig erwies. Ich konnte Sie nicht bekannt machen mit
meinen früheren Jugendzuständen, wie ich jetzt tun muß, um Sie auf
den Weg zu führen, der mich hierher gebracht hat.

Unter den frühsten meiner Fähigkeiten, die sich nach und nach durch
Umstände entwickelten, tat sich ein gewisser Trieb zum Technischen
hervor, welcher jeden Tag durch die Ungeduld genährt wurde, die man
auf dem Lande fühlt, wenn man bei größeren Bauten, besonders aber bei
kleinen Veränderungen, Anlagen und Grillen ein Handwerk ums andere
entbehren muß und lieber ungeschickt und pfuscherhaft eingreift, als
daß man sich meistermäßig verspäten ließe. Zum Glück wanderte in
unserer Gegend ein Tausendkünstler auf und ab, der, weil er bei mir
seine Rechnung fand, mich lieber als irgendeinen Nachbar unterstützte;
er richtete mir eine Drechselbank ein, deren er sich bei jedem
Besuch mehr zu seinem Zwecke als zu meinem Unterricht zu bedienen
wußte. So auch schaffte ich Tischlerwerkzeug an, und meine Neigung
zu dergleichen ward erhöht und belebt durch die damals laut
ausgesprochene überzeugung: es könne niemand sich ins Leben wagen,
als wenn er es im Notfall durch Handwerkstätigkeit zu fristen verstehe.
Mein Eifer ward von den Erziehern nach ihren eigenen Grundsätzen
gebilligt; ich erinnere mich kaum, daß ich je gespielt habe, denn
alle freien Stunden wurden verwendet, etwas zu wirken und zu schaffen.
Ja ich darf mich rühmen, schon als Knabe einen geschickten Schmied
durch meine Anforderungen zum Schlösser, Feilenhauer und Uhrmacher
gesteigert zu haben.

Das alles zu leisten mußten denn freilich auch erst die Werkzeuge
erschaffen werden, und wir litten nicht wenig an der Krankheit jener
Techniker, welche Mittel und Zweck verwechseln, lieber Zeit auf
Vorbereitungen und Anlagen verwenden, als daß sie sich recht ernstlich
an die Ausführung hielten. Wo wird uns jedoch praktisch tätig
erweisen konnten, war bei Auszierung der Parkanlagen, deren kein
Gutsbesitzer mehr entbehren durfte; manche Moos--und Rindenhütte,
Knittelbrücken und Bänke zeugten von unserer Emsigkeit, womit wir eine
Urbaukunst in ihrer ganzen Roheit mitten in der gebildeten Welt
darzustellen eifrig bemüht gewesen.

Dieser Trieb führte mich bei zunehmenden Jahren auf ernstere
Teilnahme an allem, was der Welt so nütze und in ihrer gegenwärtigen
Lage so unentbehrlich ist, und gab meinen mehrjährigen Reisen ein
eigentlichstes Interesse.

Da jedoch der Mensch gewöhnlich auf dem Wege, der ihn herangebracht,
fortzuwandern pflegt, so war ich dem Maschinenwesen weniger günstig
als der unmittelbaren Handarbeit, wo wir Kraft und Gefühl in
Verbindung ausüben; deswegen ich mich auch besonders in solchen
abgeschlossenen Kreisen gern aufhielt, wo nach Umständen diese oder
jene Arbeit zu Hause war. Dergleichen gibt jeder Vereinigung eine
besondere Eigentümlichkeit, jeder Familie, einer kleinen, aus mehreren
Familien bestehenden Völkerschaft den entschiedensten Charakter; man
lebt in dem reinsten Gefühl eines lebendigen Ganzen.

Dabei hatte ich mir angewöhnt, alles aufzuzeichnen, es mit Figuren
auszustatten und so, nicht ohne Aussicht auf künftige Anwendung,
meine Zeit löblich und erfreulich zuzubringen.

Diese Neigung, diese ausgebildete Gabe benutzt' ich nun aufs beste
bei dem wichtigen Auftrag, den mir die Gesellschaft gab, den Zustand
der Gebirgsbewohner zu untersuchen und die brauchbaren Wanderlustigen
mit in unsern Zug aufzunehmen. Mögen Sie nun den schönen Abend, wo
mich mannigfaltige Geschäfte drängen, mit Durchlesung eines Teils
meines Tagebuchs zubringen? Ich will nicht behaupten, daß es gerade
angenehm zu lesen sei; mir schien es immer unterhaltend und
gewissermaßen unterrichtend. Doch wir bespiegeln ja uns immer selbst
in allem, was wir hervorbrachten."





Fünftes Kapitel



Lenardos Tagebuch

Montag, den 15.

Tief in der Nacht war ich nach mühsam erstiegener halber Gebirgshöhe
eingetroffen in einer leidlichen Herberge und ward schon vor
Tagesanbruch aus erquicklichem Schlaf durch ein andauerndes
Schellen--und Glockengeläute zu meinem großen Verdruß aufgeweckt.
Eine große Reihe Saumrosse zog vorbei, eh' ich mich hätte ankleiden
und ihnen zuvoreilen können. Nun erfuhr ich auch, meinen Weg
antretend, gar bald, wie unangenehm und verdrießlich solche
Gesellschaft sei. Das monotone Geläute betäubt die Ohren; das zu
beiden Seiten weit über die Tiere hinausreichende Gepäck (sie trugen
diesmal große Säcke Baumwolle) streift bald einerseits an die Felsen,
und wenn das Tier, um dieses zu vermeiden, sich gegen die andere
Seite zieht, so schwebt die Last über dem Abgrund, dem Zuschauer
Sorge und Schwindel erregend, und, was das Schlimmste ist, in beiden
Fällen bleibt man gehindert, an ihnen vorbeizuschleichen und den
Vortritt zu gewinnen.

Endlich gelangt' ich an der Seite auf einen freien Felsen, wo St.
Christoph, der mein Gepäck kräftig einhertrug, einen Mann begrüßte,
welcher stille dastehend den vorbeiziehenden Zug zu mustern schien.
Es war auch wirklich der Anführer; nicht nur gehörte ihm eine
beträchtliche Zahl der lasttragenden Tiere, andere hatte er nebst
ihren Treibern gemietet, sondern er war auch Eigentümer eines
geringern Teils der Ware; vornehmlich aber bestand sein Geschäft
darin, für größere Kaufleute den Transport der ihrigen treulich zu
besorgen. Im Gespräch erfuhr ich von ihm, daß dieses Baumwolle sei,
welche aus Mazedonien und Cypern über Triest komme und vom Fuße des
Berges auf Maultieren und Saumrossen zu diesen Höhen und weiter bis
jenseits des Gebirgs gebracht werde, wo Spinner und Weber in Unzahl
durch Täler und Schluchten einen großen Vertrieb gesuchter Waren ins
Ausland vorbereiteten. Die Ballen waren bequemeren Ladens wegen teils
anderthalb, teils drei Zentner schwer, welches letztere die volle
Last eines Saumtiers ausmacht. Der Mann lobte die Qualität der auf
diesem Wege ankommenden Baumwolle, verglich sie mit der von Ost--und
Westindien, besonders mit der von Cayenne, als der bekanntesten; er
schien von seinem Geschäft sehr gut unterrichtet, und da es mir auch
nicht ganz unbekannt geblieben war, so gab es eine angenehme und
nützliche Unterhaltung. Indessen war der ganze Zug vor uns vorüber,
und ich erblickte nur mit Widerwillen auf dem in die Höhe sich
schlängelnden Felsweg die unabsehliche Reihe dieser bepackten
Geschöpfe, hinter denen her man schleichen und in der herankommenden
Sonne zwischen Felsen braten sollte. Indem ich mich nun gegen meinen
Boten darüber beschwerte, trat ein untersetzter, munterer Mann zu uns
heran, der auf einem ziemlich großen Reff eine verhältnismäßig
leichte Bürde zu tragen schien. Man begrüßte sich, und es war gar
bald am derben Händeschütteln zu sehen, daß St. Christoph und dieser
Ankömmling einander wohl bekannt seien; da erfuhr ich denn sogleich
über ihn folgendes. Für die entfernteren Gegenden im Gebirge, woher
zu Markte zu gehen für jeden einzelnen Arbeiter zu weit wäre, gibt es
eine Art von untergeordnetem Handelsmann oder Sammler, welcher
Garnträger genannt wird. Dieser steigt nämlich durch alle Täler und
Winkel, betritt Haus für Haus, bringt den Spinnern Baumwolle in
kleinen Partien, tauscht dagegen Garn ein oder kauft es, von welcher
Qualität es auch sein möge, und überläßt es dann wieder mit einigem
Profit im größern an die unterhalb ansässigen Fabrikanten.

Als nun die Unbequemlichkeit, hinter den Maultieren herzuschlendern,
abermals zur Sprache kam, lud mich der Mann sogleich ein, mit ihm ein
Seitental hinabzusteigen, das gerade hier von dem Haupttale sich
trennte, um die Wasser nach einer andern Himmelsgegend hinzuführen.
Der Entschluß war bald gefaßt, und nachdem wir mit einiger
Anstrengung einen etwas steilen Gebirgskamm überstiegen hatten, sahen
wir die jenseitigen Abhänge vor uns, zuerst höchst unerfreulich; das
Gestein hatte sich verändert und eine schiefrige Lage genommen; keine
Vegetation belebte Fels und Gerölle, und man sah sich von einem
schroffen Niederstieg bedroht. Quellen rieselten von mehreren Seiten
zusammen; man kam sogar an einem mit schroffen Felsen umgebenen
kleinen See vorbei. Endlich traten einzeln und dann mehr gesellig
Fichten, Lärchen und Birken hervor, dazwischen sodann zerstreute
ländliche Wohnungen, freilich von der kärglichsten Sorte, jede von
ihren Bewohnern selbst zusammengezimmert aus verschränkten Balken,
die großen, schwarzen Schindeln der Dächer mit Steinen beschwert,
damit sie der Wind nicht wegführe. Unerachtet dieser äußern
traurigen Ansicht war der beschränkte innere Raum doch nicht
unangenehm; warm und trocken, auch reichlich gehalten, paßte er gar
gut zu dem frohen Aussehen der Bewohner, bei denen man sich alsobald
ländlich gesellig fühlte.

Der Bote schien erwartet, auch hatte man ihm aus dem kleinen
Schiebefenster entgegengesehen, denn er war gewohnt, wo möglich immer
an demselben Wochentage zu kommen; er handelte das Gespinst ein,
teilte frische Baumwolle aus; dann ging es rasch hinabwärts, wo
mehrere Häuser in geringer Entfernung nahe stehen. Kaum erblickt man
uns, so laufen die Bewohner begrüßend zusammen, Kinder drängen sich
hinzu und werden mit einem Eierbrot, auch einer Semmel hoch erfreut.
Das Behagen war überall groß und vermehrt, als sich zeigte, daß St.
Christoph auch dergleichen aufgepackt und also gleichfalls die Freude
hatte, den kindlichsten Dank einzuernten; um so angenehmer für ihn,
als er sich, wie sein Geselle, mit dem kleinen Volke gar wohl zu
betun wußte.

Die Alten dagegen hielten gar mancherlei Fragen bereit; vom Krieg
wollte jedermann wissen, der glücklicherweise sehr entfernt geführt
wurde und auch näher solchen Gegenden kaum gefährlich gewesen wäre.
Sie freuten sich jedoch des Friedens, obgleich in Sorge wegen einer
andern drohenden Gefahr; denn es war nicht zu leugnen, das
Maschinenwesen vermehre sich immer im Lande und bedrohe die
arbeitsamen Hände nach und nach mit Untätigkeit. Doch ließen sich
allerlei Trost--und Hoffnungsgründe beibringen.

Unser Mann wurde dazwischen wegen manches Lebensfalles um Rat
gefragt, ja sogar mußte er sich nicht allein als Hausfreund, sondern
auch als Hausarzt zeigen; Wundertropfen, Salze, Balsame führte er
jederzeit bei sich.

In die verschiedenen Häuser eintretend fand ich Gelegenheit, meiner
alten Liebhaberei nachzuhängen und mich von der Spinnertechnik zu
unterrichten. Ich ward aufmerksam auf Kinder, welche sich sorgfältig
und emsig beschäftigten, die Flocken der Baumwolle
auseinanderzuzupfen und die Samenkörner, Splitter von den Schalen der
Nüsse nebst andern Unreinigkeiten wegzunehmen; sie nennen es erlesen.
Ich fragte, ob das nur das Geschäft der Kinder sei, erfuhr aber, daß
es in Winterabenden auch von Männern und Brüdern unternommen werde.

Rüstige Spinnerinnen zogen sodann, wie billig, meine Aufmerksamkeit
auf sich; die Vorbereitung geschieht folgendermaßen: Es wird die
erlesene oder gereinigte Baumwolle auf die Karden, welche in
Deutschland Krempel heißen, gleich ausgeteilt, gekardet, wodurch der
Staub davongeht und die Haare der Baumwolle einerlei Richtung
erhalten, dann abgenommen, zu Locken festgewickelt und so zum Spinnen
am Rad zubereitet.

Man zeigte mir dabei den Unterschied zwischen links und rechts
gedrehtem Garn; jenes ist gewöhnlich feiner und wird dadurch bewirkt,
daß man die Saite, welche die Spindel dreht, um den Wirtel
verschränkt, wie die Zeichnung nebenbei deutlich macht (die wir leider
wie die übrigen nicht mitgeben können).

Die Spinnende sitzt vor dem Rade, nicht zu hoch; mehrere hielten
dasselbe mit übereinandergelegten Füßen in festem Stande, andere nur
mit dem rechten Fuß, den linken zurücksetzend. Mit der rechten Hand
dreht sie die Scheibe und langt aus, so weit und so hoch sie nur
reichen kann, wodurch schöne Bewegungen entstehen und eine schlanke
Gestalt sich durch zierliche Wendung des Körpers und runde Fülle der
Arme gar vorteilhaft auszeichnet; die Richtung besonders der letzten
Spinnweise gewährt einen sehr malerischen Kontrast, so daß unsere
schönsten Damen an wahrem Reiz und Anmut zu verlieren nicht fürchten
dürften, wenn sie einmal anstatt der Gitarre das Spinnrad handhaben
wollten.

In einer solchen Umgebung drängten sich neue, eigene Gefühle mir auf,
die schnurrenden Räder haben eine gewisse Beredsamkeit, die Mädchen
singen Psalmen, auch, obwohl seltener, andere Lieder.

Zeisige und Stieglitze, in Käfigen aufgehangen, zwitschern
dazwischen, und nicht leicht möchte ein Bild regeren Lebens gefunden
werden als in einer Stube, wo mehrere Spinnerinnen arbeiten.

Dem beschriebenen Rädligarn ist jedoch das Briefgarn vorzuziehen;
hiezu wird die beste Baumwolle genommen, welche längere Haare hat als
die andere. Ist sie rein gelesen, so bringt man sie, anstatt zu
krempeln, auf Kämme, welche aus einfachen Reihen langer, stählerner
Nadeln bestehen, und kämmt sie; alsdann wird das längere und feinere
Teil derselben mit einem stumpfen Messer bänderweise (das Kunstwort
heißt ein Schnitz) abgenommen, zusammengewickelt und in eine
Papierdüte getan und diese nachher an der Kunkel befestigt. Aus
einer solchen Düte nun wird mit der Spindel von der Hand gesponnen,
daher heißt es aus dem Brief spinnen und das gewonnene Garn Briefgarn.


Dieses Geschäft, welches nur von ruhigen, bedächtigen Personen
getrieben wird, gibt der Spinnerin ein sanfteres Ansehen als das am
Rade; kleidet dies letzte eine große, schlanke Figur zum besten, so
wird durch jenes eine ruhige, zarte Gestalt gar sehr begünstigt.
Dergleichen verschiedene Charaktere, verschiedenen Arbeiten zugetan,
erblickte ich mehrere in einer Stube und wußte zuletzt nicht recht,
ob ich meine Aufmerksamkeit der Arbeit oder den Arbeiterinnen zu
widmen hätte.

Leugnen aber dürft' ich nicht sodann, daß die Bergbewohnerinnen,
durch die seltenen Gäste aufgeregt, sich freundlich und gefällig
erwiesen. Besonders freuten sie sich, daß ich mich nach allem so
genau erkundigte, was sie mir vorsprachen, bemerkte, ihre
Gerätschaften und einfaches Maschinenwerk zeichnete, ja selbst ihre
Arme, Hände und hübschen Glieder mit Zierlichkeit flüchtig
abschilderte, wie hier neben zu sehen sein sollte. Auch ward, als
der Abend hereintrat, die vollbrachte Arbeit vorgewiesen, die vollen
Spindeln in dazu bestimmten Kästchen beiseitegelegt und das ganze
Tagewerk sorgfältig aufgehoben. Nun war man schon bekannter geworden,
die Arbeit jedoch ging ihren Gang; nun beschäftigte man sich mit dem
Haspeln und zeigte schon viel freier teils die Maschine, teils die
Behandlung vor, und ich schrieb sorgfältig auf.

Der Haspel hat Rad und Zeiger, so daß sich bei jedesmaligem Umdrehen
eine Feder hebt, welche niederschlägt, sooft hundert Umgänge auf den
Haspel gekommen sind. Man nennt nun die Zahl von tausend Umgängen
einen Schneller, nach deren Gewicht die verschiedene Feine des Garns
gerechnet wird.

Rechts gedreht Garn gehen 25 bis 30 auf ein Pfund, links gedreht 60
bis 80, vielleicht auch 90. Der Umgang des Haspels wird ungefähr
sieben Viertel Ellen oder etwas mehr betragen, und die schlanke,
fleißige Spinnerin behauptete, 4, auch 5 Schneller, das wären 5 000
Umgänge, also 8 bis 9000 Ellen Garn, täglich am Rad zu spinnen; sie
erbot sich zur Wette, wenn wir noch einen Tag bleiben wollten.

Darauf konnte denn doch die stille und bescheidene Briefspinnerin es
nicht ganz lassen und versicherte: daß sie aus dem Pfund 120
Schneller spinne in verhältnismäßiger Zeit. (Briefgarnspinnen geht
nämlich langsamer als das Spinnen am Rade, wird auch besser bezahlt.
Vielleicht spinnt man am Rade wohl das Doppelte.) Sie hatte eben die
Zahl der Umgänge auf dem Haspel voll und zeigte mir, wie nun das Ende
des Fadens ein paarmal umgeschlagen und geknüpft werde; sie nahm den
Schneller ab, drehte ihn so, daß er in sich zusammenlief, zog das
eine Ende durch und konnte das Geschäft der geübten Spinnerin als
vollbracht mit unschuldiger Selbstgefälligkeit vorzeigen.

Da nun hier weiter nichts zu bemerken war, stand die Mutter auf und
sagte: da der junge Herr doch alles zu sehen wünsche, so wolle sie
ihm nun auch die Trockenweberei zeigen. Sie erklärte mir mit
gleicher Gutmütigkeit, indem sie sich an den Webstuhl setzte, wie sie
nur diese Art handhabten, weil sie eigentlich allein für grobe
Kattune gelte, wo der Einschlag trocken eingetragen und nicht sehr
dicht geschlagen wird; sie zeigte mir denn auch solche trockene Ware;
diese ist immer glatt, ohne Streifen und Quadrate oder sonst irgendein
Abzeichen, und nur fünf bis fünfeinhalbes Viertel Elle breit.

Der Mond leuchtete hell vom Himmel, und unser Garnträger bestand auf
einer weitern Wallfahrt, weil er Tag und Stunde halten und überall
richtig eintreffen müsse; die Fußpfade seien gut und klar, besonders
bei solcher Nachtfackel. Wir von unserer Seite erheiterten den
Abschied durch seidene Bänder und Halstücher, dergleichen Ware St.
Christoph ein ziemliches Paket mit sich trug; das Geschenk wurde der
Mutter gegeben, um es an die Ihrigen zu verteilen.



Dienstags, den 16. Früh.

Die Wanderung durch eine herrliche klare Nacht war voll Anmut und
Erfreulichkeit; wir gelangten zu einer etwas größern
Hüttenversammlung, die man vielleicht hätte ein Dorf nennen dürfen;
in einiger Entfernung davon auf einem freien Hügel stand eine Kapelle,
und es fing schon an, wohnlicher und menschlicher auszusehen. Wir
kamen an Umzäunungen vorbei, die zwar auf keine Gärten, aber doch auf
spärlichen, sorgfältig gehüteten Wieswachs hindeuteten. Wir waren an
einen Ort gelangt, wo neben dem Spinnen das Weben ernstlicher
getrieben wird.

Unsere gestrige Tagereise, bis in die Nacht hinein verlängert, hatte
die rüstigen und jugendlichen Kräfte aufgezehrt; der Garnbote bestieg
den Heuboden, und ich war eben im Begriff, ihm zu folgen, als St.
Christoph mir sein Reff befahl und zur Türe hinausging. Ich kannte
seine löbliche Absicht und ließ ihn gewähren.

Des andern Morgens jedoch war das erste, daß die Familie
zusammenlief und den Kindern streng verboten ward, nicht aus der Türe
zu gehen, indem ein greulicher Bär oder sonst ein Ungetüm in der Nähe
sich aufhalten müsse, denn es habe die Nacht über von der Kapelle her
dergestalt gestöhnt und gebrummt, daß Felsen und Häuser hier hüben
hätten erzittern mögen, und man riet, bei unserer heutigen längeren
Wanderung wohl auf der Hut zu sein. Wir suchten die guten Leute
möglichst zu beruhigen, welches in dieser Einöde jedoch schwer
erschien.

Der Garnbote erklärte nunmehr, daß er eiligst sein Geschäft abtun
und alsdann kommen wolle, uns abzuholen, denn wir hätten heute einen
langen und beschwerlichen Weg vor uns, weil wir nicht mehr so im Tale
nur hinabschlendern, sondern einen vorgeschobenen Gebirgsriegel
mühsam überklettern würden. Ich entschloß mich daher, die Zeit so gut
als möglich zu nutzen und mich von unsern guten Wirtsleuten in die
Vorhalle des Webens einführen zu lassen.

Beide waren ältliche Leute, in späteren Tagen noch mit zwei, drei
Kindern gesegnet; religiöse Gefühle und ahnungsvolle Vorstellungen
ward man an ihrer Umgebung, Tun und Reden gar bald gewahr. Ich kam
gerade zum Anfang einer solchen Arbeit, dem übergang vom Spinnen zum
Weben, und da ich zu keiner weitern Zerstreuung Anlaß fand, so ließ
ich mir das Geschäft, wie es eben gerade im Gange war, in meine
Schreibtafel gleichsam diktieren.

Die erste Arbeit, das Garn zu leimen, war gestern verrichtet. Man
siedet solches zu einem dünnen Leimwasser, welches aus Stärkemehl und
etwas Tischlerleim besteht, wodurch die Fäden mehr Halt bekommen.
Früh waren die Garnstränge schon trocken, und man bereitete sich zu
spulen, nämlich das Garn am Rade auf Rohrspulen zu winden. Der alte
Großvater, am Ofen sitzend, verrichtete diese leichte Arbeit, ein
Enkel stand neben ihm und schien begierig, das Spulrad selbst zu
handhaben. Indessen steckte der Vater die Spulen, um zu zetteln, auf
einen mit Querstäben abgeteilten Rahmen, so daß sie sich frei um
perpendikulär stehende starke Drähte bewegten und den Faden ablaufen
ließen. Sie werden mit gröberm und feinerm Garn in der Ordnung
aufgesteckt, wie das Muster oder vielmehr die Striche im Gewebe es
erfordern. Ein Instrument (das Brittli), ungefähr wie ein Sistrum
gestaltet, hat Löcher auf beiden Seiten, durch welche die Fäden
gezogen sind; dieses befindet sich in der Rechten des Zettlers, mit
der Linken faßt er die Fäden zusammen und legt sie, hin und wider
gehend, auf den Zettelrahmen. Einmal von oben herunter und von unten
herauf heißt ein Gang, und nach Verhältnis der Dichtigkeit und Breite
des Gewebes macht man viele Gänge. Die Länge beträgt entweder 64
oder nur 32 Ellen. Beim Anfang eines jeden Ganges legt man mit den
Fingern der linken Hand immer einen oder zwei Fäden herauf und
ebensoviel herunter und nennt solches die Rispe; so werden die
verschränkten Fäden über die zwei oben an dem Zettelrahmen
angebrachten Nägel gelegt. Dieses geschieht, damit der Weber die
Fäden in gehörig gleicher Ordnung erhalten kann. Ist man mit dem
Zetteln fertig, so wird das Gerispe unterbunden und dabei ein jeder
Gang besonders abgeteilt, damit sich nichts verwirren kann; sodann
werden mit aufgelöstem Grünspan am letzten Gang Male gemacht, damit
der Weber das gehörige Maß wieder bringe; endlich wird abgenommen,
das Ganze in Gestalt eines großen Knäuels aufgewunden, welcher die
Werfte genannt wird.



Mittwoch, den 17.

Wir waren früh vor Tage aufgebrochen und genossen eines herrlichen
verspäteten Mondscheins. Die hervorbrechende Helle, die aufgehende
Sonne ließ uns ein besser bewohntes und bebautes Land sehen. Hatten
wir oben, um über Bäche zu kommen, Schrittsteine oder zuweilen einen
schmalen Steg, nur an der einen Seite mit Lehne versehen, angetroffen,
so waren hier schon steinerne Brücken über das immer breiter werdende
Wasser geschlagen; das Anmutige wollte sich nach und nach mit dem
Wilden gatten, und ein erfreulicher Eindruck ward von den sämtlichen
Wanderern empfunden.

über den Berg herüber, aus einer andern Flußregion, kam ein
schlanker, schwarzlockiger Mann hergeschritten und rief schon von
weitem, als einer, der gute Augen und eine tüchtige Stimme hat:
"Grüß' Euch Gott, Gevatter Garnträger!" Dieser ließ ihn näher
herankommen, dann rief auch er mit Verwunderung: "Dank' Euch Gott,
Gevatter Geschirrfasser! Woher des Landes? welche unerwartete
Begegnung!" Jener antwortete herantretend: "Schon zwei Monate
schreit' ich im Gebirg herum, allen guten Leuten ihr Geschirr
zurechtzumachen und ihre Stühle so einzurichten, daß sie wieder eine
Zeitlang ungestört fortarbeiten können." Hierauf sprach der Garnbote,
sich zu mir wendend: "Da Ihr, junger Herr, so viel Lust und Liebe zu
dem Geschäft beweist und Euch sorgfältig drum bekümmert, so kommt
dieser Mann gerade zur rechten Zeit, den ich Euch in diesen Tagen
schon still herbeigewünscht hatte, er würde Euch alles besser erklärt
haben als die Mädchen mit allem guten Willen; er ist Meister in seinem
Geschäft und versteht, was zur Spinnerei und dergleichen gehört,
vollkommen anzugeben, auszuführen, zu erhalten, wiederherzustellen,
wie es not tut und es jeder nur wünschen mag."

Ich besprach mich mit ihm und fand einen sehr verständigen, in
gewissem Sinne gebildeten, seiner Sache völlig gewachsenen Mann,
indem ich einiges, was ich dieser Tage gelernt hatte, mit ihm
wiederholte und einige Zweifel zu lösen bat; auch sagt' ich ihm, was
ich gestern schon von den Anfängen der Weberei gesehen. Jener rief
dagegen freudig aus: "Das ist recht erwünscht, da komm' ich gerade
zur rechten Zeit, um einem so werten, lieben Herrn über die älteste
und herrlichste Kunst, die den Menschen eigentlich zuerst vom Tiere
unterscheidet, die nötige Auskunft zu geben. Wir gelangen heute
gerade zu guten und geschickten Leuten, und ich will nicht
Geschirrfasser heißen, wenn Ihr nicht sogleich das Handwerk so gut
fassen sollt wie ich selbst."

Ihm wurde freundlicher Dank gezollt, das Gespräch mannigfaltig
fortgesetzt, und wir gelangten, nach einigem Rasten und Frühstück, zu
einer zwar auch unter--und übereinander, doch besser gebauten
Häusergruppe. Er wies uns an das beste. Der Garnbote ging mit mir
und St. Christoph nach Abrede zuerst hinein, sodann aber, nach den
ersten Begrüßungen und einigen Scherzen, folgte der Schirrfasser, und
es war auffallend, daß sein Hereintreten eine freudige überraschung
in der Familie hervorbrachte. Vater, Mutter, Töchter und Kinder
versammelten sich um ihn; einem am Weberstuhl sitzenden,
wohlgebildeten Mädchen stockte das Schiffchen in der Hand, das just
durch den Zettel durchfahren sollte, ebenso hielt sie auch den Tritt
an, stand auf und kam später, mit langsamer Verlegenheit ihm die Hand
zu reichen. Beide, der Garnbote sowohl als der Schirrfasser, setzten
sich bald durch Scherz und Erzählung wieder in das alte Recht,
welches Hausfreunden gebührt, und nachdem man sich eine Zeitlang
gelabt, wendete sich der wackere Mann zu mir und sagte: "Sie, mein
guter Herr, dürfen wir über diese Freude des Wiedersehens nicht
hintansetzen: wir können noch tagelang miteinander schnacken; Sie
müssen morgen fort. Lassen wir den Herrn in das Geheimnis unserer
Kunst sehen; Leimen und Zetteln kennt er, zeigen wir ihm das übrige
vor, die Jungfrauen da sind mir ja wohl behülflich. Ich sehe, an
diesem Stuhl ist man beim Aufwinden." Das Geschäft war der jüngeren,
zu der sie traten. Die ältere setzte sich wieder an ihren Webstuhl
und verfolgte mit stiller, liebevoller Miene ihre lebhafte Arbeit.

Ich betrachtete nun sorgfältig das Aufwinden. Zu diesem Zweck läßt
man die Gänge des Zettels nach der Ordnung durch einen großen Kamm
laufen, der eben die Breite des Weberbaums hat, auf welchen
aufgewunden werden soll; dieser ist mit einem Einschnitt versehen,
worin ein rundes Stäbchen liegt, welches durch das Ende des Zettels
durchgesteckt und in dem Einschnitt befestigt wird. Ein kleiner
Junge oder Mädchen sitzt unter dem Weberstuhle und hält den Strang
des Zettels stark an, während die Weberin den Weberbaurn an einem
Hebel gewaltsam umdreht und zugleich achtgibt, daß alles in der
Ordnung zu liegen komme. Wenn alles aufgewunden ist, so werden durch
die Rispe ein runder und zwei flache Stäbe, Schienen, gestoßen, damit
sie sich halte, und nun beginnt das Eindrehen.

Vom alten Gewebe ist noch etwa eine Viertelelle am zweiten Weberbaum
übriggeblieben, und von diesem laufen etwa drei Viertelellen lang die
Fäden durch das Blatt in der Lade sowohl als durch die Flügel des
Geschirrs. An diese Fäden nun dreht die Weberin die Fäden des neuen
Zettels, einen um den andern, sorgfältig an, und wenn sie fertig ist,
wird alles Angedrehte auf einmal durchgezogen, so daß die neuen Fäden
bis an den noch leeren vordern Weberbaum reichen; die abgerissenen
Fäden werden angeknüpft, der Eintrag auf kleine Spulen gewunden, wie
sie ins Weberschiffchen passen, und die letzte Vorbereitung zum Weben
gemacht, nämlich geschlichtet.

So lang der Weberstuhl ist, wird der Zettel mit einem Leimwasser,
aus Handschuhleder bereitet, vermittelst eingetauchter Bürsten durch
und durch angefeuchtet, sodann werden die obengedachten Schienen, die
das Gerispe halten, zurückgezogen, alle Fäden aufs genaueste in
Ordnung gelegt und alles so lange mit einem an einen Stab gebundenen
Gänseflügel gefächelt, bis es trocken ist, und nun kann das Weben
begonnen und fortgesetzt werden, bis es wieder nötig wird zu
schlichten.

Das Schlichten und Fächeln ist gewöhnlich jungen Leuten überlassen,
welche zu dem Webergeschäft herangezogen werden, oder in der Muße der
Winterabende leistet ein Bruder oder ein Liebhaber der hübschen
Weberin diesen Dienst, oder diese machen wenigstens die kleinen
Spülchen mit dem Eintragsgarn.

Feine Musseline werden naß gewebt, nämlich der Strang des
Einschlagegarns wird in Leimwasser getaucht, noch naß auf die kleinen
Spulen gewunden und sogleich verarbeitet, wodurch sich das Gewebe
gleicher schlagen läßt und klarer erscheint.



Donnerstag, den 18. September.

Ich fand überhaupt etwas Geschäftiges, unbeschreiblich Belebtes,
Häusliches, Friedliches in dem ganzen Zustand einer solchen
Weberstube; mehrere Stühle waren in Bewegung, da gingen noch
Spinn--und Spulräder, und am Ofen die Alten mit den besuchenden
Nachbarn oder Bekannten sitzend und trauliche Gespräche führend.
Zwischendurch ließ sich wohl auch Gesang hören, meistens Ambrosius
Lobwassers vierstimmige Psalmen, seltener weltliche Lieder; dann
bricht auch wohl ein fröhlich schallendes Gelächter der Mädchen aus,
wenn Vetter Jakob einen witzigen Einfall gesagt hat.

Eine recht flinke und zugleich fleißige Weberin kann, wenn sie Hülfe
hat, allenfalls in einer Woche ein Stück von 32 Ellen nicht gar zu
feine Musseline zustande bringen; es ist aber sehr selten, und bei
einigen Hausgeschäften ist solches gewöhnlich die Arbeit von vierzehn
Tagen.

Die Schönheit des Gewebes hängt vom gleichen Auftreten des
Webegeschirres ab, vom gleichen Schlag der Lade, wie auch davon, ob
der Eintrag naß oder trocken geschieht. Völlig egale und zugleich
kräftige Anspannung trägt ebenfalls bei, zu welchem Ende die Weberin
feiner baumwollener Tücher einen schweren Stein an den Nagel des
vordern Weberbaums hängt. Wenn während der Arbeit das Gewebe kräftig
angespannt wird (das Kunstwort heißt dämmen), so verlängert es sich
merklich, auf 32 Ellen 3/4 und auf 64 etwa 1 1/2 Elle; dieser
überschuß nun gehört der Weberin, wird ihr extra bezahlt, oder sie
hebt sich's zu Halstüchern, Schürzen usw. auf.





In der klarsten, sanftesten Mondnacht, wie sie nur in hohen
Gebirgszügen obwaltet, saß die Familie mit ihren Gästen vor der
Haustüre im lebhaftesten Gespräch, Lenardo in tiefen Gedanken. Schon
unter allem dem Weben und Wirken und so manchen handwerklichen
Betrachtungen und Bemerkungen war ihm jener von Freund Wilhelm zu
seiner Beruhigung geschriebene Brief wieder ins Gedächtnis gekommen.
Die Worte, die er so oft gelesen, die Zeilen, die er mehrmals
angeschaut, stellten sich wieder seinem innern Sinne dar. Und wie
eine Lieblingsmelodie, ehe wir uns versehen, auf einmal dem tiefsten
Gehör leise hervortritt, so wiederholte sich jene zarte Mitteilung in
der stillen, sich selbst angehörigen Seele.

"Häuslicher Zustand, auf Frömmigkeit gegründet, durch Fleiß und
Ordnung belebt und erhalten, nicht zu eng, nicht zu weit, im
glücklichsten Verhältnis der Pflichten zu den Fähigkeiten und Kräften.
Um sie her bewegt sich ein Kreislauf von Handarbeitenden im
reinsten, anfänglichsten Sinne; hier ist Beschränktheit und Wirkung in
die Ferne, Umsicht und Mäßigung, Unschuld und Tätigkeit."

Aber diesmal mehr aufregend als beschwichtigend war die Erinnerung.
"Paßt doch", sprach er zu sich selbst, "diese allgemein lakonische
Beschreibung ganz und gar auf den Zustand, der mich hier umgibt. Ist
nicht auch hier Friede, Frömmigkeit, ununterbrochene Tätigkeit? Nur
eine Wirkung in die Ferne will mir nicht gleichermaßen deutlich
scheinen. Mag doch die Gute einen ähnlichen Kreis beleben, aber einen
weitern, einen bessern; sie mag sich behaglich wie diese hier,
vielleicht noch behaglicher, finden, mit mehr Heiterkeit und Freiheit
umherschauen."

Nun aber durch ein lebhaftes, sich steigerndes Gespräch der übrigen
aufgeregt, mehr Acht habend auf das, was verhandelt wurde, ward ihm
ein Gedanke, den er diese Stunden her gehegt, vollkommen lebendig.
Sollte nicht eben dieser Mann, dieser mit Werkzeug und Geschirr so
meisterhaft umgehende, für unsre Gesellschaft das nützlichste
Mitglied werden können? Er überlegte das und alles, wie ihm die
Vorzüge dieses gewandten Arbeiters schon stark in die Augen
geleuchtet. Er lenkte daher das Gespräch dahin und machte, zwar wie
im Scherze, aber desto unbewundender, jenem den Antrag, ob er sich
nicht mit einer bedeutenden Gesellschaft verbinden und den Versuch
machen wolle, übers Meer auszuwandern.

Jener entschuldigte sich, gleichfalls heiter beteuernd, daß es ihm
hier wohl gehe, daß er noch Besseres erwarte; in dieser Landesart sei
er geboren, darin gewöhnt, weit und breit bekannt und überall
vertraulich aufgenommen. überhaupt werde man in diesen Tälern keine
Neigung zur Auswanderung finden, keine Not ängstige sie und ein Gebirg
halte seine Leute fest.

"Deswegen wundert's mich", sagte der Garnbote, "daß es heißen will,
Frau Susanne werde den Faktor heiraten, ihr Besitztum verkaufen und
mit schönem Geld übers Meer ziehen." Auf Befragen erfuhr unser
Freund, es sei eine junge Witwe, die in guten Umständen ein
reichliches Gewerbe mit den Erzeugnissen des Gebirges betreibe, wovon
sich der wandernd Reisende morgen gleich selbst überzeugen könne,
indem man auf dem eingeschlagenen Wege zeitig bei ihr eintreffen
werde. "Ich habe sie schon verschiedentlich nennen hören", versetzte
Lenardo, "als belebend und wohltätig in diesem Tale, und versäumte,
nach ihr zu fragen."

"Gehen wir aber zur Ruh", sagte der Garnbote, "um den morgenden Tag,
der heiter zu werden verspricht, von früh auf zu nutzen."





Hier endigte das Manuskript, und als Wilhelm nach der Fortsetzung
verlangte, hatte er zu erfahren, daß sie gegenwärtig nicht in den
Händen der Freunde sei. Sie ward, sagte man, an Makarien gesendet,
welche gewisse Verwicklungen, deren darin gedacht worden, durch Geist
und Liebe schlichten und bedenkliche Verknüpfungen auflösen solle.
--Der Freund mußte sich diese Unterbrechung gefallen lassen und sich
bereiten, an einem geselligen Abend, in heiterer Unterhaltung,
Vergnügen zu finden.





Sechstes Kapitel

Als der Abend herbeikam und die Freunde in einer weit
umherschauenden Laube saßen, trat eine ansehnliche Figur auf die
Schwelle, welche unser Freund sogleich für den Barbier von heute früh
erkannte. Auf einen tiefen, stummen Bückling des Mannes erwiderte
Lenardo: "Ihr kommt, wie immer, sehr gelegen und werdet nicht säumen,
uns mit Eurem Talent zu erfreuen. Ich kann Ihnen wohl", fuhr er zu
Wilhelmen gewendet fort, "einiges von der Gesellschaft erzählen,
deren Band zu sein ich mich rühmen darf. Niemand tritt in unsern
Kreis, als wer gewisse Talente aufzuweisen hat, die zum Nutzen oder
Vergnügen einer jeden Gesellschaft dienen würden. Dieser Mann ist
ein derber Wundarzt, der in bedenklichen Fällen, wo Entschluß und
körperliche Kraft gefordert wird, seinem Meister trefflich an der
Seite zu stehen bereit ist. Was er als Bartkünstler leistet, davon
können Sie ihm selbst ein Zeugnis geben. Hiedurch ist er uns ebenso
nötig als willkommen. Da nun aber diese Beschäftigung gewöhnlich
eine große und oft lästige Geschwätzigkeit mit sich führt, so hat er
sich zu eigner Bildung eine Bedingung gefallen lassen; wie denn jeder,
der unter uns leben will, sich von einer gewissen Seite bedingen muß,
wenn ihm nach anderen Seiten hin die größere Freiheit gewährt ist.
Dieser also hat nun auf die Sprache Verzicht getan, insofern etwas
Gewöhnliches oder Zufälliges durch sie ausgedrückt wird; daraus aber
hat sich ihm ein anderes Redetalent entwickelt, welches absichtlich,
klug und erfreulich wirkt, die Gabe des Erzählens nämlich.

Sein Leben ist reich an wunderlichen Erfahrungen, die er sonst zu
ungelegener Zeit schwätzend zersplitterte, nun aber, durch Schweigen
genötigt, im stillen Sinne wiederholt und ordnet. Hiermit verbindet
sich denn die Einbildungskraft und verleiht dem Geschehenen Leben und
Bewegung. Mit besonderer Kunst und Geschicklichkeit weiß er wahrhafte
Märchen und märchenhafte Geschichten zu erzählen, wodurch er oft zur
schicklichen Stunde uns gar sehr ergötzt, wenn ihm die Zunge durch
mich gelöst wird; wie ich denn gegenwärtig tue und ihm zugleich das
Lob erteile, daß er sich in geraumer Zeit, seitdem ich ihn kenne, noch
niemals wiederholt hat. Nun hoff' ich, daß er auch diesmal, unserm
teuren Gast zu Lieb' und Ehren, sich besonders hervortun werde."

über das Gesicht des Rotmantels verbreitete sich eine geistreiche
Heiterkeit, und er fing ungesäumt folgendermaßen zu sprechen an. Die
neue Melusine

Hochverehrte Herren! Da mir bekannt ist, daß Sie vorläufige Reden
und Einleitungen nicht besonders lieben, so will ich ohne weiteres
versichern, daß ich diesmal vorzüglich gut zu bestehen hoffe. Von
mir sind zwar schon gar manche wahrhafte Geschichten zu hoher und
allseitiger Zufriedenheit ausgegangen, heute aber darf ich sagen, daß
ich eine zu erzählen habe, welche die bisherigen weit übertrifft und
die, wiewohl sie mir schon vor einigen Jahren begegnet ist, mich noch
immer in der Erinnerung unruhig macht, ja sogar eine endliche
Entwicklung hoffen läßt. Sie möchte schwerlich ihresgleichen finden.

Vorerst sei gestanden, daß ich meinen Lebenswandel nicht immer so
eingerichtet, um der nächsten Zeit, ja des nächsten Tages ganz sicher
zu sein. Ich war in meiner Jugend kein guter Wirt und fand mich oft
in mancherlei Verlegenheit. Einst nahm ich mir eine Reise vor, die
mir guten Gewinn verschaffen sollte; aber ich machte meinen Zuschnitt
ein wenig zu groß, und nachdem ich sie mit Extrapost angefangen und
sodann auf der ordinären eine Zeitlang fortgesetzt hatte, fand ich
mich zuletzt genötigt, dem Ende derselben zu Fuße entgegenzugehen.





Als ein lebhafter Bursche hatte ich von jeher die Gewohnheit, sobald
ich in ein Wirtshaus kam, mich nach der Wirtin oder auch nach der
Köchin umzusehen und mich schmeichlerisch gegen sie zu bezeigen,
wodurch denn meine Zeche meistens vermindert wurde.

Eines Abends, als ich in das Posthaus eines kleinen Städtchens trat
und eben nach meiner hergebrachten Weise verfahren wollte, rasselte
gleich hinter mir ein schöner zweisitziger Wagen, mit vier Pferden
bespannt, an der Türe vor. Ich wendete mich um und sah ein
Frauenzimmer allein, ohne Kammerfrau, ohne Bedienten. Ich eilte
sogleich, ihr den Schlag zu eröffnen und zu fragen, ob sie etwas zu
befehlen habe. Beim Aussteigen zeigte sich eine schöne Gestalt, und
ihr liebenswürdiges Gesicht war, wenn man es näher betrachtete, mit
einem kleinen Zug von Traurigkeit geschmückt. Ich fragte nochmals, ob
ich ihr in etwas dienen könne.--"O ja!" sagte sie, "wenn Sie mir mit
Sorgfalt das Kästchen, das auf dem Sitze steht, herausheben und
hinauftragen wollen; aber ich bitte gar sehr, es recht stät zu tragen
und im mindesten nicht zu bewegen oder zu rütteln." Ich nahm das
Kästchen mit Sorgfalt, sie verschloß den Kutschenschlag, wir stiegen
zusammen die Treppe hinauf, und sie sagte dem Gesinde, daß sie diese
Nacht hier bleiben würde.

Nun waren wir allein in dem Zimmer, sie hieß mich das Kästchen auf
den Tisch setzen, der an der Wand stand, und als ich an einigen ihrer
Bewegungen merkte, daß sie allein zu sein wünschte, empfahl ich mich,
indem ich ihr ehrerbietig, aber feurig die Hand küßte.

"Bestellen Sie das Abendessen für uns beide", sagte sie darauf; und
es läßt sich denken, mit welchem Vergnügen ich diesen Auftrag
ausrichtete, wobei ich denn zugleich in meinem übermut Wirt, Wirtin
und Gesinde kaum über die Achsel ansah. Mit Ungeduld erwartete ich
den Augenblick, der mich endlich wieder zu ihr führen sollte. Es war
aufgetragen, wir setzten uns gegen einander über, ich labte mich zum
erstenmal seit geraumer Zeit an einem guten Essen und zugleich an
einem so erwünschten Anblick; ja mir kam es vor, als wenn sie mit
jeder Minute schöner würde.

Ihre Unterhaltung war angenehm, doch suchte sie alles abzulehnen,
was sich auf Neigung und Liebe bezog. Es ward abgeräumt; ich
zauderte, ich suchte allerlei Kunstgriffe, mich ihr zu nähern, aber
vergebens: sie hielt mich durch eine gewisse Würde zurück, der ich
nicht widerstehen konnte, ja ich mußte wider meinen Willen zeitig
genug von ihr scheiden.

Nach einer meist durchwachten und unruhig durchträumten Nacht war
ich früh auf, erkundigte mich, ob sie Pferde bestellt habe; ich hörte
nein und ging in den Garten, sah sie angekleidet am Fenster stehen
und eilte zu ihr hinauf. Als sie mir so schön und schöner als
gestern entgegenkam, regte sich auf einmal in mir Neigung, Schalkheit
und Verwegenheit; ich stürzte auf sie zu und faßte sie in meine Arme.
"Englisches, unwiderstehliches Wesen!" rief ich aus: "verzeih, aber
es ist unmöglich!" Mit unglaublicher Gewandtheit entzog sie sich
meinen Armen, und ich hatte ihr nicht einmal einen Kuß auf die Wange
drücken können. "Halten Sie solche Ausbrüche einer plötzlichen
leidenschaftlichen Neigung zurück, wenn Sie ein Glück nicht
verscherzen wollen, das Ihnen sehr nahe liegt, das aber erst nach
einigen Prüfungen ergriffen werden kann."

"Fordere, was du willst, englischer Geist!" rief ich aus, "aber
bringe mich nicht zur Verzweiflung." Sie versetzte lächelnd: "Wollen
Sie sich meinem Dienste widmen, so hören Sie die Bedingungen! Ich
komme hierher, eine Freundin zu besuchen, bei der ich einige Tage zu
verweilen gedenke; indessen wünsche ich, daß mein Wagen und dies
Kästchen weitergebracht werden. Wollen Sie es übernehmen? Sie haben
dabei nichts zu tun, als das Kästchen mit Behutsamkeit in und aus dem
Wagen zu heben; wenn es darin steht, sich daneben zu setzen und jede
Sorge dafür zu tragen. Kommen Sie in ein Wirtshaus, so wird es auf
einen Tisch gestellt, in eine besondere Stube, in der Sie weder
wohnen noch schlafen dürfen. Sie verschließen die Zimmer jedesmal
mit diesem Schlüssel, der alle Schlösser auf--und zuschließt und dem
Schlosse die besondere Eigenschaft gibt, daß es niemand in der
Zwischenzeit zu eröffnen imstande ist."

Ich sah sie an, mir ward sonderbar zumute; ich versprach, alles zu
tun, wenn ich hoffen könnte, sie bald wieder zu sehen, und wenn sie
mir diese Hoffnung mit einem Kuß besiegelte. Sie tat es, und von dem
Augenblick an war ich ihr ganz leibeigen geworden. Ich sollte nun
die Pferde bestellen, sagte sie. Wir besprachen den Weg, den ich
nehmen, die Orte, wo ich mich aufhalten und sie erwarten sollte. Sie
drückte mir zuletzt einen Beutel mit Gold in die Hand, und ich meine
Lippen auf ihre Hände. Sie schien gerührt beim Abschied, und ich
wußte schon nicht mehr, was ich tat oder tun sollte.

Als ich von meiner Bestellung zurückkam, fand ich die Stubentür
verschlossen. Ich versuchte gleich meinen Hauptschlüssel, und er
machte sein Probestück vollkommen. Die Türe sprang auf, ich fand das
Zimmer leer, nur das Kästchen stand auf dem Tische, wo ich es
hingestellt hatte.

Der Wagen war vorgefahren, ich trug das Kästchen sorgfältig hinunter
und setzte es neben mich. Die Wirtin fragte: "Wo ist denn die Dame?"
Ein Kind antwortete: "Sie ist in die Stadt gegangen." Ich begrüßte
die Leute und fuhr wie im Triumph von hinnen, der ich gestern abend
mit bestaubten Gamaschen hier angekommen war. Daß ich nun bei guter
Muße diese Geschichte hin und her überlegte, das Geld zählte,
mancherlei Entwürfe machte und immer gelegentlich nach dem Kästchen
schielte, können Sie leicht denken. Ich fuhr nun stracks vor mich
hin, stieg mehrere Stationen nicht aus und rastete nicht, bis ich zu
einer ansehnlichen Stadt gelangt war, wohin sie mich beschieden hatte.
Ihre Befehle wurden sorgfältig beobachtet, das Kästchen in ein
besonderes Zimmer gestellt und ein paar Wachslichter daneben,
unangezündet, wie sie auch verordnet hatte. Ich verschloß das Zimmer,
richtete mich in dem meinigen ein und tat mir etwas zugute.

Eine Weile konnte ich mich mit dem Andenken an sie beschäftigen,
aber gar bald wurde mir die Zeit lang. Ich war nicht gewohnt, ohne
Gesellschaft zu leben; diese fand ich bald an Wirtstafeln und an
öffentlichen Orten nach meinem Sinne. Mein Geld fing bei dieser
Gelegenheit an zu schmelzen und verlor sich eines Abends völlig aus
meinem Beutel, als ich mich unvorsichtig einem leidenschaftlichen
Spiel überlassen hatte. Auf meinem Zimmer angekommen, war ich außer
mir. Von Geld entblößt, mit dem Ansehen eines reichen Mannes eine
tüchtige Zeche erwartend, ungewiß, ob und wann meine Schöne sich
wieder zeigen würde, war ich in der größten Verlegenheit. Doppelt
sehnte ich mich nach ihr und glaubte nun gar nicht mehr ohne sie und
ohne ihr Geld leben zu können.

Nach dem Abendessen, das mir gar nicht geschmeckt hatte, weil ich es
diesmal einsam zu genießen genötigt worden, ging ich in dem Zimmer
lebhaft auf und ab, sprach mit mir selbst, verwünschte mich, warf
mich auf den Boden, zerraufte mir die Haare und erzeigte mich ganz
ungebärdig. Auf einmal höre ich in dem verschlossenen Zimmer nebenan
eine leise Bewegung und kurz nachher an der wohlverwahrten Türe
pochen. Ich raffe mich zusammen, greife nach dem Hauptschlüssel,
aber die Flügeltüren springen von selbst auf, und im Schein jener
brennenden Wachslichter kommt mir meine Schöne entgegen. Ich werfe
mich ihr zu Füßen, küsse ihr Kleid, ihre Hände, sie hebt mich auf,
ich wage nicht, sie zu umarmen, kaum sie anzusehen; doch gestehe ich
ihr aufrichtig und reuig meinen Fehler. "Er ist zu verzeihen", sagte
sie, "nur verspätet Ihr leider Euer Glück und meines. Ihr müßt nun
abermals eine Strecke in die Welt hineinfahren, ehe wir uns wieder
sehen. Hier ist noch mehr Gold", sagte sie, "und hinreichend, wenn
Ihr einigermaßen haushalten wollt. Hat Euch aber diesmal Wein und
Spiel in Verlegenheit gesetzt, so hütet Euch nun vor Wein und Weibern
und laßt mich auf ein fröhlicheres Wiedersehen hoffen."

Sie trat über die Schwelle zurück, die Flügel schlugen zusammen, ich
pochte, ich bat, aber nichts ließ sich weiter hören. Als ich den
andern Morgen die Zeche verlangte, lächelte der Kellner und sagte:
"So wissen wir doch, warum Ihr Eure Türen auf eine so künstliche und
unbegreifliche Weise verschließt, daß kein Hauptschlüssel sie öffnen
kann. Wir vermuteten bei Euch viel Geld und Kostbarkeiten; nun aber
haben wir den Schatz die Treppe hinuntergehen sehn, und auf alle
Weise schien er würdig, wohl verwahrt zu werden."

Ich erwiderte nichts dagegen, zahlte meine Rechnung und stieg mit
meinem Kästchen in den Wagen. Ich fuhr nun wieder in die Welt hinein
mit dem festesten Vorsatz, auf die Warnung meiner geheimnisvollen
Freundin künftig zu achten. Doch war ich kaum abermals in einer
großen Stadt angelangt, so ward ich bald mit liebenswürdigen
Frauenzimmern bekannt, von denen ich mich durchaus nicht losreißen
konnte. Sie schienen mir ihre Gunst teuer anrechnen zu wollen; denn
indem sie mich immer in einiger Entfernung hielten, verleiteten sie
mich zu einer Ausgabe nach der andern, und da ich nur suchte, ihr
Vergnügen zu befördern, dachte ich abermals nicht an meinen Beutel,
sondern zahlte und spendete immerfort, so wie es eben vorkam. Wie
groß war daher meine Verwunderung und mein Vergnügen, als ich nach
einigen Wochen bemerkte, daß die Fülle des Beutels noch nicht
abgenommen hatte, sondern daß er noch so rund und strotzend war wie
anfangs. Ich wollte mich dieser schönen Eigenschaft näher versichern,
setzte mich hin zu zählen, merkte mir die Summe genau und fing nun an,
mit meiner Gesellschaft lustig zu leben wie vorher. Da fehlte es
nicht an Land--und Wasserfahrten, an Tanz, Gesang und andern
Vergnügungen. Nun bedurfte es aber keiner großen Aufmerksamkeit, um
gewahr zu werden, daß der Beutel wirklich abnahm, eben als wenn ich
ihm durch mein verwünschtes Zählen die Tugend, unzählbar zu sein,
entwendet hätte. Indessen war das Freudenleben einmal im Gange, ich
konnte nicht zurück, und doch war ich mit meiner Barschaft bald am
Ende. Ich verwünschte meine Lage, schalt auf meine Freundin, die mich
so in Versuchung geführt hatte, nahm es ihr übel auf, daß sie sich
nicht wieder sehen lassen, sagte mich im ärger von allen Pflichten
gegen sie los und nahm mir vor, das Kästchen zu öffnen, ob vielleicht
in demselben einige Hülfe zu finden sei. Denn war es gleich nicht
schwer genug, um Geld zu enthalten, so konnten doch Juwelen darin
sein, und auch diese wären mir sehr willkommen gewesen. Ich war im
Begriff, den Vorsatz auszuführen, doch verschob ich ihn auf die Nacht,
um die Operation recht ruhig vorzunehmen, und eilte zu einem Bankett,
das eben angesagt war. Da ging es denn wieder hoch her, und wir waren
durch Wein und Trompetenschall mächtig aufgeregt, als mir der
unangenehme Streich passierte, daß beim Nachtische ein älterer Freund
meiner liebsten Schönheit, von Reisen kommend, unvermutet hereintrat,
sich zu ihr setzte und ohne große Umstände seine alten Rechte geltend
zu machen suchte. Daraus entstand nun bald Unwille, Hader und Streit;
wir zogen vom Leder, und ich ward mit mehreren Wunden halbtot nach
Hause getragen.

Der Chirurgus hatte mich verbunden und verlassen, es war schon tief
in der Nacht, mein Wärter eingeschlafen; die Tür des Seitenzimmers
ging auf, meine geheimnisvolle Freundin trat herein und setzte sich
zu mir ans Bette. Sie fragte nach meinem Befinden; ich antwortete
nicht, denn ich war matt und verdrießlich. Sie fuhr fort, mit vielem
Anteil zu sprechen, rieb mir die Schläfe mit einem gewissen Balsam,
so daß ich mich geschwind und entschieden gestärkt fühlte, so
gestärkt, daß ich mich erzürnen und sie ausschelten konnte. In einer
heftigen Rede warf ich alle Schuld meines Unglücks auf sie, auf die
Leidenschaft, die sie mir eingeflößt, auf ihr Erscheinen, ihr
Verschwinden, auf die Langeweile, auf die Sehnsucht, die ich
empfinden mußte. Ich ward immer heftiger und heftiger, als wenn mich
ein Fieber anfiele, und ich schwur ihr zuletzt, daß, wenn sie nicht
die Meinige sein, mir diesmal nicht angehören und sich mit mir
verbinden wolle, so verlange ich nicht länger zu leben; worauf ich
entschiedene Antwort forderte. Als sie zaudernd mit einer Erklärung
zurückhielt, geriet ich ganz außer mir, riß den doppelten und
dreifachen Verband von den Wunden, mit der entschiedenen Absicht, mich
zu verbluten. Aber wie erstaunte ich, als ich meine Wunden alle
geheilt, meinen Körper schmuck und glänzend und sie in meinen Armen
fand.

Nun waren wir das glücklichste Paar von der Welt. Wir baten
einander wechselseitig um Verzeihung und wußten selbst nicht recht
warum. Sie versprach nun, mit mir weiterzureisen, und bald saßen wir
nebeneinander im Wagen, das Kästchen gegen uns über, am Platze der
dritten Person. Ich hatte desselben niemals gegen sie erwähnt; auch
jetzt fiel mir's nicht ein, davon zu reden, ob es uns gleich vor den
Augen stand und wir durch eine stillschweigende übereinkunft beide
dafür sorgten, wie es etwa die Gelegenheit geben mochte; nur daß ich
es immer in und aus dem Wagen hob und mich wie vormals mit dem
Verschluß der Türen beschäftigte.

Solange noch etwas im Beutel war, hatte ich immer fortbezahlt; als
es mit meiner Barschaft zu Ende ging, ließ ich sie es merken.--"Dafür
ist leicht Rat geschafft", sagte sie und deutete auf ein Paar kleine
Taschen, oben an der Seite des Wagens angebracht, die ich früher wohl
bemerkt, aber nicht gebraucht hatte. Sie griff in die eine und zog
einige Goldstücke heraus, sowie aus der andern einige Silbermünzen,
und zeigte mir dadurch die Möglichkeit, jeden Aufwand, wie es uns
beliebte, fortzusetzen. So reisten wir von Stadt zu Stadt, von Land
zu Land, waren unter uns und mit andern froh, und ich dachte nicht
daran, daß sie mich wieder verlassen könnte, um so weniger, als sie
sich seit einiger Zeit entschieden guter Hoffnung befand, wodurch
unsere Heiterkeit und unsere Liebe nur noch vermehrt wurde. Aber
eines Morgens fand ich sie leider nicht mehr, und weil mir der
Aufenthalt ohne sie verdrießlich war, machte ich mich mit meinem
Kästchen wieder auf den Weg, versuchte die Kraft der beiden Taschen
und fand sie noch immer bewährt.

Die Reise ging glücklich vonstatten, und wenn ich bisher über mein
Abenteuer weiter nicht nachdenken mögen, weil ich eine ganz
natürliche Entwicklung der wundersamen Begebenheiten erwartete, so
ereignete sich doch gegenwärtig etwas, wodurch ich in Erstaunen, in
Sorgen, ja in Furcht gesetzt wurde. Weil ich, um von der Stelle zu
kommen, Tag und Nacht zu reisen gewohnt war, so geschah es, daß ich
oft im Finstern fuhr und es in meinem Wagen, wenn die Laternen
zufällig ausgingen, ganz dunkel war. Einmal bei so finsterer Nacht
war ich eingeschlafen, und als ich erwachte, sah ich den Schein eines
Lichtes an der Decke meines Wagens. Ich beobachtete denselben und
fand, daß er aus dem Kästchen hervorbrach, das einen Riß zu haben
schien, eben als wäre es durch die heiße und trockene Witterung der
eingetretenen Sommerzeit gesprungen. Meine Gedanken an die Juwelen
wurden wieder rege, ich vermutete, daß ein Karfunkel im Kästchen
liege, und wünschte darüber Gewißheit zu haben. Ich rückte mich, so
gut ich konnte, zurecht, so daß ich mit dem Auge unmittelbar den Riß
berührte. Aber wie groß war mein Erstaunen, als ich in ein von
Lichtern wohl erhelltes, mit viel Geschmack, ja Kostbarkeit
möbliertes Zimmer hineinsah, gerade so als hätte ich durch die
öffnung eines Gewölbes in einen königlichen Saal hinabgesehn. Zwar
konnte ich nur einen Teil des Raums beobachten, der mich auf das
übrige schließen ließ. Ein Kaminfeuer schien zu brennen, neben
welchem ein Lehnsessel stand. Ich hielt den Atem an mich und fuhr
fort zu beobachten. Indem kam von der andern Seite des Saals ein
Frauenzimmer mit einem Buch in den Händen, die ich sogleich für meine
Frau erkannte, obschon ihr Bild nach dem allerkleinsten Maßstabe
zusammengezogen war. Die Schöne setzte sich in den Sessel ans Kamin,
um zu lesen, legte die Brände mit der niedlichsten Feuerzange zurecht,
wobei ich deutlich bemerken konnte, das allerliebste kleine Wesen sei
ebenfalls guter Hoffnung. Nun fand ich mich aber genötigt, meine
unbequeme Stellung einigermaßen zu verrücken, und bald darauf, als
ich wieder hineingehen und mich überzeugen wollte, daß es kein Traum
gewesen, war das Licht verschwunden, und ich blickte in eine leere
Finsternis.

Wie erstaunt, ja erschrocken ich war, läßt sich begreifen. Ich
machte mir tausend Gedanken über diese Entdeckung und konnte doch
eigentlich nichts denken. Darüber schlief ich ein, und als ich
erwachte, glaubte ich eben nur geträumt zu haben; doch fühlte ich
mich von meiner Schönen einigermaßen entfremdet, und indem ich das
Kästchen nur desto sorgfältiger trug, wußte ich nicht, ob ich ihre
Wiedererscheinung in völliger Menschengröße wünschen oder fürchten
sollte.

Nach einiger Zeit trat denn wirklich meine Schöne gegen Abend in
weißem Kleide herein, und da es eben im Zimmer dämmerte, so kam sie
mir länger vor, als ich sie sonst zu sehen gewohnt war, und ich
erinnerte mich, gehört zu haben, daß alle vom Geschlecht der Nixen
und Gnomen bei einbrechender Nacht an Länge gar merklich zunähmen.
Sie flog wie gewöhnlich in meine Arme, aber ich konnte sie nicht
recht frohmütig an meine beklemmte Brust drücken.

"Mein Liebster", sagte sie, "ich fühle nun wohl an deinem Empfang,
was ich leider schon weiß. Du hast mich in der Zwischenzeit gesehn;
du bist von dem Zustand unterrichtet, in dem ich mich zu gewissen
Zeiten befinde; dein Glück und das meinige ist hiedurch unterbrochen,
ja es steht auf dem Punkte, ganz vernichtet zu werden. Ich muß dich
verlassen und weiß nicht, ob ich dich jemals wiedersehen werde." Ihre
Gegenwart, die Anmut, mit der sie sprach, entfernte sogleich fast
jede Erinnerung jenes Gesichtes, das mir schon bisher nur als ein
Traum vorgeschwebt hatte. Ich umfing sie mit Lebhaftigkeit,
überzeugte sie von meiner Leidenschaft, versicherte ihr meine
Unschuld, erzählte ihr das Zufällige der Entdeckung, genug, ich tat
so viel, daß sie selbst beruhigt schien und mich zu beruhigen suchte.

"Prüfe dich genau", sagte sie, "ob diese Entdeckung deiner Liebe
nicht geschadet habe, ob du vergessen kannst, daß ich in zweierlei
Gestalten mich neben dir befinde, ob die Verringerung meines Wesens
nicht auch deine Neigung vermindern werde."

Ich sah sie an; schöner war sie als jemals, und ich dachte bei mir
selbst: "Ist es denn ein so großes Unglück, eine Frau zu besitzen,
die von Zeit zu Zeit eine Zwergin wird, so daß man sie im Kästchen
herumtragen kann? Wäre es nicht viel schlimmer, wenn sie zur Riesin
würde und ihren Mann in den Kasten steckte?" Meine Heiterkeit war
zurückgekehrt. Ich hätte sie um alles in der Welt nicht fahren lassen.
-- "Bestes Herz", versetzte ich, "laß uns bleiben und sein, wie wir
gewesen sind. Könnten wir's beide denn herrlicher finden! Bediene
dich deiner Bequemlichkeit, und ich verspreche dir, das Kästchen nur
desto sorgfältiger zu tragen. Wie sollte das Niedlichste, was ich in
meinem Leben gesehn, einen schlimmen Eindruck auf mich machen? Wie
glücklich würden die Liebhaber sein, wenn sie solche Miniaturbilder
besitzen könnten! Und am Ende war es auch nur ein solches Bild, eine
kleine Taschenspielerei. Du prüfst und neckst mich; du sollst aber
sehen, wie ich mich halten werde."


 


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