Die Wahlverwandtschaften
by
Johann Wolfgang von Goethe

Part 5 out of 7



gebildet, eine sehr angenehme und liebenswürdige Reife erlangen können,
indem die Selbstigkeit gemildert wird und die schwärmende Tätigkeit
eine entschiedene Richtung erhält.

Charlotte ließ als Mutter sich um desto eher eine für andere
vielleicht unangenehme Erscheinung gefallen, als es Eltern wohl
geziemt, da zu hoffen, wo Fremde nur zu genießen wünschen oder
wenigstens nicht belästigt sein wollen.

Auf eine eigne und unerwartete Weise jedoch sollte Charlotte nach
ihrer Tochter Abreise getroffen werden, indem diese nicht sowohl durch
das Tadelnswerte in ihrem Betragen als durch das, was man daran
lobenswürdig hätte finden können, eine üble Nachrede hinter sich
gelassen hatte.

Luciane schien sichs zum Gesetz gemacht zu haben, nicht allein mit den
Fröhlichen fröhlich, sondern auch mit den Traurigen traurig zu sein
und, um den Geist des Widerspruchs recht zu üben, manchmal die
Fröhlichen verdrießlich und die Traurigen heiter zu machen.

In allen Familien, wo sie hinkam, erkundigte sie sich nach den Kranken
und Schwachen, die nicht in Gesellschaft erscheinen konnten.

Sie besuchte sie auf ihren Zimmern, machte den Arzt und drang einem
jeden aus ihrer Reiseapotheke, die sie beständig im Wagen mit sich
führte, energische Mittel auf; da denn eine solche Kur, wie sich
vermuten läßt, gelang oder mißlang, wie es der Zufall herbeiführte.

In dieser Art von Wohltätigkeit war sie ganz grausam und ließ sich gar
nicht einreden, weil sie fest überzeugt war, daß sie vortrefflich
handle.

Allein es mißriet ihr auch ein Versuch von der sittlichen Seite, und
dieser war es, der Charlotten viel zu schaffen machte, weil er Folgen
hatte und jedermann darüber sprach.

Erst nach Lucianens Abreise hörte sie davon; Ottilie, die gerade jene
Partie mitgemacht hatte, mußte ihr umständlich davon Rechenschaft
geben.

Eine der Töchter eines angesehenen Hauses hatte das Unglück gehabt, an
dem Tode eines ihrer jüngeren Geschwister schuld zu sein, und sich
darüber nicht beruhigen noch wiederfinden können.

Sie lebte auf ihrem Zimmer beschäftigt und still und ertrug selbst den
Anblick der Ihrigen nur, wenn sie einzeln kamen; denn sie argwohnte
sogleich, wenn mehrere beisammen waren, daß man untereinander über sie
und ihren Zustand reflektiere.




Gegen jedes allein äußerte sie sich vernünftig und unterhielt sich
stundenlang mit ihm.

Luciane hatte davon gehört und sich sogleich im stillen vorgenommen,
wenn sie in das Haus käme, gleichsam ein Wunder zu tun und das
Frauenzimmer der Gesellschaft wiederzugeben.

Sie betrug sich dabei vorsichtiger als sonst, wußte sich allein bei
der Seelenkranken einzuführen und, soviel man merken konnte, durch
Musik ihr Vertrauen zu gewinnen.

Nur zuletzt versah sie es; denn eben weil sie Aufsehn erregen wollte,
so brachte sie das schöne, blasse Kind, das sie genug vorbereitet
wähnte, eines Abends plötzlich in die bunte, glänzende Gesellschaft;
und vielleicht wäre auch das noch gelungen, wenn nicht die Sozietät
selbst aus Neugierde und Apprehension sich ungeschickt benommen, sich
um die Kranke versammelt, sie wieder gemieden, sie durch Flüstern,
Köpfezusammenstecken irregemacht und aufgeregt hätte.

Die zart Empfindende ertrug das nicht.

Sie entwich unter fürchterlichem Schreien, das gleichsam ein Entsetzen
vor einem eindringenden Umgeheuren auszudrücken schien.

Erschreckt fuhr die Gesellschaft nach allen Seiten auseinander, und
Ottilie war unter denen, welche die völlig Ohnmächtige wieder auf ihr
Zimmer begleiteten.

Indessen hatte Luciane eine starke Strafrede nach ihrer Weise an die
Gesellschaft gehalten, ohne im mindesten daran zu denken, daß sie
allein alle Schuld habe, und ohne sich durch dieses und andres
Mißlingen von ihrem Tun und Treiben abhalten zu lassen.

Der Zustand der Kranken war seit jener Zeit bedenklicher geworden, ja
das übel hatte sich so gesteigert, daß die Eltern das arme Kind nicht
im Hause behalten konnten, sondern einer öffentlichen Anstalt
überantworten mußten.

Charlotten blieb nichts übrig, als durch ein besonder zartes Benehmen
gegen jene Familie den von ihrer Tochter verursachten Schmerz
einigermaßen zu lindern.

Auf Ottilien hatte die Sache einen tiefen Eindruck gemacht; sie
bedauerte das arme Mädchen um so mehr, als sie überzeugt war, wie sie
auch gegen Charlotten nicht leugnete, daß bei einer konsequenten
Behandlung die Kranke gewiß herzustellen gewesen wäre.

So kam auch, weil man sich gewöhnlich vom vergangenen Unangenehmen
mehr als vom Angenehmen unterhält, ein kleines Mißverständnis zur
Sprache, das Ottilien an dem Architekten irregemacht hatte, als er
jenen Abend seine Sammlung nicht vorzeigen wollte, ob sie ihn gleich
so freundlich darum ersuchte.

Es war ihr dieses abschlägige Betragen immer in der Seele geblieben,
und sie wußte selbst nicht warum.

Ihre Empfindungen waren sehr richtig; denn was ein Mädchen wie Ottilie
verlangen kann, sollte ein Jüngling wie der Architekt nicht versagen.

Dieser brachte jedoch auf ihre gelegentlichen leisen Vorwürfe ziemlich
gültige Entschuldigungen zur Sprache.

"Wenn Sie wüßten", sagte er, "wie roh selbst gebildete Menschen sich
gegen die schätzbarsten Kunstwerke verhalten, Sie würden mir verzeihen,
wenn ich die meinigen nicht unter die Menge bringen mag.

Niemand weiß eine Medaille am Rand anzufassen; sie betasten das
schönste Gepräge, den reinsten Grund, lassen die köstlichsten Stücke
zwischen dem Daumen und Zeigefinger hin und her gehen, als wenn man
Kunstformen auf diese Weise prüfte.

Ohne daran zu denken, daß man ein großes Blatt mit zwei Händen
anfassen müsse, greifen sie mit einer Hand nach einem unschätzbaren
Kupferstich, einer unersetzlichen Zeichnung, wie ein anmaßlicher
Politiker eine Zeitung faßt und durch das Zerknittern des Papiers
schon im voraus sein Urteil über die Weltbegebenheiten zu erkennen
gibt.

Niemand denkt daran, daß, wenn nur zwanzig Menschen mit einem
Kunstwerke hintereinander ebenso verführen, der einundzwanzigste nicht
mehr viel daran zu sehen hätte".

"Habe ich Sie nicht auch manchmal", fragte Ottilie, "in solche
Verlegenheit gesetzt?

Habe ich nicht etwan Ihre Schätze, ohne es zu ahnen, gelegentlich
einmal beschädigt?" "Niemals", versetzte der Architekt, "niemals!

Ihnen wäre es unmöglich; das Schickliche ist mit Ihnen geboren".

"Auf alle Fälle", versetzte Ottilie, "wäre es nicht übel, wenn man
künftig in das Büchlein von guten Sitten nach den Kapiteln, wie man
sich in Gesellschaft beim Essen und Trinken benehmen soll, ein recht
umständliches einschöbe, wie man sich in Kunstsammlungen und Museen zu
betragen habe".

"Gewiß", versetzte der Architekt, "würden alsdann Kustoden und
Liebhaber ihre Seltenheiten fröhlicher mitteilen".

Ottilie hatte ihm schon lange verziehen; als er sich aber den Vorwurf
sehr zu Herzen zu nehmen schien und immer aufs neue beteuerte, daß er
gewiß gerne mitteile, gern für Freunde tätig sei, so empfand sie, daß
sie sein zartes Gemüt verletzt habe, und fühlte sich als seine
Schuldnerin.

Nicht wohl konnte sie ihm daher eine Bitte rund abschlagen, die er in
Gefolg dieses Gesprächs an sie tat, ob sie gleich, indem sie schnell
ihr Gefühl zu Rate zog, nicht einsah, wie sie ihm seine Wünsche
gewähren könne.

Die Sache verhielt sich also.

Daß Ottilie durch Lucianens Eifersucht von den Gemäldedarstellungen
ausgeschlossen worden, war ihm höchst empfindlich gewesen; daß
Charlotte diesem glänzenden Teil der geselligen Unterhaltung nur
unterbrochen beiwohnen können, weil sie sich nicht wohl befand, hatte
er gleichfalls mit Bedauern bemerkt.

Nun wollte er sich nicht entfernen, ohne seine Dankbarkeit auch
dadurch zu beweisen, daß er zur Ehre der einen und zur Unterhaltung
der andern eine weit schönere Darstellung veranstaltete, als die
bisherigen gewesen waren.

Vielleicht kam hierzu, ihm selbst unbewußt, ein andrer geheimer
Antrieb: es ward ihm so schwer, dieses Haus, diese Familie zu
verlassen, ja es schien ihm unmöglich, von Ottiliens Augen zu scheiden,
von deren ruhig freundlich gewogenen Blicken er die letzte Zeit fast
ganz allein gelebt hatte.

Die Weihnachtsfeiertage nahten sich, und es wurde ihm auf einmal klar,
daß eigentlich jene Gemäldedarstellungen durch runde Figuren von dem
sogenannten Präsepe ausgegangen, von der frommen Vorstellung, die man
in dieser heiligen Zeit der göttlichen Mutter und dem Kinde widmete,
wie sie in ihrer scheinbaren Niedrigkeit erst von Hirten, bald darauf
von Königen verehrt werden.

Er hatte sich die Möglichkeit eines solchen Bildes vollkommen
vergegenwärtigt.

Ein schöner, frischer Knabe war gefunden; an Hirten und Hirtinnen
konnte es auch nicht fehlen; aber ohne Ottilien war die Sache nicht
auszuführen.

Der junge Mann hatte sie in seinem Sinne zur Mutter Gottes erhoben,
und wenn sie es abschlug, so war bei ihm keine Frage, daß das
Unternehmen fallen müsse.

Ottilie, halb verlegen über seinen Antrag, wies ihn mit seiner Bitte
an Charlotten.




Diese erteilte ihm gern die Erlaubnis, und auch durch sie ward die
Scheu Ottiliens, sich jener heiligen Gestalt anzumaßen, auf eine
freundliche Weise überwunden.

Der Architekt arbeitete Tag und Nacht, damit am Weihnachtsabend nichts
fehlen möge.

Und zwar Tag und Nacht im eigentlichen Sinne.

Er hatte ohnehin wenig Bedürfnisse, und Ottiliens Gegenwart schien ihm
statt alles Labsals zu sein; indem er um ihretwillen arbeitete, war es,
als wenn er keines Schlafs, indem er sich um sie beschäftigte, keiner
Speise bedürfte.

Zur feierlichen Abendstunde war deshalb alles fertig und bereit.

Es war ihm möglich gewesen, wohltönende Blasinstrumente zu versammeln,
welche die Einleitung machten und die gewünschte Stimmung
hervorzubringen wußten.

Als der Vorhang sich hob, war Charlotte wirklich überrascht. Das Bild,
das sich ihr vorstellte, war so oft in der Welt wiederholt, daß man
kaum einen neuen Eindruck davon erwarten sollte.

Aber hier hatte die Wirklichkeit als Bild ihre besonderen Vorzüge.

Der ganze Raum war eher nächtlich als dämmernd und doch nichts
undeutlich im Einzelnen der Umgebung.

Den unübertrefflichen Gedanken, daß alles Licht vom Kinde ausgeht,
hatte der Künstler durch einen klugen Mechanismus der Beleuchtung
auszuführen gewußt, der durch die beschatteten, nur von Streiflichtern
erleuchteten Figuren im Vordergrunde zugedeckt wurde.

Frohe Mädchen und Knaben standen umher, die frischen Gesichter scharf
von unten beleuchtet.

Auch an Engeln fehlte es nicht, deren eigener Schein von dem
göttlichen verdunkelt, deren ätherischer Leib vor dem
göttlich-menschlichen verdichtet und lichtsbedürftig schien.

Glücklicherweise war das Kind in der anmutigsten Stellung
eingeschlafen, sodaß nichts die Betrachtung störte, wenn der Blick auf
der scheinbaren Mutter verweilte, die mit unendlicher Anmut einen
Schleier aufgehoben hatte, um den verborgenen Schatz zu offenbaren.

In diesem Augenblick schien das Bild festgehalten und erstarrt zu sein.


Physisch geblendet, geistig überrascht, schien das umgebende Volk sich
eben bewegt zu haben, um die getroffenen Augen wegzuwenden, neugierig
erfreut wieder hinzublinzen und mehr Verwunderung und Lust als
Bewunderung und Verehrung anzuzeigen, obgleich diese auch nicht
vergessen und einigen ältern Figuren der Ausdruck derselben übertragen
war.

Ottiliens Gestalt, Gebärde, Miene, Blick übertraf aber alles, was je
ein Maler dargestellt hat.

Der gefühlvolle Kenner, der diese Erscheinung gesehen hätte, wäre in
Furcht geraten, es möge sich nur irgend etwas bewegen; er wäre in
Sorge gestanden, ob ihm jemals etwas wieder so gefallen könne.

Unglücklicherweise war niemand da, der diese ganze Wirkung aufzufassen
vermocht hätte.

Der Architekt allein, der als langer, schlanker Hirt von der Seite
über die Knieenden hereinsah, hatte, obgleich nicht in dem genauesten
Standpunkt, noch den größten Genuß.

Und wer beschreibt auch die Miene der neugeschaffenen Himmelskönigin?

Die reinste Demut, das liebenswürdigste Gefühl von Bescheindenheit bei
einer großen, unverdient erhaltenden Ehre, einem unbegreiflich
unermeßlichen Glück bildete sich in ihren Zügen, sowohl indem sich
ihre eigene Empfindung, als indem sich die Vorstellung ausdrückte, die
sie sich von dem machen konnte, was sie spielte.

Charlotten erfreute das schöne Gebilde, doch wirkte hauptsächlich das
Kind auf sie.

Ihre Augen strömten von Tränen, und sie stellte sich auf das
lebhafteste vor, daß sie ein ähnliches liebes Geschöpf bald auf ihrem
Schoße zu hoffen habe.

Man hatte den Vorhang niedergelassen, teils um den Vorstellenden
einige Erleichterung zu geben, teils eine Veränderung in dem
Dargestellten anzubringen.

Der Künstler hatte sich vorgenommen, das erste Nacht--und
Niedrigkeitsbild in ein Tag--und Glorienbild zu verwandeln, und
deswegen von allen Seiten eine unmäßige Erleuchtung vorbereitet, die
in der Zwischenzeit angezündet wurde.

Ottilien war in ihrer halb theatralischen Lage bisher die größte
Beruhigung gewesen, daß außer Charlotten und wenigen Hausgenossen
niemand dieser frommen Kunstmummerei zugesehen.

Sie wurde daher einigermaßen betroffen, als sie in der Zwischenzeit
vernahm, es sei ein Fremder angekommen, im Saale von Charlotten
freundlich begrüßt.

Wer es war, konnte man ihr nicht sagen.

Sie ergab sich darein, um keine Störung zu verursachen.

Lichter und Lampen brannten, und eine ganz unendliche Hellung umgab
sie.

Der Vorhang ging auf, für die Zuschauenden ein überraschender Anblick:
das ganze Bild war alles Licht, und statt des völlig aufgehobenen
Schattens blieben nur die Farben übrig, die bei der klugen Auswahl
eine liebliche Mäßigung hervorbrachten.

Unter ihren langen Augenwimmpern hervorblickend, bemerkte Ottilie eine
Mannsperson neben Charlotten sitzend.

Sie erkannte ihn nicht, aber sie glaubte die Stimme des Gehülfen aus
der Pension zu hören.

Eine wunderbare Empfindung ergriff sie.

Wie vieles war begegnet, seitdem sie die Stimme dieses treuen Lehrers
nicht vernommen!

Wie im zackigen Blitz fuhr die Reihe ihrer Freuden und Leiden schnell
vor ihrer Seele vorbei und regte die Frage auf: 'darfst du ihm alles
bekennen und gestehen?

Und wie wenig wert bist du, unter dieser heiligen Gestalt vor ihm zu
erscheinen, und wie seltsam muß es ihm vorkommen, dich, die er nur
natürlich gesehen, als Maske zu erblicken?'

Mit einer Schnelligkeit, die keinesgleichen hat, wirkten Gefühl und
Betrachtung in ihr gegeneinander.

Ihr Herz war befangen, ihre Augen füllten sich mit Tränen, indem sie
sich zwang, immerfort als ein starres Bild zu erscheinen; und wie froh
war sie, als der Knabe sich zu regen anfing und der Künstler sich
genötiget sah, das Zeichen zu geben, daß der Vorhang wieder fallen
sollte!

Hatte das peinliche Gefühl, einem werten Freunde nicht entgegeneilen
zu können, sich schon die letzten Augenblicke zu den übrigen
Empfindungen Ottiliens gesellt, so war sie jetzt in noch größerer
Verlegenheit.

Sollte sie in diesem fremden Anzug und Schmuck ihm entgegengehn?




Sollte sie sich umkleiden?

Sie wählte nicht, sie tat das letzte und suchte sich in der
Zwischenzeit zusammenzunehmen, sich zu beruhigen, und war nur erst
wieder mit sich selbst in Einstimmung, als sie endlich im gewohnten
Kleide den Angekommenen begrüßte.

Insofern der Architekt seinen Gönnerinnen das Beste wünschte, war es
ihm angenehm, da er doch endlich scheiden mußte, sie in der guten
Gesellschaft des schätzbaren Gehülfen zu wissen; indem er jedoch ihre
Gunst auf sich selbst bezog, empfand er es einigermaßen schmerzhaft,
sich so bald und, wie es seiner Bescheidenheit dünken mochte, so gut,
ja vollkommen ersetzt zu sehen.

Er hatte noch immer gezaudert, nun aber drängte es ihn hinweg; denn
was er wollte sich nach seiner Entfernung mußte gefallen lassen, das
wollte er wenigstens gegenwärtig nicht erleben.

Zu großer Erheiterung dieser halb traurigen Gefühle machten ihm die
Damen beim Abschiede noch ein Geschenk mit einer Weste, an der er sie
beide lange Zeit hatte stricken sehen, mit einem stillen Neid über den
unbekannten Glücklichen, dem sie dereinst werden könnte.

Eine solcher Gabe ist die angenehmste, die ein liebender, verehrender
Mann erhalten mag; denn wenn er dabei des unermüdeten Spiels der
schönen Finger gedenkt, so kann er nicht umhin, sich zu schmeicheln,
das Herz werde bei einer so anhaltenden Arbeit doch auch nicht ganz
ohne Teilnahme geblieben sein.

Die Frauen hatten nun einen neuen Mann zu bewirrten, dem sie
wohlwollten und dem es bei ihnen wohl werden sollte.

Das weibliche Geschlecht hegt ein eignes, inneres, unwandelbares
Interesse, von dem sie nichts in der Welt abtrünnig macht; im äußern,
geselligen Verhältnis hingegen lassen sie sich gern und leicht durch
den Mann bestimmen, der sie eben beschäftigt; und so durch Abweisen
wie durch Empfänglichkeit, durch Beharren und Nachgiebigkeit führen
sie eigentlich das Regiment, dem sich in der gesitteten Welt kein Mann
zu entziehen wagt.

Hatte der Architekt, gleichsam nach eigener Lust und Belieben, seine
Talente vor den Freundinnen zum Vergnügen und zu den Zwecken derselben
geübt und bewiesen, war Beschäftigung und Unterhaltung in diesem Sinne
und nach solchen Absichten eingerichtet, so machte sich in kurzer Zeit
durch die Gegenwart des Gehülfen eine andere Lebensweise.

Seine große Gabe war, gut zu sprechen und menschliche Verhältnisse,
besonders in bezug auf Bildung der Jugend, in der Unterredung zu
behandeln.

Und so entstand gegen die bisherige Art zu leben ein ziemlich
fühlbarer Gegensatz, um so mehr, als der Gehülfe nicht ganz dasjenige
billigte, womit man sich die Zeit über ausschließlich beschäftigt
hatte.

Von dem lebendigen Gemälde, das ihn bei seiner Ankunft empfing, sprach
er gar nicht.

Als man ihm hingegen Kirche, Kapelle und was sich darauf bezog, mit
Zufriedenheit sehen ließ, konnte er seine Meinung, seine Gesinnungen
darüber nicht zurückhalten.

"Was mich betrifft", sagte er, "so will mir diese Annäherung, diese
Vermischung des Heiligen zu und mit dem Sinnlichen keineswegs gefallen,
nicht gefallen, daß man sich gewisse besondere Räume widmet, weihet
und aufschmückt, um erst dabei ein Gefühl der Frömmigkeit zu hegen und
zu unterhalten.

Keine Umgebung, selbst die gemeinste nicht, soll in uns das Gefühl des
Göttlichen stören, das uns überallhin begleiten und jede Stätte zu
einem Tempel einweihen kann.

Ich mag gern einen Hausgottesdienst in dem Saale gehalten sehen, wo
man zu speisen, sich gesellig zu versammeln, mit Spiel und Tanz zu
ergötzen pflegt.

Das Höchste, das Vorzüglichste am Menschen ist gestaltlos, und man
soll sich hüten, es anders als in edler Tat zu gestalten".

Charlotte, die seine Gesinnungen schon im ganzen kannte und sie noch
mehr in kurzer Zeit erforschte, brachte ihn gleich in seinem Fache zur
Tätigkeit, indem sie ihre Gartenknaben, welche der Architekt vor
seiner Abreise eben gemustert hatte, in dem großen Saal aufmarschieren
ließ, da sie sich denn in ihren heitern, reinlichen Uniformen, mit
gesetzlichen Bewegungen und einem natürlichen, lebhaften Wesen sehr
gut ausnahmen.

Der Gehülfe prüfte sie nach seiner Weise und hatte durch mancherlei
Fragen und Wendungen gar bald die Gemütsarten und Fähigkeiten der
Kinder zutage gebracht und, ohne daß es so schien, in Zeit von weniger
als einer Stunde sie wirklich bedeutend unterrichtet und gefördert.
"Wie machen Sie das nur?" sagte Charlotte, indem die Knaben wegzogen.

"Ich habe sehr aufmerksam zugehört; es sind nichts als ganz bekannte
Dinge vorgekommen, und doch wüßte ich nicht, wie ich es anfangen
sollte, sie in so kurzer Zeit, bei so vielem Hin--und Widerreden, in
solcher Folge zur Sprache zu bringen".

"Vielleicht sollte man", versetzte der Gehülfe, "aus den Vorteilen
seines Handwerks ein Geheimnis machen.

Doch kann ich Ihnen die ganz einfache Maxime nicht verbergen, nach der
man dieses und noch viel mehr zu leisten vermag.

Fassen Sie einen Gegenstand, eine Materie, einen Begriff, wie man es
nennen will; halten Sie ihn recht fest; machen Sie sich ihn in allen
seinen Teilen recht deutlich, und dann wird es Ihnen leicht sein,
gesprächsweise an einer Masse Kinder zu erfahren, was sich davon schon
in ihnen entwickelt hat, was noch anzuregen, zu überliefern ist.

Die Antworten auf Ihre Fragen mögen noch so ungehörig sein, mögen noch
so sehr ins Weite gehen, wenn nur sodann Ihre Gegenfrage Geist und
Sinn wieder hereinwärts zieht, wenn Sie sich nicht von Ihrem
Standpunkte verrücken lassen, so müssen die Kinder zuletzt denken,
begreifen, sich überzeugen, nur von dem, was und wie es der Lehrende
will.

Sein größter Fehler ist der, wenn er sich von den Lernenden mit in die
Weite reißen läßt, wenn er sie nicht auf dem Punkte festzuhalten weiß,
den er eben jetzt behandelt.

Machen Sie nächstens einen Versuch, und es wird zu Ihrer großen
Unterhaltung dienen".

"Das ist artig", sagte Charlotte; "die gute Pädagogik ist also gerade
das Umgekehrte von der guten Lebensart.

In der Gesellschaft soll man auf nichts verweilen, und bei dem
Unterricht wäre das höchste Gebot, gegen alle Zerstreuung zu arbeiten".


"Abwechselung ohne Zerstreuung wäre für Lehre und Leben der schönste
Wahlspruch, wenn dieses löbliche Gleichgewicht nur so leicht zu
erhalten wäre!" sagte der Gehülfe und wollte weiter fortfahren, als
ihn Charlotte aufrief, die Knaben nochmals zu betrachten, deren
munterer Zug sich soeben über den Hof bewegte.

Er bezeigte seine Zufriedenheit, daß man die Kinder in Uniform zu
gehen anhalte.

"Männer", so sagte er, "sollten von Jugend auf Uniform tragen, weil
sie sich gewöhnen müssen, zusammen zu handeln, sich unter
ihresgleichen zu verlieren, in Masse zu gehorchen und ins Ganze zu
arbeiten.

Auch befördert jede Art von Uniform einen militärischen Sinn sowie ein
knapperes, strackeres Betragen, und alle Knaben sind ja ohnehin
geborne Soldaten; man sehe nur ihre Kampf--und Streitspiele, ihr
Erstürmen und Erklettern".

"So werden Sie mich dagegen nicht tadeln", versetzte Ottilie, "daß ich
meine Mädchen nicht überein kleide.




Wenn ich sie Ihnen vorführe, hoffe ich Sie durch ein buntes Gemisch
zu ergötzen".

"Ich billige das sehr", versetzte jener.

"Frauen sollten durchaus mannigfaltig gekleidet gehen, jede nach
eigner Art und Weise, damit eine jede fühlen lernte, was ihr
eigentlich gut stehe und wohl zieme.

Eine wichtigere Ursache ist noch die, weil sie bestimmt sind, ihr
ganzes Leben allein zu stehen und allein zu handeln".

"Das scheint mir sehr paradox", versetzte Charlotte; "sind wir doch
fast niemals für uns".

"O ja!" versetzte der Gehülfe, "in Absicht auf andere Frauen ganz
gewiß.

Man betrachte ein Frauenzimmer als Liebende, als Braut, als Frau,
Hausfrau und Mutter, immer steht sie isoliert, immer ist sie allein
und will allein sein.

Ja die Eitle selbst ist in dem Falle.

Jede Frau schließt die andre aus, ihrer Natur nach; denn von jeder
wird alles gefordert, was dem ganzen Geschlechte zu leisten obliegt.

Nicht so verhält es sich mit den Männern.

Der Mann verlangt den Mann; er würde sich einen zweiten erschaffen,
wenn es keinen gäbe; eine Frau könnte eine Ewigkeit leben, ohne daran
zu denken, sich ihresgleichen hervorzubringen".

"Man darf", sagte Charlotte, "das Wahre nur wunderlich sagen, so
scheint zuletzt das Wunderliche auch wahr.

Wir wollen uns aus ihren Bemerkungen das Beste herausnehmen und doch
als Frauen mit Frauen zusammenhalten und auch gemeinsam wirken, um den
Männern nicht allzu große Vorzüge über uns einzuräumen.

Ja, Sie werden uns eine kleine Schadenfreude nicht übelnehmen, die wir
künftig um desto lebhafter empfinden müssen, wenn sich die Herren
untereinander auch nicht sonderlich vertragen".

Mit vieler Sorgfalt untersuchte der verständige Mann nunmehr die Art,
wie Ottilie ihre kleinen Zöglinge behandelte, und bezeigte darüber
seinen entschiedenen Beifall.

"Sehr richtig heben Sie", sagte er, "Ihre Untergebenen nur zur
nächsten Brauchbarkeit heran.

Reinlichkeit veranlaßt die Kinder, mit Frauen etwas auf sich selbst zu
halten, und alles ist gewonnen, wenn sie das, was sie tun, mit
Munterkeit und Selbstgefühl zu leisten angeregt sind".

übrigens fand er zu seiner großen Befriedigung nichts auf den Schein
und nach außen getan, sondern alles nach innen und für die
unerläßlichen Bedürfnisse.

"Mit wie wenig Worten", rief er aus, "ließe sich das ganze
Erziehungsgeschäft aussprechen, wenn jemand Ohren hätte zu hören!"
"Mögen Sie es nicht mit mir versuchen?" sagte freundlich Ottilie.

"Recht gern", versetzte jener; "nur müssen Sie mich nicht verraten.

Man erziehe die Knaben zu Dienern und die Mädchen zu Müttern, so wird
es überall wohlstehn".

"Zu Müttern", versetzte Ottilie, "das könnten die Frauen noch hingehen
lassen, da sie sich, ohne Mütter zu sein, doch immer einrichten müssen,
Wärterinnen zu werden; aber freilich zu Dienern würden sich unsre
jungen Männer viel zu gut halten, da man jedem leicht ansehen kann,
daß er sich zum Gebieten fähiger dünkt".

"Deswegen wollen wir es ihnen verschweigen", sagte der Gehülfe.

"Man schmeichelt sich ins Leben hinein, aber das Leben schmeichelt uns
nicht.

Wieviel Menschen mögen denn das freiwillig zugestehen, was sie am Ende
doch müssen?

Lassen wir aber diese Betrachtungen, die uns hier nicht berühren!

Ich preise Sie glücklich, daß Sie bei Ihren Zöglingen ein richtiges
Verfahren anwenden können.

Wenn Ihre kleinsten Mädchen sich mit Puppen herumtragen und einige
Läppchen für sie zusammenflicken, wenn ältere Geschwister alsdann für
die jüngern sorgen und das Haus sich in sich selbst bedient und
aufhilft, dann ist der weitere Schritt ins Leben nicht groß, und ein
solches Mädchen findet bei ihrem Gatten, was sie bei ihren Eltern
verließ. Aber in den gebildeten Ständen ist die Aufgabe sehr
verwickelt.

Wir haben auf höhere, zartere, feinere, besonders auf
gesellschaftliche Verhältnisse Rücksicht zu nehmen.

Wir andern sollen daher unsre Zöglinge nach außen bilden; es ist
notwendig, es ist unerläßlich und möchte recht gut sein, wenn man
dabei nicht das Maß überschritte; denn indem man die Kinder für einen
weiteren Kreis zu bilden gedenkt, treibt man sie leicht ins
Grenzenlose, ohne im Auge zu behalten, was denn eigentlich die innere
Natur fordert.

Hier liegt die Aufgabe, welche mehr oder weniger von den Erziehern
gelöst oder verfehlt wird.

Bei manchem, womit wir unsere Schülerinnen in der Pension ausstatten,
wird mir bange, weil die Erfahrung mir sagt, von wie geringem Gebrauch
es künftig sein werde.

Was wird nicht gleich abgestreift, was nicht gleich der Vergessenheit
überantwortet, sobald ein Frauenzimmer sich im Stande der Hausfrau,
der Mutter befindet!

Indessen kann ich mir den frommen Wunsch nicht versagen, da ich mich
einmal diesem Geschäft gewidmet habe, daß es mir dereinst in
Gesellschaft einer treuen Gehülfin gelingen möge, an meinen Zöglingen
dasjenige rein auszubilden, was sie bedürfen, wenn sie in das Feld
eigener Tätigkeit und Selbständigkeit hinüberschreiten; daß ich mir
sagen könnte: in diesem Sinne ist an ihnen die Erziehung vollendet.

Freilich schließt sich eine andere immer wieder an, die beinahe mit
jedem Jahre unsers Lebens, wo nicht von uns selbst, doch von den
Umständen veranlaßt wird".

Wie wahr fand Ottilie diese Bemerkung!

Was hatte nicht eine ungeahnte Leidenschaft im vergangenen Jahr an ihr
erzogen!

Was sah sie nicht alles für Prüfungen vor sich schweben, wenn sie nur
aufs Nächste, aufs Nächstkünftige hinblickte!

Der junge Mann hatte nicht ohne Vorbedacht einer Gehülfin, einer
Gattin erwähnt; denn bei aller seiner Bescheidenheit konnte er nicht
unterlassen, seine Absichten auf eine entfernte Weise anzudeuten; ja
er war durch mancherlei Umstände und Vorfälle aufgeregt worden, bei
diesem Besuch einige Schritte seinem Ziele näher zu tun.

Die Vorsteherin der Pension war bereits in Jahren; sie hatte sich
unter ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen schon lange nach einer
Person umgesehen, die eigentlich mit ihr in Gesellschaft träte, und
zuletzt dem Gehülfen, dem sie zu vertrauen höchlich Ursache hatte, den
Antrag getan, er solle mit ihr die Lehranstalt fortführen, darin als
in dem Seinigen mitwirken und nach ihrem Tode als Erbe und einziger
Besitzer eintreten.




Die Hauptsache schien hiebei, daß er eine einstimmende Gattin finden
müsse.

Er hatte im stillen Ottilien vor Augen und im Herzen; allein es regten
sich mancherlei Zweifel, die wieder durch günstige Ereignisse einiges
Gegengewicht erhielten.

Luciane hatte die Pension verlassen, Ottilie konnte freier
zurückkehren; von dem Verhältnisse zu Eduard hatte zwar etwas
verlautet, allein man nahm die Sache, wie ähnliche Vorfälle mehr,
gleichgültig auf, und selbst dieses Ereignis konnte zu Ottiliens
Rückkehr beitragen.

Doch wäre man zu keinem Entschluß gekommen, kein Schritt wäre
geschehen, hätte nicht ein unvermuteter Besuch auch hier eine
besondere Anregung gegeben, wie denn die Erscheinung von bedeutenden
Menschen in irgendeinem Kreise niemals ohne Folge bleiben kann.

Der Graf und die Baronesse, welche so oft in den Fall kamen, über den
Wert verschiedener Pensionen befragt zu werden, weil fast jedermann um
die Erziehung seiner Kinder verlegen ist, hatten sich vorgenommen,
diese besonders kennenzulernen, von der soviel Gutes gesagt wurde, und
konnten nunmehr in ihren neuen Verhältnissen zusammen eine solche
Untersuchung anstellen.

Allein die Baronesse beabsichtigte noch etwas anderes.

Während ihres letzten Aufenthalts bei Charlotten hatte sie mit dieser
alles umständlich durchgesprochen, was sich auf Eduarden und Ottilien
bezog.

Sie bestand aber--und abermals darauf: Ottilie müsse entfernt werden.

Sie suchte Charlotten hiezu Mut einzusprechen, welche sich vor Eduards
Drohungen noch immer fürchtete.

Man sprach über die verschiedenen Auswege, und bei Gelegenheit der
Pension war auch von der Neigung des Gehülfen die Rede, und die
Baronesse entschloß sich um so mehr zu dem gedachten Besuch.

Sie kommt an, lernt den Gehülfen kennen, man beobachtet die Anstalt
und spricht von Ottilien.

Der Graf selbst unterhält sich gern über sie, indem er sie bei dem
neulichen Besuch genauer kennengelernt.

Sie hatte sich ihm genähert, ja sie ward von ihm angezogen, weil sie
durch sein gehaltvolles Gespräch dasjenige zu sehen und zu kennen
glaubte, was ihr bisher ganz unbekannt geblieben war.

Und wie sie in dem Umgange mit Eduard die Welt vergaß, so schien ihr
in der Gegenwart des Grafen die Welt erst recht wünschenswert zu sein.

Jede Anziehung ist wechselseitig.

Der Graf empfand eine Neigung für Ottilien, daß er sie gern als seine
Tochter betrachtete.

Auch hier war sie der Baronesse zum zweitenmal und mehr als das
erstemal im Wege.

Wer weiß, was diese in Zeiten lebhafterer Leidenschaft gegen sie
angestiftet hätte!

Jetzt war es ihr genug, sie durch eine Verheiratung den Ehefrauen
unschädlicher zu machen.

Sie regte daher den Gehülfen auf eine leise, doch wirksame Art
klüglich an, daß er sich zu einer kleinen Exkursion auf das Schloß
einrichten und seinen Planen und Wünschen, von denen er der Dame kein
Geheimnis gemacht, sich ungesäumt nähern solle.

Mit vollkommener Beistimmung der Vorsteherin trat er daher seine Reise
an und hegte in seinem Gemüte die besten Hoffnungen.

Er weiß, Ottilie ist ihm nicht ungünstig; und wenn zwischen ihnen
einiges Mißverständnis des Standes war, so glich sich dieses gar
leicht durch die Denkart der Zeit aus.

Auch hatte die Baronesse ihn wohl fühlen lassen, daß Ottilie immer ein
armes Mädchen bleibe.

Mit einem reichen Hause verwandt zu sein, hieß es, kann niemanden
helfen; denn man würde sich selbst bei dem größten Vermögen ein
Gewissen daraus machen, denjenigen eine ansehnliche Summe zu entziehen,
die dem näheren Grade nach ein vollkommeneres Recht auf ein Besitztum
zu haben scheinen.

Und gewiß bleibt es wunderbar, daß der Mensch das große Vorrecht, nach
seinem Tode noch über seine Habe zu disponieren, sehr selten zugunsten
seiner Lieblinge gebraucht und, wie es scheint, aus Achtung für das
Herkommen nur diejenigen begünstigt, die nach ihm sein Vermögen
besitzen würden, wenn er auch selbst keinen Willen hätte.

Sein Gefühl setzte ihn auf der Reise Ottilien völlig gleich.

Eine gute Aufnahme erhöhte seine Hoffnungen.

Zwar fand er gegen sich Ottilien nicht ganz so offen wie sonst; aber
sie war auch erwachsener, gebildeter und, wenn man will, im
allgemeinen mitteilender, als er sie gekannt hatte.

Vertraulich ließ man ihn in manches Einsicht nehmen, was sich
besonders auf sein Fach bezog.

Doch wenn er seinem Zwecke sich nähern wollte, so hielt ihn immer eine
gewisse innere Scheu zurück.

Einst gab ihm jedoch Charlotte hierzu Gelegenheit, indem sie in
Beisein Ottiliens zu ihm sagte:" nun, Sie haben alles, was in meinem
Kreise heranwächst, so ziemlich geprüft; wie finden Sie denn Ottilien?

Sie dürfen es wohl in ihrer Gegenwart aussprechen".

Der Gehülfe bezeichnete hierauf mit sehr viel Einsicht und ruhigem
Ausdruck, wie er Ottilien in Absicht eines freieren Betragens, einer
bequemeren Mitteilung, eines höheren Blicks in die weltlichen Dinge,
der sich mehr in ihren Handlungen als in ihren Worten betätige, sehr
zu ihrem Vorteil verändert finde, daß er aber doch glaube, es könne
ihr sehr zum Nutzen gereichen, wenn sie auf einige Zeit in die Pension
zurückkehre, um das in einer gewissen Folge gründlich und für immer
sich zuzueignen, was die Welt nur stückweise und eher zur Verwirrung
als zur Befriedigung, ja manchmal nur allzuspät überliefere.

Er wolle darüber nicht weitläufig sein; Ottilie wisse selbst am besten,
aus was für zusammenhängenden Lehrvorträgen sie damals herausgerissen
worden.

Ottilie konnte das nicht leugnen; aber sie konnte nicht gestehen, was
sie bei diesen Worten empfand, weil sie sich es kaum selbst auszulegen
wußte.

Es schien ihr in der Welt nichts mehr unzusammenhängend, wenn sie an
den geliebten Mann dachte, und sie begriff nicht, wie ohne ihn noch
irgend etwas zusammenhängen könne.

Charlotte beantwortete den Antrag mit kluger Freundlichkeit.

Sie sagte, daß sowohl sie als Ottilie eine Rückkehr nach der Pension
längst gewünscht hätten.

In dieser Zeit nur sei ihr die Gegenwart einer so lieben Freundin und
Helferin unentbehrlich gewesen; doch wolle sie in der Folge nicht
hinderlich sein, wenn es Ottiliens Wunsch bliebe, wieder auf so lange
dorthin zurückzukehren, bis sie das Angefangene geendet und das
Unterbrochene sich vollständig zugeeignet.

Der Gehülfe nahm diese Anerbietung freudig auf; Ottilie durfte nichts
dagegen sagen, ob es ihr gleich vor dem Gedanken schauderte.
Charlotte hingegen dachte Zeit zu gewinnen; sie hoffte, Eduard sollte
sich erst als glücklicher Vater wiederfinden und einfinden, dann, war
sie überzeugt, würde sich alles geben und auch für Ottilien auf eine
oder die andere Weise gesorgt werden.




Nach einem bedeutenden Gespräch, über welches alle Teilnehmenden
nachzudenken haben, pflegt ein gewisser Stillstand einzutreten, der
einer allgemeinen Verlegenheit ähnlich sieht.

Man ging im Saale auf und ab, der Gehülfe blätterte in einigen Büchern
und kam endlich an den Folioband, der noch von Lucianens Zeiten her
liegengeblieben war.

Als er sah, daß darin nur Affen enthalten waren, schlug er ihn gleich
wieder zu.

Dieser Vorfall mag jedoch zu einem Gespräch Anlaß gegeben haben, wovon
wir die Spuren in Ottiliens Tagebuch finden.

Wie man es nur über das Herz bringen kann, die garstigen Affen so
sorgfältig abzubilden!

Man erniedrigt sich schon, wenn man sie nur als Tiere betrachtet; man
wird aber wirklich bösartiger, wenn man dem Reize folgt, bekannte
Menschen unter dieser Maske aufzusuchen.

Es gehört durchaus eine gewisse Verschrobenheit dazu, um sich gern mit
Karikaturen und Zerrbildern abzugeben.

Unserm guten Gehülfen danke ichs, daß ich nicht mit der
Naturgeschichte gequält worden bin; ich konnte mich mit den Würmern
und Käfern niemals befreunden.

Diesmal gestand er mir, daß es ihm ebenso gehe.

"Von der Natur", sagte er, "sollten wir nichts kennen, als was uns
unmittelbar lebendig umgibt.

Mit den Bäumen, die um uns blühen, grünen, Frucht tragen, mit jeder
Staude, an der wir vorbeigehen, mit jedem Grashalm, über den wir
hinwandeln, haben wir ein wahres Verhältnis; sie sind unsre echten
Kompatrioten.

Die Vögel, die auf unsern Zweigen hin und wider hüpfen, die in unserm
Laube singen, gehören uns an, sie sprechen zu uns von Jugend auf, und
wir lernen ihre Sprache verstehen.

Man frage sich, ob nicht ein jedes fremde, aus seiner Umgebung
gerissene Geschöpf einen gewissen ängstlichen Eindruck auf uns macht,
der nur durch Gewohnheit abgestumpft wird.

Es gehört schon ein buntes, geräuschvolles Leben dazu, um Affen,
Papageien und Mohren um sich zu ertragen".

Manchmal, wenn mich ein neugieriges Verlangen nach solchen
abenteuerlichen Dingen anwandelte, habe ich den Reisenden beneidet,
der solche Wunder mit andern Wundern in lebendiger, alltäglicher
Verbindung sieht.

Aber auch er wird ein anderer Mensch.

Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen, und die Gesinnungen ändern
sich gewiß in einem Lande, wo Elefanten und Tiger zu Hause sind.

Nur der Naturforscher ist verehrungswert, der uns das Fremdeste,
Seltsamste mit seiner Lokalität, mit aller Nachbarschaft jedesmal in
dem eigensten Elemente zu schildern und darzustellen weiß.

Wie gern möchte ich nur einmal Humboldten erzählen hören!

Ein Naturalienkabinett kann uns vorkommen wie eine ägyptische
Grabstätte, wo die verschiedenen Tier--und Pflanzengötzen balsamiert
umherstehen.

Einer Priesterkaste geziemt es wohl, sich damit in geheimnisvollem
Halbdunkel abzugeben; aber in den allgemeinen Unterricht sollte
dergleichen nicht einfließen, um so weniger, als etwas Näheres und
Würdigeres sich dadurch leicht verdrängt sieht.

Ein Lehrer, der das Gefühl an einer einzigen guten Tat, an einem
einzigen guten Gedicht erwecken kann, leistet mehr als einer, der uns
ganze Reihen untergeordneter Naturbildungen der Gestalt und dem Namen
nach überliefert; denn das ganze Resultat davon ist, was wir ohnedies
wissen können, daß das Menschengebild am vorzüglichsten und einzigsten
das Gleichnis der Gottheit an sich trägt.

Dem einzelnen bleibe die Freiheit, sich mit dem zu beschäftigen, was
ihn anzieht, was ihm Freude macht, was ihm nützlich deucht; aber das
eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch.

Es gibt wenig Menschen, die sich mit dem Nächstvergangenen zu
beschäftigen wissen.

Entweder das Gegenwärtige hält uns mit Gewalt an sich, oder wir
verlieren uns in die Vergangenheit und suchen das völlig Verlorene,
wie es nur möglich sein will, wieder hervorzurufen und herzustellen.

Selbst in großen und reichen Familien, die ihren Vorfahren vieles
schuldig sind, pflegt es so zu gehen, daß man des Großvaters mehr als
des Vaters gedenkt.

Zu solchen Betrachtungen ward unser Gehülfe aufgefordert, als er an
einem der schönen Tage, an welchen der scheidende Winter den Frühling
zu lügen pflegt, durch den großen, alten Schloßgarten gegangen war und
die hohen Lindenalleen, die regelmäßigen Anlagen, die sich von Eduards
Vater herschrieben, bewundert hatte.

Sie waren vortrefflich gediehen in dem Sinne desjenigen, der sie
pflanzte, und nun, da sie erst anerkannt und genossen werden sollten,
sprach niemand mehr von ihnen; man besuchte sie kaum und hatte
Liebhaberei und Aufwand gegen eine andere Seite hin ins Freie und
Weite gerichtet.

Er machte bei seiner Rückkehr Charlotten die Bemerkung, die sie nicht
ungünstig aufnahm.

"Indem uns das Leben fortzieht", versetzte sie, "glauben wir aus uns
selbst zu handeln, unsre Tätigkeit, unsre Vergnügungen zu wählen, aber
freilich, wenn wir es genau ansehen, so sind es nur die Plane, die
Neigungen der Zeit, die wir mit auszuführen genötigt sind".

"Gewiß", sagte der Gehülfe; "und wer widersteht dem Strome seiner
Umgebungen?

Die Zeit rückt fort und in ihr Gesinnungen, Meinungen, Vorurteile und
Liebhabereien.

Fällt die Jugend eines Sohnes gerade in die Zeit der Umwendung, so
kann man versichert sein, daß er mit seinem Vater nichts gemein haben
wird.

Wenn dieser in einer Periode lebte, wo man Lust hatte, sich manches
zuzueignen, dieses Eigentum zu sichern, zu beschränken, einzuengen und
in der Absonderung von der Welt seinen Genuß zu befestigen, so wird
jener sodann sich auszudehnen suchen, mitteilen, verbreiten und das
Verschlossene eröffnen".

"Ganze Zeiträume", versetzte Charlotte, "gleichen diesem Vater und
Sohn, den Sie schildern.

Von jenen Zuständen, da jede kleine Stadt ihre Mauern und Gräben haben
mußte, da man jeden Edelhof noch in einen Sumpf baute und die
geringsten Schlösser nur durch eine Zugbrücke zugänglich waren, davon
können wir uns kaum einen Begriff machen.

Sogar größere Städte tragen jetzt ihre Wälle ab, die Gräben selbst
fürstlicher Schlösser werden ausgefüllt, die Städte bilden nur große
Flecken, und wenn man so auf Reisen das ansieht, sollte man glauben,
der allgemeine Friede sei befestigt und das goldne Zeitalter vor der
Tür.

Niemand glaubt sich in einem Garten behaglich, der nicht einem freien
Lande ähnlich sieht; an Kunst, an Zwang soll nichts erinnern; wir
wollen völlig frei und unbedingt Atem schöpfen.




Haben Sie wohl einen Begriff, mein Freund, daß man aus diesem in
einen andern, in den vorigen Zustand zurückkehren könne?" "Warum
nicht?" versetzte der Gehülfe; "jeder Zustand hat seine
Beschwerlichkeit, der beschränkte sowohl als der losgebundene.

Der letztere setzt überfluß voraus und führt zur Verschwendung.

Lassen Sie uns bei Ihrem Beispiel bleiben, das auffallend genug ist.

Sobald der Mangel eintritt, sogleich ist die Selbstbeschränkung
wiedergegeben.

Menschen, die ihren Grund und Boden zu nutzen genötigt sind, führen
schon wieder Mauern um ihre Gärten auf, damit sie ihrer Erzeugnisse
sicher seien.

Daraus entsteht nach und nach eine neue Ansicht der Dinge.

Das Nützliche erhält wieder die Oberhand, und selbst der
Vielbesitzende meint zuletzt auch das alles nutzen zu müssen.

Glauben Sie mir: es ist möglich, daß Ihr Sohn die sämtlichen
Parkanlagen vernachlässigt und sich wieder hinter die ernsten Mauern
und unter die hohen Linden seines Großvaters zurückzieht".

Charlotte war im stillen erfreut, sich einen Sohn verkündigt zu hören,
und verzieh dem Gehülfen deshalb die etwas unfreundliche Prophezeiung,
wie es dereinst ihrem lieben, schönen Park ergehen könne.

Sie versetzte deshalb ganz freundlich: "wir sind beide noch nicht alt
genug, um dergleichen Widersprüche mehrmals erlebt zu haben; allein
wenn man sich in seine frühe Jugend zurückdenkt, sich erinnert,
worüber man von älteren Personen klagen gehört, Länder und Städte mit
in die Betrachtung aufnimmt, so möchte wohl gegen die Bemerkung nichts
einzuwenden sein.

Sollte man denn aber einem solchen Naturgang nichts entgegensetzen,
sollte man Vater und Sohn, Eltern und Kinder nicht in übereinstimmung
bringen können?

Sie haben mir freundlich einen Knaben geweissagt; müßte denn der
gerade mit seinem Vater im Widerspruch stehen?

Zerstören, was seine Eltern erbaut haben, anstatt es zu vollenden und
zu erheben, wenn er in demselben Sinne fortfährt?" "Dazu gibt es auch
wohl ein vernünftiges Mittel", versetzte der Gehülfe, "das aber von
den Menschen selten angewandt wird.

Der Vater erhebe seinen Sohn zum Mitbesitzer, er lasse ihn mitbauen,
-pflanzen und erlaube ihm, wie sich selbst, eine unschädliche Willkür.

Eine Tätigkeit läßt sich in die andre verweben, keine an die andre
anstückeln.

Ein junger Zweig verbindet sich mit einem alten Stamme gar leicht und
gern, an den kein erwachsener Ast mehr anzufügen ist".

Es freute den Gehülfen, in dem Augenblick, da er Abschied zu nehmen
sich genötigt sah, Charlotten zufälligerweise etwas Angenehmes gesagt
und ihre Gunst aufs neue dadurch befestigt zu haben.

Schon allzulange war er von Hause weg; doch konnte er zur Rückreise
sich nicht eher entschließen als nach völliger überzeugung, er müsse
die herannahende Epoche von Charlottens Niederkunft erst vorbeigehen
lassen, bevor er wegen Ottiliens irgendeine Entscheidung hoffen könne.

Er fügte sich deshalb in die Umstände und kehrte mit diesen Aussichten
und Hoffnungen wieder zur Vorsteherin zurück.

Charlottens Niederkunft nahte heran.

Sie hielt sich mehr in ihren Zimmern.

Die Frauen, die sich um sie versammelt hatten, waren ihre
geschlossenere Gesellschaft.

Ottilie besorgte das Hauswesen, indem sie kaum daran denken durfte,
was sie tat.

Sie hatte sich zwar völlig ergeben; sie wünschte für Charlotten, für
das Kind, für Eduarden sich auch noch ferner auf das dienstlichste zu
bemühen; aber sie sah nicht ein, wie es möglich werden wollte.

Nichts konnte sie vor völliger Verworrenheit retten, als daß sie jeden
Tag ihre Pflicht tat.

Ein Sohn war glücklich zur Welt gekommen, und die Frauen versicherten
sämtlich, es sei der ganze leibhafte Vater.

Nur Ottilie konnte es im stillen nicht finden, als sie der Wöchnerin
Glück wünschte und das Kind auf das herzlichste begrüßte.

Schon bei den Anstalten zur Verheiratung ihrer Tochter war Charlotten
die Abwesenheit ihres Gemahls höchst fühlbar gewesen; nun sollte der
Vater auch bei der Geburt des Sohnes nicht gegenwärtig sein; er sollte
den Namen nicht bestimmen, bei dem man ihn künftig rufen würde. Der
erste von allen Freunden, die sich beglückwünschend sehen ließen, war
Mittler, der seine Kundschafter ausgestellt hatte, um von diesem
Ereignis sogleich Nachricht zu erhalten.

Er fand sich ein, und zwar sehr behaglich.

Kaum daß er seinen Triumph in Gegenwart Ottiliens verbarg, so sprach
er sich gegen Charlotten laut aus und war der Mann, alle Sorgen zu
heben und alle augenblicklichen Hindernisse beiseitezubringen.

Die Taufe sollte nicht lange aufgeschoben werden.

Der alte Geistliche, mit einem Fuß schon im Grabe, sollte durch seinen
Segen das Vergangene mit dem Zukünftigen zusammenknüpfen; Otto sollte
das Kind heißen; es konnte keinen andern Namen führen als den Namen
des Vaters und des Freundes.

Es bedurfte der entschiedenen Zudringlichkeit dieses Mannes, um die
hunderterlei Bedenklichkeiten, das Widerreden, Zaudern, Stocken,
Besser--oder Anderswissen, das Schwanken, Meinen, Um--und Wiedermeinen
zu beseitigen, da gewöhnlich bei solchen Gelegenheiten aus einer
gehobenen Bedenklichkeit immer wieder neue entstehen und, indem man
alle Verhältnisse schonen will, immer der Fall eintritt, einige zu
verletzten.

Alle Meldungsschreiben und Gevatterbriefe übernahm Mittler; sie
sollten gleich ausgefertigt sein, denn ihm war selbst höchlich daran
gelegen, ein Glück, das er für die Familie so bedeutend hielt, auch
der übrigen mitunter mißwollenden und mißredenden Welt bekanntzumachen.


Und freilich waren die bisherigen leidenschaftlichen Vorfälle dem
Publikum nicht entgangen, das ohnehin in der überzeugung steht, alles,
was geschieht, geschehe nur dazu, damit es etwas zu reden habe.

Die Feier des Taufaktes sollte würdig, aber beschränkt und kurz sein.

Man kam zusammen, Ottilie und Mittler sollten das Kind als Taufzeugen
halten.

Der alte Geistliche, unterstützt vom Kirchdiener, trat mit langsamen
Schritten heran.

Das Gebet war verrichtet, Ottilien das Kind auf die Arme gelegt, und
als sie mit Neigung auf dasselbe heruntersah, erschrak sie nicht wenig
an seinen offenen Augen; denn sie glaubte in ihre eigenen zu sehen;
eine solche übereinstimmung hätte jeden überraschen müssen.

Mittler, der zunächst das Kind empfing, stutzte gleichfalls, indem er
in der Bildung desselben eine so auffallende ähnlichkeit, und zwar mit
dem Hauptmann, erblickte, dergleichen ihm sonst noch nie vorgekommen
war.




Die Schwäche des guten alten Geistichen hatte ihn gehindert, die
Taufhandlung mit mehrerem als der gewöhnlichen Liturgie zu begleiten.

Mittler indessen, voll von dem Gegenstande, gedachte seiner frühern
Amtsverrichtungen und hatte überhaupt die Art, sich sogleich in jedem
Falle zu denken, wie er nun reden, wie er sich äußern würde.

Diesmal konnte er sich um so weniger zurückhalten, als es nur eine
kleine Gesellschaft von lauter Freunden war, die ihn umgab.

Er fing daher an, gegen das Ende des Akts mit Behaglichkeit sich an
die Stelle des Geistlichen zu versetzen, in einer muntern Rede seine
Patenpflichten und Hoffnungen zu äußern und um so mehr dabei zu
verweilen, als er Charlottens Beifall in ihrer zufriedenen Miene zu
erkennen glaubte.

Daß der gute alte Mann sich gern gesetzt hätte, entging dem rüstigen
Redner, der noch viel weniger dachte, daß er ein größeres übel
hervorzubringen auf dem Wege war; denn nachdem er das Verhältnis eines
jeden Anwesenden zum Kinde mit Nachdruck geschildert und Ottiliens
Fassung dabei ziemlich auf die Probe gestellt hatte, so wandte er sich
zuletzt gegen den Greis mit diesen Worten:" und Sie, mein würdiger
Altvater, können nunmehr mit Simeon sprechen; 'Herr, laß deinen Diener
in Frieden fahren; denn meine Augen haben den Heiland dieses Hauses
gesehen'".

Nun war er im Zuge, recht glänzend zu schließen, aber er bemerkte bald,
daß der Alte, dem er das Kind hinhielt, sich zwar erst gegen dasselbe
zu neigen schien, nachher aber schnell zurücksank.

Vom Fall kaum abgehalten, ward er in einen Sessel gebracht, und man
mußte ihn ungeachtet aller augenblicklichen Beihülfe für tot
ansprechen.

So unmittelbar Geburt und Tod, Sarg und Wiege nebeneinander zu sehen
und zu denken, nicht bloß mit der Einbildungskraft, sondern mit den
Augen diese ungeheuern Gegensätze zusammenzufassen, war für die
Umstehenden eine schwere Aufgabe, je überraschender sie vorgelegt
wurde.

Ottilie allein betrachtete den Eingeschlummerten, der noch immer seine
freundliche, einnehmende Miene behalten hatte, mit einer Art von Neid.

Das Leben ihrer Seele war getötet; warum sollte der Körper noch
erhalten werden?

Führten sie auf diese Weise gar manchmal die unerfreulichen
Begebenheiten des Tags auf die Betrachtung der Vergänglichkeit, des
Scheidens, des Verlierens, so waren ihr dagegen wundersame nächtliche
Erscheinungen zum Trost gegeben, die ihr das Dasein des Geliebten
versicherten und ihr eigenes befestigten und belebten.

Wenn sie sich abends zur Ruhe gelegt und im süßen Gefühl noch zwischen
Schlaf und Wachen schwebte, schien es ihr, als wenn sie in einen ganz
hellen, doch mild erleuchteten Raum hineinblickte.

In diesem sah sie Eduarden ganz deutlich, und zwar nicht gekleidet,
wie sie ihn sonst gesehen, sondern im kriegerischen Anzug, jedesmal in
einer andern Stellung, die aber vollkommen natürlich war und nichts
Phantastisches an sich hatte: stehend, gehend, liegend, reitend. Die
Gestalt, bis aufs kleinste ausgemalt, bewegte sich willig vor ihr,
ohne daß sie das mindeste dazu tat, ohne daß sie wollte oder die
Einbildungskraft anstrengte.

Manchmal sah sie ihn auch umgeben, besonders von etwas Beweglichem,
das dunkler war als der helle Grund; aber sie unterschied kaum
Schattenbilder, die ihr zuweilen als Menschen, als Pferde, als Bäume
und Gebirge vorkommen konnten.

Gewöhnlich schlief sie über der Erscheinung ein, und wenn sie nach
einer ruhigen Nacht morgens wieder erwachte, so war sie erquickt,
getröstet; sie fühlte sich überzeugt, Eduard lebe noch, sie stehe mit
ihm noch in dem innigsten Verhältnis.

Der Frühling war gekommen, später, aber auch rascher und freudiger als
gewöhnlich.

Ottilie fand nun im Garten die Frucht ihres Vorsehens; alles keimte,
grünte und blühte zur rechten Zeit; manches, was hinter wohlangelegten
Glashäusern und Beeten vorbereitet worden, trat nun sogleich der
endlich von außen wirkenden Natur entgegen, und alles, was zu tun und
zu besorgen war, blieb nicht bloß hoffnungsvolle Mühe wie bisher,
sondern ward zum heitern Genusse.

An dem Gärtner aber hatte sie zu trösten über manche durch Lucianens
Wildheit entstandene Lücke unter den Topfgewächsen, über die zerstörte
Symmetrie mancher Baumkrone.

Sie machte ihm Mut, daß sich das alles bald wieder herstellen werde;
aber er hatte zu ein tiefes Gefühl, zu einen reinen Begriff von seinem
Handwerk, als daß diese Trostgründe viel bei ihm hätten fruchten
sollen.

So wenig der Gärtner sich durch andere Liebhabereien und Neigungen
zerstreuen darf, so wenig darf er ruhige Gang unterbrochen werden, den
die Pflanze zur dauernden oder zur vorübergehenden Vollendung nimmt.

Die Pflanze gleicht den eigensinnigen Menschen, von denen man alles
erhalten kann, wenn man sie nach ihrer Art behandelt.

Ein ruhiger Blick, eine stille Konsequenz, in jeder Jahrszeit, in
jeder Stunde das ganz Gehörige zu tun, wird vielleicht von niemand
mehr als vom Gärtner verlangt.

Diese Eigenschaften besaß der gute Mann in einem hohen Grade, deswegen
auch Ottilie so gern mit ihm wirkte; aber sein eigentliches Talent
konnte er schon einige Zeit nicht mehr mit Behaglichkeit ausüben.

Denn ob er gleich alles, was die Baum--und Küchengärtnerei betraf,
auch die Erfordernisse eines ältern Ziergartens, vollkommen zu leisten
verstand, wie denn überhaupt einem vor dem andern dieses oder jenes
gelingt, ob er schon in Behandlung der Orangerie, der Blumenzwiebeln,
der Nelken--und Aurikelnstöcke die Natur selbst hätte herausfordern
können, so waren ihm doch die neuen Zierbäume ud Modeblumen
einigermaßen fremd geblieben, und er hatte vor dem unendlichen Felde
der Botanik, das sich nach der Zeit auftat, und den darin
herumsummenden fremden Namen eine Art von Scheu, die ihn verdrießlich
machte.

Was die Herrschaft voriges Jahr zu verschreiben angefangen, hielt er
um so mehr für unnützen Aufwand und Verschwendung, als er gar manche
kostbare Pflanze ausgehen sah und mit den Handelsgärtnern, die ihn,
wie er glaubte, nicht redlich genug bedienten, in keinem sonderlichen
Verhältnisse stand.

Er hatte sich darüber nach mancherlei Versuchen eine Art von Plan
gemacht, in welchem ihn Ottilie um so mehr bestärkte, als er auf die
Wiederkehr Eduards eigentlich gegründet war, dessen Abwesenheit man in
diesem wie in manchem andern Falle täglich nachteiliger empfinden
mußte. Indem nun die Pflanzen immer mehr Wurzel schlugen und Zweige
trieben, fühlte sich auch Ottilie immer mehr an diese Räume gefesselt.

Gerade vor einem Jahre trat sie als Fremdling, als ein unbedeutendes
Wesen hier ein; wieviel hatte sie sich seit jener Zeit nicht erworben!

Aber leider wieviel hatte sie nicht auch seit jener Zeit wieder
verloren!

Sie war nie so reich und nie so arm gewesen.

Das Gefühl von beidem wechselte augenblicklich miteinander ab, ja
durchkreuzte sich aufs innigste, sodaß sie sich nicht anders zu helfen
wußte, als daß sie immer wieder das Nächste mit Anteil, ja mit
Leidenschaft ergriff.

Daß alles, was Eduarden besonders lieb war, auch ihre Sorgfalt am
stärksten an sich zog, läßt sich denken; ja warum sollte sie nicht
hoffen, daß er selbst nun bald wiederkommen, daß er die fürsorgliche
Dienstlichkeit, die sie dem Abwesenden geleistet, dankbar gegenwärtig
bemerken werde?




Aber noch auf eine viel andre Weise war sie veranlaßt, für ihn zu
wirken.

Sie hatte vorzüglich die Sorge für das Kind übernommen, dessen
unmittelbare Pflererin sie um so mehr werden konnte, als man es keiner
Amme übergeben, sondern mit Milch und Wasser aufzuziehen sich
entschieden hatte.

Es sollte in jener schönen Zeit der freien Luft genießen; und so trug
sie es am liebsten selbst heraus, trug das schlafende, unbewußte
zwischen Blumen und Blüten her, die dereinst seiner Kindheit so
freundlich entgegenlachen sollten, zwischen jungen Sträuchen und
Pflanzen, die mit ihm in die Höhe zu wachsen durch ihre Jugend
bestimmt schienen.

Wenn sie um sich her sah, so verbarg sie sich nicht, zu welchem großen,
reichen Zustande das Kind geboren sei; denn fast alles, wohin das
Auge blickte, sollte dereinst ihm gehören.

Wie wünschenswert war es zu diesem allen, daß es vor den Augen des
Vaters, der Mutter aufwächse und eine erneute, frohe Verbindung
bestätigte!

Ottilie fühlte dies alles so rein, daß sie sichs als entschieden
wirklich dachte und sich selbst dabei gar nicht empfand.

Unter diesem klaren Himmel, bei diesem hellen Sonnenschein ward es ihr
auf einmal klar, daß ihre Liebe, um sich zu vollenden, völlig
uneigennützig werden müsse; ja in manchen Augenblicken glaubte sie
diese Höhe schon erreicht zu haben.

Sie wünschte nur das Wohl ihres Freundes, sie glaubte sich fähig, ihm
zu entsagen, sogar ihn niemals wiederzusehen, wenn sie ihn nur
glücklich wisse.

Aber ganz entschieden war sie für sich, niemals einem andern
anzugehören.

Daß der Herbst ebenso herrlich würde wie der Frühling, dafür war
gesorgt.

Alle sogenannten Sommergewächse, alles, was im Herbst mit Blühen nicht
enden kann und sich der Kälte noch keck entgegenentwickelt, Astern
besonders, waren in der größten Mannigfaltigkeit gesäet und sollten
nun, überallhin verpflanzt, einen Sternhimmel über die Erde bilden.

Einen guten Gedanken, den wir gelegen, etwas Auffallendes, das wir
gehört, tragen wir wohl in unser Tagebuch.

Nähmen wir uns aber zugleich die Mühe, aus den Briefen unserer Freunde
eigentümliche Bemerkungen, originelle Ansichten, flüchtige geistreiche
Worte auszuzeichnen, so würden wir sehr reich werden.

Briefe hebt man auf, um sie nie wieder zu lesen; man zerstört sie
zuletzt einmal aus Diskretion, und so verschwindet der schönste,
unmittelbarste Lebenshauch unwiederbringlich für uns und andre. Ich
nehme mir vor, dieses Versäumnis wiedergutzumachen.

So wiederholt sich denn abermals das Jahresmärchen von vorn.

Wir sind nun wieder, Gott sei Dank!

An seinem artigsten Kapitel.

Veilchen und Maiblumen sind wie überschriften oder Vignetten dazu.

Es macht uns immer einen angenehmen Eindruck, wenn wir sie in dem
Buche des Lebens wieder aufschlagen.

Wir schelten die Armen, besonders die Unmündigen, wenn sie sich an den
Straßen herumlegen und betteln.

Bemerken wir nicht, daß sie gleich tätig sind, sobald es was zu tun
gibt?

Kaum entfaltet die Natur ihre freundlichen Schätze, so sind die Kinder
dahinterher, um ein Gewerbe zu eröffnen; keines bettelt mehr, jedes
reicht dir einen Strauß; es hat ihn gepflückt, ehe du vom Schlaf
erwachtest, und das Bittende sieht dich so freundlich an wie die Gabe.

Niemand sieht erbärmlich aus, der sich einiges Recht fühlt, fordern zu
dürfen.

Warum nur das Jahr manchmal so kurz, manchmal so lang ist, warum es so
kurz scheint und so lang in der Erinnerung!

Mir ist es mit dem vergangenen so, und nirgends auffallender als im
Garten, wie Vergängliches und Dauerndes ineinandergreift.

Und doch ist nichts so flüchtig, das nicht eine Spur, das nicht
seinesgleichen zurücklasse.

Man läßt sich den Winter auch gefallen.

Man glaubt sich freier auszubreiten, wenn die Bäme so geisterhaft, so
durchsichtig vor uns stehen.

Sie sind nichts, aber sie denken auch nichts zu.

Wie aber einmal Knospen und Blüten kommen, dann wird man ungeduldig,
bis das volle Laub hervortritt, bis die Landschaft sich verkörpert und
der Baum sich als eine Gestalt uns entgegendrängt.

Alles Vollkommene in seiner Art muß über seine Art hinausgehen, es muß
etwas anderes, Unvergleichbares werden.

In manchen Tönen ist die Nachtigall noch Vogel; dann steigt sie über
ihre Klasse hinüber und scheint jedem Gefiederten andeuten zu wollen,
was eigentlich singen heiße.

Ein Leben ohne Liebe, ohne die Nähe des Geliebten ist nur eine
"comedie a tiroir", ein schlechtes Schubladenstück.

Man schiebt eine nach der andern heraus und wieder hinein und und eilt
zur folgenden.

Alles, was auch Gutes und Bedeutendes vorkommt, hängt nur kümmerlich
zusammen.

Man muß überall von vorn anfangen und möchte überall enden.

Charlotte von ihrer Seite befindet sich munter und wohl.

Sie freut sich an dem tüchtigen Knaben, dessen vielversprechende
Gestalt ihr Auge und Gemüt stündlich beschäftigt.

Sie erhält durch ihn einen neuen Bezug auf die Welt und auf den Besitz.


Ihre alte Tätigkeit regt sich wieder; sie erblickt, wo sie auch
hinsieht, im vrgangenen Jahre vieles getan und empfindet Freude am
Getanen.

Von einem eigenen Gefühl belebt, steigt sie zur Mooshütte mit Ottilien
und dem Kinde; und indem sie dieses auf den kleinen Tisch als auf
einen häuslichen Altar niederlegt und noch zwei Plätze leer sieht,
gedenkt sie der vorigen Zeiten, und eine neue Hoffnung für sie und
Ottilien dringt hervor.

Junge Frauenzimmer sehen sich bescheiden vielleicht nach diesem oder
jenem Jüngling um, mit stiller Prüfung, ob sie ihn wohl zum Gatten
wünschten; wer aber für eine Tochter oder einen weiblichen Zögling zu
sorgen hat, schaut in einem weitern Kreis umher.

So ging es auch in diesem Augenblick Charlotten, der eine Verbindung
des Hauptmanns mit Ottilien nicht unmöglich schien, wie sie doch auch
schon ehemals in dieser Hütte nebeneinander gesessen hatten.




Ihr war nicht unbekannt geblieben, daß jene Aussicht auf eine
vorteilhafte Heirat wieder verschwunden sei.

Charlotte stieg weiter, und Ottilie trug das Kind.

Jene überließ sich mancherlei Betrachtungen.

Auch auf dem festen Lande gibt es wohl Schiffbruch; sich davon auf das
schnellste zu erholen und herzustellen, ist schön und preiswürdig.

Ist doch das Leben nur auf Gewinn und Verlust berechnet!

Wer macht nicht irgendeine Anlage und wird darin gestört!

Wie oft schlägt man einen Weg ein und wird davon abgeleitet! Wie oft
werden wir von einem scharf ins Auge gefaßten Ziel abgelenkt, um ein
höheres zu erreichen!

Der Reisende bricht unterwegs zu seinem höchsten Verdruß ein Rad und
gelangt durch diesen unangenehmen Zufall zu den erfreulichsten
Bekanntschaften und Verbindungen, die auf sein ganzes Leben Einfluß
haben. Das Schicksal gewährt uns unsre Wünsche, aber auf seine Weise,
um uns etwas über unsere Wünsche geben zu können.

Diese und ähnliche Betrachtungen waren es, unter denen Charlotte zum
neuen Gebäude auf der Höhe gelangte, wo sie vollkommen bestätigt
wurden.

Denn die Umgebung war viel schöner, als man sichs hatte denken können.

Alles störende Kleinliche war ringsumher entfernt, alles Gute der
Landschaft, was die Natur, was die Zeit daran getan hatte, trat
reinlich hervor und fiel ins Auge, und schon grünten die jungen
Pflanzungen, die bestimmt waren, einige Lücken auszufüllen und die
abgesonderten Teile angenehm zu verbinden.

Das Haus selbst war nahezu bewohnbar, die Aussicht, besonders aus den
obern Zimmern, höchst mannigfaltig.

Je länger man sich umsah, desto mehr Schönes entdeckte man.

Was mußten nicht hier die verschiedenen Tagszeiten, was Mond und Sonne
für Wirkungen hervorbringen!

Hier zu verweilen war höchst wünschenswert, und wie schnell ward die
Lust zu bauen und zu schaffen in Charlotten wieder erweckt, da sie
alle grobe Arbeit getan fand!

Ein Tischer, ein Tapezier, ein Maler, der mit Patronen und leichter
Vergoldung sich zu helfen wußte, nur dieser bedurfte man, und in
kurzer Zeit war das Gebäude im Stande.

Keller und Küche wurden schnell eingerichtet; denn in der Entfernung
vom Schlosse mußte man alle Bedürfnisse um sich versammeln.

So wohnten die Frauenzimmer mit dem Kinde nun oben, und von diesem
Aufenthalt, als von einem neuen Mittelpunkt, eröffneten sich ihnen
unerwartete Spaziergänge.

Sie genossen vergnüglich in einer höheren Region der freien, frischen
Luft bei dem schönsten Wetter.

Ottiliens liebster Weg, teils allein, teils mit dem Kinde, ging
herunter nach den Platanen auf einem bequemen Fußsteig, der sodann zu
dem Punkte leitete, wo einer der Kähne angewunden war, mit denen man
überzufahren pflegte.

Sie erfreute sich manchmal einer Wasserfahrt, allein ohne das Kind,
weil Charlotte deshalb einige Besorgnis zeigte.

Doch verfehlte sie nicht, täglich den Gärtner im Schloßgarten zu
besuchen und an seiner Sorgfalt für die vielen Pflanzenzöglinge, die
nun alle der freien Luft genossen, freundlich teilzunehmen.

In dieser schönen Zeit kam Charlotten der Besuch eines Engländers sehr
gelegen, der Eduarden auf Reisen kennengelernt, einigemal getroffen
hatte und nunmehr neugierig war, die schönen Anlagen zu sehen, von
denen er soviel Gutes erzählen hörte.

Er brachte ein Empfehlungsschreiben vom Grafen mit und stellte
zugleich einen stillen, aber sehr gefälligen Mann als seinen Begleiter
vor.

Indem er nun bald mit Charlotten und Ottilien, bald mit Gärtnern und
Jägern, öfters mit seinem Begleiter und manchmal allein die Gegend
durchstrich, so konnte man seinen Bemerkungen wohl ansehen, daß er ein
Liebhaber und Kenner solcher Anlagen war, der wohl auch manche
dergleichen selbst ausgeführt hatte.

Obgleich in Jahren, nahm er auf eine heitere Weise an allem teil, was
dem Leben zur Zierde gereichen und es bedeutend machen kann.

In seiner Gegenwart genossen die Frauenzimmer erst vollkommen ihrer
Umgebung.

Sein geübtes Auge empfing jeden Effekt ganz frisch, und er hatte um so
mehr Freude an dem Entstandenen, als er die Gegend vorher nicht
gekannt und, was man daran getan, von dem, was die Natur geliefert,
kaum zu unterscheiden wußte.

Man kann wohl sagen, daß durch seine Bemerkungen der Park wuchs und
sich bereicherte.

Schon zum voraus erkannte er, was die neuen, heranstrebenden
Pflanzungen versprachen.

Keine Stelle blieb ihm unbemerkt, wo noch irgendeine Schönheit
hervorzuheben oder anzubringen war.

Hier deutete er auf eine Quelle, welche, gereinigt, die Zierde einer
ganzen Buschpartie zu werden versprach, hier auf eine Höhle, die,
ausgeräumt und erweitert, einen erwünschten Ruheplatz geben konnte,
indessen man nur wenige Bäume zu fällen brauchte, um von ihr aus
herrliche Felsenmassen aufgetürmt zu erblicken.

Er wünschte den Bewohnern Glück, daß ihnen so manches nachzuarbeiten
übrigblieb, und ersuchte sie, damit nicht zu eilen, sondern für
folgende Jahre sich das Vergnügen des Schaffens und Einrichtens
vorzubehalten.

übrigens war er außer den geselligen Stunden keineswegs lästig; denn
er beschäftigte sich die größte Zeit des Tags, die malerischen
Aussichten des Parks in einer tragbaren dunklen Kammer aufzufangen und
zu reichnen, um dadurch sich und andern von seinen Reisen eine schöne
Frucht zu gewinnen.

Er hatte dieses schon seit mehreren Jahren in allen bedeutenden
Gegenden getan und sich dadurch die angenehmste und interessanteste
Sammlung verschafft.

Ein großes Portefeuille, das er mit sich führte, zeigte er den Damen
vor und unterhielt sie teils durch das Bild, teils durch die Auslegung.


Sie freuten sich, hier in ihrer Einsamkeit die Welt so bequem zu
durchreisen, Ufer und Häfen, Berge, Seen und Flüsse, Städte, Kastelle
und manches andre Lokal, das in der Geschichte einen Namen hat, vor
sich vorbeiziehen zu sehen.

Jede von beiden Frauen hatte ein besonderes Interesse, Charlotte das
allgemeinere, gerade an dem, wo sich etwas historisch Merkwürdiges
fand, während Ottilie sich vorzüglich bei den Gegenden aufhielt, wovon
Eduard viel zu erzählen pflegte, wo er gern verweilt, wohin er öfters
zurückgekehrt; denn jeder Mensch hat in der Nähe und in der Ferne
gewisse örtliche Einzelheiten, die ihn anziehen, die ihm seinem
Charakter nach, um des ersten Eindrucks, gewisser Umstände, der
Gewohnheit willen besonders lieb und aufregend sind.




Sie fragte daher den Lord, wo es ihm denn am besten gefalle und wo er
nun seine Wohnung aufschlagen würde, wenn er zu wählen hätte.

Da wußte er denn mehr als eine schöne Gegend vorzuzeigen und, was ihm
dort widerfahren, um sie ihm lieb und wert zu machen, in seinem eigens
akzentuierten Französisch gar behaglich mitzuteilen.

Auf die Frage hingegen, wo er sich denn jetzt gewöhnlich aufhalte,
wohin er am liebsten zurückkehre, ließ er sich ganz unbewunden, doch
den Frauen unerwartet, also vernehmen: "ich habe mir nun angewöhnt,
überall zu Hause zu sein, und finde zuletzt nichts bequemer, als daß
andre für mich bauen, pflanzen und sich häuslich bemühen.

Nach meinen eigenen Besitzungen sehne ich mich nicht zurück, teils aus
politischen Ursachen, vorzüglich aber, weil mein Sohn, für den ich
alles eigentlich getan und eingerichtet, dem ich es zu übergeben, mit
dem ich es noch zu genießen hoffte, an allem keinen Teil nimmt,
sondern nach Indien gegangen ist, um sein Leben dort, wie mancher
andere, höher zu nutzen oder gar zu vergeuden.

Gewiß, wir machen viel zu viel vorarbeitenden Aufwand aufs Leben.

Anstatt daß wir gleich anfingen, uns in einem mäßigen Zustand
behaglich zu finden, so gehen wir immer mehr ins Breite, um es uns
immer unbequemer zu machen.

Wer genießt jetzt meine Gebäude, meinen Park, meine Gärten?

Nicht ich, nicht einmal die Meinigen: fremde Gäste, Neugierige,
unruhige Reisende.

Selbst bei vielen Mitteln sind wir immer nur halb und halb zu Hause,
besonders auf dem Lande, wo us manches Gewohnte der Stadt fehlt.

Das Buch, das wir am eifrigsten wünschten, ist nicht zur Hand, und
gerade, was wir am meisten bedürften, ist vergessen.

Wir richten uns immer häuslich ein, um wieder auszuziehen, und wenn
wir es nicht mit Willen und Willkür tun, so wirken Verhältnisse,
Leidenschaften, Zufälle, Notwendigkeit und was nicht alles".

Der Lord ahnete nicht, wie tief durch seine Betrachtungen die
Freundinnen getroffen wurden.

Und wie oft kommt nicht jeder in diese Gefahr, der eine allgemeine
Betrachtung selbst in einer Gesellschaft, deren Verhältnisse ihm sonst
bekannt sind, ausspricht!

Charlotten war eine solche zufällige Verletzung auch durch
Wohlwollende und Gutmeinende nichts Neues; und die Welt lag ohnehin so
deutlich vor ihren Augen, daß sie keinen besondern Schmerz empfand,
wenngleich jemand sie unbedachtsam und ungvorsichtig nötigte, ihren
Blick da--oder dorthin auf eine unerfreuliche Stelle zu richten.

Ottilie hingegen, die in halbbewußter Jugend mehr ahnete als sah und
ihren Blick wegwenden durfte, ja mußte von dem, was sie nicht sehen
mochte und sollte, Ottilie ward durch diese traulichen Reden in den
schrecklichsten Zustand versetzt; denn es zerriß mit Gewalt vor ihr
der anmutige Schleier, und es schien ihr, als wenn alles, was bisher
für Haus und Hof, für Garten, Park und die ganze Umgebung geschehen
war, ganz eigentlich umsonst sei, weil der, dem es alles gehörte, es
nicht genösse, weil auch der, wie der gegenwärtige Gast, zum
Herumschweifen in der Welt, und zwar zu dem gefährlichsten, durch die
Liebsten und Nächsten gedrängt worden.

Sie hatte sich an Hören und Schweigen gewöhnt aber sie saß diesmal in
der peinlichsten Lage, die durch des Fremden weiteres Gespräch eher
vermehrt als vermindert wurde, das er mit heiterer Eigenheit und
Bedächtlichkeit fortsetzte.

"Nun glaub ich", sagte er, "auf dem rechten Wege zu sein, da ich mich
immerfort als einen Reisenden betrachte, der vielem entsagt, um vieles
zu genießen.

Ich bin an den Wechsel gewöhnt, ja er wird mir Bedürfnis, wie man in
der Oper immer wieder auf eine neue Dekoration wartet, gerade weil
schon so viele dagewesen.

Was ich mir von dem besten und dem schlechtesten Wirtshause
versprechen darf, ist mir bekannt; es mag so gut oder so schlimm sein,
als es will, nirgends find ich das Gewohnte, und am Ende läuft es auf
eins hinaus, ganz von einer notwendigen Gewohnheit oder ganz von der
willkürlichsten Zufälligkeit abzuhangen.

Wenigstens habe ich jetzt nicht den Verdruß, daß etwas verlegt oder
verloren ist, daß mir ein tägliches Wohnzimmer unbrauchbar wird, weil
ich es muß reparieren lassen, daß man mir eine liebe Tasse zerbricht
und es mir eine ganze Zeit aus keiner andern schmecken will.

Alles dessen bin ich überhoben, und wenn mir das Haus über dem Kopf zu
brennen anfängt, so packen meine Leute gelassen ein und auf, und wir
fahren zu Hofraum und Stadt hinaus.

Und bei allen diesen Vorteilen, wenn ich es genau berechne, habe ich
am Ende des Jahres nicht mehr ausgegeben, als es mich zu Hause
gekostet hätte".

Bei dieser Schilderung sah Ottilie nur Eduarden vor sich, wie er nun
auch mit Entbehren und Beschwerde auf ungebahnten Straßen hinziehe,
mit Gefahr und Not zu Felde liege und bei soviel Unbestand und Wagnis
sich gewöhne, heimatlos und freundlos zu sein, alles wegzuwerfen, nur
um nicht verlieren zu können.

Glücklicherweise trennte sich die Gesellschaft für einige Zeit.

Ottilie fand Raum, sich in der Einsamkeit auszuweinen.

Gewaltsamer hatte sie kein dumpfer Schmerz ergriffen als diese
Klarheit, die sie sich noch klarer zu machen strebte, wie man es zu
tun pflegt, daß man sich selbst peinigt, wenn man einmal auf dem Wege
ist, gepeinigt zu werden.

Der Zustand Eduards kam ihr so kümmerlich, so jämmerlich vor, daß sie
sich entschloß, es koste, was es wolle, zu seiner Wiedervereinigung
mit Charlotten alles beizutragen, ihren Schmerz und ihre Liebe an
irgendeinem stillen Orte zu verbergen und durch irgendeine Art von
Tätigkeit zu betriegen.

Indessen hatte der Begleiter des Lords, ein verständiger, ruhiger Mann
und guter Beobachter, den Mißgriff in der Unterhaltung bemerkt und die
ähnlichkeit der Zustände seinem Freunde offenbart.

Dieser wußte nichts von den Verhältnissen der Familie; allein jener,
den eigentlich auf der Reise nichts mehr interessierte als die
sonderbaren Ereignisse, welche durch natürliche und künstliche
Verhältnisse, durch den Konflikt des Gesetzlichen und des
Ungebändigten, des Verstandes und der Vernunft, der Leidenschaft und
des Vorurteils hervorgebracht werden, jener hatte sich schon früher
und mehr noch im Hause selbst mit allem bekannt gemacht, was
vorgegangen war und noch vorging.

Dem Lord tat es leid, ohne daß er darüber verlegen gewesen wäre.

Man müßte ganz in Gesellschaft schweigen, wenn man nicht manchmal in
den Fall kommen sollte; denn nicht allein bedeutende Bemerkungen,
sondern die trivialsten äußerungen können auf eine so mißklingende
Weise mit dem Interesse der Gegenwärtigen zusammentreffen.

"Wir wollen es heute abend wiedergutmachen", sagte der Lord, "und uns
aller allgemeinen Gespräche enthalten.

Geben Sie der Gesellschaft etwas von den vielen angenehmen und
bedeutenden Anekdoten und Geschichten zu hören, womit Sie Ihr
Portefeuille und Ihr Gedächtnis auf unserer Reise bereichert haben!"
Allein auch mit dem besten Vorsatze gelang es den Fremden nicht, die
Freunde diesmal mit einer unverfänglichen Unterhaltung zu erfreuen.

Denn nachdem der Begleiter durch manche sonderbare, bedeutende,
heitere, rührende, furchtbare Geschichten die Aufmerksamkeit erregt
und die Teilnahme aufs höchste gespannt hatte, so dachte er mit einer
zwar sonderbaren, aber sanfteren Begebenheit zu schließen und ahnete
nicht, wie nahe diese seinen Zuhörern verwandt war.




Zwei Nachbarskinder von bedeutenden Häusern, Knabe und Mädchen, in
verhältnismäßigem Alter, um dereinst Gatten zu werden, ließ man in
dieser angenehmen Aussicht miteinander aufwachsen, und die
beiderseitigen Eltern freuten sich einer künftigen Verbindung.

Doch man bemerkte gar bald, daß die Absicht zu mißlingen schien, indem
sich zwischen den beiden trefflichen Naturen ein sonderbarer
Widerwille hervortrat.

Vielleicht waren sie einander zu ähnlich.

Beide in sich selbst gewendet, deutlich in ihrem Wollen, fest in ihren
Vorsätzen; jedes einzeln geliebt und geehrt von seinen Gespielen;
immer Widersacher, wenn sie zusammen waren, immer aufbauend für sich
allein, immer wechselsweise zerstörend, wo sie sich begegneten, nicht
wetteifernd nach einem Ziel, aber immer kämpfend um einen Zweck;
gutartig durchaus und liebenswürdig und nur hassend, ja bösartig,
indem sie sich aufeinander bezogen.

Diese wunderliche Verhältnis zeigte sich schon bei kindischen Spielen,
es zeigte sich bei zunehmenden Jahren.

Und wie die Knaben Krieg zu spielen, sich in Parteien zu sondern,
einander Schlachten zu liefern pflegen, so stellte sich das trozig
mutige Mädchen einst an die Spitze des einen Heers und focht gegen das
andre mit solcher Gewalt und Erbitterung, daß dieses schimpflich wäre
in die Flucht geschlagen worden, wenn ihr einzelner Widersacher sich
nicht sehr brav gehalten und seine Gegnerin doch noch zuletzt
entwaffnet und gefangengenommen hätte.

Aber auch da noch wehrte sie sich so gewaltsam, daß er, um seine Augen
zu erhalten und die Feindin doch nicht zu beschäftigen, sein seidenes
Halstuch abreißen und ihr die Hände damit auf den Rücken binden mußte.

Dies verzieh sie ihm nie, ja sie machte so heimliche Anstalten und
Versuche, ihn zu beschädigen, daß die Eltern, die auf diese seltsamen
Leidenschaften schon längst achtgehabt, sich miteinander verständigen
und beschlossen, die beiden feindlichen Wesen zu trennen und jene
lieblichen Hoffnungen aufzugeben.

Der Knabe tat sich in seinen neuen Verhältnissen bald hervor. Jede
Art von Unterricht schlug bei ihm an.

Gönner und eigene Neigung bestimmten ihn zum Soldatenstande.

überall, wo er sich fand, war er geliebt und geehrt.

Seine tüchtige Natur schien nur zum Wohlsein, zum Behagen anderer zu
wirken, und er war in sich, ohne deutliches Bewußtsein, recht
glücklich, den einzigen Widersacher verloren zu haben, den die Natur
ihm zugedacht hatte.

Das Mädchen dagegen trat auf einmal in einen veränderten Zustand.

Ihre Jahre, eine zunehmende Bildung und mehr noch ein gewisses inneres
Gefühl zogen sie von den heftigen Spielen hinweg, die sie bisher in
Gesellschaft der Knaben auszuüben pflegte.

Im ganzen schien ihr etwas zu fehlen, nichts war um sie herum, das
wert gewesen wäre, ihren Haß zu erregen.

Liebenswürdig hatte sie noch niemanden gefunden.

Ein junger Mann, älter als ihr ehemaliger nachbarlicher Widersacher,
von Stand, Vermögen und Bedeutung, beliebt in der Gesellschaft,
gesucht von Frauen, wendete ihr seine ganze Neigung zu.

Es war das erstemal, daß sich ein Freund, ein Liebhaber, ein Diener um
sie bemühte.

Der Vorzug, den er ihr vor vielen gab, die älter, gebildeter,
glänzender und anspruchsreicher waren als sie, tat ihr gar zu wohl.

Seine fortgesetzte Aufmerksamkeit, ohne daß er zudringlich gewesen
wäre, sein treuer Beistand bei verschiedenen unangenehmen Zufällen,
sein gegen ihre Eltern zwar ausgesprochnes, doch ruhiges und nur
hoffnungsvolles Werben, da sie freilich noch sehr jung war: das alles
nahm sie für ihn ein, wozu die Gewohnheit, die äußern, nun von der
Welt als bekannt angenommenen Verhältnisse das Ihrige beitrugen.

Sie war so oft Braut genannt worden, daß sie sich endlich selbst dafür
hielt, und weder sie noch irgend jemand dachte daran, daß noch eine
Prüfung nötig sei, als sie den Ring mit demjenigen wechselte, der so
lange Zeit für ihren Bräutigam galt.

Der ruhige Gang, den die ganze Sache genommen hatte, war auch durch
das Verlöbnis nicht beschleunigt worden.

Man ließ eben von beiden Seiten alles so fortgewähren, man freute sich
des Zusammenlebens und wollte die gute Jahreszeit durchaus noch als
einen Frühling des künftigen ernsteren Lebens genießen.

Indessen hatte der Entfernte sich zum schönsten ausgebildet, eine
verdiente Stufe seiner Lebensbestimmung erstiegen und kam mit Urlaub,
die Seinigen zu besuchen.

Auf eine ganz natürliche, aber doch sonderbare Weise stand er seiner
schönen Nachbarin abermals entgegen.

Sie hatte in der letzten Zeit nur freundliche, bräutliche
Familienempfindungen bei sich genährt, sie war mit allem, was sie
umgab, in übereinstimmung; sie glaubte glücklich zu sein und war es
auch auf gewisse Weise.

Aber nun stand ihr zum erstenmal seit langer Zeit wieder etwas
entgegen: es war nicht hassenswert; sie war des Hasses unfähig
geworden, ja der kindische Haß, der eigentlich nur ein dunkles
Anerkennen des inneren Wertes gewesen, äußerte sich nun in frohem
Erstaunen, erfreulichem Betrachten, gefälligem Eingesthen, halb
willigem halb unwilligem und doch notwendigem Annahen, und das alles
war wechselseitig.

Eine lange Entfernung gab zu längeren Unterhaltungen Anlaß.

Selbst jene kindische Unvernunft diente den Aufgeklärteren zu
scherzhafter Erinnerung, und es war, als wenn man sich jenen
neckischen Haß wenigstens durch eine freundschaftliche, aufmerksame
Behandlung vergüten müsse, als wenn jenes gewaltsame Verkennen nunmehr
nicht ohne ein ausgesprochenes Anerkennen bleiben dürfe.

Von seiner Seite blieb alles in einem verständigen, wünschenswerten
Maß.

Sein Stand, seine Verhältnisse, sein Streben, sein Ehrgeiz
beschäftigten ihn so reichlich, daß er die Freundlichkeit der schönen
Braut als eine dankenswerte Zugabe mit Behaglichkeit aufnahm, ohne sie
deshalb in irgendeinem Bezug auf sich zu betrachten oder sie ihrem
Bräutigam zu mißgönnen, mit dem er übrigens in den besten
Verhältnissen stand.

Bei ihr hingegen sah es ganz anders aus.

Sie schien sich wie aus einem Traum erwacht.

Der Kampf gegen ihren jungen Nachbar war die erste Leidenschaft
gewesen, und dieser heftige Kampf war doch nur, unter der Form des
Widerstrebens, eine heftige, gleichsam angeborne Neigung.

Auch kam es ihr in der Erinnerung nicht anders vor, als daß sie ihn
immer geliebt habe.

Sie lächelte über jenes feindliche Suchen mit den Waffen in der Hand;
sie wollte sich des angenehmsten Gefühls erinnern, als er sie
entwaffnete; sie bildete sich ein, die größte Seligkeit empfunden zu
haben, da er sie band, und alles, was sie zu seinem Schaden und
Verdruß unternommen hatte, kam ihr nur als unschuldiges Mittel vor,
seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.




Sie verwünschte jene Trennung, sie bejammerte den Schlaf, in den sie
verfallen, sie verfluchte die schleppende, träumerische Gewohnheit,
durch die ihr ein so unbedeutender Bräutigam hatte werden können; sie
war verwandelt, doppelt verwandelt, vorwärts und rückwärts, wie man es
nehmen will.

Hätte jemand ihre Empfindungen, die sie ganz geheimhielt, entwickeln
und mit ihr teilen können, so würde er sie nicht gescholten haben;
denn freilich konnte der Bräutigam die Vergleichung mit dem Nachbar
nicht aushalten, sobald man sie nebeneinander sah.

Wenn man dem einen ein gewisses Zutrauen nicht versagen konnte, so
erregte der andere das vollste Vertrauen; wenn man den einen gern zur
Gesellschaft mochte, so wünschte man sich den andern zum Gefährten;
und dachte man gar an höhere Teilnahme, an außerordentliche Fälle, so
hätte man wohl an dem einen gezweifelt, wenn einem der andere
vollkommene Gewißheit gab.

Für solche Verhältnisse ist den Weibern ein besonderer Takt angeboren,
und sie haben Ursache sowie Gelegenheit, ihn auszubilden.

Je mehr die schöne Braut solche Gesinnungen bei sich ganz heimlich
nährte, je weniger nur irgend jemand dasjenige auszusprechen im Fall
war, was zugunsten des Bräutigams gelten konnte, was Verhältnisse, was
Pflicht anzuraten und zu gebieten, ja was eine unabänderliche
Notwendigkeit unwiderruflich zu fordern schien, desto mehr begünstigte
das schöne Herz seine Einseitigkeit; und indem sie von der einen Seite
durch Welt und Familie, Bräutigam und eigne Zusage unauflöslich
gebunden war, von der andern der emporstrebende Jüngling gar kein
Geheimnis von seinen Gesinnungen, Planen und Aussichten machte, sich
nur als ein treuer und nicht einmal zärtlicher Bruder gegen sie bewies
und nun gar von seiner unmittelbaren Abreise die Rede war, so schien
es, als ob ihr früher kindischer Geist mit allen seinen Tücken und
Gewaltsamkeiten wiedererwachte und sich nun auf einer höheren
Lebensstufe mit Unwillen rüstete, bedeutender und verderblicher zu
wirken.

Sie beschloß zu sterben, um den ehemals Gehaßten und nun so heftig
Geliebten für seine Unteilnahme zu strafen und sich, indem sie ihn
nicht besitzen sollte, wenigstens mit seiner Einbildungskraft, seiner
Reue auf ewig zu vermählen.

Er sollte ihr totes Bild nicht loswerden, er sollte nicht aufhören,
sich Vorwürfe zu machen, daß er ihre Gesinnungen nicht erkannt, nicht
erforscht, nicht geschätzt habe.

Dieser seltsame Wahnsinn begleitete sie überallhin.

Sie verbarg ihn unter allerlei Formen; und ob sie den Menschen gleich
wunderlich vorkam, so war niemand aufmerksam oder klug genug, die
innere, wahre Ursache zu entdecken.

Indessen hatten sich Freunde, Verwandte, Bekannte in Anordnungen von
Mancherlei Festen erschöpft.

Kaum verging ein Tag, daß nicht irgend etwas Neues und Unerwartetes
angestellt worden wäre.

Kaum war ein schöner Platz der Landschaft, den man nicht ausgeschmückt
und zum Empfang vieler froher Gäste bereitet hätte.

Auch wollte unser junger Ankömmling noch vor seiner Abreise das
Seinige tun und lud das junge Paar mit einem engeren Familienkreise zu
einer Wasserlustfahrt.

Man bestieg ein großes, schönes, wohlausgeschmücktes Schiff, eine der
Jachten, die einen kleinen Saal und einige Zimmer anbieten und auf das
Wasser die Bequemlichkeit des Landes überzutragen suchen.

Man fuhr auf dem großen Strome mit Musik dahin; die Gesellschaft hatte
sich bei heißer Tageszeit in den untern Räumen versammelt, um sich an
Geistes--und Glücksspielen zu ergötzen.

Der junge Wirt, der niemals untätig bleiben konnte, hatte sich ans
Steuer gesetzt, den alten Schiffsmeister abzulösen, der an seiner
Seite eingeschlafen war; und eben brauchte der Wachende alle seine
Vorsicht, da er sich einer Stelle nahte, wo zwei Inseln das Flußbette
verengten und, indem sie ihre flachen Kiesufer bald an der einen, bald
an der andern Seite hereinstreckten, ein gefährliches Fahrwasser
zubereiteten.

Fast war der sorgsame und scharfblickende Steurer in Versuchung, den
Meister zu wecken, aber er getraute sichs zu und fuhr gegen die Enge.

In dem Augenblick erschien auf dem Verdeck seine schöne Feindin mit
einem Blumenkranz in den Haaren.

Sie nahm ihn ab und warf ihn auf den Steuernden.

"Nimm dies zum Andenken!" rief sie aus.

"Störe mich nicht!" rief er ihr entgegen, indem er den Kranz auffing;
"ich bedarf aller meiner Kräfte und meiner Aufmerksamkeit".

-"Ich störe dich nicht weiter", rief sie; "du siehst mich nicht wieder!"
Sie sprachs und eilte nach dem Vorderteil des Schiffs, von da sie
ins Wasser sprang.

Einige Stimmen riefen: "rettet!

Rettet!

Sie ertrinkt".

Er war in der entsetzlichsten Verlegenheit.

über dem Lärm erwacht der alte Schiffsmeister, will das Ruder
ergreifen, der jüngere es ihm übergeben, aber es ist keine Zeit, die
Herrschaft zu wechseln: das Schiff strandet, und in eben dem
Augenblick, die lästigsten Kleidungsstücke wegwerfend, stürzte er sich


 


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