Wilhelm Meisters Wanderjahre--Buch 3
by
Johann Wolfgang von Goethe

Part 3 out of 4



schwebte mir vor, als wenn abermals ein unseliges Verhältnis mich
bedrohe.

Gretchen, ein gesetztes, freundliches Kind, führte mich ab, mir die
künstlichen Gewebe vorzuzeigen; sie tat es verständig und ruhig, ich
schrieb, um ihr Aufmerksamkeit zu beweisen, was sie mir vorsagte, in
meine Schreibtafel, wo es noch steht zum Zeugnis eines bloß
mechanischen Verfahrens, denn ich hatte ganz anderes im Sinne; es
lautet folgendermaßen:

"Der Eintrag von getretener sowohl als gezogener Weberei geschieht,
je nachdem das Muster es erfordert, mit weißem, lose gedrehtem
sogenannten Muggengarn, mitunter auch mit türkischrot gefärbten,
desgleichen mit blauen Garnen, welche ebenfalls zu Streifen und
Blumen verbraucht werden.

Beim Scheren ist das Gewebe auf Walzen gewunden, die einen
tischförmigen Rahmen bilden, um welchen her mehrere arbeitende
Personen sitzen."

Lieschen, die unter den Scherenden gesessen, steht auf, gesellt sich
zu uns, ist geschäftig, dreinzureden, und zwar auf eine Weise, um
jene durch Widerspruch nur irrezumachen; und als ich Gretchen
dessenungeachtet mehr Aufmerksamkeit bewies, so fuhr Lieschen umher,
um etwas zu holen, zu bringen, und streifte dabei, ohne durch die
Enge des Raums genötigt zu sein, mit ihrem zarten Ellebogen zweimal
merklich bedeutend an meinem Arm hin, welches mir nicht sonderlich
gefallen wollte.

Die Gute-Schöne (sie verdient überhaupt, besonders aber alsdann so
zu heißen, wenn man sie mit den übrigen vergleicht) holte mich in den
Garten ab, wo wir der Abendsonne genießen sollten, eh' sie sich
hinter das hohe Gebirg versteckte. Ein Lächeln schwebte um ihre
Lippen, wie es wohl erscheint, wenn man etwas Erfreuliches zu sagen
zaudert; auch mir war es in dieser Verlegenheit gar lieblich zumute.
Wir gingen nebeneinander her, ich getraute mir nicht, ihr die Hand zu
reichen, so gern ich's getan hätte; wir schienen uns beide vor Worten
und Zeichen zu fürchten, wodurch der glückliche Fund nur allzubald ins
Gemeine offenbar werden könnte. Sie zeigte mir einige Blumentöpfe,
worin ich aufgekeimte Baumwollenstauden erkannte.--"So nähren und
pflegen wir die für unser Geschäfte unnützen, ja widerwärtigen
Samenkörner, die mit der Baumwolle einen so weiten Weg zu uns machen.
Es geschieht aus Dankbarkeit, und es ist ein eigen Vergnügen,
dasjenige lebendig zu sehen, dessen abgestorbene Reste unser Dasein
beleben. Sie sehen hier den Anfang, die Mitte ist Ihnen bekannt, und
heute abend, wenn's Glück gut ist, einen erfreulichen Abschluß.

Wir als Fabrikanten selbst oder ein Faktor bringen unsre die Woche
über eingegangene Ware Donnerstag abends in das Marktschiff und
langen so, in Gesellschaft von andern, die gleiches Geschäft treiben,
mit dem frühesten Morgen am Freitag in der Stadt an. Hier trägt nun
ein jeder seine Ware zu den Kaufleuten, die im großen handeln, und
sucht sie so gut als möglich abzusetzen, nimmt auch wohl den Bedarf
von roher Baumwolle allenfalls an Zahlungs Statt.

Aber nicht allein den Bedarf an rohen Stoffen für die Fabrikation
nebst dem baren Verdienst holen die Marktleute in der Stadt, sondern
sie versehen sich auch daselbst mit allerlei andern Dingen zum
Bedürfnis und Vergnügen. Wo einer aus der Familie in die Stadt zu
Markte gefahren, da sind Erwartungen, Hoffnungen und Wünsche, ja
sogar oft Angst und Furcht rege. Es entsteht Sturm und Gewitter, und
man ist besorgt, das Schiff nehme Schaden! Die Gewinnsüchtigen
harren und möchten erfahren, wie der Verkauf der Waren ausgefallen,
und berechnen schon im voraus die Summe des reinen Erwerbs; die
Neugierigen warten auf die Neuigkeiten aus der Stadt, die
Putzliebenden auf die Kleidungsstücke oder Modesachen, die der
Reisende etwa mitzubringen Auftrag hatte; die Leckern endlich und
besonders die Kinder auf die Eßwaren, und wenn es auch nur Semmeln
wären.

Die Abfahrt aus der Stadt verzieht sich gewöhnlich bis gegen Abend,
dann belebt sich der See allmählich und die Schiffe gleiten segelnd,
oder durch die Kraft der Ruder getrieben, über seine Fläche hin;
jedes bemüht sich, dem andern vorzukommen; und die, denen es gelingt,
verhöhnen wohl scherzend die, welche zurückzubleiben sich genötigt
sehen.

Es ist ein erfreuliches, schönes Schauspiel um die Fahrt auf dem See,
wenn der Spiegel desselben mit den anliegenden Gebirgen vom Abendrot
erleuchtet sich warm und allmählich tiefer und tiefer schattiert, die
Sterne sichtbar werden, die Abendbetglocken sich hören lassen, in den
Dörfern am Ufer sich Lichter entzünden, im Wasser widerscheinend, dann
der Mond aufgeht und seinen Schimmer über die kaum bewegte Fläche
streut. Das reiche Gelände flieht vorüber, Dorf um Dorf, Gehöft um
Gehöft bleiben zurück, endlich in die Nähe der Heimat gekommen, wird
in ein Horn gestoßen, und sogleich sieht man im Berg hier und dort
Lichter erscheinen, die sich nach dem Ufer herab bewegen, ein jedes
Haus, das einen Angehörigen im Schiffe hat, sendet jemanden, um das
Gepäck tragen zu helfen.

Wir liegen höher hinauf, aber jedes von uns hat oft genug diese
Fahrt mitbestanden, und was das Geschäft betrifft, so sind wir alle
von gleichem Interesse."

Ich hatte ihr mit Verwunderung zugehört, wie gut und schön sie das
alles sprach, und konnte mich der offenen Bemerkung nicht enthalten:
wie sie in dieser rauhen Gegend, bei einem so mechanischen Geschäft,
zu solcher Bildung habe gelangen können? Sie versetzte, mit einem
allerliebsten, beinahe schalkhaften Lächeln vor sich hingehend: "Ich
bin in einer schönern und freundlichem Gegend geboren, wo vorzügliche
Menschen herrschen und hausen, und ob ich gleich als Kind mich wild
und unbändig erwies, so war doch der Einfluß geistreicher Besitzer
auf ihre Umgebung unverkennbar. Die größte Wirkung jedoch auf ein
junges Wesen tat eine fromme Erziehung, die ein gewisses Gefühl des
Rechtlichen und Schicklichen, als von Allgegenwart göttlicher Liebe
getragen, in mir entwickelte. Wir wanderten aus", fuhr sie fort--das
feine Lächeln verließ ihren Mund, eine unterdrückte Träne füllte das
Auge--, "wir wanderten weit, weit, von einer Gegend zur andern, durch
fromme Fingerzeige und Empfehlungen geleitet; endlich gelangten wir
hierher, in diese höchst tätige Gegend; das Haus, worin Sie mich
finden, war von gleichgesinnten Menschen bewohnt, man nahm uns
treulich auf, mein Vater sprach dieselbe Sprache, in demselben Sinn,
wir schienen bald zur Familie zu gehören.

In allen Haus--und Handwerksgeschäften griff ich tüchtig ein, und
alles, über welches Sie mich nun gebieten sehen, habe ich stufenweise
gelernt, geübt und vollbracht. Der Sohn des Hauses, wenig Jahre
älter als ich, wohlgebaut und schön von Antlitz, gewann mich lieb und
machte mich zu seiner Vertrauten. Er war von tüchtiger und zugleich
feiner Natur; die Frömmigkeit, wie sie im Hause geübt wurde, fand bei
ihm keinen Eingang, sie genügte ihm nicht, er las heimlich Bücher,
die er sich in der Stadt zu verschaffen wußte, von der Art, die dem
Geist eine allgemeinere, freiere Richtung geben, und da er bei mir
gleichen Trieb, gleiches Naturell vermerkte, so war er bemüht, nach
und nach mir dasjenige mitzuteilen, was ihn so innig beschäftigte.
Endlich, da ich in alles einging, hielt er nicht länger zurück, mir
sein ganzes Geheimnis zu eröffnen, und wir waren wirklich ein ganz
wunderliches Paar, welches auf einsamen Spaziergängen sich nur von
solchen Grundsätzen unterhielt, welche den Menschen selbstständig
machen, und dessen wahrhaftes Neigungsverhältnis nur darin zu
bestehen schien, einander wechselseitig in solchen Gesinnungen zu
bestärken, wodurch die Menschen sonst voneinander völlig entfernt
werden."

Ob ich gleich sie nicht scharf ansah, sondern nur von Zeit zu Zeit
wie zufällig aufblickte, bemerkt' ich doch mit Verwunderung und
Anteil, daß ihre Gesichtszüge durchaus den Sinn ihrer Worte zugleich
ausdrückten. Nach einem augenblicklichen Stillschweigen erheiterte
sich ihr Gesicht: "Ich muß", sagte sie, "auf Ihre Hauptfrage ein
Bekenntnis tun, damit Sie meine Wohlredenheit, die manchmal nicht
ganz natürlich scheinen möchte, sich besser erklären können.

Leider mußten wir beide uns vor den übrigen verstellen, und ob wir
gleich uns sehr hüteten, nicht zu lügen und im groben Sinn falsch zu
sein, so waren wir es doch im zartern, indem wir den vielbesuchten
Brüder--und Schwesterversammlungen nicht beizuwohnen nirgends
Entschuldigung finden konnten. Weil wir aber dabei gar manches gegen
unsere überzeugung hören mußten, so ließ er mich sehr bald begreifen
und einsehen, daß nicht alles vom freien Herzen gehe, sondern daß
viel Wortkram, Bilder, Gleichnisse, herkömmliche Redensarten und
wiederholt anklingende Zeilen sich immerfort wie um eine gemeinsame
Achse herumdrehten. Ich merkte nun besser auf und machte mir die
Sprache so zu eigen, daß ich allenfalls eine Rede so gut als
irgendein Vorsteher hätte halten wollen. Erst ergötzte der Gute sich
daran, endlich beim überdruß ward er ungeduldig, daß ich, ihn zu
beschwichtigen, den entgegengesetzten Weg einschlug, ihm nur desto
aufmerksamer zuhörte, ihm seinen herzlich treuen Vortrag wohl acht
Tage später wenigstens mit annähernder Freiheit und nicht ganz
unähnlichem geistigem Wesen zu wiederholen wußte.

So wuchs unser Verhältnis zum innigsten Bande, und eine Leidenschaft
zu irgendeinem Wahren, Guten sowie zu möglicher Ausübung desselben
war eigentlich, was uns vereinigte.

Indem ich nun bedenke, was Sie veranlaßt haben mag, zu einer solchen
Erzählung mich zu bewegen, so war es meine lebhafte Beschreibung vom
glücklich vollbrachten Markttage. Verwundern Sie sich darüber nicht;
denn gerade war es eine frohe, herzliche Betrachtung holder und
erhabener Naturszenen, was mich und meinen Bräutigam in ruhigen und
geschäftlosen Stunden am schönsten unterhielt. Treffliche
vaterländische Dichter hatten das Gefühl in uns erregt und genährt,
Hallers "Alpen", Geßners "Idyllen", Kleists "Frühling" wurden oft von
uns wiederholt, und wir betrachteten die uns umgebende herrliche Welt
bald von ihrer anmutigen, bald von ihrer erhabenen Seite

Noch gern erinnere ich mich, wie wir beide, scharf--und weitsichtig,
uns um die Wette und oft hastig auf die bedeutenden Erscheinungen der
Erde und des Himmels aufmerksam zu machen suchten, einander
vorzueilen und zu überbieten trachteten. Dies war die schönste
Erholung, nicht nur vom täglichen Geschäft, sondern auch von jenen
ernsten Gesprächen, die uns oft nur zu tief in unser eigenes Innere
versenkten und uns dort zu beunruhigen drohten.

In diesen Tagen kehrte ein Reisender bei uns ein, wahrscheinlich
unter geborgtem Namen; wir dringen nicht weiter in ihn, da er
sogleich durch sein Wesen uns Vertrauen einflößt, da er sich im
ganzen höchst sittlich benimmt, sowie anständig aufmerksam in unsern
Versammlungen. Von meinem Freund in den Gebirgen umhergeführt, zeigt
er sich ernst, einsichtig und kenntnisreich. Auch ich geselle mich
zu ihren sittlichen Unterhaltungen, wo alles nach und nach zur
Sprache kommt, was einem innern Menschen bedeutend werden kann; da
bemerkt er denn gar bald in unserer Denkweise in Absicht auf die
göttlichen Dinge etwas Schwankendes. Die religiösen Ausdrücke waren
uns trivial geworden, der Kern, den sie enthalten sollten, war uns
entfallen. Da ließ er uns die Gefahr unsres Zustandes bemerken, wie
bedenklich die Entfernung vom überlieferten sein müsse, an welches
von Jugend auf sich so viel angeschlossen; sie sei höchst gefährlich
bei der Unvollständigkeit besonders des eignen Innern. Freilich eine
täglich und stündlich durchgeführte Frömmigkeit werde zuletzt nur
Zeitvertreib und wirke wie eine Art von Polizei auf den äußeren
Anstand, aber nicht mehr auf den tiefen Sinn; das einzige Mittel
dagegen sei, aus eigener Brust sittlich gleich geltende, gleich
wirksame, gleich beruhigende Gesinnungen hervorzurufen.

Die Eltern hatten unsre Verbindung stillschweigend vorausgesetzt,
und ich weiß nicht, wie es geschah, die Gegenwart des neuen Freundes
beschleunigte die Verlobung, es schien sein Wunsch, diese Bestätigung
unsres Glücks in dem stillen Kreise zu feiern, da er denn auch mit
anhören mußte, wie der Vorsteher die Gelegenheit ergriff, uns an den
Bischof von Laodicea und an die große Gefahr der Lauheit, die man uns
wollte angemerkt haben, zu erinnern. Wir besprachen noch einigemal
diese Gegenstände, und er ließ uns ein hierauf bezügliches Blatt
zurück, welches ich oft in der Folge wieder anzusehen Ursache fand.

Er schied nunmehr, und es war, als wenn mit ihm alle guten Geister
gewichen wären. Die Bemerkung ist nicht neu, wie die Erscheinung
eines vorzüglichen Menschen in irgendeinem Zirkel Epoche macht und
bei seinem Scheiden eine Lücke sich zeigt, in die sich öfters ein
zufälliges Unheil hineindrängt. Und nun lassen Sie mich einen
Schleier über das Nächstfolgende werfen; durch einen Zufall ward
meines Verlobten kostbares Leben, seine herrliche Gestalt plötzlich
zerstört; er wendete standhaft seine letzten Stunden dazu an, sich
mit mir Trostlosen verbunden zu sehen und mir die Rechte an seinem
Erbteil zu sichern. Was aber diesen Fall den Eltern um so
schmerzlicher machte, war, daß sie kurz vorher eine Tochter verloren
hatten und sich nun, im eigentlichen Sinne, verwaist sahen, worüber
ihr zartes Gemüt dergestalt angegriffen wurde, daß sie ihr Leben
nicht lange fristeten. Sie gingen den lieben Ihrigen bald nach, und
mich ereilte noch ein anderes Unheil, daß mein Vater, vom Schlag
gerührt, zwar noch sinnliche Kenntnis von der Welt, aber weder
geistige noch körperliche Tätigkeit gegen dieselbe behalten hat. Und
so bedurfte ich denn freilich in der größten Not und Absonderung
jener Selbstständigkeit, in der ich mich, glückliche Verbindung und
frohes Mitleben hoffend, frühzeitig geübt und noch vor kurzem durch
die rein belebenden Worte des geheimnisvollen Durchreisenden recht
eigentlich gestärkt hatte.

Doch darf ich nicht undankbar sein, da mir in diesem Zustand noch
ein tüchtiger Gehülfe geblieben ist, der als Faktor alles das besorgt,
was in solchen Geschäften als Pflicht männlicher Tätigkeit erscheint.
Kommt er heut abend aus der Stadt zurück und Sie haben ihn kennen
gelernt, so erfahren Sie mein wunderbares Verhältnis zu ihm."

Ich hatte manches dazwischengesprochen und durch beifälligen,
vertraulichen Anteil ihr Herz immer mehr aufzuschließen und ihre Rede
im Fluß zu erhalten getrachtet. Ich vermied nicht, dasjenige ganz
nahe zu berühren, was noch nicht völlig ausgesprochen war; auch sie
rückte immer näher zu, und wir waren so weit, daß bei der geringsten
Veranlassung das offenbare Geheimnis ins Wort getreten wäre.

Sie stand auf und sagte: "Lassen Sie uns zum Vater gehen!" Sie
eilte voraus, und ich folgte ihr langsam; ich schüttelte den Kopf
über die wundersame Lage, in der ich mich befand. Sie ließ mich in
eine hintere, sehr reinliche Stube treten, wo der gute Alte
unbeweglich im Sessel saß. Er hatte sich wenig verändert. Ich ging
auf ihn zu, er sah mich erst starr, dann mit lebhafteren Augen an;
seine Züge erheiterten sich, er versuchte, die Lippen zu bewegen, und
als ich die Hand hinreichte, seine ruhende zu fassen, ergriff er die
meine von selbst, drückte sie und sprang auf, die Arme gegen mich
ausstreckend. "O Gott!" rief er, "der Junker Lenardo! er ist's, er
ist es selbst!" Ich konnte mich nicht enthalten, ihn an mein Herz zu
schließen; er sank in den Stuhl zurück, die Tochter eilte hinzu, ihm
beizustehen; auch sie rief: "Er ist's! Sie sind es, Lenardo!"

Die jüngere Nichte war herbeigekommen, sie führten den Vater, der
auf einmal wieder gehen konnte, der Kammer zu, und gegen mich
gewendet, sprach er ganz deutlich: "Wie glücklich, glücklich! bald
sehen wir uns wieder!"

Ich stand, vor mich hinschauend und denkend, Mariechen kam zurück
und reichte mir ein Blatt, mit dem Vermelden, es sei dasselbige,
wovon gesprochen. Ich erkannte sogleich Wilhelms Handschrift, so wie
vorhin seine Person aus der Beschreibung mir entgegengetreten war;
mancherlei fremde Gesichter schwärmten um mich her, es war eine
eigene Bewegung im Vorhause. Und dann ist es ein widerwärtiges
Gefühl, aus dem Enthusiasmus einer reinen Wiedererkennung, aus der
überzeugung dankbaren Erinnerns, der Anerkennung einer wunderbaren
Lebensfolge und was alles Warmes und Schönes dabei in uns entwickelt
werden mag, auf einmal zu der schroffen Wirklichkeit einer
zerstreuten Alltäglichkeit zurückgeführt zu werden.

Diesmal war der Freitagabend überhaupt nicht so heiter und lustig,
wie er sonst wohl sein mochte; der Faktor war nicht mit dem
Marktschiff aus der Stadt zurückgekehrt, er meldete nur in einem
Briefe, daß ihn Geschäfte erst morgen oder übermorgen zurückgehen
ließen; er werde mit anderer Gelegenheit kommen, auch alles Bestellte
und Versprochene mitbringen. Die Nachbarn, welche, jung und alt, in
Erwartung wie gewöhnlich zusammengekommen waren, machten
verdrießliche Gesichter, Lieschen besonders, die ihm entgegengegangen
war, schien sehr übler Laune.

Ich hatte mich in mein Zimmer geflüchtet, das Blatt in der Hand
haltend, ohne hineinzugehen, denn es hatte mir schon heimlichen
Verdruß gemacht, aus jener Erzählung zu vernehmen, daß Wilhelm die
Verbindung beschleunigt habe. "Alle Freunde sind so, alle sind
Diplomaten; statt unser Vertrauen redlich zu erwidern, folgen sie
ihren Ansichten, durchkreuzen unsre Wünsche und mißleiten unser
Schicksal!" So rief ich aus, doch kam ich bald von meiner
Ungerechtigkeit zurück, gab dem Freunde recht, besonders die jetzige
Stellung bedenkend, und enthielt mich nicht weiter, das folgende zu
lesen.





"Jeder Mensch findet sich von den frühsten Momenten seines Lebens an,
erst unbewußt, dann halb, endlich ganz bewußt, immerfort bedingt,
begrenzt in seiner Stellung; weil aber niemand Zweck und Ziel seines
Daseins kennt, vielmehr das Geheimnis desselben von höchster Hand
verborgen wird, so tastet er nur, greift zu, läßt fahren, steht
stille, bewegt sich, zaudert und übereilt sich, und auf wie mancherlei
Weise denn alle Irrtümer entstehen, die uns verwirren."





"Sogar der Besonnenste ist im täglichen Weltleben genötigt, klug für
den Augenblick zu sein, und gelangt deswegen im allgemeinen zu keiner
Klarheit. Selten weiß er sicher, wohin er sich in der Folge zu
wenden und was er eigentlich zu tun und zu lassen habe."





"Glücklicherweise sind alle diese und noch hundert andere wundersame
Fragen durch euren unaufhaltsam tätigen Lebensgang beantwortet.
Fahrt fort in unmittelbarer Beachtung der Pflicht des Tages und prüft
dabei die Reinheit eures Herzens und die Sicherheit eures Geistes.
Wenn ihr sodann in freier Stunde aufatmet und euch zu erheben Raum
findet, so gewinnt ihr auch gewiß eine richtige Stellung gegen das
Erhabene, dem wir uns auf jede Weise verehrend hinzugeben, jedes
Ereignis mit Ehrfurcht zu betrachten und eine höhere Leitung darin zu
erkennen haben."



Sonnabend, den 20.

Vertieft in Gedanken, auf deren wunderlichen Irrgängen mich eine
fühlende Seele teilnehmend gern begleiten wird, war ich mit
Tagesanbruch am See und auf und ab spaziert; die Hausfrau--ich fühlte
mich sehr zufrieden, sie nicht als Witwe denken zu dürfen --zeigte
sich erwünscht erst am Fenster, dann an der Türe; sie erzählte mir:
der Vater habe gut geschlafen, sei heiter aufgewacht und habe mit
deutlichen Worten eröffnet, daß er im Bette bleiben, mich heute nicht,
morgen aber erst nach dem Gottesdienste zu sehen wünsche, wo er sich
gewiß recht gestärkt fühlen werde. Sie sagte mir darauf, daß sie
mich heute viel werde allein lassen; es sei für sie ein sehr
beschäftigter Tag, kam herunter und gab mir Rechenschaft davon.

Ich hörte ihr zu, nur um sie zu hören, dabei überzeugt' ich mich,
daß sie von der Sache durchdrungen, davon als einer herkömmlichen
Pflicht angezogen und mit Willen beschäftigt schien. Sie fuhr fort:
"Es ist gewöhnlich und eingerichtet, daß das Gewebe gegen das Ende
der Woche fertig sei und am Sonnabendnachmittag zu dem Verlagsherrn
getragen werde, der solches durchsieht, mißt und wägt, um zu
erforschen, ob die Arbeit ordentlich und fehlerfrei, auch ob ihm an
Gewicht und Maß das Gehörige eingeliefert worden, und, wenn alles
richtig befunden ist, sodann den verabredeten Weberlohn zahlt.
Seinerseits ist nun er bemüht, das gewebte Stück von allen etwa
anhängenden Fäden und Knoten zu reinigen, solches aufs zierlichste zu
legen, die schönste, fehlerfreiste Seite oben vors Auge zu bringen
und so die Ware höchst annehmlich zu machen."

Indessen kamen aus dem Gebirg viele Weberinnen, ihre Ware ins Haus
tragend, worunter ich auch die erblickte, welche unsern
Geschirrfasser beschäftigte. Sie dankte mir gar lieblich für das
zurückgelassene Geschenk und erzählte mit Anmut: der Herr
Geschirrfasser sei bei ihnen, arbeite heute an ihrem leerstehenden
Weberstuhl und habe ihr beim Abschied versichert: was er an ihm tue,
solle Frau Susanne gleich der Arbeit ansehen. Darauf ging sie, wie
die übrigen, ins Haus, und ich konnte mich nicht enthalten, die liebe
Wirtin zu fragen: "Um 's Himmels willen! wie kommen Sie zu dem
wunderlichen Namen?"--"Es ist", versetzte sie, "der dritte, den man
mir aufbürdet; ich ließ es gerne zu, weil meine Schwiegereltern es
wünschten, denn es war der Name ihrer verstorbenen Tochter, an deren
Stelle sie mich eintreten ließen, und der Name bleibt doch immer der
schönste, lebendigste Stellvertreter der Person." Darauf versetzte
ich: "Ein vierter ist schon gefunden, ich würde Sie Gute-Schöne
nennen, insofern es von mir abhinge." Sie machte eine gar lieblich
demütige Verbeugung und wußte ihr Entzücken über die Genesung des
Vaters mit der Freude, mich wiederzusehen, so zu verbinden und zu
steigern, daß ich in meinem Leben nichts Schmeichelhafteres und
Erfreulicheres glaubte gehört und gefühlt zu haben.


Die Schöne-Gute, doppelt und dreifach ins Haus zurückgerufen,
übergab mich einem verständigen, unterrichteten Manne, der mir die
Merkwürdigkeiten des Gebirgs zeigen sollte. Wir gingen zusammen, bei
schönstem Wetter, durch reich abwechselnde Gegenden. Aber man
überzeugt sich wohl, daß weder Fels noch Wald, noch Wassersturz, noch
weniger Mühlen und Schmiedewerkstatt, sogar künstlich genug in Holz
arbeitende Familien mir irgendeine Aufmerksamkeit abgewinnen konnten.
Indessen war der Wandergang für den ganzen Tag angelegt, der Bote
trug ein feines Frühstück im Ränzel, zu Mittag fanden wir ein gutes
Essen im Zechenhause eines Bergwerks, wo niemand recht aus mir klug
werden konnte, indem tüchtigen Menschen nichts leidiger vorkommt als
ein leeres, Teilnahme heuchelndes Unteilnehmen.

Am wenigsten aber begriff mich der Bote, an welchen eigentlich der
Garnträger mich gewiesen hatte, mit großem Lob meiner schönen
technischen Kenntnisse und des besonderen Interesses an solchen
Dingen. Auch von meinem vielen Aufschreiben und Bemerken hatte jener
gute Mann erzählt, worauf sich denn der Berggenoß gleichfalls
eingerichtet hatte. Lange wartete mein Begleiter, daß ich meine
Schreibtafel hervorholen sollte, nach welcher er denn auch endlich,
einigermaßen ungeduldig, fragte.



Sonntag, den 21.

Mittag kam beinahe herbei, eh' ich die Freundin wieder ansichtig
werden konnte. Der Hausgottesdienst, bei dem sie mich nicht
gegenwärtig wünschte, war indessen gehalten; der Vater hatte
demselben beigewohnt und, die erbaulichsten Worte deutlich und
vernehmlich sprechend, alle Anwesenden und sie selbst bis zu den
herzlichsten Tränen gerührt. "Es waren", sagte sie, "bekannte
Sprüche, Reime, Ausdrücke und Wendungen, die ich hundertmal gehört
und als an hohlen Klängen mich geärgert hatte; diesmal flossen sie
aber so herzlich zusammengeschmolzen, ruhig glühend, von Schlacken
rein, wie wir das erweichte Metall in der Rinne hinfließen sehen. Es
war mir angst und bange, er möchte sich in diesen Ergießungen
aufzehren, jedoch ließ er sich ganz munter zu Bette führen; er wollte,
sagte er, sich sammeln und den Gast, sobald er Kraft genug fühle, zu
sich rufen lassen."

Nach Tische ward unser Gespräch lebhafter und vertraulicher, aber
ebendeshalb konnte ich mehr empfinden und bemerken, daß sie etwas
zurückhielt, daß sie mit beunruhigenden Gedanken kämpfte, wie es ihr
auch nicht ganz gelang, ihr Gesicht zu erheitern. Nachdem ich hin
und her versucht, sie zur Sprache zu bringen, so gestand ich
aufrichtig, daß ich ihr eine gewisse Schwermut, einen Ausdruck von
Sorge anzusehen glaubte, seien es häusliche oder Handelsbedrängnisse,
sie solle sich mir eröffnen; ich wäre reich genug, eine alte Schuld
ihr auf jede Weise abzutragen.

Sie verneinte lächelnd, daß dies der Fall sei. "Ich habe", fuhr sie
fort, "wie Sie zuerst hereintreten, einen von denen Herren zu sehen
geglaubt, die mir in Triest Kredit machen, und war mit mir selbst
wohl zufrieden, als ich mein Geld vorrätig wußte, man mochte die
ganze Summe oder einen Teil verlangen. Was mich aber drückt, ist doch
eine Handelssorge, leider nicht für den Augenblick, nein! für alle
Zukunft. Das überhandnehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich,
es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hat
seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen. Schon mein
Gatte war von diesem traurigen Gefühl durchdrungen. Man denkt daran,
man spricht davon, und weder Denken noch Reden kann Hülfe bringen.
Und wer möchte sich solche Schrecknisse gern vergegenwärtigen!
Denken Sie, daß viele Täler sich durchs Gebirg schlingen, wie das,
wodurch Sie herabkamen; noch schwebt Ihnen das hübsche, frohe Leben
vor, das Sie diese Tage her dort gesehen, wovon Ihnen die geputzte
Menge allseits andringend gestern das erfreulichste Zeugnis gab;
denken Sie, wie das nach und nach zusammensinken, absterben, die öde,
durch Jahrhunderte belebt und bevölkert, wieder in ihre uralte
Einsamkeit zurückfallen werde.

Hier bleibt nur ein doppelter Weg, einer so traurig wie der andere:
entweder selbst das Neue zu ergreifen und das Verderben zu
beschleunigen, oder aufzubrechen, die Besten und Würdigsten mit sich
fort zu ziehen und ein günstigeres Schicksal jenseits der Meere zu
suchen. Eins wie das andere hat sein Bedenken, aber wer hilft uns
die Gründe abwägen, die uns bestimmen sollen? Ich weiß recht gut,
daß man in der Nähe mit dem Gedanken umgeht, selbst Maschinen zu
errichten und die Nahrung der Menge an sich zu reißen. Ich kann
niemanden verdenken, daß er sich für seinen eigenen Nächsten hält;
aber ich käme mir verächtlich vor, sollt' ich diese guten Menschen
plündern und sie zuletzt arm und hülflos wandern sehen; und wandern
müssen sie früh oder spat. Sie ahnen, sie wissen, sie sagen es, und
niemand entschließt sich zu irgendeinem heilsamen Schritte. Und doch,
woher soll der Entschluß kommen? wird er nicht jedermann ebensosehr
erschwert als mir?

Mein Bräutigam war mit mir entschlossen zum Auswandern; er besprach
sich oft über Mittel und Wege, sich hier loszuwinden. Er sah sich
nach den Besseren um, die man um sich versammeln, mit denen man
gemeine Sache machen, die man an sich heranziehen, mit sich fortziehen
könnte; wir sehnten uns, mit vielleicht allzu jugendlicher Hoffnung,
in solche Gegenden, wo dasjenige für Pflicht und Recht gelten könnte,
was hier ein Verbrechen wäre. Nun bin ich im entgegengesetzten Falle:
der redliche Gehülfe, der mir nach meines Gatten Tode geblieben,
trefflich in jedem Sinne, mir freundschaftlich liebevoll anhänglich,
er ist ganz der entgegengesetzten Meinung.

Ich muß Ihnen von ihm sprechen, eh' Sie ihn gesehen haben; lieber
hätt' ich es nachher getan, weil die persönliche Gegenwart gar
manches Rätsel aufschließt. Ungefähr von gleichem Alter wie mein
Gatte, schloß er sich als kleiner, armer Knabe an den wohlhabenden,
wohlwollenden Gespielen, an die Familie, an das Haus, an das Gewerbe;
sie wuchsen zusammen heran und hielten zusammen, und doch waren es
zwei ganz verschiedene Naturen; der eine frei gesinnt und mitteilend,
der andere in früherer Jugend gedrückt, verschlossen, den geringsten
ergriffenen Besitz festhaltend, zwar frommer Gesinnung, aber mehr an
sich als an andere denkend.

Ich weiß recht gut, daß er von den ersten Zeiten her ein Auge auf
mich richtete, er durfte es wohl, denn ich war ärmer als er; doch
hielt er sich zurück, sobald er die Neigung des Freundes zu mir
bemerkte. Durch anhaltenden Fleiß, Tätigkeit und Treue machte er
sich bald zum Mitgenossen des Gewerbes. Mein Gatte hatte heimlich den
Gedanken, bei unserer Auswanderung diesen hier einzusetzen und ihm
das Zurückgelassene anzuvertrauen. Bald nach dem Tode des
Trefflichen näherte er sich mir, und vor einiger Zeit verhielt er
nicht, daß er sich um meine Hand bewerbe. Nun tritt aber der doppelt
wunderliche Umstand ein, daß er sich von jeher gegen das Auswandern
erklärte und dagegen eifrig betreibt, wir sollen auch Maschinen
anlegen. Seine Gründe freilich sind dringend, denn in unsern Gebirgen
hauset ein Mann, der, wenn er, unsere einfacheren Werkzeuge
vernachlässigend, zusammengesetztere sich erbauen wollte, uns
zugrunde richten könnte. Dieser in seinem Fache sehr geschickte
Mann--wir nennen ihn den Geschirrfasser--ist einer wohlhabenden
Familie in der Nachbarschaft anhänglich, und man darf wohl glauben,
daß er im Sinne hat, von jenen steigenden Erfindungen für sich und
seine Begünstigten nützlichen Gebrauch zu machen. Gegen die Gründe
meines Gehülfen ist nichts einzuwenden, denn schon ist gewissermaßen
zu viel Zeit versäumt, und gewinnen jene den Vorrang, so müssen wir,
und zwar mit Unstatten, doch das gleiche tun. Dieses ist, was mich
ängstigt und quält, das ist's, was Sie mir, teuerster Mann, als einen
Schutzengel erscheinen läßt."

Ich hatte wenig Tröstliches hierauf zu erwidern, ich mußte den Fall
so verwickelt finden, daß ich mir Bedenkzeit ausbat. Sie aber fuhr
fort: "Ich habe noch manches zu eröffnen, damit meine Lage Ihnen noch
mehr wundersam erscheine. Der junge Mann, dem ich persönlich nicht
abgeneigt bin, der mir aber keineswegs meinen Gatten ersetzen noch
meine eigentliche Neigung erwerben würde"--sie seufzte, indem sie
dies sprach--, "wird seit einiger Zeit entschieden dringender, seine
Vorträge sind so liebevoll als verständig. Die Notwendigkeit, meine
Hand ihm zu reichen, die Unklugheit, an eine Auswanderung zu denken
und darüber das einzige wahre Mittel der Selbsterhaltung zu versäumen,
sind nicht zu widerlegen, und es scheint ihm mein Widerstreben, meine
Grille des Auswanderns so wenig mit meinem übrigen haushältischen
Sinn übereinzustimmen, daß ich bei einem letzten, etwas heftigen
Gespräch die Vermutung bemerken konnte, meine Neigung müsse wo anders
gefesselt sein." Sie brachte das letzte nur mit einigem Stocken
hervor und blickte vor sich nieder.

Was mir bei diesen Worten durch die Seele fuhr, denke jeder, und
doch, bei blitzschnell nachfahrender überlegung, mußt' ich fühlen,
daß jedes Wort die Verwirrung nur vermehren würde. Doch ward ich
zugleich, so vor ihr stehend, mir deutlich bewußt, daß ich sie im
höchsten Grade liebgewonnen habe und nun alles, was in mir von
vernünftiger, verständiger Kraft übrig war, aufzuwenden hatte, um ihr
nicht sogleich meine Hand anzubieten. Mag sie doch, dachte ich,
alles hinter sich lassen, wenn sie mir folgt! Doch die Leiden
vergangener Jahre hielten mich zurück. Sollst du eine neue falsche
Hoffnung hegen, um lebenslänglich daran zu büßen?

Wir hatten beide eine Zeitlang geschwiegen, als Lieschen, die ich
nicht hatte herankommen sehen, überraschend vor uns trat und die
Erlaubnis verlangte, auf dem nächsten Hammerwerke diesen Abend
zuzubringen. Ohne Bedenken ward es gewährt. Ich hatte mich indessen
zusammengenommen und fing an, im allgemeinen zu erzählen: wie ich auf
meinen Reisen das alles längst herankommen gesehen, wie Trieb und
Notwendigkeit des Auswanderns jeden Tag sich vermehre; doch bleibe
ein solches Abenteuer immer das Gefährlichste. Unvorbereitetes
Wegeilen bringe unglückliche Wiederkehr; kein anderes Unternehmen
bedürfe so viel Vorsicht und Leitung als ein solches. Diese
Betrachtung war ihr nicht fremd, sie hatte viel über alle
Verhältnisse gedacht, aber zuletzt sprach sie mit einem tiefen Seufzer:
"Ich habe diese Tage Ihres Hierseins immer gehofft, durch
vertrauliche Erzählung Trost zu gewinnen, aber ich fühle mich übler
gestellt als vorher, ich fühle recht tief, wie unglücklich ich bin."
Sie hob den Blick nach mir, aber die aus den schönen, guten Augen
ausquellenden Tränen zu verbergen, wendete sie sich um und entfernte
sich einige Schritte.

Ich will mich nicht entschuldigen, aber der Wunsch, diese herrliche
Seele, wo nicht zu trösten, doch zu zerstreuen, gab mir den Gedanken
ein, ihr von der wundersamen Vereinigung mehrerer Wandernden und
Scheidenden zu sprechen, in die ich schon seit einiger Zeit getreten
war. Unversehens hatte ich schon so weit mich herausgelassen, daß ich
kaum hätte zurückhalten können, als ich gewahrte, wie unvorsichtig
mein Vertrauen gewesen sein mochte. Sie beruhigte sich, staunte,
erheiterte, entfaltete ihr ganzes Wesen und fragte mit solcher
Neigung und Klugheit, daß ich ihr nicht mehr ausweichen, daß ich ihr
alles bekennen mußte.

Gretchen trat vor uns und sagte: wir möchten zum Vater kommen! Das
Mädchen schien sehr nachdenklich und verdrießlich. Zur Weggehenden
sagte die Schöne-Gute: "Lieschen hat Urlaub für heut abend, besorge
du die Geschäfte."--"Ihr hättet ihn nicht geben sollen", versetzte
Gretchen, "sie stiftet nichts Gutes; Ihr seht dem Schalk mehr nach,
als billig, vertraut ihr mehr, als recht ist. Eben jetzt erfahr' ich,
sie hat ihm gestern einen Brief geschrieben; Euer Gespräch hat sie
behorcht, jetzt geht sie ihm entgegen."

Ein Kind, das indessen beim Vater geblieben war, bat mich, zu eilen,
der gute Mann sei unruhig. Wir traten hinein; heiter, ja verklärt
saß er aufrecht im Bette. "Kinder", sagte er, "ich habe diese
Stunden im anhaltenden Gebet vollbracht, keiner von allen Dank--und
Lobgesängen Davids ist von mir unberührt geblieben, und ich füge hinzu,
aus eignem Sinne mit gestärktem Glauben: Warum hofft der Mensch nur
in die Nähe? da muß er handeln und sich helfen, in die Ferne soll er
hoffen und Gott vertrauen." Er faßte Lenardos Hand und so die Hand
der Tochter, und beide ineinander legend sprach er: "Das soll kein
irdisches, es soll ein himmlisches Band sein; wie Bruder und Schwester
liebt, vertraut, nützt und helft einander, so uneigennützig und rein,
wie euch Gott helfe." Als er dies gesagt, sank er zurück mit
himmlischem Lächeln und war heimgegangen. Die Tochter stürzte vor
dem Bett nieder, Lenardo neben sie, ihre Wangen berührten sich, ihre
Tränen vereinigten sich auf seiner Hand.

Der Gehülfe rennt in diesem Augenblick herein, erstarrt über der
Szene. Mit wildem Blick, die schwarzen Locken schüttelnd, ruft der
wohlgestaltete Jüngling: "Er ist tot; in dem Augenblick, da ich seine
wiederhergestellte Sprache dringend anrufen wollte, mein Schicksal,
das Schicksal seiner Tochter zu entscheiden, des Wesens, das ich
nächst Gott am meisten liebe, dem ich ein gesundes Herz wünschte, ein
Herz, das den Wert meiner Neigung fühlen könnte. Für mich ist sie
verloren, sie kniet neben einem andern! Hat er euch eingesegnet?
gesteht's nur!"

Das herrliche Wesen war indessen aufgestanden, Lenardo hatte sich
erhoben und erholt; sie sprach: "Ich erkenn' Euch nicht mehr, den
sanften, frommen, auf einmal so verwilderten Mann; wißt Ihr doch, wie
ich Euch danke, wie ich von Euch denke."

"Von Danken und Denken ist hier die Rede nicht", versetzte jener
gefaßt, "hier handelt sich's vom Glück oder Unglück meines Lebens.
Dieser fremde Mann macht mich besorgt; wie ich ihn ansehe, getrau'
ich mich nicht, ihn aufzuwiegen; frühere Rechte zu verdrängen,
frühere Verbindungen zu lösen vermag ich nicht."

"Sobald du wieder in dich selbst zurücktreten kannst", sagte die
Gute, schöner als je, "wenn mit dir zu sprechen ist wie sonst und
immer, so will ich dir sagen, dir beteuern bei den irdischen Resten
meines verklärten Vaters, daß ich zu diesem Herrn und Freunde kein
ander Verständnis habe, als das du kennen, billigen und teilen kannst
und dessen du dich erfreuen mußt."

Lenardo schauderte bis tief ins Innerste, alle drei standen still,
stumm und nachdenkend eine Weile; der Jüngling nahm zuerst das Wort
und sagte: "Der Augenblick ist von zu großer Bedeutung, als daß er
nicht entscheidend sein sollte. Es ist nicht aus dem Stegreif, was
ich spreche, ich habe Zeit gehabt zu denken, also vernehmt: Die
Ursache, deine Hand mir zu verweigern, war meine Weigerung, dir zu
folgen, wenn du aus Not oder Grille wandern würdest. Hier also
erklär' ich feierlich vor diesem gültigen Zeugen, daß ich deinem
Auswandern kein Hindernis in den Weg legen, vielmehr es befördern und
dir überallhin folgen will. Gegen diese mir nicht abgenötigte,
sondern nur durch die seltsamsten Umstände beschleunigte Erklärung
verlang' ich aber im Augenblick deine Hand." Er reichte sie hin,
stand fest und sicher da, die beiden andern wichen überrascht,
unwillkürlich zurück.

"Es ist ausgesprochen", sagte der Jüngling, ruhig mit einer gewissen
frommen Hoheit: "das sollte geschehen, es ist zu unser aller Bestem,
Gott hat es gewollt; aber damit du nicht denkst, es sei übereilung
und Grille, so wisse nur, ich hatte dir zulieb auf Berg und Felsen
Verzicht getan und eben jetzt in der Stadt alles eingeleitet, um nach
deinem Willen zu leben. Nun aber geh' ich allein, du wirst mir die
Mittel dazu nicht versagen, du behältst noch immer genug übrig, um es
hier zu verlieren, wie du fürchtest und wie du recht hast zu fürchten.
Denn ich habe mich endlich auch überzeugt: der künstliche,
werktätige Schelm hat sich ins obere Tal gewendet, dort legt er
Maschinen an, du wirst ihn alle Nahrung an sich ziehen sehen,
vielleicht rufst du, und nur allzubald, einen treuen Freund zurück,
den du vertreibst."

Peinlicher haben nicht leicht drei Menschen sich gegenübergestanden,
alle zusammen in Furcht, sich einander zu verlieren, und im
Augenblick nicht wissend, wie sie sich wechselseitig erhalten sollten.


Leidenschaftlich entschlossen stürzte der Jüngling zur Türe hinaus.
Auf ihres Vaters erkältete Brust hatte die Schöne-Gute ihre Hand
gelegt: "In die Nähe soll man nicht hoffen", rief sie aus, "aber in
die Ferne, das war sein letzter Segen. Vertrauen wir Gott, jeder
sich selbst und dem andern, so wird sich's wohl fügen."





Vierzehntes Kapitel

Unser Freund las mit großem Anteil das Vorgelegte, mußte aber
zugleich gestehen, er habe schon beim Schluß des vorigen Heftes
geahnet, ja vermutet, das gute Wesen sei entdeckt worden. Die
Beschreibung der schroffen Gebirgsgegend habe ihn zuerst in jene
Zustände versetzt, besonders aber sei er durch die Ahnung Lenardos in
jener Mondennacht, so auch durch die Wiederholung der Worte seines
Briefes auf die Spur geleitet worden. Friedrich, dem er das alles
umständlich vortrug, ließ sich es auch ganz wohl gefallen.

Hier aber wird die Pflicht des Mitteilens, Darstellens, Ausführens
und Zusammenziehens immer schwieriger. Wer fühlt nicht, daß wir uns
diesmal dem Ende nähern, wo die Furcht, in Umständlichkeiten zu
verweilen, mit dem Wunsche, nichts völlig unerörtert zu lassen, uns
in Zwiespalt versetzt. Durch die eben angekommene Depesche wurden wir
zwar von manchem unterrichtet, die Briefe jedoch und die vielfachen
Beilagen enthielten verschiedene Dinge, gerade nicht von allgemeinem
Interesse. Wir sind also gesonnen, dasjenige, was wir damals gewußt
und erfahren, ferner auch das, was später zu unserer Kenntnis kam,
zusammenzufassen und in diesem Sinne das übernommene ernste Geschäft
eines treuen Referenten getrost abzuschließen.

Vor allen Dingen haben wir daher zu berichten, daß Lothario mit
Theresen, seiner Gemahlin, und Natalien, die ihren Bruder nicht von
sich lassen wollte, in Begleitung des Abbés schon wirklich zur See
gegangen sind. Unter günstigen Vorbedeutungen reisten sie ab, und
hoffentlich bläht ein fördernder Wind ihre Segel. Die einzige
unangenehme Empfindung, eine wahre sittliche Trauer, nehmen sie mit:
daß sie Makarien vorher nicht ihren Besuch abstatten konnten. Der
Umweg war zu groß, das Unternehmen zu bedeutend; schon warf man sich
einige Zögerung vor und mußte selbst eine heilige Pflicht der
Notwendigkeit aufopfern.

Wir aber, von unserer erzählenden und darstellenden Seite, sollten
diese teuren Personen, die uns früher so viele Neigungen abgewonnen,
nicht in so weite Entfernung ziehen lassen, ohne von ihrem bisherigen
Vornehmen und Tun nähere Nachricht erteilt zu haben, besonders da wir
so lange nichts Ausführliches von ihnen vernommen. Gleichwohl
unterlassen wir dieses, weil ihr bisheriges Geschäft sich nur
vorbereitend auf das große Unternehmen bezog, auf welches wir sie
lossteuern sehen. Wir leben jedoch in der Hoffnung, sie dereinst in
voller geregelter Tätigkeit, den wahren Wert ihrer verschiedenen
Charaktere offenbarend, vergnüglich wiederzufinden.

Juliette, die Sinnige-Gute, deren wir uns wohl noch erinnern, hatte
geheiratet, einen Mann nach dem Herzen des Oheims, durchaus in seinem
Sinne mit--und fortwirkend. Juliette war in der letzten Zeit viel um
die Tante, wo manche derjenigen zusammentrafen, auf die sie
wohltätigen Einfluß gehabt; nicht nur solche, die dem festen Lande
gewidmet bleiben, auch solche, die über See zu gehen gedenken.
Lenardo hingegen hatte schon früher mit Friedrichen Abschied genommen;
die Mitteilung durch Boten war unter diesen desto lebhafter.

Vermißte man also in dem Verzeichnisse der Gäste jene edlen
Obengenannten, so waren doch manche bedeutende, uns schon näher
bekannte Personen darauf zu finden. Hilarie kam mit ihrem Gatten,
der nun als Hauptmann und entschieden reicher Gutsbesitzer auftrat.
Sie in ihrer großen Anmut und Liebenswürdigkeit gewann sich hier wie
überall gar gern Verzeihung einer allzu großen Leichtigkeit, von
Interesse zu Interesse übergehend zu wechseln, deren wir sie im Lauf
der Erzählung schuldig gefunden. Besonders die Männer rechneten es
ihr nicht hoch an. Einen dergleichen Fehler, wenn es einer ist,
finden sie nicht anstößig, weil ein jeder wünschen und hoffen mag,
auch an die Reihe zu kommen.

Flavio, ihr Gemahl, rüstig, munter und liebenswürdig genug, schien
vollkommen ihre Neigung zu fesseln; sie mochte sich das Vergangene
selbst verziehen haben; auch fand Makarie keinen Anlaß, dessen zu
erwähnen. Er, der immer leidenschaftliche Dichter, bat sich aus, beim
Abschiede ein Gedicht vorlesen zu dürfen, welches er zu Ehren ihrer
und ihrer Umgebung in den wenigen Tagen seines Hierseins verfaßte.
Man sah ihn oft im Freien auf und ab gehen, nach einigem Stillstand
mit bewegter Gebärde wieder vorwärts schreitend in die Schreibtafel
schreiben, sinnen und wieder schreiben. Nun aber schien er es für
vollendet zu halten, als er durch Angela jenen Wunsch zu erkennen gab.


Die gute Dame, obgleich ungern, verstand sich hiezu, und es ließ
sich allenfalls anhören, ob man gleich dadurch weiter nichts erfuhr,
als was man schon wußte, nichts fühlte, als was man schon gefühlt
hatte. Indessen war denn doch der Vortrag leicht und gefällig,
Wendung und Reim mitunter neu, wenn man es auch hätte im ganzen etwas
kürzer wünschen mögen. Zuletzt übergab er dasselbe, auf gerändertes
Papier sehr schön geschrieben, und man schied mit vollkommener
wechselseitiger Zufriedenheit.

Dieses Paar war von einer bedeutenden, wohlgenutzten Reise nach dem
Süden zurückgekommen, um den Vater, den Major, von Hause abzulösen,
der mit jener Unwiderstehlichen, die nun seine Gemahlin geworden,
auch etwas von der paradiesischen Luft zu einiger Erquickung einatmen
wollte.

Diese beiden kamen denn auch, im Wechsel, und so wie überall hatte
bei Makarien die Merkwürdige auch vorzügliche Gunst, welche sich
besonders darin erwies, daß die Dame in den innern Zimmern und allein
empfangen wurde, welche Geneigtheit auch nachher dem Major zuteil
ward. Dieser empfahl sich darauf sogleich als gebildeter Militär,
guter Haus--und Landwirt, Literaturfreund, sogar als Lehrdichter
beifallswürdig und fand bei dem Astronomen und sonstigen Hausgenossen
guten Eingang.

Auch von unserm alten Herrn, dem würdigen Oheim, ward er besonders
ausgezeichnet, welcher, in mäßiger Ferne wohnend, diesmal mehr, als
er sonst pflegte, obgleich nur für Stunden, herüberkam, aber keine
Nacht, auch bei angebotener größten Bequemlichkeit, zu bleiben
bewogen werden konnte.

Bei solchen kurzen Zusammenkünften war seine Gegenwart jedoch höchst
erfreulich, weil er sodann, als Welt--und Hofmann, nachgiebig und
vermittelnd auftreten wollte; wobei denn sogar ein Zug von
aristokratischer Pedanterie nicht unangenehm empfunden wurde. überdem
ging diesmal sein Behagen von Grund aus, er war glücklich, wie wir
uns alle fühlen, wenn wir mit verständig-vernünftigen Leuten
Wichtiges zu verhandeln haben. Das umfassende Geschäft war völlig im
Gange, es bewegte sich stetig nach gepflogener Verabredung.

Hievon nur die Hauptmomente. Er ist drüben über dem Meere, von
seinen Vorfahren her, Eigentümer. Was das heißen wolle, möge der
Kenner dortiger Angelegenheiten, da es uns hier zu weit führen müßte,
seinen Freunden näher erklären. Diese wichtigen Besitzungen waren
bisher verpachtet und trugen, bei mancherlei Unannehmlichkeiten, wenig
ein. Die Gesellschaft, die wir genugsam kennen, ist nun berechtigt,
dort Besitz zu nehmen, mitten in der vollkommensten bürgerlichen
Einrichtung, von da sie als einflußreiches Staatsglied ihren Vorteil
ersehen und sich in die noch unangebaute Wüste fern verbreiten kann.
Hier nun will sich Friedrich mit Lenardo besonders hervortun, um zu
zeigen, wie man eigentlich von vorn beginnen und einen Naturweg
einschlagen könne.

Kaum hatten sich die Genannten von ihrem Aufenthalte höchst
zufrieden entfernt, so waren dagegen Gäste ganz anderer Art
angemeldet und doch auch willkommen. Wir erwarteten wohl kaum,
Philinen und Lydien an so heiliger Stätte auftreten zu sehen, und doch
kamen sie an. Der zunächst in den Gebirgen noch immer weilende
Montan sollte sie hier abholen und auf dem nächsten Wege zur See
bringen. Beide wurden von Haushälterinnen, Schaffnerinnen, sonst
angestellten und mitwohnenden Frauen sehr gut aufgenommen: Philine
brachte ein paar allerliebste Kinder mit und zeichnete sich, bei
einer einfachen, sehr reizenden Kleidung, aus durch das Sonderbare,
daß sie von blumig gesticktem Gürtel herab an langer silberner Kette
eine mäßig große englische Schere trug, mit der sie manchmal,
gleichsam als wollte sie ihrem Gespräch einigen Nachdruck geben, in
die Luft schnitt und schnappte und durch einen solchen Akt die
sämtlichen Anwesenden erheiterte; worauf denn bald die Frage folgte:
ob es denn in einer so großen Familie nichts zuzuschneiden gebe? und
da fand sich denn, daß, erwünscht für eine solche Tätigkeit, ein paar
Bräute sollten ausgestattet werden. Sie sieht hierauf die
Landestracht an, läßt die Mädchen vor sich auf und ab gehen und
schneidet immer zu, wobei sie aber, mit Geist und Geschmack verfahrend,
ohne dem Charakter einer solchen Tracht etwas zu benehmen, das
eigentlich stockende Barbarische derselben mit einer Anmut zu
vermitteln weiß, so gelind, daß die Bekleideten sich und andern
besser gefallen und die Bangigkeit überwinden, man möge von dem
Herkömmlichen doch abgewichen sein.

Hier kam nun Lydie, die mit gleicher Fertigkeit, Zierlichkeit und
Schnelle zu nähen verstand, vollkommen zu Hülfe, und man durfte
hoffen, mit dem übrigen weiblichen Beistand die Bräute schneller, als
man gedacht hatte, herausgeputzt zu sehen. Dabei durften sich diese
Mädchen nicht lange entfernen, Philine beschäftigte sich mit ihnen bis
aufs kleinste und behandelte sie wie Puppen oder Theaterstatisten.
Gehäufte Bänder und sonstiger in der Nachbarschaft üblicher
Festschmuck wurde schicklich verteilt, und so erreichte man zuletzt,
daß diese tüchtigen Körper und hübschen Figuren, sonst durch
barbarische Pedanterei zugedeckt, nunmehr zu einiger Evidenz
gelangten, wobei alle Derbheit doch immer zu einiger Anmut
herausgestutzt erschien.

Allzu tätige Personen werden aber doch in einem gleichmäßig
geregelten Zustande lästig. Philine war mit ihrer gefräßigen Schere
in die Zimmer geraten, wo die Vorräte zu Kleidern für die große
Familie, in Stoffen aller Art, zur Hand lagen. Da fand sie nun in
der Aussicht, das alles zu zerschneiden, die größte Glückseligkeit;
man mußte sie wirklich daraus entfernen und die Türen fest
verschließen, denn sie kannte weder Maß noch Ziel. Angela wollte
wirklich deshalb nicht als Braut behandelt sein, weil sie sich vor
einer solchen Zuschneiderin fürchtete; überhaupt ließ sich das
Verhältnis zwischen beiden keineswegs glücklich einleiten. Doch
hievon kann erst später die Rede sein.

Montan, länger als man gedacht hatte, zauderte zu kommen, und
Philine drang darauf, Makarien vorgestellt zu werden. Es geschah,
weil man sie alsdann um desto eher loszuwerden hoffte, und es war
merkwürdig genug, die beiden Sünderinnen zu den Füßen der Heiligen zu
sehen. Zu beiden Seiten lagen sie ihr an den Knieen, Philine zwischen
ihren zwei Kindern, die sie lebhaft anmutig niederdrückte; mit
gewohnter Heiterkeit sprach sie: "Ich liebe meinen Mann, meine Kinder,
beschäftige mich gern für sie, auch für andere, das übrige verzeihst
du!" Makarie begrüßte sie segnend, sie entfernte sich mit
anständiger Beugung.

Lydie lag von der linken Seite her der Heiligen mit dem Gesicht auf
dem Schoße, weinte bitterlich und konnte kein Wort sprechen; Makarie,
ihre Tränen auffassend, klopfte ihr auf die Schulter als
beschwichtigend, dann küßte sie ihr Haupt zwischen den gescheitelten
Haaren, wie es vor ihr lag, brünstig und wiederholt in frommer Absicht.


Lydie richtete sich auf, erst auf ihre Kniee, dann auf die Füße, und
schaute zu ihrer Wohltäterin mit reiner Heiterkeit. "Wie geschieht
mir!" sagte sie, "wie ist mir! Der schwere, lästige Druck, der mir,
wo nicht alle Besinnung, doch alles überlegen raubte, er ist auf
einmal von meinem Haupte weggehoben, ich kann nun frei in die Höhe
sehen, meine Gedanken in die Höhe richten, und", setzte sie nach
tiefem Atemholen hinzu, "ich glaube, mein Herz will nach."

In diesem Augenblick eröffnete sich die Türe, und Montan trat herein,
wie öfters der allzu lang Erwartete plötzlich und unverhofft
erscheint. Lydie schritt munter auf ihn zu, umarmte ihn freudig, und
indem sie ihn vor Makarien führte, rief sie aus: "Er soll erfahren,
was er dieser Göttlichen schuldig ist, und sich mit mir dankend
niederwerfen."

Montan, betroffen und, gegen seine Gewohnheit, gewissermaßen
verlegen, sagte mit edler Verbeugung gegen die würdige Dame: "Es
scheint sehr viel zu sein, denn ich werde dich ihr schuldig. Es ist
das erstemal, daß du mir offen und liebevoll entgegenkommst, das
erstemal, daß du mich ans Herz drückst, ob ich es gleich längst
verdiente."

Hier nun müssen wir vertraulich eröffnen, daß Montan Lydien von
ihrer frühen Jugend an geliebt, daß der einnehmendere Lothario sie
ihm entführt, er aber ihr und dem Freunde treu geblieben und sie sich
endlich, vielleicht zu nicht geringer Verwunderung unserer früheren
Leser, als Gattin zugeeignet habe.

Diese drei zusammen, welche sich in der europäischen Gesellschaft
doch nicht ganz behaglich fühlen mochten, mäßigten kaum den Ausdruck
ihrer Freude, wenn von den dort erwarteten Zuständen die Rede war.
Die Schere Philinens zuckte schon: denn man gedachte sich das Monopol
vorzubehalten, diese neuen Kolonien mit Kleidungsstücken zu versorgen.
Philine beschrieb den großen Tuch--und Leinwandvorrat sehr artig und
schnitt in die Luft, die Ernte für Sichel und Sense, wie sie sagte,
schon vor sich sehend.

Lydie dagegen, erst durch jene glücklichen Segnungen zu
teilnehmender Liebe wieder auferwacht, sah im Geiste schon ihre
Schülerinnen sich ins Hundertfache vermehren und ein ganzes Volk von
Hausfrauen zu Genauigkeit und Zierlichkeit eingeleitet und aufgeregt.
Auch der ernste Montan hat die dortige Bergfülle an Blei, Kupfer,
Eisen und Steinkohlen dergestalt vor Augen, daß er alle sein Wissen
und Können manchmal nur für ängstlich tastendes Versuchen erklären
möchte, um erst dort in eine reiche, belohnende Ernte mutig
einzugreifen.

Daß Montan sich mit unserm Astronomen bald verstehen würde, war
vorauszusehen. Die Gespräche, die sie in Gegenwart Makariens führten,
waren höchst anziehend; wir finden aber nur weniges davon
niedergeschrieben, indem Angela seit einiger Zeit beim Zuhören minder
aufmerksam und beim Aufzeichnen nachlässiger geworden war. Auch
mochte ihr manches zu allgemein und für ein Frauenzimmer nicht
faßlich genug vorkommen. Wir schalten daher nur einige der in jene
Tage gehörigen äußerungen hier vorübergehend ein, die nicht einmal
von ihrer Hand geschrieben uns zugekommen sind.

Bei dem Studieren der Wissenschaften, besonders derer, welche die
Natur behandeln, ist die Untersuchung so nötig als schwer: ob das,
was uns von alters her überliefert und von unsern Vorfahren für
gültig geachtet worden, auch wirklich gegründet und zuverlässig sei,
in dem Grade, daß man darauf fernerhin sicher fortbauen möge? oder ob
ein herkömmliches Bekenntnis nur stationär geworden und deshalb mehr
einen Stillstand als einen Fortschritt veranlasse? Ein Kennzeichen
fördert diese Untersuchung, wenn nämlich das Angenommene lebendig und
in das tätige Bestreben einwirkend und fördernd gewesen und geblieben.


Im Gegensatze steht die Prüfung des Neuen, wo man zu fragen hat: ob
das Angenommene wirklicher Gewinn oder nur modische übereinstimmung
sei? denn eine Meinung, von energischen Männern ausgehend, verbreitet
sich kontagios über die Menge, und dann heißt sie herrschend --eine
Anmaßung, die für den treuen Forscher gar keinen Sinn ausspricht.
Staat und Kirche mögen allenfalls Ursache finden, sich für herrschend
zu erklären: denn die haben es mit der widerspenstigen Masse zu tun,
und wenn nur Ordnung gehalten wird, so ist es ganz einerlei, durch
welche Mittel; aber in den Wissenschaften ist die absoluteste Freiheit
nötig: denn da wirkt man nicht für heut und morgen, sondern für eine
undenklich vorschreitende Zeitenreihe.

Gewinnt aber auch in der Wissenschaft das Falsche die Oberhand, so
wird doch immer eine Minorität für das Wahre übrigbleiben, und wenn
sie sich in einen einzigen Geist zurückzöge, so hätte das nichts zu
sagen. Er wird im stillen, im verborgenen fortwaltend wirken, und
eine Zeit wird kommen, wo man nach ihm und seinen überzeugungen fragt,
oder wo diese sich, bei verbreitetem allgemeinem Licht, auch wieder
hervorwagen dürfen.

Was jedoch weniger allgemein, obgleich unbegreiflich und
wunderseltsam, zur Sprache kam, war die gelegentliche Eröffnung
Montans, daß ihm bei seinen gebirgischen und bergmännischen
Untersuchungen eine Person zur Seite gehe, welche ganz wundersame
Eigenschaften und einen ganz eigenen Bezug auf alles habe, was man
Gestein, Mineral, ja sogar was man überhaupt Element nennen könne.
Sie fühle nicht bloß eine gewisse Einwirkung der unterirdisch
fließenden Wasser, metallischer Lager und Gänge, sowie der Steinkohlen
und was dergleichen in Massen beisammen sein möchte, sondern, was
wunderbarer sei, sie befinde sich anders und wieder anders, sobald
sie nur den Boden wechsele. Die verschiedenen Gebirgsarten übten auf
sie einen besondern Einfluß, worüber er sich mit ihr, seitdem er eine
zwar wunderliche, aber doch auslangende Sprache einzuleiten gewußt,
recht gut verständigen und sie im einzelnen prüfen könne, da sie denn
auf eine merkwürdige Weise die Probe bestehe, indem sie sowohl
chemische als physische Elemente durchs Gefühl gar wohl zu
unterscheiden wisse, ja sogar schon durch den Anblick das Schwerere
von dem Leichtern unterscheide. Diese Person, über deren Geschlecht
er sich nicht näher erklären wollte, habe er mit den abreisenden
Freunden vorausgeschickt und hoffe zu seinen Zwecken in den
ununtersuchten Gegenden sehr viel von ihr.

Dieses Vertrauen Montans eröffnete das strenge Herz des Astronomen,
welcher sodann mit Makariens Vergünstigung auch ihm das Verhältnis
derselben zum Weltsystem offenbarte. Durch nachherige Mitteilungen
des Astronomen sind wir in dem Fall, wo nicht Genugsames, doch das
Hauptsächliche ihrer Unterhaltung über so wichtige Punkte mitzuteilen.

Bewundern wir indessen die ähnlichkeit der hier eintretenden Fälle
bei der größten Verschiedenheit. Der eine Freund, um nicht ein Timon
zu werden, hatte sich in die tiefsten Klüfte der Erde versenkt, und
auch dort ward er gewahr, daß in der Menschennatur etwas Analoges zum
Starrsten und Rohsten vorhanden sei; dem andern gab von der
Gegenseite der Geist Makariens ein Beispiel, daß, wie dort das
Verbleiben, hier das Entfernen wohlbegabten Naturen eigen sei, daß
man weder nötig habe, bis zum Mittelpunkt der Erde zu dringen, noch
sich über die Grenzen unsres Sonnensystems hinaus zu entfernen,
sondern schon genüglich beschäftigt und vorzüglich auf Tat aufmerksam
gemacht und zu ihr berufen werde. An und in dem Boden findet man für
die höchsten irdischen Bedürfnisse das Material, eine Welt des
Stoffes, den höchsten Fähigkeiten des Menschen zur Bearbeitung
übergeben; aber auf jenem geistigen Wege werden immer Teilnahme, Liebe,
geregelte freie Wirksamkeit gefunden. Diese beiden Welten
gegeneinander zu bewegen, ihre beiderseitigen Eigenschaften in der
vorübergehenden Lebenserscheinung zu manifestieren, das ist die
höchste Gestalt, wozu sich der Mensch auszubilden hat.

Hierauf schlossen beide Freunde einen Bund und nahmen sich vor, ihre
Erfahrungen allenfalls auch nicht zu verheimlichen, weil derjenige,
der sie als einem Roman wohl ziemende Märchen belächeln könnte, sie
doch immer als ein Gleichnis des Wünschenswertesten betrachten dürfte.


Der Abschied Montans und seiner Frauenzimmer folgte bald hierauf,
und wenn man ihn mit Lydien wohl noch gern gehalten hätte, so war
doch die allzu unruhige Philine mehreren an Ruhe und Sitte gewohnten
Frauenzimmern, besonders aber der edlen Angela beschwerlich, wozu sich
noch besondere Umstände hinzufügten, welche die Unbehaglichkeit
vermehrten.

Schon oben hatten wir zu bemerken, daß Angela nicht wie sonst die
Pflicht des Aufmerkens und Aufzeichnens erfüllte, sondern anderwärts
beschäftigt schien. Um diese Anomalie an einer der Ordnung
dergestalt ergebenen und in den reinsten Kreisen sich bewegenden
Person zu erklären, sind wir genötigt, einen neuen Mitspieler in
dieses vielumfassende Drama noch zuletzt einzufahren.

Unser alter, geprüfter Handelsfreund Werner mußte sich bei
zunehmenden, ja gleichsam ins Unendliche sich vermehrenden Geschäften
nach frischen Gehülfen umsehen, welche er nicht ohne vorläufige
besondere Prüfung näher an sich anschloß. Einen solchen sendet er
nun an Makarien, um wegen Auszahlung der bedeutenden Summen zu
unterhandeln, welche diese Dame aus ihrem großen Vermögen dem neuen
Unternehmen, besonders in Rücksicht auf Lenardo, ihren Liebling,
zuzuwenden beschloß und erklärte. Gedachter junger Mann, nunmehr
Werners Gehülfe und Geselle, ein frischer, natürlicher Jüngling und
eine Wundererscheinung, empfiehlt sich durch ein eignes Talent, durch
eine grenzenlose Fertigkeit im Kopfrechnen, wie überall, so besonders
bei den Unternehmern, wie sie jetzt zusammenwirken, da sie sich
durchaus mit Zahlen im mannigfaltigsten Sinne einer
Gesellschaftsrechnung beschäftigen und ausgleichen müssen. Sogar in
der täglichen Sozietät, wo beim Hin--und Widerreden über weltliche
Dinge von Zahlen, Summen und Ausgleichungen die Rede ist, muß ein
solcher höchst willkommen mit einwirken. überdem spielte er den Flügel
höchst anmutig, wo ihm der Kalkül und ein liebenswürdiges Naturell
verbunden und vereint äußerst wünschenswert zu Hülfe kommt. Die Töne
fließen ihm leicht und harmonisch zusammen, manchmal aber deutet er
an, daß er auch wohl in tiefem Regionen zu Hause wäre, und so wird er
höchst anziehend, wenn er gleich wenig Worte macht und kaum irgend
etwas Gefühltes aus seinen Gesprächen durchblickt. Auf alle Fälle
ist er jünger als seine Jahre, man möchte beinahe etwas Kindliches an
ihm finden. Wie es übrigens auch mit ihm sei, er hat Angelas Gunst
gewonnen, sie die seinige, zu Makariens größter Zufriedenheit: denn
sie hatte längst gewünscht, das edle Mädchen verheiratet zu sehen.

Diese jedoch, immer bedenkend und fühlend, wie schwer ihre Stelle zu
besetzen sein werde, hatte wohl schon irgendein liebevolles
Anerbieten abgelehnt, vielleicht sogar einer stillen Neigung Gewalt
angetan; seitdem aber eine Nachfolgerin denkbar, ja gewissermaßen
schon bestimmt worden, scheint sie, von einem wohlgefälligen Eindruck
überrascht, ihm bis zur Leidenschaft nachgegeben zu haben.

Wir aber kommen nunmehr in den Fall, das Wichtigste zu eröffnen,
indem ja alles, worüber seit so mancher Zeit die Rede gewesen, sich
nach und nach gebildet, aufgelöst und wieder gestaltet hatte.

Entschieden ist also auch nunmehr, daß die Schöne-Gute, sonst das
nußbraune Mädchen genannt, sich Makarien zur Seite füge. Der im
allgemeinen vorgelegte, auch von Lenardo schon gebilligte Plan ist
seiner Ausführung ganz nah; alle Teilnehmenden sind einig; die
Schöne-Gute übergibt dem Gehülfen ihr ganzes Besitztum. Er heiratet
die zweite Tochter jener arbeitsamen Familie und wird Schwager des
Schirrfassers. Hiedurch wird die vollkommene Einrichtung einer neuen
Fabrikation durch Lokal und Zusammenwirkung möglich, und die Bewohner
des arbeitslustigen Tales werden auf eine andere, lebhaftere Weise
beschäftigt.

Dadurch wird die Liebenswürdige frei, sie tritt bei Makarien an die
Stelle von Angela, welche mit jenem jungen Manne schon verlobt ist.
Hiemit wäre alles für den Augenblick berichtet; was nicht entschieden
werden kann, bleibt im Schweben.

Nun aber verlangt die Schöne-Gute, daß Wilhelm sie abhole; gewisse
Umstände sind noch zu berichtigen, und sie legt bloß einen großen
Wert darauf, daß er das, was er doch eigentlich angefangen, auch
vollende. Er entdeckte sie zuerst, und ein wundersam Geschick trieb
Lenardo auf seine Spur; und nun soll er, so wünscht sie, ihr den
Abschied von dort erleichtern und so die Freude, die Beruhigung
empfinden, einen Teil der verschränkten Schicksalsfäden selbst wieder
aufgefaßt und angeknüpft zu haben.

Nun aber müssen wir, um das Geistliche, das Gemütliche zu einer Art
von Vollständigkeit zu bringen, auch ein Geheimeres offenbaren, und
zwar folgendes: Lenardo hatte über eine nähere Verbindung mit der
Schönen-Guten niemals das mindeste geäußert; im Laufe der
Unterhandlungen aber, bei dem vielen Hin--und Widersenden war denn
doch auf eine zarte Weise an ihr geforscht worden, wie sie dies
Verhältnis ansehe und was sie, wenn es zur Sprache käme, allenfalls
zu tun geneigt wäre. Aus ihrem Erwidern konnte man sich so viel
zusammensetzen: sie fühle sich nicht wert, einer solchen Neigung wie
der ihres edlen Freundes durch Hingebung ihres geteilten Selbst zu
antworten. Ein Wohlwollen der Art verdiene die ganze Seele, das
ganze Vermögen eines weiblichen Wesens; dies aber könne sie nicht
anbieten. Das Andenken ihres Bräutigams, ihres Gatten und der
wechselseitigen Einigung beider sei noch so lebhaft in ihr, nehme
noch ihr ganzes Wesen dergestalt völlig ein, daß für Liebe und
Leidenschaft kein Raum gedenkbar, auch ihr nur das reinste Wohlwollen
und in diesem Falle die vollkommenste Dankbarkeit übrig bleibe. Man
beruhigte sich hiebei, und da Lenardo die Angelegenheit nicht berührt
hatte, war es auch nicht nötig, hierüber Auskunft und Antwort zu
geben.

Einige allgemeine Betrachtungen werden hoffentlich hier am rechten
Orte stehen. Das Verhältnis sämtlicher vorübergehenden Personen zu
Makarien war vertraulich und ehrfurchtsvoll, alle fühlten die
Gegenwart eines höheren Wesens, und doch blieb in solcher Gegenwart
einem jeden die Freiheit, ganz in seiner eigenen Natur zu erscheinen.
Jeder zeigt sich, wie er ist, mehr als je vor Eltern und Freunden,
mit einer gewissen Zuversicht, denn er war gelockt und veranlaßt, nur
das Gute, das Beste, was an ihm war, an den Tag zu geben, daher beinah
eine allgemeine Zufriedenheit entstand.

Verschweigen aber können wir nicht, daß durch diese gewissermaßen
zerstreuenden Zustände Makarie mit der Lage Lenardos beschäftigt
blieb; sie äußerte sich auch darüber gegen ihre Nächsten, gegen
Angela und den Astronomen. Lenardos Inneres glaubten sie deutlich
vor sich zu sehen, er ist für den Augenblick beruhigt, der Gegenstand
seiner Sorge wird höchst glücklich gesichert; Makarie hatte für die
Zukunft auf jeden Fall gesorgt. Nun hatte er das große Geschäft
mutig anzutreten und zu beginnen, das übrige dem Folgegang und
Schicksal zu überlassen. Dabei konnte man vermuten, daß er in jenen
Unternehmungen hauptsächlich gestärkt sei durch den Gedanken, sie
dereinst, wenn er Fuß gefaßt, hinüber zu berufen, wo nicht gar selbst
abzuholen.

Allgemeiner Bemerkungen konnte man hiebei sich nicht enthalten. Man
beachtete näher den seltenen Fall, der sich hier hervortat:
Leidenschaft aus Gewissen. Man gedachte zugleich anderer Beispiele
einer wundersamen Umbildung einmal gefaßter Eindrücke, der
geheimnisvollen Entwickelung angeborner Neigung und Sehnsucht. Man
bedauerte, daß in solchen Fällen wenig zu raten sei, würde es aber
höchst rätlich finden, sich möglichst klar zu halten und diesem oder
jenem Hang nicht unbedingt nachzugeben.

Zu diesem Punkte aber gelangt, können wir der Versuchung nicht
widerstehen, ein Blatt aus unsern Archiven mitzuteilen, welches
Makarien betrifft und die besondere Eigenschaft, die ihrem Geiste
erteilt ward. Leider ist dieser Aufsatz erst lange Zeit, nachdem der
Inhalt mitgeteilt worden, aus dem Gedächtnis geschrieben und nicht,
wie es in einem so merkwürdigen Fall wünschenswert wäre, für ganz
authentisch anzusehen. Dem sei aber, wie ihm wolle, so wird hier
schon so viel mitgeteilt, um Nachdenken zu erregen und Aufmerksamkeit
zu empfehlen, ob nicht irgendwo schon etwas ähnliches oder sich
Annäherndes bemerkt und verzeichnet worden.





Fünfzehntes Kapitel

Makarie befindet sich zu unserm Sonnensystem in einem Verhältnis,
welches man auszusprechen kaum wagen darf. Im Geiste, der Seele, der
Einbildungskraft hegt sie, schaut sie es nicht nur, sondern sie macht
gleichsam einen Teil desselben; sie sieht sich in jenen himmlischen
Kreisen mit fortgezogen, aber auf eine ganz eigene Art; sie wandelt
seit ihrer Kindheit um die Sonne, und zwar, wie nun entdeckt ist, in
einer Spirale, sich immer mehr vom Mittelpunkt entfernend und nach den
äußeren Regionen hinkreisend.

Wenn man annehmen darf, daß die Wesen, insofern sie körperlich sind,
nach dem Zentrum, insofern sie geistig sind, nach der Peripherie
streben, so gehört unsere Freundin zu den geistigsten; sie scheint
nur geboren, um sich von dem Irdischen zu entbinden, um die nächsten
und fernsten Räume des Daseins zu durchdringen. Diese Eigenschaft, so
herrlich sie ist, ward ihr doch seit den frühsten Jahren als eine
schwere Aufgabe verliehen. Sie erinnert sich von klein auf ihr
inneres Selbst als von leuchtendem Wesen durchdrungen, von einem Licht
erhellt, welchem sogar das hellste Sonnenlicht nichts anhaben konnte.
Oft sah sie zwei Sonnen, eine innere nämlich und eine außen am
Himmel, zwei Monde, wovon der äußere in seiner Größe bei allen Phasen
sich gleich blieb, der innere sich immer mehr und mehr verminderte.

Diese Gabe zog ihren Anteil ab von gewöhnlichen Dingen, aber ihre
trefflichen Eltern wendeten alles auf ihre Bildung; alle Fähigkeiten
wurden an ihr lebendig, alle Tätigkeiten wirksam, dergestalt daß sie
allen äußeren Verhältnissen zu genügen wußte und, indem ihr Herz, ihr
Geist ganz von überirdischen Gesichten erfüllt war, doch ihr Tun und
Handeln immerfort dem edelsten Sittlichen gemäß blieb. Wie sie
heranwuchs, überall hilfreich, unaufhaltsam in großen und kleinen
Diensten, wandelte sie wie ein Engel Gottes auf Erden, indem ihr
geistiges Ganze sich zwar um die Weltsonne, aber nach dem
überweltlichen in stetig zunehmenden Kreisen bewegte.

Die überfülle dieses Zustandes ward einigermaßen dadurch gemildert,
daß es auch in ihr zu tagen und zu nachten schien, da sie denn, bei
gedämpftem innerem Licht, äußere Pflichten auf das treuste zu
erfüllen strebte, bei frisch aufleuchtendem Innerem sich der
seligsten Ruhe hingab. Ja sie will bemerkt haben, daß eine Art von
Wolken sie von Zeit zu Zeit umschwebten und ihr den Anblick der
himmlischen Genossen auf eine Zeitlang umdämmerten, eine Epoche, die
sie stets zu Wohl und Freude ihrer Umgebungen zu benutzen wußte.

Solange sie die Anschauungen geheimhielt, gehörte viel dazu, sie zu
ertragen; was sie davon offenbarte, wurde nicht anerkannt oder
mißdeutet, sie ließ es daher in ihrem langen Leben nach außen als
Krankheit gelten, und so spricht man in der Familie noch immer davon;
zuletzt aber hat ihr das gute Glück den Mann zugeführt, den ihr bei
uns seht, als Arzt, Mathematiker und Astronom gleich schätzbar,
durchaus ein edler Mensch, der sich jedoch erst eigentlich aus
Neugierde zu ihr heranfand. Als sie aber Vertrauen gegen ihn gewann,
ihm nach und nach ihre Zustände beschrieben, das Gegenwärtige ans
Vergangene angeschlossen und in die Ereignisse einen Zusammenhang
gebracht hatte, ward er so von der Erscheinung eingenommen, daß er
sich nicht mehr von ihr trennen konnte, sondern Tag für Tag stets
tiefer in das Geheimnis einzudringen trachtete.

Im Anfange, wie er nicht undeutlich zu verstehen gab, hielt er es
für Täuschung; denn sie leugnete nicht, daß von der ersten Jugend an
sie sich um die Stern--und Himmelskunde fleißig bekümmert habe, daß
sie darin wohl unterrichtet worden und keine Gelegenheit versäumt,
sich durch Maschinen und Bücher den Weltbau immer mehr zu
versinnlichen. Deshalb er sich denn nicht ausreden ließ, es sei
angelernt. Die Wirkung einer in hohem Grad geregelten
Einbildungskraft, der Einfluß des Gedächtnisses sei zu vermuten, eine
Mitwirkung der Urteilskraft, besonders aber eines versteckten Kalküls.

Er ist ein Mathematiker und also hartnäckig, ein heller Geist und
also ungläubig; er wehrte sich lange, bemerkte jedoch, was sie angab,
genau, suchte der Folge verschiedener Jahre beizukommen, wunderte
sich besonders über die neusten, mit dem gegenseitigem Stande der
Himmelslichter übereintreffenden Angaben und rief endlich aus: "Nun
warum sollte Gott und die Natur nicht auch eine lebendige
Armillarsphäre, ein geistiges Räderwerk erschaffen und einrichten,
daß es, wie ja die Uhren uns täglich und stündlich leisten, dem Gang
der Gestirne von selbst auf eigne Weise zu folgen imstande wäre?"

Hier aber wagten wir nicht, weiter zu gehen; denn das Unglaubliche
verliert seinen Wert, wenn man es näher im einzelnen beschauen will.
Doch sagen wir so viel: Dasjenige, was zur Grundlage der
anzustellenden Berechnungen diente, war folgendes: Ihr, der Seherin,
erschien unsere Sonne in der Vision um vieles kleiner, als sie solche
bei Tage erblickte, auch gab eine ungewöhnliche Stellung dieses
höheren Himmelslichtes im Tierkreise Anlaß zu Folgerungen.

Dagegen entstanden Zweifel und Irrungen, weil die Schauende ein und
das andere Gestirn andeutete als gleichfalls in dem Zodiak
erscheinend, von dem man aber am Himmel nichts gewahr werden konnte.
Es mochten die damals noch unentdeckten kleinen Planeten sein. Denn
aus andern Angaben ließ sich schließen, daß sie, längst über die Bahn
des Mars hinaus, der Bahn des Jupiter sich nähere. Offenbar hatte
sie eine Zeitlang diesen Planeten, es wäre schwer zu sagen in welcher
Entfernung, mit Staunen in seiner ungeheuren Herrlichkeit betrachtet
und das Spiel seiner Monde um ihn her geschaut; hernach aber ihn auf
die wunderseltsamste Weise als abnehmenden Mond gesehen, und zwar
umgewendet, wie uns der wachsende Mond erscheint. Daraus wurde
geschlossen, daß sie ihn von der Seite sehe und wirklich im Begriff
sei, über dessen Bahn hinauszuschreiten und in dem unendlichen Raum
dem Saturn entgegenzustreben. Dorthin folgt ihr keine
Einbildungskraft, aber wir hoffen, daß eine solche Entelechie sich
nicht ganz aus unserm Sonnensystem entfernen, sondern, wenn sie an
die Grenze desselben gelangt ist, sich wieder zurücksehnen werde, um
zugunsten unsrer Urenkel in das irdische Leben und Wohltun wieder
einzuwirken.

Indem wir nun diese ätherische Dichtung, Verzeihung hoffend, hiemit
beschließen, wenden wir uns wieder zu jenem terrestrischen Märchen,
wovon wir oben eine vorübergehende Andeutung gegeben.

Montan hatte mit dem größten Anschein von Ehrlichkeit angegeben:
jene wunderbare Person, welche mit ihren Gefühlen den Unterschied der
irdischen Stoffe so wohl zu bezeichnen wisse, sei schon mit den
ersten Wanderern in die weite Ferne gezogen, welches jedoch dem
aufmerksamen Menschenkenner durchaus hätte sollen unwahrscheinlich
dünken. Denn wie wollte Montan und seinesgleichen eine so bereite
Wünschelrute von der Seite gelassen haben? Auch ward kurz nach
seiner Abreise durch Hin--und Widerreden und sonderbare Erzählungen
der unteren Hausbedienten hierüber ein Verdacht allmählich rege.
Philine nämlich und Lydie hatten eine Dritte mitgebracht, unter dem
Vorwand, es sei eine Dienerin, wozu sie sich aber gar nicht zu
schicken schien; wie sie denn auch beim An--und Auskleiden der
Herrinnen niemals gefordert wurde. Ihre einfache Tracht kleidete den
derben, wohlgebauten Körper gar schicklich, deutete aber, so wie die
ganze Person, auf etwas Ländliches. Ihr Betragen, ohne roh zu sein,
zeigte keine gesellige Bildung, wovon die Kammermädchen immer die
Karikatur darzustellen pflegen. Auch fand sie gar bald unter der
Dienerschaft ihren Platz; sie gesellte sich zu den Garten--und
Feldgenossen, ergriff den Spaten und arbeitete für zwei bis drei.
Nahm sie den Rechen, so flog er auf das geschickteste über das
aufgewühlte Erdreich, und die weiteste Fläche glich einem
wohlgeebneten Beete. übrigens hielt sie sich still und gewann gar bald
die allgemeine Gunst. Sie erzählten sich von ihr: man habe sie oft
das Werkzeug niederlegen und querfeldein über Stock und Steine
springen sehen, auf eine versteckte Quelle zu, wo sie ihren Durst
gelöscht. Diesen Gebrauch habe sie täglich wiederholt, indem sie von
irgendeinem Punkte aus, wo sie gestanden, immer ein oder das andere
rein ausfließende Wasser zu finden gewußt, wenn sie dessen bedurfte.

Und so war denn doch für Montans Angeben ein Zeugnis zurückgeblieben,
der wahrscheinlich, um lästige Versuche und unzulängliches Probieren
zu vermeiden, die Gegenwart einer so merkwürdigen Person vor seinen
edlen Wirten, welche sonst wohl ein solches Zutrauen verdient hätten,
zu verheimlichen beschloß. Wir aber wollten, was uns bekannt geworden,
auch unvollständig wie es vorliegt, mitgeteilt haben, um forschende
Männer auf ähnliche Fälle, die sich vielleicht öfter, als man glaubt,
durch irgendeine Andeutung hervortun, freundlich aufmerksam zu machen.





Sechzehntes Kapitel

Der Amtmann jenes Schlosses, das wir noch vor kurzem durch unsere
Wanderer belebt gesehen, von Natur tätig und gewandt, den Vorteil
seiner Herrschaft und seinen eignen immer vor Augen habend, saß
nunmehr vergnügt, Rechnungen und Berichte auszufertigen, wodurch er
die seinem Bezirk während der Anwesenheit jener Gäste zugegangenen
großen Vorteile mit einiger Selbstgefälligkeit vorzutragen und
auseinanderzusetzen sich bemühte. Allein dieses war nach seiner
eigenen überzeugung nur das Geringste; er hatte bemerkt, was für
große Wirkungen von tätigen, geschickten, freisinnigen und kühnen
Menschen ausgehen. Die einen hatten Abschied genommen, über das Meer
zu setzen, die andern, um auf dem festen Lande ihr Unterkommen zu
finden; nun ward er noch ein drittes heimliches Verhältnis gewahr,
wovon er alsobald Nutzen zu ziehen den Entschluß faßte.

Beim Abschied zeigte sich, was man hätte voraussagen und wissen
können, daß von den jungen, rüstigen Männern sich gar mancher mit den
hübschen Kindern des Dorfs und der Gegend mehr oder weniger
befreundet hatte. Nur einige bewiesen Mut genug, als Odoardo mit den
Seinigen abging, sich als entschieden Bleibende zu erklären; von
Lenardos Auswanderern war keiner geblieben, aber von diesen letztem
beteuerten verschiedene, in kurzer Zeit zurückkehren und sich
ansiedeln zu wollen, wenn man ihnen einigermaßen ein hinreichendes
Auskommen und Sicherheit für die Zukunft gewähren könne.

Der Amtmann, welcher die sämtliche Persönlichkeit und die häuslichen
Umstände seiner ihm untergebenen kleinen Völkerschaft ganz genau
kannte, lachte heimlich als ein wahrer Egoist über das Ereignis, daß
man so große Anstalten und Aufwand mache, um über dem Meer und im
Mittellande sich frei und tätig zu erweisen, und doch dabei ihm, der
auf seiner Hufe ganz ruhig gesessen, gerade die größten Vorteile zu
Haus und Hof bringe und ihm Gelegenheit gebe, einige der
Vorzüglichsten zurückzuhalten und bei sich zu versammeln. Seine
Gedanken, ausgeweitet durch die Gegenwart, fanden nichts natürlicher,
als daß Liberalität, wohl angewendet, gar löbliche, nützliche Folgen
habe. Er faßte sogleich den Entschluß, in seinem kleinen Bezirk
etwas ähnliches zu unternehmen. Glücklicherweise waren wohlhabende
Einwohner diesmal gleichsam genötigt, ihre Töchter den allzu frühen
Gatten gesetzmäßig zu überlassen. Der Amtmann machte ihnen einen
solchen bürgerlichen Unfall als ein Glück begreiflich, und da es
wirklich ein Glück war, daß gerade die in diesem Sinne brauchbarsten
Handwerker das Los getroffen hatte, so hielt es nicht schwer, die
Einleitung zu einer Möbelfabrik zu machen, die ohne weitläufigen Raum
und ohne große Umstände nur Geschicklichkeit und hinreichendes
Material verlangt. Das letzte versprach der Amtmann; Frauen, Raum und
Verlag gaben die Bewohner, und Geschicklichkeit brachten die
Einwandernden mit.

Das alles hatte der gewandte Geschäftsmann schon im stillen, bei
Anwesenheit und im Tumult der Menge, gar wohl überdacht und konnte
daher, sobald es um ihn ruhig ward, gleich zum Werke schreiten.

Ruhe, aber freilich eine Art Totenruhe, war nach Verlauf dieser Flut
über die Straßen des Orts, über den Hof des Schlosses gekommen, als
unsern rechnenden und berechnenden Geschäftsmann ein
hereinsprengender Reiter aufrief und aus seiner ruhigen Fassung
brachte. Des Pferdes Huf klappte freilich nicht, es war nicht
beschlagen, aber der Reiter, der von der Decke herabsprang--er ritt
ohne Sattel und Steigbügel, auch bändigte er das Pferd nur durch eine
Trense--, er rief laut und ungeduldig nach den Bewohnern, nach den
Gästen und war leidenschaftlich verwundert, alles so still und tot zu
finden.

Der Amtsdiener wußte nicht, was er aus dem Ankömmling machen sollte;
auf einen entstandenen Wortwechsel kam der Amtmann selbst hervor und
wußte auch weiter nichts zu sagen, als daß alles weggezogen sei.
"Wohin?" war die rasche Frage des jungen, lebendigen Ankömmlings.
--Mit Gelassenheit bezeichnete der Amtmann den Weg Lenardos und
Odoards, auch eines dritten problematischen Mannes, den sie teils
Wilhelm, teils Meister genannt hätten. Dieser habe sich auf dem
einige Meilen entfernten Flusse eingeschifft, er fahre hinab, erst
seinen Sohn zu besuchen und alsdann ein wichtiges Geschäft weiter zu
verfolgen.

Schon hatte der Jüngling sich wieder aufs Pferd geschwungen und
Kenntnis genommen von dem nächsten Wege zum Flusse hin, als er schon
wieder zum Tor hinausstürzte und so eilig davonflog, daß dem Amtmann,
der oben aus seinen Fenstern nachschaute, kaum ein verfliegender
Staub anzudeuten schien, daß der verwirrte Reiter den rechten Weg
genommen habe.

Nur eben war der letzte Staub in der Ferne verflogen, und unser
Amtmann wollte sich wieder zu seinem Geschäft niedersetzen, als zum
oberen Schloßtor ein Fußbote hereingesprungen kam und ebenfalls nach
der Gesellschaft fragte, der noch etwas Nachträgliches zu überbringen
er eilig abgesendet worden. Er hatte für sie ein größeres Paket,
daneben aber auch einen einzelnen Brief, adressiert an Wilhelm genannt
Meister, der dem überbringer von einem jungen Frauenzimmer besonders
auf die Seele gebunden und dessen baldige Bestellung eifrigst
eingeschärft worden war. Leider konnte auch diesem kein anderer
Bescheid werden, als daß er das Nest leer finde und daher seinen Weg
eiligst fortsetzen müsse, wo er sie entweder sämtlich anzutreffen
oder eine weitere Anweisung zu finden hoffen dürfte.

Den Brief aber selbst, den wir unter den vielen uns anvertrauten
Papieren gleichfalls vorgefunden, dürfen wir, als höchst bedeutend,
nicht zurückhalten. Er war von Hersilien, einem so wunderbaren als
liebenswürdigen Frauenzimmer, welches in unsern Mitteilungen nur
selten erscheint, aber bei jedesmaligem Auftreten gewiß jeden
Geistreichen, Feinfühlenden unwiderstehlich angezogen hat. Auch ist
das Schicksal, das sie betrifft, wohl das sonderbarste, das einem
zarten Gemüte widerfahren kann.





Siebzehntes Kapitel


Hersilie an Wilhelm

Ich saß denkend und wüßte nicht zu sagen, was ich dachte. Ein
denkendes Nichtdenken wandelt mich aber manchmal an, es ist eine Art
von empfundener Gleichgültigkeit. Ein Pferd sprengt in den Hof und
weckt mich aus meiner Ruhe, die Türe springt auf, und Felix tritt
herein im jugendlichsten Glanze wie ein kleiner Abgott. Er eilt auf
mich zu, will mich umarmen, ich weise ihn zurück; er scheint
gleichgültig, bleibt in einiger Entfernung, und in ungetrübter
Heiterkeit preist er mir das Pferd an, das ihn hergetragen, erzählt
von seinen übungen, von seinen Freuden umständlich und vertraulich.
Die Erinnerung an ältere Geschichten bringt uns auf das
Prachtkästchen, er weiß, daß ich's habe, und verlangt es zu sehen;
ich gebe nach, es war unmöglich zu versagen. Er betrachtet's,
erzählt umständlich, wie er es entdeckt, ich verwirre mich und verrate,
daß ich den Schlüssel besitze. Nun steigt seine Neugier aufs
höchste, auch den will er sehen, nur von ferne. Dringender und
liebenswürdiger bitten konnte man niemand sehen; er bittet wie betend,
knieet und bittet mit so feurigen, holden Augen, mit so süßen,
schmeichelnden Worten, und so war ich wieder verführt. Ich zeigte
das Wundergeheimnis von weitem, aber schnell faßte er meine Hand und
entriß ihn und sprang mutwillig zur Seite um einen Tisch herum.

"Ich habe nichts vom Kästchen noch vom Schlüssel!" rief er aus;
"dein Herz wünscht' ich zu öffnen, daß es sich mir auftäte, mir
entgegenkäme, mich an sich drückte, mir vergönnte, es an meine Brust
zu drücken." Er war unendlich schön und liebenswürdig, und wie ich
auf ihn zugehen wollte, schob er das Kästchen auf dem Tisch immer vor
sich hin; schon stak der Schlüssel drinnen; er drohte umzudrehen und
drehte wirklich. Das Schlüsselchen war abgebrochen, die äußere
Hälfte fiel auf den Tisch.

Ich war verwirrter, als man sein kann und sein sollte. Er benützt
meine Unaufmerksamkeit, läßt das Kästchen stehen, fährt auf mich los
und faßt mich in die Arme. Ich rang vergebens, seine Augen näherten
sich den meinigen, und es ist was Schönes, sein eigenes Bild im
liebenden Auge zu erblicken. Ich sah's zum erstenmal, als er seinen
Mund lebhaft auf den meinigen drückte. Ich will's nur gestehen, ich
gab ihm seine Küsse zurück, es ist doch sehr schön, einen Glücklichen
zu machen. Ich riß mich los, die Kluft, die uns trennt, erschien mir
nur zu deutlich; statt mich zu fassen, überschritt ich das Maß, ich
stieß ihn zürnend weg, meine Verwirrung gab mir Mut und Verstand; ich
bedrohte, ich schalt ihn, befahl ihm, nie wieder vor mir zu erscheinen;
er glaubte meinem wahrhaften Ausdruck. "Gut!" sagte er, "so reit'
ich in die Welt, bis ich umkomme." Er warf sich auf sein Pferd und
sprengte weg. Noch halb träumend will ich das Kästchen verwahren, die
Hälfte des Schlüssels lag abgebrochen, ich befand mich in doppelter
und dreifacher Verlegenheit. O Männer, o Menschen! Werdet ihr denn
niemals die Vernunft fortpflanzen? war es nicht an dem Vater genug,
der so viel Unheil anrichtete, bedurft' es noch des Sohns, um uns
unauflöslich zu verwirren?





Diese Bekenntnisse lagen eine Zeitlang bei mir, nun tritt ein
sonderbarer Umstand ein, den ich melden muß, der obiges aufklärt und
verdüstert.

Ein alter, dem Oheim sehr werter Goldschmied und Juwelenhändler
trifft ein, zeigt seltsame antiquarische Schätze vor; ich werde
veranlaßt, das Kästchen zu bringen, er betrachtet den abgebrochenen
Schlüssel und zeigt, was man bisher übersehen hatte, daß der Bruch
nicht rauh, sondern glatt sei. Durch Berührung fassen die beiden
Enden einander an, er zieht den Schlüssel ergänzt heraus, sie sind
magnetisch verbunden, halten einander fest, aber schließen nur dem
Eingeweihten. Der Mann tritt in einige Entfernung, das Kästchen
springt auf, das er gleich wieder zudrückt: an solche Geheimnisse sei
nicht gut rühren, meinte er.





Meinen unerklärlichen Zustand vergegenwärtigen Sie sich, Gott sei
Dank, gewiß nicht; denn wie wollte man außerhalb der Verwirrung die
Verwirrung erkennen. Das bedeutende Kästchen steht vor mir, den
Schlüssel, der nicht schließt, hab' ich in der Hand, jenes wollt' ich
gern uneröffnet lassen, wenn dieser mir nur die nächste Zukunft
aufschlösse.

Um mich bekümmern Sie sich eine Weile ja nicht, aber was ich
inständig bitte, flehe, dringend empfehle: forschen Sie nach Felix;
ich habe vergebens umhergesandt, um die Spuren seines Weges
aufzufinden. Ich weiß nicht, ob ich den Tag segnen oder fürchten soll,
der uns wieder zusammenführt.





Endlich, endlich! verlangt der Bote seine Abfertigung; man hat ihn
lange genug hier aufgehalten, er soll die Wanderer mit wichtigen
Depeschen ereilen. In dieser Gesellschaft wird er Sie ja auch wohl
finden, oder man wird ihn zurecht weisen. Ich unterdes werde nicht
beruhigt sein.





Achtzehntes Kapitel

Nun gleitete der Kahn, beschienen von heißer Mittagssonne, den Fluß
hinab, gelinde Lüfte kühlten den erwärmten äther, sanfte Ufer zu
beiden Seiten gewährten einen zwar einfachen, doch behäglichen
Anblick. Das Kornfeld näherte sich dem Strome, und ein guter Boden
trat so nah heran, daß ein rauschendes Wasser, auf irgendeine Stelle
sich hinwerfend, das lockere Erdreich gewaltig angegriffen,
fortgerissen und steile Abhänge von bedeutender Höhe sich gebildet
hatten.

Ganz oben auf dem schroffen Rande einer solchen Steile, wo sonst der
Leinpfad mochte hergegangen sein, sah der Freund einen jungen Mann
herantraben, gut gebaut, von kräftiger Gestalt. Kaum aber wollte man
ihn schärfer ins Auge fassen, als der dort überhangende Rasen
losbricht und jener Unglückliche jählings, Pferd über, Mann unter,
ins Wasser stürzt. Hier war nicht Zeit zu denken, wie und warum, die
Schiffer fuhren pfeilschnell dem Strudel zu und hatten im Augenblick
die schöne Beute gefaßt. Entseelt scheinend lag der holde Jüngling
im Schiffe, und nach kurzer überlegung fuhren die gewandten Männer
einem Kiesweidicht zu, das sich mitten im Fluß gebildet hatte.
Landen, den Körper ans Ufer heben, ausziehen und abtrocknen war eins.
Noch aber kein Zeichen des Lebens zu bemerken, die holde Blume
hingesenkt in ihren Armen!

Wilhelm griff sogleich nach der Lanzette, die Ader des Arms zu
öffnen; das Blut sprang reichlich hervor, und mit der schlängelnd
anspielenden Welle vermischt, folgte es gekreiseltem Strome nach.
Das Leben kehrte wieder; kaum hatte der liebevolle Wundarzt nur Zeit,
die Binde zu befestigen, als der Jüngling sich schon mutvoll auf
seine Füße stellte, Wilhelmen scharf ansah und rief: "Wenn ich leben
soll, so sei es mit dir!" Mit diesen Worten fiel er dem erkennenden
und erkannten Rettet um den Hals und weinte bitterlich. So standen
sie fest umschlungen, wie Kastor und Pollux, Brüder, die sich auf dem
Wechselwege vom Orkus zum Licht begegnen.

Man bat ihn, sich zu beruhigen. Die wackern Männer hatten schon ein
bequemes Lager, halb sonnig, halb schattig, unter leichten Büschen
und Zweigen bereitet; hier lag er nun auf den väterlichen Mantel
hingestreckt, der holdeste Jüngling; braune Locken, schnell
getrocknet, rollten sich schon wieder auf, er lächelte beruhigt und
schlief ein. Mit Gefallen sah unser Freund auf ihn herab, indem er
ihn zudeckte.--"Wirst du doch immer aufs neue hervorgebracht,
herrlich Ebenbild Gottes!" rief er aus, "und wirst sogleich wieder
beschädigt, verletzt von innen oder von außen."--Der Mantel fiel über
ihn her, eine gemäßigte Sonnenglut durchwärmte die Glieder sanft und
innigst, seine Wangen röteten sich gesund, er schien schon völlig
wiederhergestellt.

Die tätigen Männer, einer guten geglückten Handlung und des zu
erwartenden reichlichen Lohns zum voraus sich erfreuend, hatten auf
dem heißen Kies die Kleider des Jünglings schon so gut als getrocknet,
um ihn beim Erwachen sogleich wieder in den gesellig anständigsten
Zustand zu versetzen.





Aus Makariens Archiv

Die Geheimnisse der Lebenspfade darf und kann man nicht offenbaren;
es gibt Steine des Anstoßes, über die ein jeder Wanderer stolpern muß.
Der Poet aber deutet auf die Stelle hin.





Es wäre nicht der Mühe wert, siebzig Jahre alt zu werden, wenn alle
Weisheit der Welt Torheit wäre vor Gott.





Das Wahre ist gottähnlich; es erscheint nicht unmittelbar, wir
müssen es aus seinen Manifestationen erraten.





Der echte Schüler lernt aus dem Bekannten das Unbekannte entwickeln
und nähert sich dem Meister.





Aber die Menschen vermögen nicht leicht aus dem Bekannten das
Unbekannte zu entwickeln; denn sie wissen nicht, daß ihr Verstand
ebensolche Künste wie die Natur treibt.





Denn die Götter lehren uns ihr eigenstes Werk nachahmen; doch wissen
wir nur, was wir tun, erkennen aber nicht, was wir nachahmen.





Alles ist gleich, alles ungleich, alles nützlich und schädlich,
sprechend und stumm, vernünftig und unvernünftig. Und was man von
einzelnen Dingen bekennt, widerspricht sich öfters.





Denn das Gesetz haben die Menschen sich selbst auferlegt, ohne zu
wissen, über was sie Gesetze gaben; aber die Natur haben alle Götter
geordnet.





Was nun die Menschen gesetzt haben, das will nicht passen, es mag
recht oder unrecht sein; was aber die Götter setzen, das ist immer am
Platz, recht oder unrecht.





Ich aber will zeigen, daß die bekannten Künste der Menschen
natürlichen Begebenheiten gleich sind, die offenbar oder geheim
vorgehen.





Von der Art ist die Weissagekunst. Sie erkennet aus dem Offenbaren
das Verborgene, aus dem Gegenwärtigen das Zukünftige, aus dem Toten
das Lebendige, und den Sinn des Sinnlosen.





So erkennt der Unterrichtete immer recht die Natur des Menschen; und
der Ununterrichtete sieht sie bald so, bald so an, und jeder ahmt sie
nach seiner Weise nach.





Wenn ein Mann mit einem Weibe zusammentrifft und ein Knabe entsteht,
so wird aus etwas Bekanntem ein Unbekanntes. Dagegen wenn der dunkle
Geist des Knaben die deutlichen Dinge in sich aufnimmt, so wird er
zum Mann und lernt aus dem Gegenwärtigen das Zukünftige erkennen.





Das Unsterbliche ist nicht dem sterblichen Lebenden zu vergleichen,
und doch ist auch das bloß Lebende verständig. So weiß der Magen
recht gut, wenn er hungert und durstet.





So verhält sich die Wahrsagekunst zur menschlichen Natur. Und beide
sind dem Einsichtsvollen immer recht; dem Beschränkten aber
erscheinen sie bald so, bald so.





In der Schmiede erweicht man das Eisen, indem man das Feuer anbläst
und dem Stabe seine überflüssige Nahrung nimmt; ist er aber rein
geworden, dann schlägt man ihn und zwingt ihn, und durch die Nahrung
eines fremden Wassers wird er wieder stark. Das widerfährt auch dem
Menschen von seinem Lehrer.





Da wir überzeugt sind, daß derjenige, der die intellektuelle Weit
beschaut und des wahrhaften Intellekts Schönheit gewahr wird, auch
wohl ihren Vater, der über allen Sinn erhaben ist, bemerken könne, so
versuchen wir denn nach Kräften einzusehen und für uns selbst
auszudrücken--insofern sich dergleichen deutlich machen läßt--, auf
welche Weise wir die Schönheit des Geistes und der Welt anzuschauen
vermögen.





Nehmet an daher: zwei steinerne Massen seien nebeneinandergestellt,
deren eine roh und ohne künstliche Bearbeitung geblieben, die andere
aber durch die Kunst zur Statue, einer menschlichen oder göttlichen,
ausgebildet worden. Wäre es eine göttliche, so möchte sie eine
Grazie oder Muse vorstellen, wäre es eine menschliche, so dürfte es
nicht ein besonderer Mensch sein, vielmehr irgendeiner, den die Kunst
aus allem Schönen versammelte.





Euch wird aber der Stein, der durch die Kunst zur schönen Gestalt
gebracht worden, alsobald schön erscheinen; doch nicht weil er Stein
ist, denn sonst würde die andere Masse gleichfalls für schön gelten,
sondern daher, daß er eine Gestalt hat, welche die Kunst ihm erteilte.






Die Materie aber hatte eine solche Gestalt nicht, sondern diese war
in dem Ersinnenden früher, als sie zum Stein gelangte. Sie war
jedoch in dem Künstler nicht weil er Augen und Hände hatte, sondern
weil er mit der Kunst begabt war.





Also war in der Kunst noch eine weit größere Schönheit; denn nicht
die Gestalt, die in der Kunst ruhet, gelangt in den Stein, sondern
dorten bleibt sie und es gehet indessen eine andere, geringere hervor,
die nicht rein in sich selbst verharret, noch auch wie sie der
Künstler wünschte, sondern insofern der Stoff der Kunst gehorchte.





Wenn aber die Kunst dasjenige, was sie ist und besitzt, auch
hervorbringt und das Schöne nach der Vernunft hervorbringt, nach
welcher sie immer handelt, so ist sie fürwahr diejenige, die mehr und
wahrer eine größere und trefflichere Schönheit der Kunst besitzt,
vollkommener als alles, was nach außen hervortritt.





Denn indem die Form, in die Materie hervorschreitend, schon
ausgedehnt wird, so wird sie schwächer als jene, welche in Einem
verharret. Denn was in sich eine Entfernung erduldet, tritt von sich
selbst weg: Stärke von Stärke, Wärme von Wärme, Kraft von Kraft; so
auch Schönheit von Schönheit. Daher muß das Wirkende trefflicher sein
als das Gewirkte. Denn nicht die Unmusik macht den Musiker, sondern
die Musik, und die übersinnliche Musik bringt die Musik in sinnlichem
Ton hervor.





Wollte aber jemand die Künste verachten, weil sie der Natur
nachahmen, so läßt sich darauf antworten, daß die Naturen auch
manches andere nachahmen; daß ferner die Künste nicht das geradezu
nachahmen, was man mit Augen siehet, sondern auf jenes Vernünftige
zurückgehen, aus welchem die Natur bestehet und wornach sie handelt.





Ferner bringen auch die Künste vieles aus sich selbst hervor und
fügen anderseits manches hinzu, was der Vollkommenheit abgehet, indem
sie die Schönheit in sich selbst haben. So konnte Phidias den Gott
bilden, ob er gleich nichts sinnlich Erblickliches nachahmte, sondern
sich einen solchen in den Sinn faßte, wie Zeus selbst erscheinen
würde, wenn er unsern Augen begegnen möchte.





Man kann den Idealisten alter und neuer Zeit nicht verargen, wenn
sie so lebhaft auf Beherzigung des einen dringen, woher alles
entspringt und worauf alles wieder zurückzuführen wäre. Denn
freilich ist das belebende und ordnende Prinzip in der Erscheinung
dergestalt bedrängt, daß es sich kaum zu retten weiß. Allein wir
verkürzen uns an der andern Seite wieder, wenn wir das Formende und
die höhere Form selbst in eine vor unserm äußern und innern Sinn
verschwindende Einheit zurückdrängen.





Wir Menschen sind auf Ausdehnung und Bewegung angewiesen; diese
beiden allgemeinen Formen sind es, in welchen sich alle übrigen
Formen, besonders die sinnlichen, offenbaren. Eine geistige Form
wird aber keineswegs verkürzt, wenn sie in der Erscheinung hervortritt,
vorausgesetzt daß ihr Hervortreten eine wahre Zeugung, eine wahre
Fortpflanzung sei. Das Gezeugte ist nicht geringer als das Zeugende,
ja es ist der Vorteil lebendiger Zeugung, daß das Gezeugte
vortrefflicher sein kann als das Zeugende.





Dieses weiter auszuführen und vollkommen anschaulich, ja, was mehr
ist, durchaus praktisch zu machen, würde von wichtigem Belang sein.
Eine umständliche folgerechte Ausführung aber möchte den Hörern
übergroße Aufmerksamkeit zumuten.





Was einem angehört, wird man nicht los, und wenn man es wegwürfe.





Die neueste Philosophie unserer westlichen Nachbarn gibt ein Zeugnis,
daß der Mensch, er gebärde sich, wie er wolle, und so auch ganze
Nationen immer wieder zum Angebornen zurückkehren. Und wie wollte
das anders sein, da ja dieses seine Natur und Lebensweise bestimmt.





Die Franzosen haben dem Materialismus entsagt und den Uranfängen
etwas mehr Geist und Leben zuerkannt; sie haben sich vom Sensualismus
losgemacht und den Tiefen der menschlichen Natur eine Entwickelung
aus sich selbst eingestanden, sie lassen in ihr eine produktive Kraft
gelten und suchen nicht alle Kunst aus Nachahmung eines
gewahrgewordenen äußern zu erklären. In solchen Richtungen mögen sie
beharren.





Eine eklektische Philosophie kann es nicht geben, wohl aber
eklektische Philosophen.





Ein Eklektiker aber ist ein jeder, der aus dem, was ihn umgibt, aus
dem, was sich um ihn ereignet, sich dasjenige aneignet, was seiner
Natur gemäß ist; und in diesem Sinne gilt alles, was Bildung und
Fortschreitung heißt, theoretisch oder praktisch genommen.





Zwei eklektische Philosophen könnten demnach die größten Widersacher
werden, wenn sie, antagonistisch geboren, jeder von seiner Seite sich
aus allen überlieferten Philosophien dasjenige aneignete, was ihm
gemäß wäre. Sehe man doch nur um sich her, so wird man immer finden,
daß jeder Mensch auf diese Weise verfährt und deshalb nicht begreift,
warum er andere nicht zu seiner Meinung bekehren kann.





Sogar ist es selten, daß jemand im höchsten Alter sich selbst
historisch wird und daß ihm die Mitlebenden historisch werden, so daß
er mit niemanden mehr kontrovertieren mag noch kann.





Besieht man es genauer, so findet sich, daß dem Geschichtschreiber
selbst die Geschichte nicht leicht historisch wird: denn der
jedesmalige Schreiber schreibt immer nur so, als wenn er damals
selbst dabei gewesen wäre; nicht aber was vormals und damals bewegte.
Der Chronikenschreiber selbst deutet nur mehr oder weniger auf die
Beschränktheit, auf die Eigenheiten seiner Stadt, seines Klosters wie
seines Zeitalters.





Verschiedene Sprüche der Alten, die man sich öfters zu wiederholen
pflegt, hatten eine ganz andere Bedeutung, als man ihnen in späteren
Zeiten geben möchte.





Das Wort: es solle kein mit der Geometrie Unbekannter, der Geometrie
Fremder in die Schule des Philosophen treten, heißt nicht etwa, man
solle ein Mathematiker sein, um ein Weltweiser zu werden.





Geometrie ist hier in ihren ersten Elementen gedacht, wie sie uns im
Euklid vorliegt und wie wir sie einen jeden Anfänger beginnen lassen.
Alsdann aber ist sie die vollkommenste Vorbereitung, ja Einleitung
in die Philosophie.





Wenn der Knabe zu begreifen anfängt, daß einem sichtbaren Punkte ein
unsichtbarer vorhergehen müsse, daß der nächste Weg zwischen zwei
Punkten schon als Linie gedacht werde, ehe sie mit dem Bleistift aufs
Papier gezogen wird, so fühlt er einen gewissen Stolz, ein Behagen.
Und nicht mit Unrecht; denn ihm ist die Quelle alles Denkens
aufgeschlossen, Idee und Verwirklichtes, potentia et actu, ist ihm
klar geworden; der Philosoph entdeckt ihm nichts Neues, dem Geometer
war von seiner Seite der Grund alles Denkens aufgegangen.





Nehmen wir sodann das bedeutende Wort vor: Erkenne dich selbst, so
müssen wir es nicht im aszetischen Sinne auslegen. Es ist keineswegs
die Heautognosie unserer modernen Hypochondristen, Humoristen und
Heautontimorumenen damit gemeint; sondern es heißt ganz einfach: Gib
einigermaßen acht auf dich selbst, nimm Notiz von dir selbst, damit du
gewahr werdest, wie du zu deinesgleichen und der Welt zu stehen
kommst. Hiezu bedarf es keiner psychologischen Quälereien; jeder
tüchtige Mensch weiß und erfährt, was es heißen soll; es ist ein
guter Rat, der einem jeden praktisch zum größten Vorteil gedeiht.





Man denke sich das Große der Alten, vorzüglich der sokratischen
Schule, daß sie Quelle und Richtschnur alles Lebens und Tuns vor
Augen stellt, nicht zu leerer Spekulation, sondern zu Leben und Tat
auffordert.





Wenn nun unser Schulunterricht immer auf das Altertum hinweist, das
Studium der griechischen und lateinischen Sprache fördert, so können
wir uns Glück wünschen, daß diese zu einer höheren Kultur so nötigen
Studien niemals rückgängig werden.





Wenn wir uns dem Altertum gegenüberstellen und es ernstlich in der
Absicht anschauen, uns daran zu bilden, so gewinnen wir die
Empfindung, als ob wir erst eigentlich zu Menschen würden.






 


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