Geschichte des Agathon, Teil 1
by
Christoph Martin Wieland

Part 4 out of 5



der grobe Materialismus des plumpen Handwerkers, der rauhe Ungestuem des
Seefahrers, die mechanische Unempfindlichkeit des Soldaten, und die
einfaeltige Schlauheit des Landvolks; daher endlich, schoene Danae, die
Schwaermerei, welche der weise Hippias deinem Callias vorwirft; diese
Schwaermerei, die ich vielleicht in einem minder erhabnen Licht sehe,
seitdem ich ihre wahre Quelle entdeckt zu haben glaube; aber die ich
nichts desto weniger fuer diejenige Gemuetsbeschaffenheit halte, welche uns,
unter den noetigen Einschraenkungen, gluecklicher als irgend eine andre
machen kann.

Du begreifest leicht, schoene Danae, dass unter lauter Gegenstaenden, welche
ueber die gewoehnliche Natur erhaben, und selbst schon idealisch sind, jenes
phantastische Modell, dessen ich vorhin erwaehnte, in einem so
ungewoehnlichen Grade abgezogen und ueberirdisch werden musste, dass bei
zunehmendem Alter alles was ich wuerklich sah, weit unter demjenigen war,
was sich meine Einbildungskraft zu sehen wuenschte. In dieser
Gemuetsverfassung war ich, als einer von den Priestern zu Delphi aus
Absichten, welche sich erst in der Folg' entwickelten, es uebernahm, mich
in den Geheimnissen der Orphischen Philosophie einzuweihen; der einzigen,
die von unsern Priestern hochgeachtet wurde, weil sie die Vernunft selbst
auf ihre Partei zu ziehen, und den Glauben von dessen unbeweglichem
Ansehen das ihrige abhing, einen festern Grund als die Tradition und die
Fabeln der Dichter, zu geben schien.

Nichts, was ich jemals empfunden habe, gleicht der Entzueckung, in die ich
hingezogen wurde, als ich in den Haenden dieses Egyptiers, der die geheime
Goetterlehre seiner Nation zu uns gebracht hat, in das Reich der Geister
eingefuehrt, und zu einer Zeit, da die erhabensten Gemaelde Homers und
Pindars ihren Reiz fuer mich verloren hatten, mitten in der materiellen
Welt mir eine Neue, mit lauter unsterblichen Schoenheiten erfuellt, und von
lauter Goettern bewohnt, eroeffnet wurde.

Das Alter, worin ich damals war, ist dasjenige, worin wir, aus dem langen
Traum der Kindheit erwachend, uns selbst zuerst zu finden glauben, die
Welt um uns her mit erstaunten Augen betrachten, und neugierig sind, unsre
eigne Natur und den Schauplatz, worauf wir uns ohn unser Zutun versetzt
sehen, kennen zu lernen. Wie willkommen ist uns in diesem Alter eine
Philosophie, welche den Vorteil unsrer Wissensbegierde mit dieser Neigung
zum Wunderbaren und dieser arbeitscheuen Fluechtigkeit, welche der Jugend
eigen sind, vereiniget, welche alle unsre Fragen beantwortet, alle Raetsel
erklaert, alle Aufgaben aufloeset; eine Philosophie, welche destomehr mit
dem warmen und gefuehlvollen Herzen der Jugend sympathisiert, weil sie
alles Unempfindliche und Tote aus der Natur verbannet, und jeden Atom der
Schoepfung mit lebenden und geistigen Wesen bevoelkert, jeden Punkt der Zeit
mit verborgnen Begebenheiten und grossen Szenen befruchtet, welche fuer
kuenftige Ewigkeiten heranreifen; ein System, welches die Schoepfung so
unermesslich macht, als ihr Urheber ist; welches uns in der anscheinenden
Verwirrung der Natur eine majestaetische Symmetrie, in der Regierung der
moralischen Welt einen unveraenderlichen Plan, in der unzaehlbaren Menge von
Klassen und Geschlechtern der Wesen einen einzigen Staat, in den
verwickelten Bewegungen aller Dinge einen allgemeinen Richtpunkt, in
unsrer Seele einen kuenftigen Gott, in der Zerstoerung unsers Koerpers die
Wiedereinsetzung in unsre urspruengliche Vollkommenheit, und in dem
nachtvollen Abgrund der Zukunft helle Aussichten in grenzenlose Wonne
zeigt? Ein solches System ist zu schoen an sich selbst, zu schmeichelhaft
fuer unsern Stolz, unsern innersten Wuenschen und wesentlichsten Trieben zu
angemessen, als dass wir es in einem Alter, wo alles Grosse und Ruehrende so
viel Macht ueber uns hat, nicht beim ersten Anblick wahr finden sollten.
Vermutungen und Wuensche werden hier zu desto staerkern Beweisen, da wir in
dem blossen Anschauen der Natur zuviel Majestaet, zuviel Geheimnisreiches
und Goettliches zu sehen glauben, um besorgen zu koennen, dass wir jemals
zugross von ihr denken moechten. Und, soll ich dirs gestehen, schoene
Danae? Selbst itzt, da mich glueckliche Erfahrungen das Schwaermende und
Unzuverlaessige dieser Art von Philosophie gelehrt haben, fuehle ich mit
einer innerlichen Gewalt, die sich gegen jeden Zweifel empoert, dass diese
uebereinstimmung mit unsern edelsten Neigungen, welche ihr das Wort redet,
der rechte Stempel der Wahrheit ist, und dass selbst in diesen Traeumen,
welche dem materialischen Menschen so ausschweifend scheinen, fuer unsern
Geist mehr Wuerklichkeit, mehr Unterhaltung und Aufmunterung, eine reichere
Quelle von ruhiger Freude und ein festerer Grund der Selbstzufriedenheit
liegt, als in allem was die Sinne uns angenehmes und Gutes anzubieten
haben. Doch ich erinnere mich, dass es die Geschichte meiner Seele, und
nicht die Rechtfertigung meiner Denkensart ist, wozu ich mich anheischig
gemacht habe. Es sei also genug, wenn ich sage, dass die Lehrsaetze des
Orpheus und des Pythagoras, von den Goettern, von der Natur, von unsrer
Seele, von der Tugend, und von dem was das hoechste Gut des Menschen ist,
sich meines Gemuets so gaenzlich bemeisterten, dass alle meine Begriffe nach
diesem Urbilde gemodelt, alle meine Reizungen davon beseelt, und mein
ganzes Betragen, so wie alle meine Entwuerfe fuer die Zukunft, mit dem Plan
eines nach diesen Grundsaetzen abgemessenen Lebens, dessen Beurteilung mich
unaufhoerlich in mir selbst beschaeftigte, uebereinstimmig waren."




ZWEITES KAPITEL

En animam & mentem cum qua Di nocte loquantur!


"Der Priester, der sich zu meinem Mentor aufgeworfen hatte, schien ueber
den ausserordentlichen Geschmack, den ich an seinen erhabnen Unterweisungen
fand, sehr vergnuegt zu sein, und ermangelte nicht, meinen Enthusiasmus bis
auf einen Grad zu erhoehen, welcher mich, seiner Meinung nach, alles zu
glauben und alles zu leiden faehig machen muesste. Ich war zu jung und zu
unschuldig, um das kleinste Misstrauen in seine Bemuehungen zu setzen, bei
welchen die Aufrichtigkeit meines eignen Herzens die edelsten Absichten
voraussetzte. Er hatte die Vorsicht gebraucht, es so einzuleiten, dass ich
endlich aus eigner Bewegung auf die Frage geraten musste, ob es nicht
moeglich sei, schon in diesem Leben mit den hoehern Geistern in Gemeinschaft
zu kommen? Dieser Gedanke beschaeftigte mich lange bei mir selbst; ich
fand moeglich, was ich mit der groessesten Lebhaftigkeit wuenschte. Die
Geschichte der ersten Zeiten schien meine Hoffnung zu bestaetigen. Die
Goetter hatten sich den Menschen bald in Traeumen, bald in Erscheinungen
entdeckt; verschiedene waren so gar gluecklich genug gewesen, Guenstlinge
der Goetter zu sein. Hier kam mir Ganymed, Endymion und so viele andre zu
statten, welche von Gottheiten geliebt worden waren. Ich gab demjenigen,
was die Dichter davon erzaehlen, eine Auslegung, welche den erhabenen
Begriffen gemaess war, die ich von den hoehern Wesen gefasset hatte; die
Schoenheit und Reinigkeit der Seele, die Abgezogenheit von den Gegenstaenden
der Sinne, die Liebe zu den unsterblichen und ewigen Dingen, schien mir
dasjenige zu sein, was diese Personen den Goettern angenehm, und zu ihrem
Umgang geschickt gemacht hatte. Ich entdeckte endlich dem Theogiton (so
hiess der Priester) meine lange geheim gehaltene Gedanken. Er erklaerte
sich auf eine Art darueber, welche meine Neubegierde rege machte, ohne sie
zu befriedigen; er liess mich merken, dass dieses Geheimnisse seien, welche
er Bedenken trage, meiner Jugend anzuvertrauen: Doch sagte er mir, dass die
Moeglichkeit der Sache keinem Zweifel unterworfen sei, und bezauberte mich
ganz mit dem Gemaelde, so er mir von der Glueckseligkeit derjenigen machte,
welche von den Goettern wuerdig geachtet wuerden, zu ihrem geheimen Umgang
zugelassen zu werden. Die geheimnisvolle Miene, die er annahm, so bald
ich nach den Mitteln hiezu zu gelangen fragte, bewog mich, den Vorsatz zu
fassen, zu warten, bis er selbst fuer gut finden wuerde, sich deutlicher zu
entdecken. Er tat es nicht; aber er machte so viele Gelegenheiten, meine
erregte Neugierigkeit zu entflammen, dass ich mich nicht lange enthalten
konnte, neue Fragen zu tun. Endlich fuehrte er mich einsmals tief im
geheiligten Hain des Apollo in eine Grotte, welche ein uralter Glaube der
Bewohner des Landes von den Nymphen bewohnt glaubte, deren Bilder, aus
Zypressenholz geschnitzt, in Blinden von Muschelwerk das Innerste der
Hoehle zierten.

Hier liess er mich auf eine bemooste Bank niedersetzen, und fing nach einer
viel versprechenden Vorrede an, mir, wie er sagte, das geheime Heiligtum
der goettlichen Philosophie des Hermes und Orpheus aufzuschliessen.
Unzaehliche religioese Waschungen, und eine Menge von Gebeten, Raeucherungen
und andre geheimen Anstalten mussten vorhergehen, einen noch in irdische
Glieder gefesselten Geist zum Anschauen der himmlischen Naturen
vorzubereiten. Und auch alsdenn wuerde unser sterblicher Teil den Glanz
der goettlichen Vollkommenheit nicht ertragen, sondern (wie die Dichter
unter der Geschichte der Semele zu erkennen gegeben) gaenzlich davon
verzehrt und vernichtet werden, wenn sie sich nicht mit einer Art von
koerperlichem Schleier umhuellen, und durch diese Herablassung uns nach und
nach faehig machen wuerden, sie endlich selbst, entkoerpert und in ihrer
wesentlichen Gestalt anzuschauen. Ich war einfaeltig genug alle diese
vorgegebene Geheimnisse fuer echt zu halten; ich hoerte dem ernsten
Theogiton mit einem heiligen Schauer zu, und machte mir seine
Unterweisungen so wohl zu Nutze, dass ich Tag und Nacht an nichts anders
dachte als an die ausserordentliche Dinge, wovon ich in kurzem die
Erfahrung bekommen wuerde.

Du kannst dir einbilden, Danae, ob meine Phantasie in dieser Zeit muessig
war. Ich wuerde nicht fertig werden, wenn ich alles beschreiben wollte,
was damals in ihr vorging, und mit welch einer Zauberei sie mich in meinen
Traeumen bald in die gluecklichen Inseln, welche Pindar so praechtig
schildert, bald zum Gastmahl der Goetter, bald in die Elysischen Taeler, der
Wohnung seliger Schatten, versetzte.

So seltsam es klingt, so gewiss ist es doch, dass die Kraefte der Einbildung
dasjenige weit uebersteigen, was die Natur unsern Sinnen darstellt: Sie hat
etwas glaenzenders als Sonnenglanz, etwas lieblichers als die suessesten
Duefte des Fruehlings zu ihren Diensten, unsre innern Sinnen in Entzueckung
zu setzen; sie hat neue Gestalten, hoehere Farben, vollkommnere Schoenheiten,
schnellere Veranstaltungen, eine neue Verknuepfung der Ursachen und
Wuerkungen, eine andere Zeit--kurz, sie erschafft eine neue Natur, und
versetzt uns in der Tat in fremde Welten, welche nach ganz andern Gesetzen
als die unsrige regiert werden. In unsrer ersten Jugend sind wir noch zu
unbekannt mit den Triebfedern unsers eignen Wesens, um deutlich einzusehen,
wie sehr diese scheinbare Magie der Einbildungskraft in der Tat natuerlich
ist. Wenigstens war ich damals leichtglaeubig genug, Traeume von dieser Art,
uebernatuerlichen Einfluessen beizumessen, und sie fuer Vorboten der
Wunderdinge zu halten, welche ich bald auch wachend zu erfahren hoffte.

Einsmals, als ich nach der Vorschrift des Theogitons acht Tage lang mit
geheimen Zeremonien und Weihungen, und in einer unablaessigen Anstrengung
mein Gemuet von allen aeusserlichen Gegenstaenden abzuziehen, zugebracht hatte,
und mich nunmehr berechtiget hielt, etwas mehr zu erwarten, als was mir
bisher begegnet war, begab ich mich in spaeter Nacht, da alles schlief, in
die Grotte der Nymphen, und nachdem ich eine Menge von schwuelstigen
Liedern und Anrufungsformeln hergesagt hatte, legte ich mich, mit dem
Angesicht gegen den vollen Mond gekehrt, welcher eben damals in die Grotte
schien, auf die Ruhebank zurueck, und ueberliess mich der Vorstellung, wie
mir sein wuerde, wenn Luna aus ihrer Silbersphaere herabsteigen, und mich zu
ihrem Endymion machen wuerde. Mitten in diesen ausschweifenden
Vorstellungen, unter denen ich allmaehlich zu entschlummern anfing, weckte
mich ploetzlich ein liebliches Getoen, welches in einiger Entfernung ueber
mir zu schweben schien, und wie ich bald erkannte, aus derjenigen Art von
Saitenspiel erklang, welche man dem Apollo zuzueignen pflegt. Einem
natuerlich gestimmten Menschen wuerde gedeucht haben, er hoere ein gutes
Stueck von einer geschickten Hand ausgefuehrt; und so haette er sich nicht
betruegen koennen. Aber in der Verfassung, worin ich damals war, haette ich
vielleicht das Gequaeke eines Chors von Froeschen fuer den Gesang der Musen
gehalten. Die Musik, die ich hoerte, ruehrte, fesselte, entzueckte mich; sie
uebertraf, meiner eingebildeten Empfindung nach (denn die Phantasie hat
auch ihre Empfindungen,) alles was ich jemals gehoert hatte; nur Apollo,
der Vater der Harmonie, dessen Laute die Sphaeren ihre Goetter-vergnuegende
Harmonien gelehrt hatte, konnte so ueberirdische Toene hervorbringen. Meine
Seele schien davon wie aus ihrem Leibe emporgezogen zu werden, und, lauter
Ohr, ueber den Wolken zu schweben; als diese Musik ploetzlich aufhoerte, und
mich in einer Verwirrung von Gedanken und Gemuetsregungen zurueckliess, die
mir diese ganze Nacht kein Auge zu schliessen, gestattete.

Des folgenden Tages erzaehlte ich dem Theogiton, was mir begegnet war. Er
schien nichts sehr besonders daraus zu machen; doch gab er, nachdem er
mich um alle Umstaende befragt hatte, zu, dass es Apollo, oder eine von den
Musen gewesen sein koenne. Du wirst laecheln, Danae, wenn ich dir gestehe,
dass ich, so jung ich war, und ohne mir selbst recht bewusst zu sein, warum?
doch lieber gesehen haette, wenn es eine Muse gewesen waere. Ich unterliess
nun keine Nacht, mich in der Grotte einzufinden, um die vermeinte Muse
wieder zu hoeren: Aber meine Erwartung betrog mich; es war Apollo selbst.
Nach etlichen Naechten, worin ich mich mit der stummen Gegenwart der
Nymphen von Zypressenholz hatte begnuegen muessen, kuendigte mir ein heller
Schein, der auf einmal in die Grotte fiel, und durch die allgemeine
Dunkelheit und meinen Wahnwitz zu einem ueberirdischen Licht erhoben wurde,
irgend eine ausserordentliche Begebenheit an. Urteile, wie bestuerzt ich
war, als ich mitten in der Nacht, den Gott des Tages, auf einer
hellglaenzenden Wolke sitzend, vor mir sah, der sich mir zu lieb den Armen
der schoenen Thetis entrissen hatte. Goldgelbe Locken flossen um seine
weissen Schultern; eine Krone von Strahlen schmueckte seine Scheitel; das
silberne Gewand, das ihn umfloss, funkelte von tausend Edelsteinen; und
eine goldne Leier lag in seinem linken Arm. Meine Einbildung tat das
uebrige hinzu, was zu Vollendung einer idealischen Schoenheit noetig war.
Allein Bestuerzung und Ehrfurcht erlaubte mir nicht, dem Gott genauer ins
Gesicht zu sehen; ich glaubte geblendet zu sein, und den Glanz von Augen,
welche die ganze Welt erleuchteten, nicht ertragen zu koennen. Er redete
mich an; er bezeugte mir sein Wohlgefallen an meinem Dienst, und an der
feurigen Begierde, womit ich, mit Verachtung der irdischen Dinge mich den
himmlischen widmete. Er munterte mich auf, in diesem Wege fortzugehen,
und mich den Einfluessen der Unsterblichen leidend zu ueberlassen; mit der
Versicherung, dass ich bestimmt sei, die Anzahl der Gluecklichen zu
vermehren, welche er seiner besondern Gunst gewuerdiget habe. Er
verschwand, indem er diese Worte sagte, so ploetzlich, dass ich nichts dabei
beobachten konnte; und so voreingenommen als mein Gemuet war, haette dieser
Apollo seine Rolle viel ungeschickter spielen koennen, ohne dass mir ein
Zweifel gegen seine Gottheit aufgestiegen waere. Theogiton, dem ich von
dieser Erscheinung Nachricht gab, wuenschte mir Glueck dazu, und sagte mir
von den alten Helden unsrer Nation, welche einst Lieblinge der Goetter
gewesen, und nun als Halbgoetter selbst Altaere und Priester haetten, so viel
herrliche Sachen vor, als er noetig erachten mochte, meine Betoerung
vollkommen zu machen. Am Ende vergass er nicht, mir Anweisung zu geben,
wie ich mich bei einer zweiten Erscheinung gegen den Gott zu verhalten
haette. Insonderheit ermahnte er mich, mein Urteil ueber alles
zurueckzuhalten, mich durch nichts befremden zu lassen, und der Vorschrift
unsrer Philosophie immer eingedenk zu bleiben, welche eine gaenzliche
Untaetigkeit von uns fodert, wenn die Goetter auf uns wuerken sollen. Man
musste so unerfahren sein, als ich war, um keine Schlange unter diesen
Blumen zu merken. Nichts als die Entwicklung dieser heiligen Mummerei
konnte mir die Augen oeffnen. Ich konnte unmoeglich aus mir selbst auf den
Argwohn geraten, dass die Zuneigung einer Gottheit eigennuetzig sein koenne.
Ich hatte vielmehr gehofft, die groessesten Vorteile fuer meine
Wissens-Begierde von ihr zu ziehen, und mit mehr als menschlichen Vorzuegen
begabt zu werden. Die Erklaerungen des Apollo befremdeten mich endlich,
und seine Handlungen noch mehr; zuletzt entdeckte ich, was du schon lange
vorher gesehen haben musst, dass der vermeinte Gott kein andrer als
Theogiton selber war; welcher, sobald er sein Spiel entdeckt sah, auf
einmal die Sprache aenderte, und mich bereden wollte, dass er diese Komoedie
nur zu dem Ende angestellt habe, um mich von der Eitelkeit der Theosophie,
in die er mich so verliebt gesehen haette, desto besser ueberzeugen zu
koennen. Er zog die Folge daraus: Dass alles, was man von den Goettern
sagte, Erfindungen schlauer Koepfe waeren, womit sie Weiber und
leichtglaeubige Knaben in ihr Netz zu ziehen suchten; Kurz, er wandte alles
an, was eine unsittliche Leidenschaft einem schamlosen Veraechter der
Goetter eingeben kann, um die Muehe einer so wohl ausgesonnenen und mit so
vielen Maschinen aufgestuetzten Verfuehrung nicht umsonst gehabt zu haben.
Ich verwies ihm seine Bosheit mit einem Zorne, der mich stark genug machte,
mich von ihm loszureissen. Des folgenden Tags hatte er die
Unverschaemtheit, die priesterlichen Verrichtungen mit eben der
heuchlerischen Andacht fortzusetzen, womit er mich und jeden andern bisher
hintergangen hatte. Er liess nicht die geringste Veraenderung in seinem
Betragen gegen mich merken, und schien sich des Vergangenen eben so wenig
zu erinnern, als ob er den ganzen Lethe ausgetrunken haette. Diese
Auffuehrung vermehrte meine Unruhe sehr; ich konnte noch nicht begreifen,
dass es Leute geben koenne, welche, mitten in den Ausschweifungen des
Lasters, Ruhe und Heiterkeit, die natuerlichen Gefaehrten der Unschuld,
beizubehalten wissen. Allein in weniger Zeit darauf befreite mich die
Unvorsichtigkeit dieses Betruegers von den Besorgnissen, worin ich seit der
Geschichte in der Grotte geschwebet hatte. Theogiton verschwand aus
Delphi, ohne dass man die eigentliche Ursache davon erfuhr. Aus dem, was
man sich in die Ohren murmelte, erriet ich, dass Apollo endlich ueberdruessig
geworden sein moechte, seine Person von einem andern spielen zu lassen.
Einer von unsern Knaben, der ein Verwandter des Ober-Priesters war, hatte
(wie man sagte) den Anlass dazu gegeben.

Diese Begebenheiten fuehrten mich natuerlicher Weise auf viele neue
Betrachtungen; aber meine Neigung zum Wunderbaren und meine
Lieblings-Ideen verloren nichts dabei; sie gewannen vielmehr, indem ich
sie nun in mich selbst verschloss, und die Unsterblichen allein zu Zeugen
desjenigen machte, was in meiner Seele vorging. Ich fuhr fort, die
Verbesserung derselben nach den Grundsaetzen der Orphischen Philosophie
mein vornehmstes Geschaefte sein zu lassen. Ich fing nun an zu glauben,
dass keine andre als eine idealische Gemeinschaft zwischen den Hoehern Wesen
und den Menschen moeglich sei; dass nichts als die Reinigkeit und Schoenheit
unsrer Seele vermoegend sei, uns zu einem Gegenstande des Wohlgefallens
jenes Unnennbaren, Allgemeinen, Obersten Geistes zu machen, von welchem
alle uebrige, wie die Planeten von der Sonne, ihr Licht und die ganze Natur
ihre Schoenheit und unwandelbare Ordnung erhalten; und dass endlich in der
uebereinstimmung aller unsrer Kraefte, Gedanken und geheimsten Neigungen mit
den grossen Absichten und den allgemeinen Gesetzen dieses Beherrschers der
sichtbaren und unsichtbaren Welt, das wahre Geheimnis liege, zu derjenigen
Vereinigung mit demselben zu gelangen, welche ich fuer die natuerliche
Bestimmung und das letzte Ziel aller Wuensche eines unsterblichen Wesens
ansah. Beides, jene geistige Schoenheit der Seele und diese erhabene
Richtung ihrer Wuerksamkeit nach den Absichten des Gesetzgebers der Wesen,
glaubte ich am sichersten durch die Betrachtung der Natur zu erhalten;
welche ich mir als einen Spiegel vorstellte, aus welchem das Wesentliche,
Unvergaengliche und Goettliche in unsern Geist zurueckstrahle, und ihn nach
und nach eben so durchdringe und erfuelle, wie die Sonne einen
angestrahlten Wasser-Tropfen. Ich ueberredete mich, dass die unverrueckte
Beschauung der Weisheit und Guete, welche so wohl aus der besondern Natur
eines jeden Teils der Schoepfung, als aus dem Plan und der allgemeinen
oekonomie des Ganzen hervorleuchte, das unfehlbare Mittel sei, selbst weise
und gut zu werden. Ich brachte alle diese Grundsaetze in Ausuebung. Jeder
neue Gedanke, der sich in mir entwickelte, wurde zu einer Empfindung
meines Herzens; und so lebte ich in einem stillen und lichtvollen Zustand
des Gemuets, dessen ich mich niemals anders als mit wehmuetigem Vergnuegen
erinnern werde, etliche glueckliche Jahre hin; unwissend (und gluecklich
durch diese Unwissenheit) dass dieser Zustand nicht dauern koenne; weil die
Leidenschaften des reifenden Alters, und (wenn auch diese nicht waeren) die
unvermeidliche Verwicklung in dem Wechsel der menschlichen Dinge jene
Fortdauer von innerlicher Heiterkeit und Ruhe nicht gestatten, welche nur
ein Anteil entkoerperter Wesen sein kann."




DRITTES KAPITEL

Die Liebe in verschiedenen Gestalten


"Inzwischen hatte ich das achtzehnte Jahr erreicht, und fing nun an,
mitten unter den angenehmen Empfindungen, von denen meine Denkungs-Art und
meine Beschaeftigungen unerschoepfliche Quellen zu sein schienen, ein Leeres
in mir zu fuehlen, welches sich durch keine Ideen ausfuellen lassen wollte.
Ich sah die manchfaltigen Szenen der Natur wie mit neuen Augen an; ihre
Schoenheiten hatten fuer mich etwas Herz-ruehrendes, welches ich sonst nie
auf diese Art empfunden hatte. Der Gesang der Voegel im Haine schien mir
was zu sagen, das er mir nie gesagt hatte, ohne dass ich wusste, was es war;
und die neu belaubten Waelder schienen mich einzuladen, in ihren Schatten
einer wolluestigen Schwermut nachzuhaengen, von welcher ich mitten in den
erhabensten Betrachtungen wider meinen Willen ueberwaeltiget wurde. Nach
und nach verfiel ich in eine weichliche Untaetigkeit: Mich deuchte, ich sei
bisher nur in der Einbildung gluecklich gewesen; und mein Herz sehnete sich
nach einem Gegenstand, in welchem ich jene idealische Vollkommenheiten
wuerklich geniessen moechte, an denen ich mich bisher nur wie an einem
getraeumten Gastmahle geweidet hatte. Damals zuerst stellten sich mir die
Reizungen der Freundschaft in einer vorher nie empfundenen Lebhaftigkeit
dar: Ein Freund (bildete ich mir ein) ein Freund wuerde diese geheime
Sehnsucht meines Herzens befriedigen. Meine Phantasie malte sich einen
Pylades aus, und mein verlangendes Herz bekraenzte dieses schoene Bild mit
allem, was mir das Liebenswuerdigste schien, selbst mit jenen aeusserlichen
Annehmlichkeiten, welche in meinem System den natuerlichen Schmuck der
Tugend ausmachten. Ich suchte diesen Freund unter der bluehenden Jugend,
welche mich umgab. Mehr als einmal betrog mich mein Herz, ihn gefunden zu
haben; aber eine kurze Erfahrung machte mich meines Irrtums bald gewahr
werden. Unter einer so grossen Anzahl von auserlesenen Juenglingen, welche
die Liverei des Gottes zu Delphi trugen, war nicht ein einziger, den die
Natur so vollkommen mit mir zusammen gestimmt hatte, als die
Spitzfindigkeit meiner Begriffe es erfoderte.

Um diese Zeit geschah es, dass ich das Unglueck hatte, der Ober-Priesterin
eine Neigung einzufloessen, welche mit ihrem geheiligten Stande und mit
ihrem Alter einen gleich starken Absatz machte; sie hatte mich schon seit
geraumer Zeit mit einer vorzueglichen Guetigkeit angesehen, welche ich, so
lang ich konnte, einer muetterlichen Gesinnung beimass, und mit aller der
Ehrerbietung erwiderte, die ich der Vertrauten des Delphischen Gottes
schuldig war. Stelle dir vor, schoene Danae, was fuer ein Modell zu einer
Bild-Saeule des Erstaunens ich abgegeben haette, als sich eine so ehrwuerdige
Person herabliess, mir zu entdecken, dass alle Vertraulichkeit, die ich
zwischen ihr und dem Apollo voraussetzte, nicht zureiche, sie ueber die
Schwachheiten der gemeinsten Erden-Toechter hinwegzusetzen. Die gute Dame
war bereits in demjenigen Alter, worin es laecherlich waere, das Herz eines
Mannes von einiger Erfahrung einer jungen Nebenbuhlerin streitig machen zu
wollen. Allein einem Neuling, wofuer sie mich mit gutem Grund ansah, die
ersten Unterweisungen zu geben, dazu konnte sie sich ohne uebertriebene
Eitelkeit fuer reizend genug halten. Sie war zu den Zeiten des Heiligen
Kriegs in der Bluete ihrer Schoenheit gewesen; hatte sich aber, wie die
meisten ihres Standes, so gut erhalten, dass sie noch immer Hoffnung haben
konnte, in einer Versammlung herbstlicher Schoenheiten vorzueglich bemerkt
zu werden. Setze zu diesen ehrwuerdigen ueberbleibseln einer vormals
beruehmten Schoenheit eine Figur, wie man die blonde Ceres zu bilden pflegt,
grosse schwarze Augen, unter deren affektiertem Ernst eine wolluestige Glut
hervorglimmte, und zu allem diesem eine ungemeine Sorgfalt fuer ihre Person,
und die schlaue Kunst, die Vorteile ihrer Reizungen mit der strengen
Sittsamkeit ihrer priesterlichen Kleidung zu verbinden: so kannst du dir
eine genugsame Vorstellung von dieser Pythia machen, um den Grad der
Gefahr abnehmen zu koennen, worin sich die Einfalt meiner Jugend bei ihren
Nachstellungen befand.

Es ist leicht zu erachten, wie viel es sie Muehe kosten musste, die ersten
Schwierigkeiten zu ueberwinden, welche ein mehr Ehrfurcht als Liebe
einfloessendes Frauenzimmer, in den hartnaeckigen Vorurteilen eines
achtzehnjaehrigen Juenglings findet. Ihr Stand erlaubte ihr nicht, sich
deutlich zu erklaeren; und meine Bloedigkeit verstand die Sprache nicht,
deren sie sich zu bedienen genoetigt war. Zwar braucht man sonst zu dieser
Sprache keinen andern Lehrmeister als sein Herz; allein ungluecklicher
Weise sagte mir mein Herz nichts. Es bedurfte der lange geuebten Geduld
einer bejahrten Priesterin, um nicht tausendmal das Vorhaben aufzugeben,
einem Menschen, der aus lauter Ideen zusammengesetzt war, ihre Absichten
begreiflich zu machen. Und dennoch fand sie sich endlich genoetigt, sich
des einzigen Kunstgriffs zu bedienen, von dem man in solchen Faellen eine
gewisse Wuerkung erwarten kann; sie hatte noch Reizungen, welche die
ungewohnten Augen eines Neulings blenden konnten. Die Verwirrung, worein
sie mich durch den ersten Versuch von dieser Art gesetzt sah, schien ihr
von guter Vorbedeutung zu sein; und vielleicht haette sie sich weniger in
ihrer Erwartung betrogen, wenn nicht ein Umstand, von dem ihr nichts
bekannt war, meinem Herzen eine mehr als gewoehnliche Staerke gegeben haette.

Unsre Tugend, oder diejenigen Wuerkungen, welche das Ansehen haben, aus
einer so edeln Quelle zu fliessen, haben insgemein geheime Triebfedern, die
uns, wenn sie gesehen wuerden, wo nicht alles, doch einen grossen Teil
unsers Verdienstes dabei entziehen wuerden. Wie leicht ist es, der
Versuchung einer Leidenschaft zu widerstehen, wenn ihr von einer staerkern
die Waage gehalten wird?

Kurz zuvor, eh die schoene Pythia ihren physikalischen Versuch machte, war
das Fest der Diana eingefallen, welches zu Delphi mit aller der
Feierlichkeit begangen wird, die man der Schwester des Apollo schuldig zu
sein vermeint. Alle Jungfrauen ueber vierzehn Jahre erschienen dabei in
schneeweissem Gewand, mit aufgeloesten fliegenden Haaren, den Kopf und die
Arme mit Blumen-Kraenzen umwunden, und sangen Hymnen zum Preis der
jungfraeulichen Goettin. Auch alte halb verloschne Augen heiterten sich
beim Anblick einer so zahlreichen Menge junger Schoenen auf, deren
geringster Reiz die frischeste Blum der Jugend war. Urteile, schoene Danae,
ob derjenige, den der bunte Schimmer eines bluehenden Blumen-Stuecks schon
in eine Art von Entzueckung setzte, bei einem solchen Auftritt
unempfindlich bleiben konnte? Meine Blicke irrten in einer zaertlichen
Verwirrung unter diesen anmutsvollen Geschoepfen herum; bis sie sich
ploetzlich auf einer einzigen sammelten, deren erster Anblick meinem Herzen
keinen Wunsch uebrig liess, etwas anders zu sehen. Vielleicht wuerde mancher
sie unter so vielen Schoenen kaum besonders wahrgenommen haben; denn der
schoenste Wuchs, die regelmaessigsten Zuege, langes Haar, dessen wallende
Locken bis zu den Knien herunterflossen, und eine Farbe, welche Lilien und
Rosen, wenn sie ihre eigene Schoenheit fuehlen koennten, beschaemt haette, alle
diese Reizungen waren ihr mit ihren Gespielen gemein; viele uebertrafen sie
noch in einem und dem andern Stuecke der Schoenheit, und wenn ein Maler
unter der ganzen Schar haette entscheiden sollen, welche die Schoenste sei,
so wuerde sie vielleicht uebergangen worden sein; allein mein Herz urteilte
nicht nach den Regeln der Kunst. Ich empfand, oder glaubte zu empfinden,
(und dieses ist in Absicht der Wuerkung allemal eins) dass nichts
liebenswuerdigers als dieses junge Maedchen sein koenne, ohne dass ich daran
gedachte, sie mit den uebrigen zu vergleichen; sie loeschte alles andre aus
meinen Augen aus. So (dacht ich) muesste die Unschuld aussehen, wenn sie,
um sichtbar zu werden, die Gestalt einer Grazie entlehnte; so ruehrend
wuerden ihre Gesichts-Zuege sein; so still-heiter wuerden ihre Augen; so
holdselig ihre Wangen laecheln; so wuerden ihre Blicke, so ihr Gang, so jede
ihrer Bewegungen sein. Dieser Augenblick brachte in meiner Seele eine
Veraenderung hervor, welche mir, da ich in der Folge faehig wurde, ueber
meinen Zustand zu denken, dem uebergang in eine neue und vollkommnere Art
des Daseins gleich zu sein schien. Aber damals war ich zu stark geruehrt,
zu sehr von Empfindungen verschlungen, um mir meiner selbst recht bewusst
zu sein. Meine Entzueckung ging so weit, dass ich nichts mehr von dem Pomp
des Festes bemerkte; und erst, nachdem alles gaenzlich aus meinen Augen
verschwunden war, ward ich, wie durch einen ploetzlichen Schlag, wieder zu
mir selbst gebracht. Itzt hatte ich Muehe, mich zu ueberzeugen, dass ich
nicht aus einem von den Traeumen erwacht sei, worin meine Phantasie, in
ueberirdische Sphaeren verzueckt, mir zuweilen aehnliche Gestalten vorgestellt
hatte. Der Schmerz, eines so suessen Anblicks beraubt zu sein, konnte das
vollkommene Vergnuegen nicht schwaechen, womit das Innerste meines Wesens
erfuellt war. Selbigen ganzen Abend, und den groessesten Teil der Nacht,
hatten alle Kraefte meiner Seele keine andere Beschaeftigung, als sich
dieses geliebte Bild bis auf die kleinsten Zuege mit allen diesen
namenlosen Reizen,--welche vielleicht ich allein an dem Urbilde bemerkt
hatte,--und mit einer Lebhaftigkeit vorzumalen, die ihm immer neue
Schoenheiten lehnte; mein Herz schmueckte es mit allem, was die Natur
Anmutiges hat, mit allen Vorzuegen des Geistes, mit jeder sittlichen
Schoenheit, mit allem was nach meiner Denkungs-Art das Vollkommenste und
Beste war, aus--was fuer ein Gemaelde, wozu die Liebe die Farben gibt!--Und
doch glaubte ich immer, zu wenig zu tun; und bearbeitete mich in mir
selbst, noch etwas schoeners als das Schoenste zu finden, um die Idee, die
ich mir von meiner Unbekannten machte, gaenzlich zu vollenden, und
gleichsam in das Urbild selbst zu verwandeln.--Diese liebenswuerdige Person
hatte mich zu eben der Zeit, da ich sie erblickte, wahrgenommen; und es
war (wie sie mir in der Folge entdeckte) etwas mit den Regungen meines
Herzens uebereinstimmendes in dem ihrigen vorgegangen. Ich erinnerte mich,
(denn wie haette ich die kleinste Bewegung, die sie gemacht hatte,
vergessen koennen?) dass unsre Blicke sich mehr als ein mal begegnet waren,
und dass sie sogleich mit einer Scham-Roete, welche ihr ganzes liebliches
Gesicht mit Rosen ueberzog, die Augen niedergeschlagen hatte. Ich war zu
unerfahren, und in der Tat auch zu bescheiden, aus diesem Umstand etwas
besonderes zu meinem Vorteil zu schliessen; aber doch erinnerte ich mich
desselben mit einem so innigen Vergnuegen, als ob es mir geahnet haette, wie
gluecklich mich die Folge davon machen wuerde. Ich hatte die Eitelkeit
nicht, welche uns zu schmeicheln pflegt, dass wir liebenswuerdig seien; ich
dachte an nichts weniger, als auf Mittel, wie ich mich lieben machen
wollte. Aber die Schoenheit der Seele, die ich in ihrem Gesichte
ausgedrueckt gesehen hatte; diese sanfte Heiterkeit, die aus dem
natuerlichen Ernst ihrer Zuege hervorlaechelte, hauchten mir Hoffnung ein,
dass ich geliebet werden wuerde.--Und welch einen Himmel von Wonne eroeffnete
diese Hoffnung vor mir! Was fuer Aussichten! Welches Entzuecken!--Wenn ich
mir vorstellte, dass mein ganzes Leben, dass selbst die Ewigkeiten, in deren
grenzenlosen Tiefen, der Glueckliche die Dauer seiner Wonne so gerne sich
verlieren laesst, in ihrem Anschauen und an ihrer Seite dahinfliessen wuerden!


So lebhafte Hoffnungen setzten voraus, dass ich sie wieder finden wuerde;
und dieser Wunsch brachte die Begierde mit sich, zu wissen wer sie sei.
Aber wen konnt' ich fragen? Ich hatte keinen Freund, dem ich mich
entdecken durfte; von einem jeden andern glaubte ich, dass er bei einer
solchen Frage mein ganzes Geheimnis in meinen Augen lesen wuerde; und die
Liebe, die ein sehr guter Ratgeber ist, hatte mich schon einsehen gemacht,
wie viel daran gelegen sei, dass der Pythia nicht das Geringste zu Ohren
komme, was ihr den Zustand meines Herzens haette verraten, oder sie zu
einer misstrauischen Beobachtung meines Betragens veranlassen koennen. Ich
verschloss also mein Verlangen in mich selbst, und erwartete mit Ungeduld,
bis irgend ein meiner Liebe guenstiger Schutz-Geist mir zu dieser
gewuenschten Entdeckung verhelfen wuerde. Nach einigen Tagen fuegte es sich,
dass ich meiner geliebten Unbekannten in einem der Vorhoefe des Tempels
begegnete. Die Furcht, von jemand beobachtet zu werden, hielt mich in
eben dem Augenblick zurueck, da ich auf sie zueilen und meine Entzueckung
ueber diesen unverhofften Anblick in Gebaerden, und vielleicht in
Ausrufungen, ausbrechen lassen wollte. Sie blieb, indem sie mich
erblickte, einige Augenblicke stehen, und sah mich an. Ich glaubte ein
ploetzliches Vergnuegen in ihrem schoenen Gesicht aufgehen zu sehen; sie
erroetete, schlug die Augen wieder nieder, und eilte davon. Ich durft' es
nicht wagen, ihr zu folgen; aber meine Augen folgten ihr, so lang es
moeglich war; und ich sahe, dass sie zu einer Tuer einging, welche in die
Wohnung der Priesterin fuehrte. Ich begab mich in den Hain, um meinen
Gedanken ueber diese angenehme Erscheinung ungestoerter nachzuhaengen. Der
letzte Umstand, den ich bemerkt hatte, und ihre Kleidung, brachte mich auf
die Vermutung, dass sie vielleicht eine von den Aufwaerterinnen der Pythia
sei, deren diese Dame eine grosse Anzahl hatte, die aber (ausser bei
besondern Feierlichkeiten) selten sichtbar wurden. Diese Entdeckung
beschaeftigte mich noch nach der ganzen Wichtigkeit, die sie fuer mich hatte,
als ich, in der Tat zur ungelegensten Zeit von der Welt, zu der
zaertlichen Priesterin gerufen wurde.--Die Begierde und die Hoffnung, meine
Geliebte bei dieser Gelegenheit wieder zu sehen, machte mir anfaenglich
diese Einladung sehr willkommen; aber meine Freude wurde bald von dem
Gedanken vertrieben, wie schwer es mir sein wuerde, wenn meine Unbekannte
zugegen waere, meine Empfindungen fuer sie den Augen einer Nebenbuhlerin zu
verbergen. Die Kuenste der Verstellung waren mir zu unbekannt, und meine
Gemuets-Regungen bildeten sich (auch wider meinen Willen) zu schnell und zu
deutlich in meinem aeusserlichen ab, als dass ich mich bei allen meinen
Bestrebungen, vorsichtig zu sein, sicher genug halten konnte. Diese
Gedanken gaben mir (wie ich glaube) ein ziemlich verwirrtes Aussehen, als
ich vor die Pythia gefuehrt wurde. Allein, da ich niemand, als eine
kleine Sklavin von neun oder zehen Jahren, bei ihr fand, erholte ich mich
bald wieder; und sie selbst schien mit ihren eigenen Bewegungen zu sehr
beschaeftigt, um auf die meinige genau Acht zu geben,--oder (welches
wenigstens eben so wahrscheinlich ist) sie legte die Veraenderung, die sie
in meinem Gesichte wahrnehmen musste, zu Gunsten ihrer Reizungen aus, von
denen sie sich dieses mal desto mehr Wuerkung versprechen konnte, je mehr
sie vermutlich darauf studiert hatte, sie in dieses reizende
Schatten-Licht zu setzen, welches die Einbildungs-Kraft so lebhaft zum
Vorteil der Sinnen ins Spiel zu ziehen pflegt. Sie sass oder lag (denn
ihre Stellung war ein Mittelding von beiden) auf einem mit Silber und
Perlen reich gestickten Ruhe-Bette; ihr ganzer Putz hatte dieses
Zierlich-Nachlaessige, hinter welches die Kunst sich auf eine schlaue Art
versteckt, wenn sie nicht dafuer angesehen sein will, dass sie der Natur zu
Huelfe komme; ihr Gewand, dessen bescheidene Farbe ihrer eigenen eben so
sehr als der Anstaendigkeit ihrer Wuerde angemessen war, wallte zwar in
vielen Falten um sie her; aber es war schon dafuer gesorgt, dass hier und da
der schoene Contour dessen, was damit bedeckt war, deutlich genug wurde, um
die Augen auf sich zu ziehen, und die Neugier luestern zu machen. Ihre
Arme, die sie sehr schoen hatte, waren in weiten und halb auf geschuerzten
aermeln fast ganz zu sehen; und eine Bewegung, welche sie, waehrend unsers
Gespraechs, unwissender Weise gemacht haben wollte, trieb einen Busen aus
seiner Verhuellung hervor, welcher reizend genug war, ihr Gesicht um
zwanzig Jahre juenger zu machen. Sie bemerkte diese kleine
Unregelmaessigkeit endlich; aber das Mittel, wodurch sie die Sachen wieder
in Ordnung zu bringen suchte, war mit der Unbequemlichkeit verbunden, dass
dadurch ein Fuss bis zur Haelfte sichtbar wurde, dessen die schoenste
Spartanerin sich haette ruehmen duerfen. Die tiefe Gleichgueltigkeit, worin
mich alle diese Reizungen liessen, machte ohne Zweifel, dass ich
Beobachtungen machen konnte, wozu ein geruehrter Zuschauer die Freiheit
nicht gehabt haette. Indes gab mir doch eine Art von Scham, die ich
anstatt der guten Pythia auf meinen Wangen gluehen fuehlte, ein Ansehen von
Verwirrung, womit die Dame, welche in zweifelhaften Faellen alle mal zu
Gunsten ihrer Eigenliebe urteilte, ziemlich wohl zufrieden schien. Sie
schrieb es vermutlich einer schuechternen Unentschlossenheit oder einem
Streit zwischen Ehrfurcht und Liebe bei, dass ich (ungeachtet des starken
Eindrucks, den sie auf mich machte) ihr keine Gelegenheit gab, die
Delikatesse ihrer Tugend sehen zu lassen. Ich hatte Aufmunterungen noetig,
zu welchen man bei einem geuebtern Liebhaber sich nicht herablassen wuerde.
Die Geschicklichkeit, die man mir in der Kunst, die Dichter zu lesen,
beilegte, diente ihr zum Vorwand, mir einen Zeit-Vertrieb vorzuschlagen,
von dem sie sich einige Befoederung dieser Absicht versprechen konnte. Sie
versicherte mich, dass Homer ihr Lieblings-Autor sei, und bat mich, ihr das
Vergnuegen zu machen, sie eine Probe meines gepriesenen Talents hoeren zu
lassen. Sie nahm einen Homer, der neben ihr lag, und stellte sich,
nachdem sie eine Weile gesucht hatte, als ob es ihr gleichgueltig sei,
welcher Gesang es waere; sie gab mir den ersten den besten in die Haende;
aber zu gutem Gluecke war es gerade derjenige, worin Juno, mit dem Guertel
der Venus geschmueckt, den Vater der Goetter in eine so lebhafte Erinnerung
der Jugend ihrer ehelichen Liebe setzt.--Von dem dichterischen Feuer,
welches in diesem Gemaelde gluehet, und dem suessen Wohlklang der Homerischen
Verse entzueckt, beobachtete sie nicht, in was fuer eine verfuehrische
Unordnung ein Teil ihres Putzes durch eine Bewegung der Bewunderung,
welche sie machte, gekommen war. Sie nahm von dieser Stelle Anlass, die
unumschraenkte Gewalt des Liebes-Gottes zum Gegenstande der Unterredung zu
machen. Sie schien der Meinung derjenigen guenstig zu sein, welche
behaupten, dass der Gedanke, einer so maechtigen Gottheit widerstehen zu
wollen, nur in einer vermessenen und ruchlosen Seele geboren werden koenne.
Ich pflichtete ihr bei, behauptete aber, dass die meisten in den Begriffen,
welche sie sich von diesem Gotte machten, der grossen Pflicht, von der
Gottheit nur das Wuerdigste und Vollkommenste zu denken, sehr zu nahe
traeten; und dass die Dichter durch die allzusinnliche Ausbildung ihrer
allegorischen Fabeln in diesem Stuecke sich keines geringen Vergehens
schuldig gemacht haetten. Unvermerkt schwatzte ich mich in einen
Enthusiasmus hinein, in welchem ich, nach den Grundsaetzen meiner
geheimnisreichen Philosophie, von der intellektualischen Liebe, von der
Liebe welche der Weg zum Anschauen des wesentlichen Schoenen ist, von der
Liebe welche die geistigen Fluegel der Seele entwickelt, sie mit jeder
Tugend und Vollkommenheit schwellt, und zuletzt durch die Vereinigung mit
dem Urbild und Urquell des Guten in einen Abgrund von Licht, Ruhe und
unveraenderlicher Wonne hineinzieht, worin sie gaenzlich verschlungen und zu
gleicher Zeit vernichtigt und vergoettert wird--so erhabne, mir selbst
meiner Einbildung nach sehr deutliche, der schoenen Priesterin aber so
unverstaendliche Dinge sagte, dass sie in eben der Proportion, nach welcher
sich meine Einbildungs-Kraft dabei erwaermte, nach und nach davon
eingeschlaefert wurde. In der Tat konnte im Prospekt eines so schoenen
Busens, als ich vor mir sahe, nichts seltsamere sein, als eine Lob-Rede
auf die intellektualische Liebe; auch gab die betrogne Pythia nach einer
solchen Probe alle Hoffnung auf, mich, diesen Abend wenigstens, zu einer
natuerlichen Art zu denken und zu lieben herumzustimmen. Sie entliess mich
alsobald darauf, nachdem sie mir, wiewohl auf eine ziemlich raetselhafte
Art, zu vernehmen gegeben hatte, dass sie besondere Ursachen habe, sich
meiner mehr anzunehmen, als irgend eines andern Kostgaengers des Apollo.
Ich verstund aus dem, was sie mir davon sagte, so viel, dass sie eine nahe
Anverwandtin meines mir selbst noch unbekannten Vaters sei; dass es ihr
vielleicht bald erlaubt sein werde, mir das Geheimnis meiner Geburt zu
entdecken; und dass ich es allein diesem naehern Verhaeltnis zu zuschreiben
habe, wenn sie mich durch eine Freundschaft unterscheide, welche mich,
ohne diesen Umstand, vielleicht haette befremden koennen. Diese Eroeffnung,
an deren Wahrheit mich ihre Miene nicht zweifeln liess, hatte die
gedoppelte Wuerkung--mich zu bereden, dass ich mich in meinen Gedanken von
ihren Gesinnungen betrogen haben koenne--und sie auf einmal zu einem
interessanten Gegenstande fuer mein Herz zu machen. In der Tat fing ich,
von dem Augenblick, da ich hoerte, dass sie mit meinem Vater befreundet sei,
an, sie mit ganz andern Augen anzusehen; und vielleicht wuerde sie von den
Dispositionen, in welche ich dadurch gesetzt wurde, in kurzer Zeit mehr
Vorteil haben ziehen koennen, als von allen den Kunstgriffen, womit sie
meine Sinnen hatte ueberraschen wollen. Aber die gute Dame wusste entweder
nicht, wie viel man bei gewissen Leuten gewonnen, wenn man Mittel findet,
ihr Herz auf seine Seite zu ziehen; oder sie war ueber mein seltsames
Betragen erbittert, und glaubte, ihre verachteten Reizungen nicht besser
raechen zu koennen, als wenn sie mich in eben dem Augenblick von sich
entfernte, da sie in meinen Augen las, dass ich gerne laenger geblieben waere.
Alles Bitten, dass sie ihre Guetigkeit durch eine deutlichere Entdeckung
des Geheimnisses meiner Geburt vollkommen machen moechte, war umsonst; sie
schickte mich fort, und hatte Grausamkeit genug, eine geraume Zeit vorbei
gehen zu lassen, eh sie mich wieder vor sich kommen liess. Zu einer andern
Zeit wuerde das Verlangen, diejenigen zu kennen, denen ich das Leben zu
danken haette, mir diesen Aufschub zu einer harten Strafe gemacht haben;
aber damals brauchte es nur wenige Minuten, wieder allein zu sein, und
einen Gedanken an meine geliebte Unbekannte, um die Priesterin mit allen
ihren Reizen, und mit allem was sie mir gesagt und nicht gesagt hatte, aus
meinem Gemuete wieder auszuloeschen. Es war mir unendlich mal angelegener
zu wissen, wer diese Unbekannte sei, und ob sie wuerklich (wie ich mir
schmeichelte) fuer mich empfinde, was ich fuer sie empfand, als in Absicht
meiner selbst aus einer Unwissenheit gezogen zu werden, gegen welche die
Gewohnheit mich fast ganz gleichgueltig gemacht hatte: So lange ich das
nicht wusste, wuerde ich die Entdeckung, der Erbe eines Koenigs zu sein, mit
Kaltsinn angesehen haben. Der Blick, den sie diesen Abend auf mich
geheftet hatte, schien mir etwas zu versprechen, das fuer mein Herz
unendlich mehr Reiz hatte, als alle Vorteile der glaenzendsten Geburt.
Mein ganzes Wesen schien von diesem Blicke, wie von einem ueberirdischen
Lichte, durchstrahlt und verklaert--ich unterschied zwar nicht deutlich,
was in mir vorging--aber so oft ich sie mir wieder in dieser Stellung, mit
diesem Blicke, mit diesem Ausdruck in ihrem lieblichen Gesichte vorstellte,
(und dieses geschah allemal so lebhaft, als ob ich sie wuerklich mit Augen
saehe) so schien mir mein Herz vor Liebe und Vergnuegen in Empfindungen zu
zerfliessen, fuer deren durchdringende Suessigkeit keine Worte erfunden sind.
"--Hier wurde Agathon (dessen Einbildungs-Kraft, von den Erinnerungen
seiner ersten Liebe erhitzt, einen huebschen Schwung, wie man sieht, zu
nehmen anfing,) durch eine ziemlich merkliche Veraenderung in dem Gesichte
seiner schoenen Zuhoererin, mitten in dem Lauf seiner unzeitigen Schwaermerei
aufgehalten, und aus seinem achtzehnten Jahr, in welches er in dieser
kleinen Ekstase zurueckversetzt worden war, auf einmal wieder nach Smyrna,
zu sich selbst und der schoenen Danae gegenueber, gebracht.




VIERTES KAPITEL

Fortsetzung des Vorhergehenden


Es ist eine alte Bemerkung, dass man einer schoenen Dame die Zeit nur
schlecht vertreibt, wenn man sie von den Eindruecken, die eine andre auf
unser Herz gemacht hat, unterhaelt. Je mehr Feuer, je mehr Wahrheit, je
mehr Beredsamkeit wir in einem solchen Falle zeigen, je reizender unsre
Schilderungen, je schoener unsre Bilder, je beseelter unser Ausdruck ist,
desto gewisser duerfen wir uns versprechen, unsre Zuhoererin einzuschlaefern.
Diese Beobachtung sollten sich besonders diejenigen empfohlen sein
lassen, welche eine wuerklich im Besitz stehende Geliebte mit der
Geschichte ihrer ehemaligen verliebtet Abenteuer unterhalten. Agathon,
welcher noch weit davon entfernt war, von seiner Einbildungs-Kraft Meister
zu sein, hatte diese Regel gaenzlich aus den Augen verloren, da er einmal
auf die Erzaehlung seiner ersten Liebe gekommen war. Die Lebhaftigkeit
seiner Wiedererinnerungen schien sie in Empfindungen zu verwandeln; er
bedachte nicht, dass es weniger anstoessig waere, eine Geliebte, wie Danae,
mit der ganzen Metaphysik der intellektualischen Liebe, als mit so
enthusiastischen Beschreibungen der Vorzuege einer andern, und der
Empfindungen, welche sie eingefloesst, zu unterhalten. Eine Art von
Mittelding zwischen Gaehnen und Seufzen, welches ihr an der Stelle, wo wir
seine Erzaehlungen abgebrochen haben, entfuhr, und ein gewisser Ausdruck
von langer Weile, der aus einer erzwungnen Miene von vergnuegter
Aufmerksamkeit hervorbrach, machte ihn endlich seiner Unbesonnenheit
gewahr werden; er stutzte einen Augenblick, er erroetete, und es fehlte
wenig, dass er den Zusammenhang seiner Geschichte darueber verloren haette.
Doch erholte er sich noch geschwinde genug wieder, um seiner Verwirrung
irgend einen zufaelligen Vorwand zu geben, und setzte seine Erzaehlung fort,
indem er fest bei sich beschloss, genauer auf sich selbst Acht zu geben,
und seine Beschreibungen so sehr abzukuerzen, als es nur immer moeglich sein
wuerde; ein Vorsatz, bei welchem unsre Leser sich wenigstens eben so wohl
befinden werden, als die schoene Danae, wenn er anders faehig sein wird,
sich selbst Wort zu halten.

"Die suessen Traeume", (fuhr der Held unsrer Geschichte fort) "worin mein
Herz sich so gerne zu wiegen pflegte, hatten nicht wuerkliches genug,
diesen angenehmen Zustand meines Gemuetes lange zu unterhalten. Eine
zaertliche Schwermut, welche jedoch nicht ohne eine Art von Wollust war,
bemaechtigte sich meiner so stark, dass ich Muehe hatte, sie vor denjenigen
zu verbergen, mit denen ich einen Teil des Tages zubringen musste. Ich
suchte die Einsamkeit; und weil ich den Tag ueber, nur wenige Stunden in
meiner Gewalt hatte, so fing ich wieder an, den groessten Teil der Zeit,
worin andere schliefen, in den angenehmen Hainen, die den Tempel umgeben,
mit meinen Gedanken und dem Bilde meiner Unbekannten zu durchwachen. In
einer dieser Naechte begegnete es, dass ich von ungefaehr in eine Gegend des
Hains verirrte, welche das Ansehen einer Wildnis, aber der anmutigsten,
die man sich nur einbilden kann, hatte. Mitten darin liess das Gebuesche,
welches in labyrinthischen Kruemmungen mit hohen Zypressen und vielen
selbst gewachsenen Lauben abgesetzt, sich um sich selbst herumwand, einen
offnen Platz, der mit einem halben Circul von wilden Lorbeer-Baeumen, von
denen sich immer eine Reihe ueber die andere erhub, eingefasst, auf der
andern Seite aber nur mit niedrigem Myrten-Gestraeuch und Rosen-Hecken
leicht umkraenzt war. Mitten darin lagen einige Nymphen von weissem Marmor,
von ueberhangendem Rosen-Gestraeuche beschattet, welche auf ihren Urnen zu
schlafen schienen, indes sich aus jeder Urne eine Quelle in ein geraeumiges
Becken von poliertem schwarzem Granit-Marmor ergoss, worin die
Frauens-Personen, welche unter dem Schutz des delphischen Apollo stunden,
sich im Sommer zu baden pflegten. Dieser Ort war (einer alten Sage nach)
der Diana heilig; und kein maennlicher Fuss durfte, bei Strafe, sich den
Zorn dieser unerbittlichen Goettin zu zuziehen, sich unterstehen, ihrem
geheiligten Ruhe-Platz nahe zu kommen. Vermutlich machte die Goettin eine
Ausnahme zu Gunsten eines unschuldigen Schwaermers, der (ohne den mindesten
Vorsatz, ihre Ruhe zu stoeren, und ohne einmal zu wissen, wohin er kam),
sich hieher verirrt hatte. Denn anstatt mich ihren Zorn empfinden zu
lassen, beguenstigte sie mich vielmehr mit einer Erscheinung, welche mir
angenehmer war, als wenn sie selbst, mich zu ihrem Endymion zu machen, zu
mir herabgestiegen waere. Weil ich in eben dem Augenblick, da ich diese
Erscheinung hatte, den Ort, wo ich mich befand, fuer denjenigen erkannte,
der mir oefters, um ihn desto gewisser vermeiden zu koennen, beschrieben
worden war; so war wuerklich mein erster Gedanke, dass es die Goettin sei,
welche, von der Jagd ermuedet, unter ihren Nymphen schlummre. Von einem
heiligen Schauer erschuettert, wollte ich schon den Fuss zurueckziehn; als
ich beim Glanz des seitwaerts einfallenden Mond-Lichts gewahr wurde, dass es
meine Unbekannte war. Ich will es nicht versuchen, zu beschreiben wie mir
in diesem Augenblicke zu Mute war; es war einer von denen, an welche ich
mich nur erinnern darf, um zu glauben, dass ein Wesen, welches einer
solchen Wonne faehig ist, zu nichts geringers als zu der Wonne der Goetter
bestimmt sein koenne. Itzt konnt' ich natuerlicher Weise nicht mehr denken,
mich unbemerkt zurueckzuziehen; meine einzige Sorge war, die liebenswuerdige
Einsame zu einer Zeit und an einem Orte, wo sie keinen Zeugen, am
allerwenigsten einen maennlichen vermuten konnte, durch keine ploetzliche
ueberraschung zu erschrecken. Die Stellung, worin sie an eine der
marmornen Nymphen angelegt lag, gab zu erkennen, dass sie staunte; ich
betrachtete sie eine geraume Weile, ohne dass sie mich gewahr wurde.
Dieser Umstand erlaubte mir meine eigene Stelle zu veraendern, und eine
solche zu nehmen, dass sie, so bald sie die Augen aufschlage, mich
unfehlbar erkennen muesste. Diese Vorsicht hatte die verlangte Wuerkung.
Sie erblickte mich; sie stutzte; aber sie erkannte mich doch zu schnell,
um mich fuer einen Satyren anzusehen. Meine Erscheinung schien ihr mehr
Vergnuegen als Unruhe zu machen. Ein jeder andrer, so gar ein Satyr, wuerde
irgend ein artig gedrehtes Kompliment in Bereitschaft gehabt haben, um
seine Freude ueber eine so reizende Erscheinung auszudruecken; die
Gelegenheit konnte nicht schoener sein, sie fuer eine Goettin, oder
wenigstens fuer eine der Gespielen Dianens anzusehen, und diesem Irrtum
gemaess zu begruessen. Aber ich, von neuen, nie gefehlten, unbeschreiblichen
Empfindungen gedrueckt, ich konnte gar nichts sagen. Zu ihren Fuessen haette
ich mich werfen moegen; aber die Schuechternheit, welche (zumal in meinem
damaligen Alter) mit der ersten Liebe so unzertrennlich verbunden ist,
hielt mich zurueck; ich besorgte, dass sie sich einen nachteiligen Begriff
von der tiefen Ehrerbietung, die ich fuer sie empfand, aus einer solchen
Freiheit machen moechte. Meine Unbekannte war nicht so schuechtern; sie hub
sich, mit dieser sittsamen Anmut, wodurch sie sich das erste mal, als ich
sie gesehen, in meinen Augen von allen ihren Gespielen unterschieden hatte,
vom Boden auf, und ging ein paar Schritte gegen mich. 'Wie finde ich den
Agathon hier?' sagte sie mit einer Stimme, die ich noch zu hoeren glaube;
so lieblich, so ruehrend schien sie unmittelbar in meine Seele sich
einzuschmeicheln. In der suessen Verwirrung, worin ich war, fand ich keine
bessere Antwort, als sie zu versichern, dass ich nicht so verwegen gewesen
waere, ihre Einsamkeit zu stoeren, wenn ich vermutet haette, sie hier zu
finden. Das Kompliment war nicht so artig, als es ein junger Athenienser
bei einer solchen Gelegenheit gemacht haette; aber Psyche (so erfuhr ich in
der Folge, dass meine Unbekannte genennt werde) war zu unschuldig, um
Komplimente zu erwarten. 'Ich erkenne meine Unvorsichtigkeit, wiewohl zu
spaet', versetzte sie: 'Was wird Agathon von mir denken, da er mich an
diesem abgelegenen Ort in einer solchen Stunde allein findet? Und doch'
(setzte sie erroetend hinzu) 'ist es gluecklich fuer mich, wenn ich ja einen
Zeugen meiner Unbesonnenheit haben musste, dass es Agathon war.' Ich
versicherte sie, dass mir nichts natuerlicher vorkomme, als der Geschmack,
den sie in der Einsamkeit, in der Stille einer so schoenen Nacht, und in
einer so anmutigen Gegend zu finden scheine. Ich setzte noch vieles von
den Annehmlichkeiten des Mondscheins, von der majestaetischen Pracht des
sternvollen Himmels, von der Begeistrung, welche die Seele in diesem
feierlichen Schweigen der ganzen Natur erfahre, von dem Einschlummern der
Sinne, und dem Erwachen der innern geheimnisvollen Kraefte unsers
unsterblichen Teils, hinzu--Dinge, welche bei den meisten Schoenen, zumal
in einem so anmutigen Myrten-Gebuesche, und in der einladenden Daemmerung
einer so lauen Sommer-Nacht, sehr uebel angebracht gewesen waeren; aber bei
der gefuehlvollen Psyche ruehrten sie die empfindlichsten Saiten ihres
Herzens. Das Gespraech, worin wir uns unvermerkt verwickelten, entdeckte
eine uebereinstimmung in unserm Geschmack und in unsern Neigungen, welche
gar bald ein eben so freundschaftliches und vertrauliches Verstaendnis
zwischen unsern Seelen hervorbrachte, als ob wir uns schon viele Jahre
geliebet haetten. Mir war, als ob ich alles, was sie sagte, durch eine
unmittelbare Anschauung in ihrer Seele lese; und hinwieder schien das, was
ich sagte, so abgezogen, idealisch und dichterisch, es immer sein mochte,
ein blosser Widerhall oder die Entwicklung ihrer eigenen Empfindungen und
solcher Ideen zu sein, welche als Embryonen in ihrer Seele lagen, und nur
den erwaermenden Einfluss eines geuebtern Geistes noetig hatten, um sich zu
entfalten, und durch ihre naive Schoenheit die erhabensten und
sinnreichsten Gedanken der Weisen zu beschaemen. Die Zeit wurde uns bei
dieser Unterhaltung so kurz, dass wir kaum eine Stunde bei einander gewesen
zu sein glaubten, als uns die aufgehende Morgenroete erinnerte, dass wir uns
trennen mussten. Ich hatte durch diese Unterredung erfahren, dass meine
Geliebte von ihrer Herkunft eben so wenig wisse, als ich von der meinigen;
dass sie von ihrer Amme, in der Gegend von Corinth bis ins sechste Jahr
erzogen, hernach aber von Raeubern entfuehrt, und an die Priesterin zu
Delphi verkauft worden, welche sie in allen weiblichen Kuensten, und da sie
eine besondere Neigung zum Lesen an ihr bemerkt, auch in der Kunst die
Dichter recht zu lesen, habe unterrichten lassen, und sie in der Folge zu
ihrer Leserin gemacht habe. Diese Umstaende waren fuer meine Liebe zu der
jungen Psyche nicht sehr schmeichelhaft; allein das Vergnuegen der
gegenwaertigen Augenblicke liess mich gar nicht an das Kuenftige denken;
unbekuemmert, wohin die Empfindungen, von denen ich eingenommen war, in
ihren Folgen endlich fuehren koennten, ueberliess ich mich ihnen mit aller
Gutherzigkeit der jugendlichen Unschuld; meine kleine Psyche zu sehen, zu
lieben, es ihr zu sagen, und aus ihrem schoenen Munde zu hoeren, in ihren
seelenvollen Augen zu sehen, dass ich wieder geliebt werde.--Das waren itzt
alle Glueckseligkeiten, die ich wuenschte, und ueber welche hinaus ich keine
andere kannte. Ich hatte ihr etwas von den Eindruecken gesagt, die ihr
erster Anblick auf mein Herz gemacht hatte; und sie hatte diese
Eroeffnungen mit dem Gestaendnis der vorzueglichen Meinung, welche ihr das
allgemeine Urteil zu Delphi von mir gegeben haette, erwidert; aber meine
zaertliche und ehrfurchtsvolle Schuechternheit erlaubte mir nicht, ihr alles
zu sagen, was mein Herz fuer sie empfand. Meine Ausdruecke waren lebhaft
und feuerig; aber sie hatten mit der gewoehnlichen Sprache der Liebe so
wenig aehnliches, dass ich weniger zu sagen glaubte, indem ich in der Tat
unendlich mal mehr sagte, als ein gewoehnlicher Liebhaber, der mehr von
seinen Begierden beunruhigt, als von dem Werte seiner Geliebten geruehrt
ist. Allein da wir uns scheiden mussten, wuerde mich mein allzuvolles Herz
verraten haben, wenn die unerfahrne Jugend der guten Psyche ihr erlaubt
haette, einiges Misstrauen in Empfindungen zu setzen, welche sie nach der
Unschuld ihrer eigenen beurteilte. Ich zerfloss in Traenen, und setzte ihr
auf eine so zaertliche, so bewegliche Art zu, mir zu versprechen, sich in
der folgenden Nacht wieder in dieser Gegend finden zu lassen, dass es ihr
unmoeglich war, mich ungetroestet wegzuschicken. Wir setzten also, da uns
alle Gelegenheit, uns bei Tage zu sprechen, abgeschnitten war, diese
naechtliche Zusammenkuenfte fort; und unsere Liebe wuchs und verschoenerte
sich zusehends, ohne dass wir dachten, dass es Liebe sei. Wir nannten es
Freundschaft; und genossen ihrer reinsten Suessigkeiten, ohne durch einige
Besorgnisse, Bedenklichkeiten oder andre Symptome der Leidenschaft,
beunruhigt zu werden. Psyche hatte sich eine Freundin, wie ich mir einen
Freund, gewuenscht; nun glaubten wir beide gefunden zu haben, was wir
wuenschten. Unsere Denkungs-Art, und die Guete unserer Herzen, floesste uns
ein vollkommenes und unbegrenztes Zutrauen gegen einander ein.--Meine
Augen, welche schon lange gewoehnt waren, anders zu sehen, als man sonst in
meinen damaligen Jahren zu sehen pflegt, sahen in Psyche kein reizendes
Maedchen, sondern die schoenste, die liebenswuerdigste der Seelen, deren
geistige Reizungen aus dem durchsichtigen Flor eines irdischen Gewandes
hervorschimmerten; und die wissensbegierige Psyche, welche nie gluecklicher
war, als wenn ich ihr die erhabenen Geheimnisse meiner dichterischen
Philosophie entfaltete, glaubte den goettlichen Orpheus oder den Apollo
selbst zu hoeren, wenn ich sprach. Es ist in der Natur der Liebe (so
zaertlich und unkoerperlich sie immer sein mag) so lange zuzunehmen, bis sie
das Ziel erreicht hat, wo die Natur sie zu erwarten scheint. Die unsrige
nahm auch zu, und ging nach und nach durch mehr als eine Verwandlung; aber
sie blieb sich selbst doch immer aehnlich. Nachdem uns der Name der
Freundschaft nicht mehr bedeutend genug schien, dasjenige, was wir fuer
einander empfanden, auszudruecken, wurden wir eins, dass unter allen
Zuneigungen, derer uns die Natur faehig mache, die Liebe eines Bruders und
einer Schwester zugleich die staerkste und die reineste sei. Die
Vorstellung, die wir uns davon machten, entzueckte uns; und nachdem wir oft
bedauert hatten, dass uns die Natur diese Glueckseligkeit versagt habe,
wunderten wir uns zuletzt, wie wir nicht baelder eingesehen haetten, dass es
nur von uns abhange, ihre Kargheit in diesem Stuecke zu ersetzen.


Wir waren also Bruder und Schwester, und blieben es einige Zeit, ohne dass
die Vertraulichkeit und die unschuldigen Liebkosungen, wozu uns diese
Namen berechtigten, in unsern Augen wenigstens, der Tugend, welcher wir
zugleich mit der Liebe eine ewige Treue geschworen hatten, den geringsten
Abbruch taten. Wir waren enthusiastisch genug, die Vermutung oder
vielmehr die blosse Moeglichkeit, einander vielleicht so nahe verwandt zu
sein, als wir wuenschten, in den zaertlichen Ergiessungen unserer Herzen
zuweilen fuer die Stimme der Natur zu halten; zumal da eine wirkliche oder
eingebildete besondere aehnlichkeit unserer Gesichts-Zuege diesen Wahn zu
rechtfertigen schien. Da wir uns aber die Betrueglichkeit dieser
vermeinten Sprache des Blutes nicht immer verbergen konnten, so fanden wir
desto mehr Vergnuegen darin, die Vorstellungen von einer natuerlichen
Verschwisterung der Seelen, einem sympathetischen Zug der einen zu der
andern, einer schon in einem vorhergehenden Zustand in bessern Welten
angefangenen Bekanntschaft nachzuhaengen, und sie in tausend angenehme
Traeume auszubilden. Aber auch bei diesem Grade liess uns der phantastische
Schwung, den die Liebe unsern Seelen gegeben hatte, nicht stille stehen.
Wir strengten das aeusserste Vermoegen unserer Einbildungs-Kraft an, um uns
einen Begriff von derjenigen Art zu lieben zu machen, womit in den
ueberirdischen Sphaeren die Geister einander liebten. Keine andere schien
uns zu gleicher Zeit der Staerke und der Reinigkeit unserer Empfindungen
genug zu tun, noch fuer Wesen sich zu schicken, die im Himmel entsprungen,
und dahin wiederzukehren bestimmt waeren. Ich gestehe dir, schoene Danae,
dass ich bei der Erinnerung an diese glueckselige Schwaermerei meiner ersten
Jugend mich kaum erwehren kann zu wuenschen, dass die Bezauberung ewig haette
dauern koennen. Und dennoch ist nichts gewissers, als dass sich diese
allzugeistige Empfindungen endlich verzehrt, und die Natur, welche ihre
Rechte nie verliert, uns zuletzt unvermerkt auf eine gewoehnlichere Art zu
lieben gefuehrt haben wuerde; wenn uns nur die schoene Pythia so viel Zeit,
als dazu erfodert wurde, gelassen haette. Diese Dame hatte etliche Wochen
verstreichen lassen, ohne (dem Ansehen nach) sich meiner zu erinnern; und
ich hatte sie in dieser Zeit so gaenzlich vergessen, dass ich ganz betroffen
war, als ich wieder zu ihr berufen wurde. Ich fand gar bald, dass die
Goettin von Paphos, welche sich vielleicht wegen irgend einer ehemaligen
Beleidigung an ihr zu raechen beschlossen, sie in dieser Zwischen-Zeit
nicht so ruhig gelassen hatte, als es fuer sie und mich zu wuenschen war.
Vermutlich hatte sie (wie die tragische Phaedra) allen ihren weiblichen und
priesterlichen Stolz zusammengerafft, um eine Leidenschaft zu unterdruecken,
deren uebelstand sie sich selbst unmoeglich verbergen konnte; allein eben
so vermutlich mochte sie sich selbst durch die troestlichen Trug-Schluesse,
welche Euripides der Amme dieser unglueckseligen Prinzessin in den Mund
legt, wieder beruhigt, und endlich den herzhaften Entschluss gefasst haben,
ihrem Verhaengnis nachzugeben. Denn, nachdem sie alle ihre Muehe, mich das,
was sie mir zu sagen hatte, erraten zu lassen, verloren sah, brach sie
endlich ein Stillschweigen, dessen Bedeutung ich eben so wenig verstehen
wollte, und entdeckte mir mit einer Deutlichkeit und mit einem Feuer,
welche mich erroeten und erzittern machten, dass sie liebe und wieder
geliebt sein wolle. Der reizende Anzug und die verfuehrische Stellung,
worin sie dieses Gestaendnis machte, schien ausgewaehlt zu sein, mich den
Wert des mit angebotenen Glueckes mehr als jemals empfinden zu lassen. Ich
muss noch itzt erroeten, wenn ich an die Verwirrung denke, worin ich mit
allen meinen erhabenen Begriffen in diesem Augenblick war.--Die
menschliche Natur so erniedrigt--den Namen der Liebe so entweihet zu sehen!
In der Tat, die Pythia selbst konnte von der Art, wie ich ihre
Zumutungen abwies, nicht empfindlicher beschaemt und gequaelt werden, als
ich es durch die Notwendigkeit war, worein ich mich gesetzt sah, ihr so
uebel zu begegnen. Ich bestrebte mich, die Haertigkeit meiner Antworten
durch die sanftesten Ausdruecke zu mildern, die ich in der Verwirrung
finden konnte. Aber ich erfuhr bald, dass heftige Leidenschaften sich so
wenig als Sturm-Winde durch Worte beschwoeren lassen. Die ihrer selbst
nicht mehr maechtige Priesterin nahm fuer beleidigenden Spott auf, was ich
aus der wohlgemeinten, aber allerdings unzeitigen Absicht, ihrer
versinkenden Tugend zu Huelfe zu kommen, sagte. Sie geriet in eine Wut,
welche mich in die aeusserste Verlegenheit setzte; sie brach in
Verwuenschungen und Drohungen, und einen Augenblick darauf in einen Strom
von Traenen und in so bewegliche Apostrophen aus, dass ich beinahe schwach
genug gewesen waere, mit ihr zu weinen, ohne mein Herz geneigter zu finden,
dem ihrigen zu antworten. Ich ergriff endlich das einzige Mittel, das mir
uebrig blieb, mich der albernen Rolle, die ich in dieser Szene spielte, zu
erledigen; ich entfloh. In eben dieser Nacht sah ich meine geliebte
Psyche wieder an dem gewoehnlichen Orte; mein Gemuet war von der Geschichte
dieses Abends zu sehr beunruhigt, als dass ich ihr ein Geheimnis davon
haette machen koennen. Wir bedaurten die Priesterin, so schwer es uns auch
war, von der Wut und den Qualen einer Liebe, welche mit der unserigen so
wenig aehnliches hatte, uns eine Vorstellung zu machen; aber wir bedaurten
noch vielmehr uns selbst. Die Raserei, worin ich die Pythia verlassen
hatte, hiess uns das aergste besorgen. Wir zitterten eines fuer des andern
Sicherheit; und aus Furcht, dass sie unsere Zusammenkuenfte entdecken moechte,
beschlossen wir, (so hart uns dieser Entschluss ankam) sie eine Zeitlang
seltner zu machen. Dieses war das erste mal, dass die reinen Vergnuegungen
unserer schuldlosen Liebe von Sorgen und Unruhe unterbrochen wurden, und
wir mit schwerem Herzen von einander Abschied nahmen. Es war, als ob es
uns ahnete, dass dieses das letzte mal sei, da wir uns zu Delphi saehen; und
wir sagten uns wohl tausend mal Lebe wohl; ohne uns eines aus des andern
Armen loswinden zu koennen. Wir redeten mit einander ab, uns erst in der
dritten Nacht wieder zu sehen. Zufaelliger Weise fuegte sichs, dass ich in
der Zwischen-Zeit mit der Priesterin in Gesellschaft zusammenkam. Es war
natuerlich, dass sie in Gegenwart fremder Leute ihrem Betragen gegen mich
den freundschaftlichen Ton der Anverwandtschaft gab, welche zwischen uns
vorausgesetzt wurde, und durch welche sie noetig befunden hatte, ihren
Umgang mit mir gegen die Urteile strenger Sitten-Richter sicher zu stellen.
Allein ausser diesem bemerkte ich, dass sie etliche mal, da sie von
niemand beobachtet zu sein glaubte, die zaertlichsten Blicke auf mich
heftete. Ich war zu gutherzig, Verstellung unter diesen Zeichen der
wiederkehrenden Liebe zu argwoehnen; und der Schluss, den ich daraus zog,
beruhigte mich gaenzlich ueber die Besorgnis, dass sie meinen Umgang mit
Psyche entdeckt haben moechte. Ich flog mit ungedultiger Freude zu unserer
abgeredeten Zusammenkunft; ich wartete so lange, dass mich der Tag beinahe
ueberrascht haette; ich durchsuchte den ganzen Hain: aber da war keine
Psyche. Eben so ging es in der folgenden und dritten Nacht. Mein Schmerz
und meine Betrachtungen waren unaussprechlich. Damals erfuhr ich zum
ersten mal, dass meine Einbildungs-Kraft, welche bisher nur zu meinem
Vergnuegen geschaeftig war, in eben dem Masse, wie sie mich gluecklich gemacht
hatte, mich elend zu machen faehig sei. Ich zweifelte nun nicht mehr, dass
die Priesterin unsere Liebe entdeckt habe; und die Folgen, welche dieser
Umstand fuer Psyche haben konnte, stellten sich mir mit allen Schrecknissen
einer sich selbst quaelenden Einbildung dar. Ich fasste in der Wut meines
Schmerzens tausend heftige Entschliessungen, von denen immer eine die
andere verschlang; ich wollte zu der Priesterin gehen, und meine Psyche
von ihr fodern--ich wollte--das Ausschweifendste, was man in der
Verzweiflung wollen kann; ich glaube, dass ich faehig gewesen waere, den
Tempel anzuzuenden, wenn ich haette hoffen koennen, meine Psyche dadurch zu
retten. Und doch hielt mich ein Schatten von Hoffnung, dass sie durch
zufaellige Ursachen habe verhindert werden koennen, ihr Wort zu halten, noch
zurueck, einen unbesonnenen Schritt zu tun, welcher ein bloss eingebildetes
uebel wuerklich und unheilbar haette machen koennen. Vielleicht (dachte ich)
weiss die Priesterin noch nichts von unserm Geheimnis; und wie unselig waer'
ich in diesem Fall, wenn ich selbst der Verraeter davon waere? Dieser
Gedanke fuehrte mich zum vierten mal in den Ruhe-Platz der Diana. Nachdem
ich wohl zwo Stunden vergebens gewartet hatte, warf ich mich, in einer
Betaeubung von Schmerz und Verzweiflung, zu den Fuessen einer von den Nymphen
hin. Ich lag eine Weile, ohne meiner selbst maechtig zu sein. Als ich
mich wieder erholt hatte, sah ich einen frischen Blumen-Kranz um den Hals
und die Arme einer von den Nymphen gewunden; ich sprang auf, um genauer zu
erkundigen, was dieses bedeuten moechte, und fand ein Briefchen an den
Kranz geheftet, worin mir Psyche meldete: dass ich sie in der folgenden
Nacht um eine bestimmte Stunde unfehlbar an diesem Platz antreffen wuerde;
sie versparete es auf diese Besprechung, mir zu sagen, durch was fuer
Zufaelle sie diese Zeit ueber verhindert worden, mich zu sehen, oder mir
Nachricht von ihr zu geben; ich duerfte aber vollkommen ruhig und gewiss
sein, dass die Priesterin nichts von unserer Bekanntschaft wisse. Die
heftige Begierde, womit ich wuenschte, dass dieses Briefchen von Psyche
geschrieben sein moechte, liess mich nicht daran denken, ein Misstrauen
darein zu setzen, ungeachtet mir ihre Handschrift unbekannt war. Ich ging
also ploetzlich von dem aeussersten Grade des Schmerzens zu der aeussersten
Freude ueber. Ich wand den Glueck-weissagenden Blumen-Kranz um mich herum,
nachdem ich die unsichtbaren Spuren der geliebten Finger, die ihn gewunden
hatten, auf jeder Blume weggekuesst hatte. Den folgenden Abend wurde mir
jeder Augenblick bis zur bestimmten Zeit ein Jahrhundert. Ich ging eine
halbe Stunde frueher, den guten Nymphen zu danken, dass sie unsere Liebe in
ihren Schutz genommen hatten. Endlich glaubte ich, Psyche zwischen den
Myrten-Hecken hervorkommen zu sehen. Die Nacht war nur durch den Schimmer
der Sterne beleuchtet; aber ich erkannte die gewoehnliche Kleidung der
Psyche, und war von dem ersten Rauschen ihrer Annaeherung schon zu sehr
entzueckt, um gewahr zu werden, dass die Gestalt, die sich mir naeherte, mehr
von dem ueppigen Contour einer Bacchantin als von der jungfraeulichen
Geschmeidigkeit meiner Freundin hatte. Wir flogen einander mit gleichem
Verlangen in die Arme. Die sprachlose Trunkenheit des ersten Augenblicks
verstattet nicht, Bemerkungen zu machen; aber es waehrte doch nicht lange,
bis ich notwendig fuehlen musste, dass ich mit einer Heftigkeit, welche mit
der unschuldigen Zaertlichkeit einer Psyche den staerksten Absatz machte, an
einen kaum verhuellten und ungestuem klopfenden Busen gedrueckt wurde.--Das
konnte nicht Psyche sein.--Ich wollte mich aus ihren Armen loswinden; aber
sie verdoppelte die Staerke, womit sie mich umschlang, zugleich mit ihren
wolluestigen Liebkosungen; und da ich nun auf einmal mit einem Entsetzen,
welches mir alle Sehnen laehmte, meinen Irrtum erkannte; so machte die
Gewalt, die ich anwenden wollte, mich von der rasenden Priesterin
loszureissen, dass wir mit einander zu Boden sanken. Ich wuenschte aus
Hochschaetzung des Geschlechts, welches in meinen Augen der
liebenswuerdigste Teil der Schoepfung ist, dass ich diese Szene aus meinem
Gedaechtnis ausloeschen koennte.--Die Bestrebungen dieser Unglueckseligen
empoerten endlich alle meine Geister zu einem Grimm, der mich ihrer eigenen
Wut ueberlegen machte. Ich hatte alle meine Vernunft noetig, um nicht alle
Achtung, die ich wenigstens ihrem Geschlecht schuldig war, aus den Augen
zu setzen. Aber ich zweifle nicht, dass eine jede Frauens-Person, welche
noch einen Funken von sittlichem Gefuehl uebrig haette, lieber den Tod, als
die Vorwuerfe und die Verwuenschungen, womit sie ueberstroemt wurde, ausstehen
wollte. Sie kruemmete sich, in Traenen berstend zu meinen Fuessen.--Dieser
Anblick war mir unertraeglich--ich wollte entfliehen; sie verfolgte mich,
sie hing sich an, und bat mich, ihr den Tod zu geben. Ich verlangte mit
Heftigkeit, dass sie mir meine Psyche wieder geben sollte. Diese Worte
schienen sie unsinnig zu machen. Sie erklaerte mir, dass das Leben dieser
Sklavin in ihrer Gewalt sei, und von dem Entschluss, den ich nehmen wuerde,
abhange. Sie sah die Veraenderung, die diese Drohung auf einmal in meinem
ganzen Wesen machte; wir verstummten beide eine Weile. Endlich nahm sie
einen sanftern, aber nicht weniger entschlossenen Ton an, um mir ihre
vorige Erklaerung zu bekraeftigen. Die Eifersucht machte sie so vieles
sagen, dass ich Zeit bekam mich zu fassen, und eine Drohung weniger
fuerchterlich zu finden, zu deren Ausfuehrung ich sie, wenigstens aus Liebe
zu sich selbst, unfaehig glaubte. Ich antwortete ihr also mit einem kalten
Blute, welches sie stutzen machte: dass sie auf ihre eigene Gefahr ueber das
Leben meiner jungen Freundin disponieren koenne. Doch ersuchte ich sie,
sich zu erinnern, dass sie selbst mich zum Meister ueber das Ihrige, und
ueber das, was ihr noch lieber als das Leben sein sollte, gemacht habe.
Das meinige (setzte ich lebhafter hinzu) hoert mit dem Augenblick auf, da
Psyche fuer mich verloren ist; denn bei dem Gott, dessen Gegenwart dieses
heilige Land erfuellt, keine menschliche Gewalt soll mich aufhalten, ihrem
geliebten Geist in eine bessere Welt zu folgen, wohin uns das Laster nicht
folgen kann, unsere geheiligte Liebe zu beunruhigen!--Meine
Standhaftigkeit schien, den Mut der Priesterin niederzuschlagen. Sie
sagte mir endlich: Sie merkte sehr wohl, dass ich trotzig darauf sei, dass
ich in meiner Gewalt habe, sie zu Grunde zu richten--ich koennte tun, was
ich wollte; nur sollte ich versichert sein, dass ihr Psyche fuer jeden
Schritt antworten sollte, den ich machen wuerde. Mit diesen Worten
entfernte sie sich, und liess mich in einem Zustande, dessen
Abscheulichkeit, nach der Empfindung die ich davon hatte, abgemessen, ueber
allen Ausdruck ging. Ich wusste nun, dass die Priesterin Mittel gefunden
haben muesse, unser Geheimnis zu entdecken, und dass der Blumen-Kranz ein
Kunstgriff von ihrer Erfindung gewesen war. Nach dieser
Niedertraechtigkeit war keine Bosheit so ungeheuer, deren ich diese Elende
nicht faehig gehalten haette. Ich besorgte nichts fuer mich selbst, aber
alles fuer die arme Psyche, welche ich der Gewalt einer Nebenbuhlerin
ueberlassen musste, ohne dass mir alle meine Zaertlichkeit fuer sie das
Vermoegen geben konnte, sie davon zu befreien."




FUeNFTES KAPITEL

Agathon entfliehet von Delphi, und findet seinen Vater


"Nachdem ich etliche Tage in der grausamen Ungewissheit, was aus meiner
Geliebten geworden sein moechte, zugebracht hatte, erfuhr ich endlich von
einer Sklavin der Pythia, welche ihre Freundin gewesen war, dass sie nicht
mehr in Delphi sei. Dieses war alle Nachricht, die ich von ihr ziehen
konnte; aber es war genug, mir den Aufenthalt von Delphi unertraeglich zu
machen. Nunmehr bedacht' ich mich keinen Augenblick, was ich tun wollte.
Ich stahl mich in der naechsten Nacht hinweg, ohne um die Folgen eines so
unbesonnenen Schrittes bekuemmert zu sein; oder richtiger zu sagen, in
einem Gemuets-Zustande, worin ich unfaehig war, einige vernuenftige
ueberlegung zu machen. Ich irrte eine Zeitlang an allen Orten herum, wo
ich eine Spur von meiner Freundin zu entdecken hoffte; toericht genug mir
einzubilden, dass sie mich, wo sie auch sein moechte, durch die magische
Gewalt der Sympathie unsrer Seelen nach sich ziehen werde. Aber meine
Hoffnung betrog mich; niemand konnte mir die geringste Nachricht von ihr
geben. Unempfindlich gegen alles Elend, welches ich auf dieser unsinnigen
Wanderschaft erfahren musste, fuehlte ich keinen andern Schmerz als die
Trennung von meiner Geliebten und die Ungewissheit, was ihr Schicksal sei;
ich wuerde die Versicherung, dass es ihr wohl gehe, gerne mit meinem Leben
bezahlt haben. Endlich fuehrte mich der Zufall oder eine mitleidige
Gottheit nach Corinth. Die Sonne war eben untergegangen, als ich von den
Beschwerlichkeiten der Reise, und einer Diaet, deren ich nicht gewohnt war,
aeusserst abgemattet, vor dem Hofe eines von den praechtigen Landguetern ankam,
welche die Kuesten des Corinthischen Meeres verschoenern. Ich warf mich
unter eine hohe Zypresse nieder, und verlor mich in den Vorstellungen der
natuerlichen, und dennoch in der Hitze der Leidenschaft nicht
vorhergesehenen Folgen meiner Flucht von Delphi. In der Tat war meine
Situation faehig, den herzhaftesten Mut niederzuschlagen. In eine Welt
ausgestossen, worin mir alles fremd war, ohne Freunde, unwissend wie ich
ein Leben werde erhalten koennen, dessen Urheber mir nicht einmal bekannt
war--warf ich traurige Blicke um mich her--die ganze Natur schien mich
verlassen zu haben--auf dem weiten Umfang der muetterlichen Erde sah ich
nichts, worauf ich einen Anspruch machen konnte als ein Grab, wenn mich
die Last des Elends endlich aufgerieben haben wuerde; und selbst dieses
konnte ich nur von der Froemmigkeit irgend eines mitleidigen Wanderers
hoffen. Diese melancholischen Gedanken wurden durch die Erinnerung meiner
vergangnen Glueckseligkeit, und durch das Bewusstsein, dass ich mein Elend
durch keine Bosheit des Herzens oder irgend eine entehrende uebeltat
verdient haette, noch empfindlicher gemacht. Ich sah mit traenenvollen
Augen um mich her, als ob ich ein Wesen in der Natur suchen wollte, dem
mein Zustand zu Herzen ginge. In diesem Augenblick erfuhr ich den
wohltaetigen Einfluss dieser glueckseligen Schwaermerei, welche die Natur dem
empfindlichsten Teil der Sterblichen, zu einem Gegenmittel gegen die uebel,
denen sie durch die Schwaeche ihres Herzens ausgesetzt sind, gegeben zu
haben scheint. Ich wandte mich an die Unsterblichen, mit denen meine
Seele schon so lange in einer Art von unsichtbarer Gemeinschaft gestanden
war. Der Gedanke dass sie die Zeugen meines Lebens, meiner Gedanken,
meiner geheimsten Neigungen gewesen seien, goss lindernden Trost in mein
verwundetes Herz. Ich sahe meine geliebte Psyche unter ihre Fluegel
gesichert. 'Nein', rief ich aus, 'die Unschuld kann nicht ungluecklich
sein, noch das Laster seine Absichten ganz erhalten! In diesem
majestaetischen All, worin Sphaeren und Atomen sich mit gleicher
Unterwuerfigkeit nach den Winken einer weisen und wohltaetigen Macht bewegen,
waer es Unsinn und Gottlosigkeit, sich einer entnervenden Kleinmut zu
ueberlassen.--Mein Dasein ist der Beweis, dass ich eine Bestimmung habe.
--Hab' ich nicht eine Seele welche denken kann, und Gliedmassen, welche ihr
als Sklaven zur Ausrichtung ihrer Gedanken zugegeben sind?--Bin ich nicht
ein Grieche? Und wenn mich mein Vaterland nicht erkennen will, bin ich
nicht ein Mensch? Ist nicht die Erde mein Vaterland? Und gibt mir nicht
die Natur ein unverlierbares Recht an Erhaltung und jedes wesentliche
Stueck der Glueckseligkeit, sobald ich meine Kraefte anwende die Pflichten zu
erfuellen, die mich mit der Welt verbinden?'--Diese Gedanken beschaemten
meine Traenen, und richteten mein Herz wieder auf. Ich fing an, die Mittel
zu ueberlegen, die ich in meiner Gewalt hatte, mich in bessere Umstaende zu
setzen; als ich einen Mann von mittlerm Alter gegen mich herkommen sah,
dessen Ansehen und Miene mir beim ersten Anblick Zutrauen und Ehrerbietung
einfloessten. Ich raffte mich sogleich vom Boden auf, und beschloss mit mir
selbst, ihn anzureden, ihm meine Umstaende zu entdecken, und mir seinen Rat
auszubitten. Er kam mir zuvor.--'Du scheinest vom Weg ermuedet zu sein,
junger Fremdling', sagte er zu mir, mit einem Ton, der ihm sogleich mein
Herz entgegen wallen machte; 'und da ich dich unter dem wirtschaftlichen
Schatten meines Baumes gefunden habe, so hoffe ich, du werdest mir das
Vergnuegen nicht versagen, dich diese Nacht in meinem Hause zu beherbergen.
' Dieser Mann, den ich hieraus fuer den Herrn des Hauses, welches ich vor
mir sah, erkannte, betrachtete mich mit einer sonderbaren Aufmerksamkeit,
indem ich ihm fuer seine Leutseligkeit dankte, und mit einer
Offenherzigkeit, welche von meiner wenigen Kenntnis der Welt zeugte,
bekannte; dass ich im Begriff gewesen sei, ihn um dasjenige zu ersuchen,
was er mir auf eine so edle Art anbiete; nachdem ich durch einen Zufall in
diese Gegenden, wo ich niemand kenne, geraten sei. Ich weiss nicht, was
ihn zu meinem Vorteil einzunehmen schien; mein Aufzug wenigstens konnte es
nicht sein; denn ich hatte, aus Sorge entdeckt zu werden, meine Delphische
Kleidung gegen eine schlechtere vertauscht, welche auf meiner Wanderschaft
ziemlich abgenutzt worden war. Er wiederholte mir wie angenehm es ihm sei,
dass mich der Zufall vielmehr ihm als einem seiner Nachbarn zugefuehrt habe;
und so folgte ich ihm in sein Haus, dessen Weitlaeufigkeit, Bauart und
Pracht einen Besitzer von grossem Reichtum und vielem Geschmack ankuendigte.
Der Saal in dem wir zuerst abtraten, war mit Gemaelden von den
beruehmtesten Meistern, und mit einigen Bild-Saeulen und Brust-Bildern vom
Phidias und Alcamenes ausgeziert. Ich liebe wie dir bekannt ist, die
Werke der schoenen Kuenste bis zur Schwaermerei, und mein langer Aufenthalt
in Delphi hatte mir einige Kenntnis davon gegeben. Ich bewunderte einige
Stuecke, setzte an andern dieses oder jenes aus, nannte die Kuenstler, deren
Hand oder Manier ich erkannte, und nahm Gelegenheit von andern
Meisterstuecken zu reden, die mir von ihnen bekannt waren. Ich bemerkte,
dass mein Wirt mich mit Verwunderung von neuem betrachtete, und so aussah,
als ob er betroffen waere, einen jungen Menschen, den er in einem so wenig
versprechenden Aufzug unter einem Baum liegend gefunden, mit so vieler
Kenntnis von Kuensten sprechen zu hoeren, von denen gemeiniglich nur Leute
von Stand und Vermoegen im Ton der Kenner zu reden pflegen. Nach einer
kleinen Weile wurde gemeldet, dass das Abend-Essen aufgetragen sei. Er
fuehrte mich hierauf in einen kleinen Saal, dessen Mauern von einem der
besten Schueler des Parrhasius mit Wasser-Farben niedlich uebermalt waren.
Wir speiseten ganz allein. Die Tafel, das Geraete, die Aufwaerter, alles
stimmte mit dem Begriff ueberein, den ich mir bereits von dem Geschmack und
dem Stande des Haus-Herrn gemacht hatte. Unter dem Essen trat ein junger
Mensch von feinem Ansehen und zierlich gekleidet, auf, und rezitierte ein
Stuck aus der Odyssee mit vieler Geschicklichkeit. Mein Wirt sagte mir,
dass er bei Tische diese Art von Gemuets-Ergoetzung den Taenzerinnen und
Floetenspielerinnen vorzoege, womit man sonst bei den Tafeln der Griechen
sich zu unterhalten pflege. Das Lob das ich seinem Leser beilegte, gab zu
einem Gespraech ueber die beste Art zu rezitieren, und ueber die Griechischen
Dichter Anlass, wobei ich meinem Wirte abermal Gelegenheit gab, zu stutzen,
und mich immer aufmerksamer, und wie mich deuchte, mit einer Art von
zaertlicher Gemuets-Bewegung anzusehen. Er sah dass ich es gewahr wurde,
und sagte mir hierauf, dass mich die Verwunderung womit er mich von Zeit zu
Zeit betrachtete, weniger befremden wuerde, wenn ich die ausserordentliche
aehnlichkeit meiner Gesichts-Bildung und Miene mit einer Person, welche er
ehmals gekannt habe, wisste; 'doch du sollst selbst hievon urteilen',
setzte er hinzu, und hierauf fing er an von andern Dingen zu reden, bis
der Wein und die Fruechte aufgestellt wurden. Bald darauf stunden wir auf,
und nachdem wir eine Weile in einer langen Galerie, die auf einer
doppelten Reihe Corinthischer Saeulen von buntem Marmor ruhte, und praechtig
erleuchtet war, auf und abgegangen waren, fuehrte er mich in ein Cabinet,
worin ein Schreibtisch, ein Buechergestell, einige Polster, und ein Gemaelde
in Lebensgroesse auf welches ich nicht gleich acht gab, alle Moebeln und
Zierraten ausmachten. Er hiess mich niedersetzen, und nachdem er das
Bildnis, welches ihm gegenueber hing, eine ziemliche Weile mit Bewegung
angesehen hatte, redete er mich also an: 'Deine Jugend, liebenswuerdiger
Fremdling, die Art wie sich unsere Bekanntschaft angefangen, die
Eigenschaften die ich in dieser kurzen Zeit an dir entdeckt, und die
Zuneigung die ich in meinem Herzen fuer dich finde, rechtfertigen mein
Verlangen, von deinem Namen, und von den Umstaenden benachrichtiget zu sein,
welche dich in einem solchen Alter von deiner Heimat entfernt und in
diese fremde Gegenden gefuehrt haben koennen. Es ist sonst meine
Gewohnheit nicht, mich beim ersten Anblick fuer jemand einzunehmen. Aber
bei deiner Erblickung hab ich einem geheimen Reiz, der mich gegen dich zog
nicht widerstehen koennen; und du hast in diesen wenigen Stunden meine
voreilige Neigung so sehr gerechtfertiget, dass ich mir selbst Glueck
wuensche, ihr Gehoer gegeben zu haben. Befriedige also mein Verlangen, und
sei versichert, dass die Hoffnung, dir vielleicht nuetzlich sein zu koennen,
weit mehr Anteil daran hat, als ein unbescheidener Vorwitz. Du siehest
einen Freund in mir, dem du dich, ungeachtet der kurzen Dauer unsrer
Bekanntschaft, mit allem Zutrauen eines langwierigen und bewaehrten Umgangs
entdecken darfst.' Ich wurde durch diese Anrede so sehr geruehrt, dass sich
meine Augen mit Traenen fuellten--ich glaube, dass er darin lesen konnte was
ihm mein Herz antwortete, ob ich gleich eine Weile keine Worte finden
konnte. Endlich sagte ich ihm, dass ich von Delphi kaeme; dass ich daselbst
erzogen worden; dass man mich Agathon genennt haette; dass ich niemalen habe
entdecken koennen, wem ich das Leben zu danken habe; und dass alles was ich
davon wisse, dieses sei, dass ich in einem Alter von vier oder fuenf Jahren
in den Tempel gebracht, mit andern Knaben, welche man dem Dienst des
Gottes zu Delphi gewidmet, erzogen, und nachdem ich zu mehrern Jahren
gekommen, von den Priestern mit einer vorzueglichen Achtung angesehen, und
in allem was zur Erziehung eines freigebornen Griechen erfordert werde,
geuebet worden sei. Stratonicus (so wurde mein Wirt genannt) hatte waehrend
dass ich dieses sagte, Muehe sich ruhig zu halten; sein Gesicht veraenderte
sich; er wollte anfangen zu reden, schien sich aber wieder anders zu
bedenken, und ersuchte mich nur, ihm zu sagen, warum ich Delphi verlassen
haette. So natuerlich die Aufrichtigkeit sonst meinem Herzen war, so konnte
ich doch dieses mal unmoeglich ueber die Bedenklichkeiten hinaus kommen,
welche mir ueber meine Liebe zu Psyche den Mund verschlossen. Einem
Freunde von meinen Jahren, fuer den ich mein Herz eben so eingenommen
gefunden haette, als fuer den Stratonicus, wuerde ich das Innerste meines
Herzens ohne Bedenken aufgeschlossen haben, so bald ich haette vermuten
koennen, dass er meine Empfindungen zu verstehen faehig sei: Aber hier hielt
mich etwas zurueck, davon ich mir selbst die Ursache nicht recht angeben
konnte. Ich schob also die ganze Schuld meiner Entweichung von Delphi auf
die Pythia, indem ich ihm so ausfuehrlich, als es meine jugendliche
Schamhaftigkeit gestatten wollte, von den Versuchungen, in welche sie
meine Tugend gefuehrt hatte, Nachricht gab. Er schien sehr wohl mit meiner
Auffuehrung zufrieden, und nachdem ich meine Erzaehlung bis auf den
Augenblick, wo ich ihn zuerst erblickt, und dasjenige was ich sogleich fuer
ihn empfunden, fortgefuehrt; stund er mit einer lebhaften Bewegung auf,
warf seine Arme um meinen Hals, und sagte mit Traenen der Freude und
Zaertlichkeit in seinen Augen:--'Mein liebster Agathon, siehe deinen
Vater--hier', setzte er hinzu, indem er mich sanft umwendete, und auf das
Gemaelde wies, welchem ich bisher den Ruecken zugekehrt hatte,--'hier, in
diesem Bilde, erkenne die Mutter, deren geliebte Zuege mich beim ersten
Anblick in deiner Gesichts-Bildung geruehrt, und diese Bewegung erregt
haben, die ich nun fuer die Stimme der Natur erkenne.'


Du kennest mich zu gut, liebenswuerdige Danae, um dir meine Empfindungen in
diesem Augenblicke nicht lebhafter einzubilden, als ich sie beschreiben
koennte. Solche Augenblicke sind keiner Beschreibung faehig; fuer solche
Freuden hat die Sprache keine Namen, die Natur keine Bilder, und die
Phantasie selbst keine Farben.--Das Beste ist, zu schweigen, und den
Zuhoerer seinem eigenen Herzen zu ueberlassen. Mein Vater schien durch
meine Entzueckung, welche sich lange Zeit nur durch Traenen und sprachlose
Umarmungen und abgebrochene Toene der zaertlichsten Regungen, deren die
Natur faehig ist, ausdruecken konnte, doppelt gluecklich zu sein. Das
Vergnuegen, womit er mich fuer seinen Sohn erkannte, schien ihn selbst
wieder in die gluecklichsten Augenblicke seiner Jugend zu versetzen, und
Erinnerungen wieder aufzuwecken, denen mein Anblick ein neues Leben gab.
Da er natuerlicher Weise voraussetzen konnte, dass ich begierig sein werde,
die Ursachen zu wissen, welche meinen Vater, der mich mit so vielem
Vergnuegen fuer seinen Sohn erkannte, hatten bewegen koennen, mich so viele
Jahre von sich verbannt zu halten; so gab er mir hierueber alle
Erlaeuterungen, die ich nur wuenschen konnte, durch eine umstaendliche
Erzaehlung der Geschichte seiner Liebe zu meiner Mutter. Seine
Bekanntschaft mit ihr hatte sich zufaelliger Weise in einem Alter
angefangen, worin er noch gaenzlich unter der vaeterlichen Gewalt stund.
Sein Vater war das Haupt eines von den edelsten Geschlechtern in Athen.
Meine Mutter war sehr jung, sehr schoen, und eben so tugendhaft als schoen,
unter der Aufsicht einer alten Frau, die sich ihre Mutter nannte, dahin
gekommen. Die strenge Eingezogenheit, worin sie sehr kuemmerlich von ihrer
Hand-Arbeit lebte, verwahrte die junge Musarion vor den Augen und vor den
Nachstellungen der maessigen reichen Juenglinge, welche gewohnt sind, junge
Maedchen, die keinen andern Schutz als ihre Unschuld, und keinen andern
Reichtum als ihre Reizungen haben, fuer ihre natuerliche Beute anzusehen.
Dem ungeachtet konnte sie nicht verhintern, durch einen Zufall, den ich
uebergehen will, meinem Vater bekannt zu werden, welcher sich durch seine
gesittete und bescheidene Lebens-Art von den meisten jungen Atheniensern
seiner Zeit unterschied. Sein tugendhafter Charakter konnte ihn nicht
verwahren, von den Reizungen der jungen Musarion geruehrt zu werden; aber
er machte, dass seine Liebe die Eigenschaft seines Charakters annahm. Sie
war tugendhaft, bescheiden, und eben dadurch staerker und dauerhafter.
Sein Stand, sein guter Ruf und sein zurueckhaltendes Betragen gegen den
unschuldigen Gegenstand seiner Liebe gaben zusammengenommen einen
Beweg-Grund ab, der die Nachsicht entschuldigen konnte, womit die Alte
seine geheime Besuche duldete, ob sie gleich immer haeufiger wurden.
Nichts kann natuerlicher sein, als dasjenige, was man liebt, dem Mangel
nicht ausgesetzt sehen zu koennen; aber nichts ist auch in den Augen der
Welt zweideutiger, als die Freigebigkeit eines jungen Menschen gegen eine
junge Person, welche das Unglueck hat, durch ihre Annehmlichkeiten den Neid,
und durch ihre Armut die Verachtung des grossen Haufens zu erregen. Man
kann sich nicht bereden, dass in einem solchen Fall derjenige, welcher gibt,
nicht eigennuetzige Absichten habe; oder diejenige, welche annimmt, ihre
Dankbarkeit nicht auf Unkosten ihrer Unschuld beweise. Stratonicus
gebrauchte deswegen die aeusserste Vorsichtigkeit, um die Wohltaten, womit
er diese kleine Familie von Zeit zu Zeit unterstuetzte, vor aller Welt und
vor ihnen selbst zu verbergen. Allein sie entdeckten doch zuletzt ihren
unbekannten Wohltaeter; und diese neue Proben seiner edelmuetigen Sinnes-Art
vollendeten den Eindruck, den er schon lange auf das unerfahrne Herz der
zaertlichen Musarion gemacht hatte, und gewannen es ihm gaenzlich. Niemals
wuerde die Liebe von der zaertlichsten Gegenliebe erwidert, zwei Herzen
gluecklicher gemacht haben, wenn die Umstaende der jungen Schoenen einer
gesetzmaessigen Vereinigung nicht Schwierigkeiten in den Weg gelegt haetten,
welche ein jeder anderer als ein Liebhaber fuer unueberwindlich gehalten
haette. Endlich war Stratonicus so gluecklich, zu entdecken, dass seine
Geliebte wuerklich eine Atheniensische Buergerin sei, die Tochter eines zwar
armen, aber rechtschaffenen Mannes, welcher im Pelopponesischen Kriege
sein Leben auf eine ruehmliche Art verloren hatte. Nunmehr wagte er es,
seinem Vater das Geheimnis seiner Liebe zu entdecken; er wandte alles an,
seine Einwilligung zu erhalten; aber der Alte, welcher alle Reizungen und
alle Tugenden der jungen Musarion fuer keinen genugsamen Ersatz des
Reichtums, der ihr fehlte, ansah, blieb unerbittlich. Stratonicus liebte
zu inbruenstig, um dem Befehl, nicht weiter an seine Geliebte zu denken,
gehorsam zu sein; er wuerde sich selbst fuer den Unwuerdigsten unter den
Menschen gehalten haben, wenn er faehig gewesen waere, ihr nur das Wenigste
von seinen Empfindungen zu entziehen. Die Widerwaertigkeiten und
Hinternisse, womit seine Liebe kaempfen musste, taten vielmehr die Wuerkung,
welche sie in einem solchen Falle bei edeln und wahrhaftig eingenommenen
Gemuetern allemal tun werden; sie konzentrierten das Feuer ihrer
gegenseitigem Zuneigung, und bliesen eine Flamme, welche, so lange sie von
Hoffnung genaehrt wurde, drei Jahre lang sanft und rein fortgebrannt hatte,
zu der heftigsten Leidenschaft an. Das Herz ermuedet endlich durch den
langen Kampf mit seinen suessesten Regungen; es verliert die Kraft zu
widerstehen; und je laenger es unter den Qualen einer zugleich verfolgten
und unbefriedigten Liebe geseufzet hat, je heftiger sehnet es sich nach
einer Glueckseligkeit, wovon ein einziger Augenblick genugsam ist, das
Andenken aller ausgestandenen Leiden auszuloeschen, das Gefuehl der
gegenwaertigen zu ersticken, und die Augen, von der suessen Trunkenheit der
gluecklichen Liebe benebelt, gegen alle kuenftige Not blind zu machen.
Ausser diesem hatte Musarion noch den Beweg-Grund einer Dankbarkeit, von
deren drueckender Last ihr Herz sich zu erleichtern suchte. Kurz: Sie
schwuren einander eine ewige Treue, ueberliessen sich dem sympathetischen
Verlangen ihres Herzens, und bedienten sich der Gewalt, die ihnen die
Liebe gab, einander gluecklich zu machen. Die Glueckseligkeit, welche eines
dem andern zu danken hatte, unterhielt und befestigte die zaertliche
Vereinigung ihrer Herzen, anstatt sie zu schwaechen oder gar aufzuloesen;
denn noch niemals ist der Genuss das Grab der wahren Zaertlichkeit gewesen.
Ich, schoene Danae, war die erste Frucht ihrer Liebe. Gluecklicher Weise
fiel meinem Vater eben damals durch den letzten Willen eines Oheims ein
kleines Vorwerk auf einer von den Insuln zu, welche unter der Botmaessigkeit
der Athenienser stehen. Dieses musste meiner Mutter zur Zuflucht dienen;
ich wurde daselbst geboren, und genoss drei Jahre lang ihrer eigenen Pflege;
bis sie mir durch eine Schwester entzogen wurde, deren Leben der
liebenswuerdigen Musarion das ihrige kostete. Stratonicus hatte inzwischen
manchen Versuch gemacht, das Herz seines Vaters zu erweichen; aber allemal
vergebens. Es blieb ihm also nichts uebrig, als seine Verbindung mit
meiner Mutter und die Folgen derselben geheim zu halten. Ihr fruehzeitiger
Tod vernichtete die Entwuerfe von Glueckseligkeit, die er fuer die Zukunft
gemacht hatte, ohne die zaertliche Treue, die er ihrem Andenken widmete, zu
schwaechen. Die Sorge fuer das, was ihm von ihr uebrig geblieben war, hielt
ihn zurueck, sich einer Traurigkeit voellig zu ueberlassen, welche ihn lange
Zeit gegen alle Freuden des Lebens gleichgueltig, und zu allen
Beschaeftigungen desselben verdrossen machte. Der Tempel zu Delphi schien
ihm der tauglichste Ort zu sein, mich zu gleicher Zeit zu verbergen, und
einer guten Erziehung teilhaft zu machen. Er hatte Freunde daselbst,
denen ich besonders empfohlen wurde, mit dem gemessensten Auftrag, mich in
einer gaenzlichen Unwissenheit ueber meinen Ursprung zu lassen. Sein
Vorsatz war, so bald der Tod seines Vaters ihn zum Meister ueber sich
selbst und seine Gueter gemacht haben wuerde, mich von Delphi abzuholen, und
nach Athen zu bringen, wo er so dann seine Verbindung mit meiner Mutter
bekannt machen, und mich oeffentlich fuer seinen Sohn und Erben erklaeren
wollte. Aber dieser Zufall erfolgte erst wenige Monate vor meiner Flucht,
und seit demselben hatten ihn dringendere Geschaefte genoetigt, meine
Abholung aufzuschieben.

Nachdem mein Vater diese Erzaehlung geendigt hatte, liess er einen alten
Freigelassenen zu sich rufen, und fragte ihn: Ob er den kleinen Agathon
kenne, den er vor vierzehn Jahren dem Schutz des Delphischen Apollo
ueberliefert habe? Der gute Alte, dessen Zuege mir selbst nicht unbekannt
waren, erkannte mich desto leichter, da er binnen dieser Zeit von meinem
Vater etliche male nach Delphi abgeschickt worden war, sich meines
Wohlbefindens zu erkundigen. Nunmehr wurde in wenigen Augenblicken das
ganze Haus mit allgemeiner Freude erfuellt; die Zufriedenheit meines Vaters
ueber mich, und das Vergnuegen, womit alle seine Haus-Genossen mich, als den
einzigen Sohn ihres Herrn, bewillkommten, machte die Freude vollkommen,
die ich bei einem so unverhofften und ploetzlichen uebergang von dem Elend
eines sich selbst unbekannten, nackten und allen Zufaellen des Schicksals
preis gegebenen Fluechtlings zu einem so blendenden Gluecks-Stand notwendig
empfinden musste. Blendend haette er wenigstens fuer manchen andern sein
koennen, der durch die Art seiner Erziehung weniger als ich vorbereitet
gewesen waere, einen solchen Wechsel mit Bescheidenheit zu ertragen.
Inzwischen bin ich mir selbst die Gerechtigkeit schuldig, zu sagen, dass
die Versicherung, ein Buerger von Athen, und durch meine Geburt und die
Tugend meiner Voreltern zu Verdiensten und schoenen Taten berufen zu sein,
mir ungleich mehr Vergnuegen machte, als der Anblick der Reichtuemer, welche
die Guetigkeit meines Vaters mit mir zu teilen so begierig war, und welche
in meinen Augen nur dadurch einen Wert erhielten, weil sie mir das
Vermoegen zu Leben schienen, desto freier und vollkommener nach den
Grund-Saetzen, die ich eingezogen hatte, leben zu koennen. Ich unterhielt
mich nun mit einer neuen Art von Traeumen, welche durch ihre Beziehung auf
meine neu entdeckten Verhaeltnisse fuer mich so wichtig, als durch ihre
Ausfuehrung eben so viele Wohltaten fuer das menschliche Geschlecht zu sein
schienen. Ich machte Entwuerfe, wie die erhabenen Lehr-Saetze meiner
idealischen Sitten-Lehre auf die Einrichtung und Verwaltung eines gemeinen
Wesens angewendet werden koennten. Diese Betrachtungen, welche einen guten
Teil meiner Naechte wegnahmen, erfuellten mich mit dem lebhaftesten Eifer
fuer ein Vaterland, welches ich nur aus Geschichtschreibern kannte; ich
zeichnete mir selbst, auf den Fussstapfen der Solons und Aristiden, einen
Weg aus, bei welchem ich an keine andere Hinternisse dachte, als solche,
die durch Mut und Tugend zu ueberwinden sind. Dann setzte ich mich in
meinen patriotischen Entzueckungen an das Ende meiner Laufbahn, und sah in
Athen, nichts geringers als die Hauptstadt der Welt, die Gesetzgeberin der
Nationen, die Mutter der Wissenschaften und Kuenste, die Koenigin des Meers,
den Mittelpunkt der Vereinigung des ganzen menschlichen Geschlechts.--Kurz,
ich machte ungefaehr eben so schimaerische, und eben so ungeheure Projekte,
als Alcibiades; aber mit dem wesentlichen Unterscheid, dass ein von Guete
und allgemeiner Wohltaetigkeit beseeltes Herz die Quelle der meinigen war.
Sie hatten noch dieses Besondere, dass ihre Ausfuehrung, (die moralische
Moeglichkeit derselben vorausgesetzt,) keiner Mutter eine Traene, und keinem
Menschen in der Welt mehr, als die Aufopferung seiner Vorurteile, und
solcher Leidenschaften, welche die Ursachen alles Privat-Elends sind,
gekostet haetten. Ihre Ausfuehrung schien mir, weil ich mir die Hinternisse
nur einzeln, und nicht in ihrem Zusammenhang und vereinigtem Gewichte
vorstellte, so leicht zu sein, dass ich nur allein darueber verwundert war,
dass ein Perikles unter den kleinfuegigen Bemuehungen Athen zur Meisterin von
Griechenland zu machen, habe uebersehen koennen, wie viel leichter es sei,
es zum Tempel eines ewigen Friedens und der allgemeinen Glueckseligkeit der
Welt zu machen. Diese schoenen Spekulationen gaben etliche mal den Stoff
zu den Unterredungen ab, womit ich meinem Vater des Abends die Zeit zu
verkuerzen pflegte. Die Lebhaftigkeit meiner Einbildungskraft schien ihn
eben so sehr zu belustigen, als sein Herz, dessen Ebenbild er in dem
meinigen erkannte, sich an den tugendhaften Gesinnungen vergnuegte, welche
er, wie ich selbst, (vielleicht beide ein wenig zu parteiisch) fuer die
Triebfedern meiner politischen Traeume hielt. Alles, was er mir von den
Schwierigkeiten ihrer Ausfuehrung, die er mit der Quadratur des Zirkels in
eine Klasse setzte, sagen konnte, ueberzeugte mich so wenig, als einen
Verliebten die Einwendungen eines Freundes, der bei kaltem Blut ist,
ueberzeugen werden. Ich hatte eine Antwort fuer alle; und dieser neue
Schwung, den mein Enthusiasmus bekommen hatte, wurde bald so stark, dass
ich es kaum erwarten konnte, mich in Athen, und in Umstaenden zu sehen, wo
ich die erste Hand an dieses grosse Werk, wozu ich gewidmet zu sein glaubte,
legen koennte."




SECHSTES KAPITEL

Agathon kommt nach Athen, und widmet sich der Republik. Eine Probe der
besondern Natur desjenigen Windes, welcher vom Horaz aura popularis
genennet wird


"Mein Vater hielt sich nur so lange zu Corinth auf, als es seine Geschaefte
erfoderten, und eilte selbst, mich so bald es nur moeglich war, in dieses
Athen zu versetzen, welches sich meiner verschoenernden Einbildung in einem
so herrlichen Lichte darstellte. Ich gestehe dir, Danae, (und hoffe, die
fromme Pflicht gegen meine Vaterstadt nicht dadurch zu beleidigen) dass der
erste Anblick mit dem was ich erwartete einen starken Absatz machte. Mein
Geschmack war zu sehr verwoehnt, um das Mittelmaessige, worin es auch sein
moechte, ertraeglich zu finden; er wollte gleichsam alles in diese feine
Linie eingeschlossen sehen, in welcher das Erhabene mit dem Schoenen
zusammenfliesst; und wenn er diese Vollkommenheit an einzelnen Teilen
gewahr wurde, so wollte er, dass alle zusammenstimmen, und ein sich selbst
durchaus aehnliches, symmetrisches Ganzes ausmachen sollten. Von diesem
Grade der Schoenheit war Athen, so wie vielleicht eine jede andere Stadt in
der Welt, noch weit entfernt; indessen hatte sie doch der gute Geschmack
und die Verschwendung des Pericles, mit Huelfe der Phidias, der Alcamenen,
und andrer grosser Meister, in einen solchen Stand gestellt, dass sie mit
den praechtigsten Staedten des politesten Teils der Welt um den Vorzug
streiten konnte; und ich hielt mit Recht davor, dass die Ergaenzung und
Vollendung dessen, was ihr von dieser Seite noch abging, der leichteste
Teil meiner Entwuerfe, und eine natuerliche Folge derjenigen Veranstaltungen
sein werde, welche sie, meiner Einbildung nach, zum Mittelpunkt der Staerke,
und der Reichtuemer des ganzen Erdbodens machen sollten.

Sobald wir in Athen angekommen waren, liess mein Vater seine erste Sorge
sein, mich auf eine gesetzmaessige und oeffentliche Art fuer seinen Sohn
erkennen, und unter die Atheniensischen Buerger aufnehmen zu lassen.
Dieses machte mich eine Zeit lang zu einem Gegenstand der allgemeinen
Aufmerksamkeit. Die Athenienser sind, wie dir nicht unbekannt ist, mehr
als irgend ein anders Volk in der Welt geneigt, sich ploetzlich mit der
aeussersten Lebhaftigkeit fuer oder wider etwas einnehmen zu lassen. Ich
hatte das Glueck, ihnen beim ersten Anblick zu gefallen; die Begierde mich
zu sehen, und Bekanntschaft mit mir zu machen, wurde eine Art von
epidemischer Leidenschaft unter Jungen und Alten; jene machten in kurzem
einen glaenzenden Hof um mich, und diese fassten Hoffnungen von mir, welche
mich, ohne es an mir selbst gewahr zu werden, mit einem geheimen Stolz
erfuellten, und die allzuhochfliegende Meinung, die ich ohnehin geneigt war,
von meiner Bestimmung zu fassen, bestaetigten. Dieser subtile Stolz, der
sich hinter meinen besten Neigungen und tugendhaftesten Gesinnungen
verbarg, und dadurch meinem Bewusstsein sich entzog, benahm mir nichts von
einer Bescheidenheit, wodurch ich vor den meisten jungen Leuten meiner
Gattung mich zu unterscheiden schien; und ich gewann dadurch, nebst der
allgemeinen Achtung des geringern Teils des Volkes, den Vorteil, dass die
Vornehmsten, die Weisesten und Erfahrensten mich gerne um sich haben
mochten, und mir durch ihren Umgang eine Menge besondere Kenntnisse
mitteilten, welche mir bei meinem fruehzeitigen Auftritt in der Republik
sehr wohl zu statten kamen. Die Reinigkeit meiner Sitten, der gute
Gebrauch, den ich von meiner Zeit machte, der Eifer, womit ich mich zum
kuenftigen Dienst meines Vaterlandes vorbereitete, die fleissige Besuchung
der Gymnasien, und der Preis, den ich in den uebungen von den mehresten
meines Alters davon trug: Alles dieses vereinigte sich, das guenstige
Vorurteil zu unterhalten, welches man einmal fuer mich gefasst hatte; und da
mir noch die Verdienste meines Vaters, und einer langen Reihe von
Voreltern den Weg zur Republik bahnten; so ist es nicht zu verwundern, dass
ich in einem Alter, worin die meisten Juenglinge nur mit ihren Vergnuegungen
beschaeftiget sind, den Mut hatte, in den oeffentlichen Versammlungen
aufzutreten, und das Glueck, mit einem Beifall aufgenommen zu werden,
welcher mich in Gefahr setzte, eben so schnell, als ich empor gehoben
wurde, so wohl durch meine eigene Vermessenheit, als durch den Neid meiner
Nebenbuhler wieder gestuerzt zu werden.

Die Beredsamkeit ist in Athen, und in allen Freistaaten, wo das Volk
Anteil an der oeffentlichen Verwaltung hat, der naechste Weg zu Ehrenstellen,
und das gewisseste Mittel sich auch ohne dieselben Ansehen und Einfluss zu
verschaffen. Ich liess es mir also sehr angelegen sein, die Geheimnisse
einer Kunst zu studieren, von deren Ausuebung und dem Grade der
Geschicklichkeit, den ich mir darin erwerben wuerde, die glueckliche
Ausfuehrung aller meiner Entwuerfe abzuhaengen schien. Denn wenn ich
bedachte, wozu Perikles und Alcibiades die Athenienser zu bereden gewusst
hatten: So zweifelte ich keinen Augenblick, dass ich sie mit einer gleichen
Geschicklichkeit zu Massnehmungen wuerde ueberreden koennen, welche, ausserdem,
dass sie an sich selbst edler waren, zu weit glaenzendern Vorteilen fuehrten,
ohne so ungewiss und gefaehrlich zu sein. In dieser Absicht besuchte ich
die Schule des Platons, welcher damals zu Athen in seinem groessesten
Ansehen stund, und indem er die Weisheit des Socrates mit der Beredsamkeit
eines Gorgias und Prodicus vereinigte, nach dem Urteil meiner alten
Freunde, weit geschickter, als diese Wortkuenstler, war, einen Redner zu
bilden, der vielmehr durch die Staerke der Wahrheit, als durch die
Blendwerke und Kunstgriffe einer hinterlistigen Dialektik sich die Gemueter
seiner Zuhoerer unterwerfen wollte. Der vertrautere Zutritt, den mir
dieser beruehmte Weise vergoennte, entdeckte eine uebereinstimmung meiner
Denkungsart mit seinen Grundsaetzen, welche die Freundschaft, die ich fuer
ihn fasste, in eine fast schwaermerische Leidenschaft verwandelte. Sie
wuerde mir schaedlich gewesen sein, wenn man damals schon so von ihm gedacht
haette, wie man dachte, nachdem er, durch die Bekanntmachung seiner
metaphysischen Dialogen, bei den Staatsleuten, und selbst bei vielen,
welche seine Bewundrer gewesen waren, den Vorwurf, welchen Aristophanes
ehemals (wiewohl hoechst unbillig) dem weisen Socrates gemacht, sich mit
besserm Grund oder mehr Scheinbarkeit zugezogen hatte. Aber damals hatte
Plato weder seinen 'Timaeus' noch seine 'Republik' geschrieben. Indessen
existierte diese letztere doch bereits in seinem Gehirne; sie gab sehr oft
den Stoff zu unsern Gespraechen in den Spaziergaengen der Akademie ab; und
er bemuehete sich desto eifriger, mir seine Begriffe von der besten Art,
die menschliche Gesellschaft einzurichten, und zu regieren, eigen zu
machen, da er das Vergnuegen zu haben hoffte, sie wenigstens in so fern es
die Umstaende zulassen wuerden, durch mich realisiert zu sehen. Sein Eifer
in diesem Stuecke mag so gross gewesen sein, als er will, so war er doch
gewiss nicht groesser, als meine Begierde, dasjenige auszuueben, was er
spekulierte. Allein, da meine Vorstellung von der Wichtigkeit der
Pflichten, welche derjenige auf sich nimmt, der sich in die oeffentlichen
Angelegenheiten mischet, der Lauterkeit und innerlichen Guete meiner
Absichten proportioniert war, und ich desto weiter von Ehrsucht, und
andern eigennuetzigen Leidenschaften entfernt zu sein glaubte, je gewisser
ich mir bewusst war, dass ich (wenn ich es fuer erlaubt gehalten haette, mich
in der Wahl einer Lebensart bloss meiner Privatneigung zu ueberlassen,) eine
von dem Staedtischen Getuemmel entfernte Musse, und den Umgang mit den Musen,
die ich alle zugleich liebte, der Ehre, eine ganze Welt zu beherrschen,
vorgezogen haette: So glaubte ich mich nicht genug vorbereiten zu koennen,
eh ich auf einem Theater erschiene, wo der erste Auftritt gemeiniglich das
Glueck des ganzen Schauspiels entscheidet. Ich widerstund bei etlichen
Gelegenheiten, welche mich aufzufodern schienen, so wohl dem Zudringen
meiner Freunde, als meiner eigenen Neigung, ob es gleich, seit dem
Alcibiades mit so gutem Erfolg den Anfang gemacht hatte, nicht an jungen
Leuten fehlte, welche, ohne sich durch andre Talente, als die
Geschicklichkeit ein Gastmahl anzuordnen, sich zierlich zu kleiden, zu
tanzen, und die Cithar zu spielen, bekannt gemacht zu haben, vermessen
genug waren, nach einer durchgeschwaermten Nacht aus den Armen einer
Buhlerin in die Versammlung des Volks zu huepfen, und von Salben triefend
mit einer taendelhaften Geschwaetzigkeit von den Gebrechen des Staats, und
den Fehlern der oeffentlichen Verwaltung zu plaudern.

Endlich ereignete sich ein Fall, wo das Interesse eines Freundes, den ich
vorzueglich liebte, alle meine Bedenklichkeiten ueberwog. Eine maechtige
Kabale hatte seinen Untergang geschworen; er war unschuldig; aber die
Anscheinungen waren gegen ihn; die Gemueter waren wider ihn eingenommen;
und die Furcht, sich den Unwillen seiner Feinde zu zuziehen, hielt die
wenigen, welche besser von ihm dachten, zurueck, sich seiner oeffentlich
anzunehmen. In diesen Umstaenden stellte ich mich als sein Verteidiger
dar. Da ich von seiner Unschuld ueberzeugt war, so wuerkten alle diese
Betrachtungen, wodurch sich seine uebrigen Freunde abschrecken liessen, bei
mir gerade das Widerspiel. Ganz Athen wurde aufmerksam, da es bekannt
wurde, dass Agathon, des Stratonicus Sohn, auftreten wuerde, die Sache des
schon zum voraus verurteilten Lysias zu fuehren. Die Zuneigung, welche das
Volk zu mir trug, veraenderte auf einmal die Meinung, die man von dieser
Sache gefasst hatte; die Athenienser fanden eine Schoenheit, von der sie
ganz bezaubert waren, in der Grossmut und Herzhaftigkeit, womit ich (wie
sie sagten) mich fuer einen Freund erklaerte, den alle Welt verlassen und
der Wut und uebermacht seiner Feinde preis gegeben hatte. Man tat nun die
eifrigsten Geluebde, dass ich den Sieg davon tragen moechte, und der
Enthusiasmus, womit einer den andern ansteckte, wurde so gross, dass die
Gegenpartei sich genoetigt sah, den Tag der Entscheidung so weit
hinauszusetzen, als sie fuer noetig hielten, um die erhitzten Gemueter sich
wieder abkuehlen zu lassen. Sie sparten inzwischen keine Kunstgriffe,
wodurch sie sich des Ausgangs zu versichern glaubten; allein der Erfolg
vereitelte alle ihre Massnehmungen. Die Zujauchzungen, womit ich von einem
grossen Teil des Volkes empfangen wurde, munterten mich auf; ich sprach mit
einem gesetztern Mut, als man sonst von einem jungen Menschen erwarten
konnte, der zum ersten mal vor einer so zahlreichen Versammlung redete;
und vor einer Versammlung, wo der geringste Handwerksmann sich fuer einen
Kenner und rechtmaessigen Richter der Beredsamkeit hielt. Die Wahrheit tat
auch hier die Wuerkung, die sie alle mal tut, wenn sie in ihrem eigenen
Lichte und mit derjenigen Lebhaftigkeit, welche die eigene ueberzeugung des
Redners gibt, vorgetragen wird; sie ueberwaeltigte alle Gemueter. Lysias
wurde losgesprochen, und Agathon, der nunmehr der Held der Athenienser war,
im Triumph nach Hause begleitet. Von dieser Zeit erschien ich oefters in
den oeffentlichen Versammlungen; die Leidenschaft, welche das Volk fuer mich
gefasst hatte, und der Beifall, der mir, wenn ich redete, entgegen flog,
machten mir Mut, nun auch an den allgemeinen Angelegenheiten Teil zu
nehmen; und da das Glueck beschlossen zu haben schien, mich nicht eher zu
verlassen, bis es mich auf den Gipfel der Republikanischen Groesse erhoben
haben wuerde; so machte ich auch in dieser neuen Lauf-Bahn so schnelle
Schritte, dass in kurzem die Gunst, worin ich bei dem Volk stund, das
Ansehen der Maechtigsten zu Athen im Gleichgewicht erhielt; und dass meine
heimlichen Feinde selbst, um dem Volk angenehm zu sein, genoetigt waren,
oeffentlich die Zahl meiner Bewunderer zu vermehren. Der Tod meines Vaters,
der um diese Zeit erfolgte, beraubte mich eines Freundes und Fuehrers,
dessen Klugheit mir in dem gefahrvollen Ozean des politischen Lebens
unentbehrlich war. Ich wurde dadurch in den Besitz der grossen Reichtuemer
gesetzt, mit denen er nur dadurch dem Neid entgangen war, weil er sie mit
grosser Bescheidenheit gebrauchte. Ich war nicht so vorsichtig. Der
Gebrauch, den ich davon machte, war zwar an sich selbst edel und loeblich;
ich verschwendete sie, um Gutes zu tun; ich unterstuetzte alle Arten von
Buergern, welche ohne ihre Schuld in Unglueck geraten waren; mein Haus war
der Sammel-Platz der Gelehrten, der Kuenstler und der Fremden; mein
Vermoegen stund jedem zu Diensten, der es benoetigt war: aber eben dieses
war es, was in der Folge meinen Fall befoerderte. Man wuerde mir eher zu
gut gehalten haben, wenn ich es mit Gastmaehlern, mit Buhlerinnen und mit
einer immerwaehrenden Abwechslung praechtiger und ausschweifender
Lustbarkeiten durchgebracht haette. Indes stund es eine geraume Zeit an,
bis die Eifersucht, welche ich durch eine solche Lebens-Art in den
Gemuetern der Angesehensten unter den Edeln zu Athen erregte, es wagen
durfte, in sichtbare Wuerkungen auszubrechen. Das Volk, welches mich
vorhin geliebet hatte, fing nun an, mich zu vergoettern. Der Ausdruck, den
ich hier gebrauche, ist nicht zu stark; denn da ein gewisser Dichter, der
sich meines Tisches zu bedienen pflegte, sich einst einfallen liess, in
einem grossen und elenden Gedicht mir den Apollo zum Vater zu geben, so
fand diese mir selbst laecherliche Schmeichelei bei dem Poebel (dem ohnehin
das Wunderbare allemal besser als das Natuerliche einleuchtet) so grossen
Beifall, dass sich nach und nach eine Art von Sage unter dem Volk
befestigte, welche meiner Mutter die Ehre beilegte, den Gott zu Delphi fuer
ihre Reizungen empfindlich gemacht zu haben. So ausschweifend dieser Wahn
war, so wahrscheinlich schien er meinen Goennern aus der untersten Klasse;
dadurch allein glaubten sie die mehr als menschliche Vollkommenheiten, die
sie mir zuschrieben, erklaeren, und die ungereimten Hoffnungen, welche sie
sich von mir machten, rechtfertigen zu koennen. Denn das Vorurteil des
grossen Haufens ging weit genug, dass viele oeffentlich sagten, Athen koenne
durch mich allein zur Gebieterin des ganzen Erdbodens gemacht werden, und
man koenne nicht genug eilen, mir eine einzelne und unumschraenkte Gewalt zu
uebertragen, von welcher sie sich nichts geringers als die Wiederkehr der
goeldenen Zeit, die gaenzliche Aufhebung des verhassten Unterscheids zwischen
Armen und Reichen, und einen seligen Muessiggang mitten unter allen
Wolluesten und Ergoetzlichkeiten des Lebens versprachen.


Bei diesen Gesinnungen, womit in groesserm oder kleinerm Grade der
Schwaermerei das ganze Volk zu Athen fuer mich eingenommen war, brauchte es
nur eine Gelegenheit, um sie dahin zu bringen, die Gesetze selbst zu
Gunsten ihres Lieblings zu ueberspringen. Diese zeigte sich, da Euboea und
einige andre Insuln sich des ziemlich harten Joches, welches ihnen die
Athenienser aufgelegt hatten, zu entledigen, einen Aufstand erregten,
worin sie von den Spartanern heimlich unterstuetzt wurden. Man konnte
(diejenige Theorie, welche man zu Hause erwerben kann, ausgenommen) des
Kriegs-Wesens nicht unerfahrner sein, als ich es war. Ich hatte das Alter
noch nicht erreicht, welches die Gesetze zu Bekleidung eines oeffentlichen
Amts erfoderten; wir hatten keinen Mangel an geschickten und geuebten
Kriegs-Leuten; ich selbst wandte alles Ansehen, das ich hatte, an, um
einen davon, den ich, seines moralischen Charakters wegen, vorzueglich hoch
schaetzte, zum Feld-Herrn gegen die Empoerten erwaehlen zu machen; aber das
alles half nichts gegen die warme Einbildungs-Kraft des lebhaftesten und
leichtsinnigsten Volks in der Welt. Agathon, welchem man alle Talente
zutraute, und von welchem man sich berechtigt hielt, Wunder zu erwarten,
war allein tauglich, die Ehre des Atheniensischen Namens zu behaupten, und
die hochfliegenden Traeume der politischen Muessiggaenger zu Athen, welche bei
diesem Anlass in die Wette eiferten, wer die laecherlichsten Projekte machen
koenne, in die Wuerklichkeit zu setzen. Diese Art von Leuten war so
geschaeftig, dass es ihnen gelang, den groessesten Teil ihrer Mitbuerger mit
ihrer Torheit anzustecken. Jede Nachricht, dass sich wieder eine andere
Insul aufzulehnen anfange, verursachte eine allgemeine Freude; man wuerde
es gerne gesehen haben, wenn das ganze Griechenland an dieser Sache Anteil
genommen haette; auch fehlte es nicht an Zeitungen, welche das Feuer groesser
machten, als es war, und endlich so gar den Koenig von Persien in den
Aufstand von Euboea verwickelten, um dem Agathon einen desto groessern
Schau-Platz zu geben, die Athenienser durch Heldentaten zu belustigen und
durch Eroberungen zu bereichern. Ich wurde also (so sehr ich mich
entgegenstraeubte) mit unumschraenkter Gewalt ueber die Armee, ueber die
Flotten, und ueber die Schatz-Kammer, zum Feld-Herrn gegen die abtruennigen
Insuln ernannt; und da ich nun einmal genoetigt war, dem Eigensinn meiner
Mitbuerger nachzugeben, so entschloss ich mich, es mit einer guten Art zu
tun, und die Sache von derjenigen Seite anzusehen, welche mir eine
erwuenschte Gelegenheit zu geben schien, den Anfang zur Ausfuehrung meiner
eigenen Entwuerfe zu machen. Da ich wusste, dass die Insulaner gerechte
Klagen gegen Athen zu fuehren hatten, und eine Regierung nicht lieben
konnten, von der sie unterdrueckt, ausgezogen, und mit Fuessen getreten
wurden; so gruendete ich meinen ganzen Plan ihrer Beruhigung und
Wiederbringung auf den Weg der Guete, auf Abstellung der Missbraeuche,
wodurch sie erbittert worden waren, auf eine billige Maessigung der Abgaben,
welche man gegen ihre Freiheiten und ueber ihr Vermoegen, von ihnen erpresst
hatte; und auf ihre Wiedereinsetzung in alle Rechte und Vorteile, deren
sie sich als Griechen und als Bunds-Genossen, vermoege vieler besondern
Vertraege, zu erfreuen haben sollten. Allein ehe ich von Athen abreisen
konnte, war es um so noetiger, die Gemueter vorzubereiten und auf einen Ton
zu stimmen, der mit meinen Grund-Saetzen und Absichten uebereinkaeme, da ich
sahe, wie lebhaft die ausschweifenden Projekte, womit die Eitelkeit des
Alcibiades sie ehemals bezaubert hatte, bei dieser Gelegenheit wieder
aufgewacht waren. Ich versammelte also das Volk, und wandte alle Kraefte
der Rede-Kunst, welche bei keinem Volk der Welt so viel vermag, als bei
den Atheniensern, dazu an, sie von der Gruendlichkeit meiner Entwuerfe zu
ueberzeugen, von welchen ich sie so viel sehen liess, als zu Erreichung
meiner Absicht noetig war. Nachdem ich ihnen die Groesse und den Flor, wozu
die Republik, vermoege ihrer natuerlichen Vorteile und innerlichen Staerke,
gelangen koenne, mit den reizendesten Farben abgemalt hatte; bemuehte ich
mich zu beweisen, dass weitlaeufige Eroberungen, ausser der Gefahr, womit sie
durch die Unbestaendigkeit des Kriegs-Gluecks verbunden seien, den Staat
endlich notwendiger Weise unter der Last ihrer eigenen Groesse erdruecken
muessten; dass es einen weit sichern und kuerzern Weg gebe, Athen zur Koenigin
des Erdbodens zu machen, indem etwas unleugbares sei, dass allezeit
diejenige Nation den uebrigen Gesetze vorschreiben werde, welche zu
gleicher Zeit die kluegste und die reichste sei; dass der Reichtum allezeit
Macht gebe, so wie die Klugheit den rechten Gebrauch der Macht lehre; dass
Athen in beidem allen andern Voelkern ueberlegen sein werde, wenn sie auf
der einen Seite fortfahre, die Pfleg-Mutter der Wissenschaften und aller
nuetzlichen und schoenen Kuenste zu sein; auf der andern aber alle ihre
Gedanken darauf richte, sich in der Herrschaft ueber das Meer fest zu
setzen; nicht in der Absicht Eroberungen zu machen, sondern sich in eine
solche Achtung bei den Auswaertigen zu setzen, dass jedermann ihre
Freundschaft suche, und niemand es wagen duerfe, ihren Unwillen zu reizen;
dass fuer einen am Meer gelegenen Frei-Staat ein gutes Vernehmen mit allen
uebrigen Voelkern, und eine so weit als nur moeglich ausgebreitete Handlung,
der natuerliche und unfehlbare Weg sei, nach und nach zu einer Groesse zu
gelangen, deren Ziel nicht abzusehen sei; dass aber hiezu die Erhaltung
seiner eigenen Freiheit, und zu dieser die Freiheit aller uebrigen,
sonderheitlich der benachbarten, oder wenigstens ihre Erhaltung bei ihrer
alten und natuerlichen Form und Verfassung, noetig sei; dass Buendnisse mit
seinen Nachbarn, und eine solche Freundschaft, wobei der andere eben so
wohl seinen Vorteil finde, als wir den unsrigen, einem solchen Staat weit
mehr Macht, Ansehen und Einfluss auf die allgemeine Verfassung des
politischen Systems der Welt geben muessten, als die Unterwerfung derselben,
weil ein Freund allezeit mehr wert sei, als ein Sklave; dass die
Gerechtigkeit der einzige Grund der Macht und Dauer eines Staats, so wie
das einzige Band der Gesellschaft zwischen einzelnen Menschen und ganzen
Nationen, sei; dass diese Gerechtigkeit fodre, eine jede politische
Gesellschaft (sie moege gross oder klein sein) als unsers gleichen anzusehen,
und ihr eben die Rechte zu zugestehen, welche wir fuer uns selbst foderten;
dass ein nach diesen Grund-Saetzen eingerichtetes Betragen das gewisseste
Mittel sei, sich ein allgemeines Zutrauen zu erwerben, und anstatt einer
gewaltsamen, und mit allen Gefahren der Tyrannie verknuepften
Oberherrschaft eine freiwillig eingestandene Autoritaet zu behaupten,
welche in der Tat von allen Vorteilen der erstern begleitet sei, ohne die
verhasste Gestalt und schlimmen Folgen derselben zu haben. Nachdem ich
alle diese Wahrheiten in ihrer besondern Anwendung auf Griechenland und
Athen, in das staerkste Licht gesetzt, und bei dieser Gelegenheit die
Torheit der Projekte des Alcibiades und andrer ehrsuechtiger Schwindelkoepfe
ausfuehrlich erwiesen hatte: Bemuehte ich mich darzutun, dass der Aufstand
der Inseln, welche bisher unter dem Schutz der Athenienser gestanden, in
neuerlichen Zeiten aber durch Schuld einiger boeser Ratgeber der Republik,
als unterworfene Sklaven behandelt worden seien, die gluecklichste
Gelegenheit anbiete, auf der einen Seite das ganze Griechenland von der
gerechten und edelmuetigen Denkungsart der Athenienser zu ueberzeugen, auf
der andern durch eine ansehnliche Vermehrung der Seemacht, wovon die
Unkosten durch die groessere Sicherheit und Erweiterung der Handelschaft
reichlich ersetzt wuerden, sich in ein solches Ansehen zu setzen, dass
niemand jenes gelinde und grossmuetige Verfahren, mit dem mindesten Schein,
einem Mangel an Vermoegen sich Genugtuung zu verschaffen, werde beimessen
koennen. Ich unterstuetzte diese Vorschlaege mit allen den Gruenden, welche
auf die lebhafte Einbildungskraft meiner Zuhoerer den staerksten Eindruck
machen konnten, und hatte das Vergnuegen, dass meine Rede mit einem Beifall,
der meine Erwartung weit uebertraf, aufgenommen wurde. Ausserdem, dass die
Athenienser, ihrer Gemuetsart nach, sich von Wahrheit und gesunden
Grundsaetzen eben so leicht einnehmen liessen, als von den Blendwerken einer
falschen Staatskunst, wenn ihnen jene nur in einem eben so reizenden Licht,
und mit eben so lebhaften Farben vorgetragen wurden, als sie verwoehnt
worden waren, von einem jeden, der zu den oeffentlichen Angelegenheiten
redete, zu fodern; so waren sie gleichgueltig, durch was fuer Mittel Athen
zu derjenigen Groesse gelangen moege, welche das Ziel aller ihrer Wuensche war;
und ein grosser Teil der Buerger, denen der Friede mehr Vorteile brachte,
als der Krieg, liessen sichs vielmehr wohlgefallen, dass dieses Ziel ihrer
Eitelkeit auf eine mit ihrem Privatnutzen uebereinstimmigere Art erhalten
werde. Meine heimlichen Feinde, welche nicht zweifelten, dass diese
Expedition auf eine oder andere Art Gelegenheit zu meinem Fall geben wuerde,
waren weit entfernt, meinen Massnehmungen oeffentlich zu widerstehen; aber
(wie ich in der Folge erfuhr) unter der Hand desto geschaeftiger, ihren
Erfolg zu hemmen, Schwierigkeiten aus Schwierigkeiten hervor zu spinnen,
und die missvergnuegten Insulaner selbst durch geheime Aufstiftungen
uebermuetig, und zu billigen Bedingungen abgeneigt zu machen. Die
Verachtung, womit man anfangs diesen Aufstand zu Athen angesehen hatte;
das ansteckende Beispiel, und die Raenke andrer Griechischen Staedte, welche
die Obermacht der Athenienser mit eifersuechtigen Augen ansahen, hatten zu
wege gebracht, dass indessen auch die Attischen Kolonien, und der groesseste
Teil der Bundesgenossen kuehn genug worden waren, sich einer
Unabhaenglichkeit anzumassen, deren schaedliche Folgen sie sich selbst unter
dem reizenden Namen der Freiheit verbargen; es war die hoechste Zeit, einer
allgemeinen Empoerung und Zusammenverschwoerung gegen Athen zuvorzukommen;
und meine Landsleute, welche bei Annaeherung einer Gefahr, die ihnen in der
Ferne nur Stoff zu witzigen Einfaellen und Gassenliedern gegeben hatte,
sehr schnell von der leichtsinnigsten Gleichgueltigkeit zu einer eben so
uebermaessigen Kleinmuetigkeit uebergingen, vergroesserten sich selbst das uebel
so sehr, dass ich genoetiget wurde unter Segel zu gehen, ehe die Zuruestungen
noch zur Haelfte fertig waren. Ich hatte die Vorsichtigkeit gebraucht,
meinen Freund, ueber welchen mir die Gunst des Volks einen so unbilligen
Vorzug gegeben hatte, als meinen Unterbefehlshaber mitzunehmen; die
Bescheidenheit, womit ich mich des Ansehens, welches mir meine Kommission
ueber ihn gab, bediente, kam einer Eifersucht zuvor, die den Erfolg unsrer
Unternehmung haette vereiteln koennen; wir handelten aufrichtig, und ohne
Nebenabsichten, nach einem gemeinschaftlich abgeredeten Plan, und das
Glueck beguenstigte uns so sehr, dass in einer einzigen Expedition alle
Inseln, Kolonien und Schutzverwandte der Athenienser nicht nur beruhiget,
und wieder in die alte Schranken gesetzt, sondern durch die Abstellung
alles dessen, wodurch sie unbilliger Weise beschweret worden waren, und
durch die Bestaetigung ihrer Freiheiten, die ich ihnen bewilligte, mehr als
jemals geneigt gemacht wurden, die Freundschaft der Athenienser allen
andern Verbindungen, die ihnen angetragen worden waren, vorzuziehen. In
allem diesem folgte ich, ohne besondere Verhaltungsbefehle einzuholen,
meiner eignen Denkungsart mit desto groesster Zuversicht, da ich den
ehemaligen Missvergnuegten nichts zugestanden hatte, was sie nicht so wohl
nach dem Naturrecht als in Kraft aelterer Vertraege zu fodern vollkommen
berechtiget waren, hingegen durch diese Nachgiebigkeit neue und sehr
betraechtliche Vorteile fuer die Athenienser erkaufte; Vorteile, welche dem
ganzen gemeinen Wesen zuflossen, da hingegen aller Nutzen der
Unterdrueckung, worunter sie geseufzet hatten, lediglich in die Kassen
einiger Privatleute und ehmaligen Guenstlinge des Volks geleitet worden war.


Ich kehrete also mit dem Vergnuegen, Gutes getan zu haben, mit dem Beifall
und der lebhaftesten Zuneigung der saemtlichen Kolonien und Bundesgenossen,
und mit der vollen Zuversicht, dass ich die Belohnung, die ich verdient zu
haben glaubte, in der Zufriedenheit meiner Mitbuerger einernten wuerde, an
der Spitze einer dreimal staerkern Flotte, als womit ich ausgelaufen war,
nach Athen zurueck. Ich schmeichelte mir, dass ich mir durch eine so
schleunige Beilegung einer Unruhe, welche so weitaussehend und gefaehrlich
geschienen, einiges Verdienst um mein Vaterland erworben haette. Ich hatte
aus unsern Feinden, Freunde, und aus unsichern Untertanen, zuverlaessige
Bundesgenossen gemacht, deren Treu desto weniger zweifelhaft sein musste,
da ich ihre Sicherheit und ihren Wohlstand durch unzertrennliche Bande mit
dem Interesse von Athen verknuepft hatte; ich hatte, des gemeinen Schatzes
zu schonen, mein eignes Vermoegen zugesetzt, und durch mehr als hundert
ausgeruestete Galeeren, die ich von dem guten Willen der wieder beruhigten
Insulaner erhalten, unsrer Seemacht eine ansehnliche Verstaerkung gegeben;
ich hatte das Ansehen der Athenienser befestiget, ihre Neider abgeschreckt,
und ihrer Handlung einen Ruhestand verschafft, dessen Fortdauer nunmehr,
wenigstens auf lange Zeiten, von ihrem eigenen Betragen abhing. Das
Vergnuegen, welches sich ueber mein Gemuet ausbreitete, wenn ich alle diese
Vorteile meiner Verrichtung ueberdachte, war so lebhaft, dass ich ueber alle
andere Belohnungen, ausser dem Beifall und Zutrauen meiner Mitbuerger, weit
hinaus sah: Aber die Athenienser waren, in dem ersten Anstoss ihrer
Erkenntlichkeit, keine Leute, welche Mass halten konnten. Ich wurde im
Triumph eingeholt, und mit allen Arten der Ehrenbezeugungen in die Wette
ueberhaeuft; die Bildhauer mussten sich Tag und Nacht an meinen Statuen muede
arbeiten; alle Tempel, alle oeffentlichen Plaetze und Hallen wurden mit
Denkmaelern meines Ruhms ausgeziert; und diejenige, welche in der Folge mit
der groessesten Heftigkeit an meinem Verderben arbeiteten, waren itzt die
eifrigsten, uebermaessige und zuvor nie erhoerte Belohnungen vorzuschlagen,
welche das Volk in dem Feuer seiner schwaermerischen Zuneigung gutherziger
Weise bewilligte, ohne daran zu denken, dass mir diese Ausschweifungen
seiner Hochachtung in kurzem von ihm selbst zu eben so vielen Verbrechen
gemacht werden wuerden.

Da ich sahe, dass alle meine Bescheidenheit nicht zureichend war, dem
ueberfliessenden Strom der popularen Dankbarkeit Einhalt zu tun; so glaubte
ich am besten zu tun, wenn ich mich eine Zeitlang von Athen entfernte, und
bis die Atheniensische Lebhaftigkeit durch irgend eine neue Komoedie, einen
fremden Gaukler, oder eine frisch angekommene Taenzerin einen andern
Schwung bekommen haben wuerde, auf meinem Landgut zu Corinth in
Gesellschaft der Musen und Grazien einer Musse zu geniessen, welche ich
durch die Arbeiten eines ganzen Jahres verdient zu haben glaubte. Ich
dachte wenig daran, dass ich in einer Stadt, deren Liebling ich zu sein
schien, Feinde habe, die indessen, dass ich mich mit aller Sorglosigkeit
der Unschuld den Vergnuegungen des Landlebens, und der geselligen Freiheit
ueberliess, einen eben so boshaften als wohlausgesonnenen Plan zu meinem
Untergang anzulegen beschaeftiget seien.

Alles, womit ich mir bei der schaerfsten Pruefung meines oeffentlichen und
Privatlebens in Athen, bewusst bin, mein Unglueck, wo nicht verdient, doch
befoedert zu haben, ist Unvorsichtigkeit, oder der Mangel an einer gewissen
Republikanischen Klugheit, welche nur die Erfahrung geben kann. Ich lebte
nach meinem Geschmack, und nach meinem Herzen, weil ich gewiss wusste, dass
beide gut waren, ohne daran zu denken, dass man mir andre Absichten bei
meinen Handlungen andichten koenne, als ich wirklich hatte. Ich lebte mit
einer gewissen Pracht, weil ich das Schoene liebte, und Vermoegen hatte; ich
tat jedermann gutes, weil ich meinem Herzen dadurch ein Vergnuegen
verschaffte, welches ich allen andern Freuden vorzog; ich beschaeftigte
mich mit dem gemeinen Besten der Republik, weil ich dazu geboren war, weil
ich eine Tuechtigkeit dazu in mir fuehlte, und weil ich durch die Zuneigung
meiner Mitbuerger in den Stand gesetzt zu werden hoffte, meinem Vaterland
und der Welt nuetzlich zu sein. Ich hatte keine andere Absichten, und
wuerde mir eher haben traeumen lassen, dass man mich beschuldigen werde, nach
der Krone des Koenigs von Persien, als nach der Unterdrueckung meines
Vaterlands zu streben. Da ich mir bewusst war niemands Hass verdient zu
haben, so hielt ich einen jeden fuer meinen Freund, der sich dafuer ausgab,
um so mehr, als kaum jemand in Athen war, dem ich nicht Dienste geleistet
hatte. Aus eben diesem Grunde dachte ich gleich wenig daran, wie ich mir
einen Anhang mache, als wie ich die geheimen Anschlaege von Feinden, welche
mir unsichtbar waren, vereiteln wolle. Denn ich glaubte nicht, dass die
Freimuetigkeit, womit ich, ohne Galle oder uebermut, meine Meinung bei jeder
Gelegenheit sagte, eine Ursache sein koenne, mir Feinde zu machen. Mit
einem Wort, ich wusste noch nicht, dass Tugend, Verdienste und Wohltaten
gerade dasjenige sind, wodurch man gewisse Leute zu dem toedlichsten Hass
erbittern kann. Eine traurige Erfahrung konnte mir allein zu dieser
Einsicht verhelfen; und es ist billig, dass ich sie wert halte, da sie mir
nicht weniger, als mein Vaterland, die Liebe meiner Mitbuerger, meine
schoensten Hoffnungen, und das glueckselige Vermoegen, vielen Gutes zu tun,
und von niemand abzuhaengen, gekostet hat."




SIEBENTES KAPITEL

Agathon wird von Athen verbannt


"Der Zeitpunkt meines Lebens, auf den ich nunmehr gekommen bin, fuehrt
allzuunangenehme Erinnerungen mit sich, als dass ich nicht entschuldiget
sein sollte, wenn ich so schnell davon wegeile, als es die Gerechtigkeit
zulassen wird, die ich mir selbst schuldig bin. Es mag sein, dass einige
von meinen Feinden aus Beweggruenden eines republikanischen Eifers gegen
mich aufgestanden sind, und sich durch meinen Sturz eben so verdient um
ihr Vaterland zu machen geglaubt haben, als Harmodius und Aristogiton
durch die Ermordung der Pisistratiden. Aber es ist doch gewiss, dass
diejenige, welche die Sache mit der groessesten Wut betrieben, keinen andern
Beweggrund hatten, als die Eifersucht ueber das Ansehen, welches mir die
allgemeine Gunst des Volkes gab, und welches sie, nicht ohne Ursache, fuer
ein Hinternis ihrer ehrgeizigen und gewinnsuechtigen Absichten hielten.
Die meisten glaubten auch, dass sie Privatbeleidigungen zu raechen haetten.
Einige naehrten noch den alten Groll, den sie bei meinem ersten Auftritt in
der Republik gegen mich fassten, da ich meinen rechtschaffenen Freund, den
Wirkungen ihrer Bosheit entriss; andere schmerzte es, dass ich ihnen bei der
Wahl eines Befehlshabers gegen die Empoerten Inseln vorgezogen worden war;
viele waren durch den Verlust des Vorteils, welchen sie von den
ungerechten Bedrueckungen derselben gezogen hatten, beleidiget worden. Bei
diesen allen half mir nichts, dass ich keine Absicht gehabt hatte sie zu
beleidigen, und dass es nur zufaelliger Weise dadurch geschehen war, dass ich
meiner ueberzeugung und meinen Pflichten gemaess gehandelt hatte. Sie
beurteilten meine Handlungen aus einem ganz andern Gesichtspunkte, und es
war bei ihnen ein ausgemachter Grundsatz, dass derjenige kein ehrlicher
Mann sein koenne, der ihren Privatabsichten Schranken setzte. Zum Unglueck
fuer mich, machten diese Leute einen grossen Teil von den Edelsten und
Reichesten in Athen aus. Hiezu kam noch, dass ich meiner immer
fortdauernden Liebe zu Psyche, die vorteilhaftesten Verbindungen, welche
mir angeboten worden waren, aufgeopfert, und mich dadurch der
Unterstuetzung und des Schutzes beraubet hatte, den ich mir von der
Verschwaegerung mit einem maechtigen Geschlechte haette versprechen koennen.
Ich hatte nichts, was ich den Raenken und der vereinigten Gewalt so vieler
Feinde entgegen setzen konnte, als meine Unschuld, einige Verdienste, und
die Zuneigung des Volks; schwache Brustwehren, welche noch nie gegen die
Angriffe des Neides, der Arglist und der Gewalttaetigkeit ausgehalten haben.
Die Unschuld kann verdaechtig gemacht, und Verdiensten selbst durch ein
falsches Licht das Ansehen von Verbrechen gegeben werden; und was ist die
Gunst eines enthusiastischen Volkes, dessen Bewegungen immer seinen
ueberlegungen zuvorkommen; welches mit gleichem uebermass liebet und hasset,
und wenn es einmal in eine fiebrische Hitze gesetzt ist, gleich geneigt
ist, dieser oder einer entgegengesetzten Direktion, je nachdem es gestossen
wird, zu folgen? Was konnte ich mir von der Gunst eines Volkes
versprechen, welches den grossen Beschuetzer der griechischen Freiheit im
Gefaengnis hatte verschmachten lassen? Welches den tugendhaften Aristides,
bloss darum, weil er den Beinamen des Gerechten verdiente, verbannet, und
in einer von seinen gewoehnlichen Launen so gar den Socrates zum
Gift-Becher verurteilt hatte, weil er der weiseste und tugendhafteste Mann
seines Jahrhunderts war. Diese Beispiele sagten mir sogleich bei der
ersten Nachricht, die ich von dem ueber mir sich zusammenziehenden
Ungewitter erhielt, zuverlaessig vorher, was ich von den Atheniensern zu
erwarten haette; sie machten, dass ich ihnen nicht mehr zutraute, als sie
leisteten; und trugen nicht wenig dazu bei, mich ein Unglueck mit
Standhaftigkeit ertragen zu machen, in welchem ich so vortreffliche Maenner
zu Vorgaengern gehabt hatte.

Derjenige, den meine Feinde zu meinem Anklaeger auserkoren hatten, war
einer von diesen witzigen Schwaetzern, deren feiles Talent gleich fertig
ist, Recht oder Unrecht zu verfechten. Er hatte in der Schule des
beruechtigten Gorgias gelernt, durch die Zaubergriffe der Rede-Kunst den
Verstand seiner Zuhoerer zu blenden, und sie zu bereden, dass sie saehen, was
sie nicht sahen. Er bekuemmerte sich wenig darum, dasjenige zu beweisen,
was er mit der groessesten Dreistigkeit behauptete; aber er wusste ihm einen
so lebhaften Schein zu geben, und durch eine zwar willkuerliche, aber desto
kuenstlichere Verbindung seiner Saetze die Schwaeche eines jeden, wenn er an
sich und allein betrachtet wuerde, so geschickt zu verbergen, dass man, so
gar mit einer gruendlichen Beurteilungs-Kraft, auf seiner Hut sein musste,
um nicht von ihm ueberrascht zu werden. Der hauptsaechlichste Vorwurf
seiner Anklage sollte, seinem Vorgeben nach, die schlimme Verwaltung sein,
deren ich mich als Ober-Befehlshaber in der Angelegenheit der empoerten


 


Back to Full Books