Geschichte des Agathon, Teil 1
by
Christoph Martin Wieland

Part 1 out of 5








This etext was prepared by Michael Pullen, Alpharetta, GA.





Geschichte des Agathon

Christoph Martin Wieland


Erste Fassung (1766/1767)



--quid Virtus, et quid Sapientia possit Utile proposuit nobis exemplar.--





Geschichte des Agathon--Inhalt


Vorbericht

Erster Teil

Erstes Buch

Erstes Kapitel: Anfang dieser Geschichte
Zweites Kapitel: Etwas ganz Unerwartetes
Drittes Kapitel: Unvermutete Unterbrechung des
Bacchus-Festes
Viertes Kapitel: Agathon wird zu Schiffe gebracht
Fünftes Kapitel: Eine Entdeckung
Sechstes Kapitel: Erzählung der Psyche
Siebentes Kapitel: Fortsetzung der Erzählung der Psyche
Achtes Kapitel: Psyche beschließt ihre Erzählung
Neuntes Kapitel: Wie Psyche und Agathon wieder getrennt werden
Zehntes Kapitel: Ein Selbstgespräch
Eilftes Kapitel: Agathon kömmt zu Smyrna an, und wird verkauft

Zweites Buch

Erstes Kapitel: Wer der Käufer des Agathon gewesen
Zweites Kapitel: Absichten des weisen Hippias
Drittes Kapitel: Verwunderung, in welche Agathon gesetzt wird
Viertes Kapitel: Welches bei einigen den Verdacht erwecken wird,
daß diese Geschichte erdichtet sei
Fünftes Kapitel: Schwärmerei des Agathon
Sechstes Kapitel: Ein Gespräch zwischen Hippias und seinem Sklaven
Siebentes Kapitel: Worin Agathon für einen Schwärmer ziemlich gut
räsoniert
Achtes Kapitel: Vorbereitungen zum Folgenden

Drittes Buch

Erstes Kapitel: Vorbereitung zu einem sehr interessanten Diskurs
Zweites Kapitel: Theorie der angenehmen Empfindungen
Drittes Kapitel: Die Geisterlehre eines echten Materialisten
Viertes Kapitel: Worin Hippias bessere Schlüsse macht
Fünftes Kapitel: Der Anti-Platonismus in Nuce
Sechstes Kapitel: Ungelehrigkeit des Agathon

Viertes Buch

Erstes Kapitel: Geheimer Anschlag, den Hippias gegen die Tugend
unsers Helden macht
Zweites Kapitel: Hippias stattet einer Dame einen Besuch ab
Drittes Kapitel: Geschichte der schönen Danae
Viertes Kapitel: Wie gefährlich es ist, der Besitzer einer
verschönernden Einbildungskraft zu sein
Fünftes Kapitel: Pantomimen
Sechstes Kapitel: Geheime Nachrichten

Fünftes Buch

Erstes Kapitel: Was die Nacht durch in den Gemütern einiger von
unsern Personen vorgegangen
Zweites Kapitel: Eine kleine metaphysische Abschweifung
Drittes Kapitel: Worin die Absichten des Hippias einen merklichen
Schritt machen
Viertes Kapitel: Veränderung der Szene
Fünftes Kapitel: Natürliche Geschichte der Platonischen Liebe
Sechstes Kapitel: Worin der Geschichtschreiber sich einiger
Indiskretion schuldig macht
Siebentes Kapitel: Magische Kraft der Musik
Achtes Kapitel: Eine Abschweifung, wodurch der Leser zum Folgenden
vorbereitet wird
Neuntes Kapitel: Nachrichten zu Verhütung eines besorglichen
Mißverstandes
Zehentes Kapitel: Welches alle unsre verheiratete Leser, wofern sie
nicht sehr glücklich oder vollkommne Stoiker sind,
überschlagen können
Eilftes Kapitel: Eine bemerkenswürdige Würkung der Liebe, oder von
der Seelenmischung

Sechstes Buch

Erstes Kapitel: Ein Besuch des Hippias
Zweites Kapitel: Eine Probe von den Talenten eines
Liebhabers
Drittes Kapitel: Konvulsivische Bewegungen der
wiederauflebenden Tugend
Viertes Kapitel: Daß Träume nicht allemal Schäume sind
Fünftes Kapitel: Ein starker Schritt zu einer Katastrophe

Siebentes Buch

Erstes Kapitel: Die erste Jugend des Agathons
Zweites Kapitel: En animam & mentem cum qua Di nocte
loquantur!
Drittes Kapitel: Die Liebe in verschiedenen Gestalten
Viertes Kapitel: Fortsetzung des Vorhergehenden
Fünftes Kapitel: Agathon entfliehet von Delphi, und findet
seinen Vater
Sechstes Kapitel: Agathon kommt nach Athen, und widmet sich
der Republik. Eine Probe der besondern Natur
desjenigen Windes, welcher vom Horaz aura
popularis genennet wird
Siebentes Kapitel: Agathon wird von Athen verbannt
Achtes Kapitel: Agathon endigt seine Erzählung
Neuntes Kapitel: Ein starker Schritt zur Entzauberung unsers
Helden



Zweiter Teil

Achtes Buch

Erstes Kapitel: Vorbereitung zum Folgenden
Zweites Kapitel: Verräterei des Hippias
Drittes Kapitel: Folgen des Vorhergehenden
Viertes Kapitel: Eine kleine Abschweifung
Fünftes Kapitel: Schwachheit des Agathon; unverhoffter Zufall,
der seine Entschließungen bestimmt
Sechstes Kapitel: Betrachtungen, Schlüsse und Vorsätze
Siebentes Kapitel: Eine oder zwo Digressionen

Neuntes Buch

Erstes Kapitel: Veränderung der Szene. Charakter der Syracusaner,
des Dionysius und seines Hofes
Zweites Kapitel: Charakter des Dion. Anmerkungen über denselben.
Eine Digression
Drittes Kapitel: Eine Probe, daß die Philosophie so gut zaubern
könne, als die Liebe
Viertes Kapitel: Philistus und Timocrates
Fünftes Kapitel: Agathon wird der Günstling des Dionysius

Zehentes Buch

Erstes Kapitel: Von Haupt--und Staats-Aktionen. Betragen Agathons
am Hofe des Königs Dionys
Zweites Kapitel: Beispiele, daß nicht alles, was gleißt, Gold ist
Drittes Kapitel: Große Fehler wider die Staats-Kunst, welche Agathon
beging--Folgen davon
Viertes Kapitel: Nachricht an den Leser
Fünftes Kapitel: Moralischer Zustand unsers Helden

Eilftes Buch

Erstes Kapitel: Apologie des griechischen Autors
Zweites Kapitel: Die Tarentiner. Charakter eines liebenswürdigen
alten Mannes
Drittes Kapitel: Eine unverhoffte Entdeckung
Viertes Kapitel: Etwas, das man ohne Divination vorhersehen konnte
Fünftes Kapitel: Abdankung




VORBERICHT


Der Herausgeber der gegenwärtigen Geschichte siehet so wenig
Wahrscheinlichkeit vor sich, das Publicum überreden zu können, daß sie in
der Tat aus einem alten Griechischen Manuskript gezogen sei; daß er am
besten zu tun glaubt, über diesen Punkt gar nichts zu sagen, und dem Leser
zu überlassen, davon zu denken, was er will.

Gesetzt, daß wirklich einmal ein Agathon gewesen, (wie dann in der Tat, um
die Zeit, in welche die gegenwärtige Geschichte gesetzt worden ist, ein
komischer Dichter dieses Namens den Freunden der Schriften Platons bekannt
sein muß:) gesetzt aber auch, daß sich von diesem Agathon nichts
wichtigers sagen ließe, als wenn er geboren worden, wenn er sich
verheiratet, wie viel Kinder er gezeugt, und wenn, und an was für einer
Krankheit er gestorben sei: was würde uns bewegen können, seine Geschichte
zu lesen, und wenn es gleich gerichtlich erwiesen wäre, daß sie in den
Archiven des alten Athens gefunden worden sei?

Die Wahrheit, welche von einem Werke, wie dasjenige, so wir den Liebhabern
hiemit vorlegen, gefodert werden kann und soll, bestehet darin, daß alles
mit dem Lauf der Welt übereinstimme, daß die Charakter nicht willkürlich,
und bloß nach der Phantasie, oder den Absichten des Verfassers gebildet,
sondern aus dem unerschöpflichen Vorrat der Natur selbst hergenommen; in
der Entwicklung derselben so wohl die innere als die relative Möglichkeit,
die Beschaffenheit des menschlichen Herzens, die Natur einer jeden
Leidenschaft, mit allen den besondern Farben und Schattierungen, welche
sie durch den Individual-Charakter und die Umstände einer jeden Person
bekommen, aufs genaueste beibehalten; daneben auch der eigene Charakter
des Landes, des Orts, der Zeit, in welche die Geschichte gesetzt wird,
niemal aus den Augen gesetzt; und also alles so gedichtet sei, daß kein
hinlänglicher Grund angegeben werden könne, warum es nicht eben so wie es
erzählt wird, hätte geschehen können, oder noch einmal wirklich geschehen
werde. Diese Wahrheit allein kann Werke von dieser Art nützlich machen,
und diese Wahrheit getrauet sich der Herausgeber den Lesern der Geschichte
des Agathons zu versprechen.

Seine Hauptabsicht war, sie mit einem Charakter, welcher gekannt zu werden
würdig wäre, in einem manchfaltigen Licht, und von allen seinen Seiten
bekannt zu machen. Ohne Zweifel gibt es wichtigere als derjenige, auf den
seine Wahl gefallen ist. Allein, da er selbst gewiß zu sein wünschte,
daß er der Welt keine Hirngespenster für Wahrheit verkaufe; so wählte er
denjenigen, den er am genauesten kennen zu lernen Gelegenheit gehabt hat.
Aus diesem Grunde kann er ganz zuverlässig versichern, daß Agathon und die
meisten übrigen Personen, welche in seine Geschichte eingeflochten sind,
wirkliche Personen sind, dergleichen es von je her viele gegeben hat, und
in dieser Stunde noch gibt, und daß (die Neben-Umstände, die Folge und
besondere Bestimmung der zufälligen Begebenheiten, und was sonsten nur zur
Auszierung, welche willkürlich ist, gehört, ausgenommen) alles, was das
Wesentliche dieser Geschichte ausmacht, eben so historisch, und vielleicht
noch um manchen Grad gewisser sei, als irgend ein Stück der
glaubwürdigsten politischen Geschichtschreiber, welche wir aufzuweisen
haben.

Es ist etwas bekanntes, daß öfters im menschlichen Leben weit
unwahrscheinlichere Dinge begegnen, als der Chevalier de Mouhy selbst zu
erdichten sich getrauen würde. Es würde also sehr übereilt sein, die
Wahrheit des Charakters unsers Helden deswegen in Verdacht zu ziehen, weil
es öfters unwahrscheinlich ist, daß jemand so gedacht oder gehandelt habe,
wie er. Wenn es unmöglich sein wird, zu beweisen, daß ein Mensch, und
ein Mensch unter den besondern Bestimmungen, unter welchen sich Agathon
von seiner Kindheit an befunden, nicht so denken oder handeln könne, oder
wenigstens es nicht ohne Wunderwerke, Einflüsse unsichtbarer Geister, oder
übernatürliche Bezauberung hätte tun können: So glaubt der Verfasser mit
Recht erwarten zu können, daß man ihm auf sein Wort glaube, wenn er
positiv versichert, daß Agathon wirklich so gedacht oder gehandelt habe.
Zu gutem Glücke finden sich in den beglaubtesten Geschichtschreibern, und
schon allein in den Lebensbeschreibungen des Plutarch Beispiele genug, daß
es möglich sei, so edel, so tugendhaft, so enthaltsam, oder, nach der
Sprache des Hippias, und einer ansehnlichen Klasse von Menschen zu reden,
so seltsam, so eigensinnig und albern zu sein als es unser Held in einigen
Gelegenheiten seines Lebens ist.

Man hat an verschiedenen Stellen des gegenwärtigen Werks die Ursachen
angegeben, warum man aus dem Agathon kein Modell eines vollkommen
tugendhaften Mannes gemacht hat. Da die Welt mit ausführlichen
Lehrbüchern der Sittenlehre angefüllt ist, so steht einem jeden frei, (und
es ist nichts leichters) sich einen Menschen einzubilden, der von der
Wiege an bis ins Grab, in allen Umständen und Verhältnissen des Lebens,
allezeit und vollkommen so empfindt, denkt und handelt, wie eine Moral.
Damit Agathon das Bild eines wirklichen Menschen wäre, in welchem viele
ihr eigenes erkennen sollten, konnte er, wir behaupten es zuversichtlich,
nicht tugendhafter vorgestellt werden, als er ist; und wenn jemand hierin
andrer Meinung sein sollte, so wünschten wir, daß er uns (wenn es wahr ist,
daß derjenige der Beste ist, der die besten Eigenschaften mit den
wenigsten Fehlern hat,) denjenigen nenne, der unter allen nach dem
natürlichen Lauf Gebornen, in ähnlichen Umständen, und alles zusammen
genommen, tugendhafter gewesen wäre, als Agathon.

Es ist möglich, daß irgend ein junger Taugenichts, wenn er siehet, daß ein
Agathon den reizenden Verführungen der Liebe und einer Danae endlich
unterliegt, eben den Gebrauch davon machen kann, welchen der junge Chärea
beim Terenz von einem Gemälde machte, welches eine von den Schelmereien
des Vater Jupiters vorstellte,--und daß er, wenn er mit herzlicher Freude
gelesen haben wird, daß ein so vortrefflicher Mann habe fallen können, zu
sich selbst sagen mag: Ego homuncio hoc non facerem? ego vero illud
faciam ac lubens.

Es ist eben so möglich, daß ein übelgesinnter oder ruchloser Mensch, den
Diskurs des Sophisten Hippias lesen, und sich einbilden kann, die
Rechtfertigung seines Unglaubens und seines lasterhaften Lebens darin zu
finden: Aber alle rechtschaffnen Leute werden mit uns überzeugt sein, daß
dieser junge Bube, und dieser ruchlose Freigeist beides gewesen und
geblieben wären, wenn gleich keine Geschichte des Agathon in der Welt wäre.


Dieses letztere Beispiel führt uns auf eine Erläuterung, wodurch wir der
Schwachheit gewisser gutgesinnter Leute, deren Wille besser ist, als ihre
Einsichten, zu Hülfe zu kommen, und sie vor unzeitig genommenem ärgernis
oder ungerechten Urteilen zu verwahren, uns verbunden glauben. Wir
gestehen gerne, daß wir in das Bewußtsein der Redlichkeit unsrer Absichten
eingehüllt, nicht daran gedacht hätten, daß diese Sorgfalt nötig wäre,
wenn uns nicht die Anmerkung stutzen gemacht hätte, welche einer unsrer
Freunde, ohne unser Vorwissen, auf der Seite pag. 58, unter den Text zu
setzen, gut befunden.

Diese Erläuterung betrifft die Einführung des Sophisten Hippias in unsere
Geschichte, und den Diskurs, wodurch er den Agathon von seinem
liebenswürdigen und tugendhaften Enthusiasmus zu heilen, und zu einer
Denkungsart zu bringen hofft, welche er nicht ohne guten Grund für
geschickter hält, sein Glück in der Welt zu machen. Leute, die aus
gesunden Augen gerade vor sich hin sehen, würden ohne unser Erinnern aus
dem ganzen Zusammenhang unsers Werkes, und aus der Art, wie wir bei aller
Gelegenheit von diesem Sophisten und seinen Grundsätzen reden, ganz
deutlich eingesehen haben, wie wenig wir dem Mann und dem System günstig
sind; und ob es sich gleich weder für unsere eigene Art zu denken, noch
für den Ton und die Absicht unsers Buches geschickt hätte, mit dem
heftigen Eifer gegen ihn auszubrechen, welcher einen jungen Magister
treibt, wenn er, um sich seinem Consistorio zu einer guten Pfründe zu
empfehlen, gegen einen Tindal oder Bolingbroke zu Felde zieht: So hoffen
wir doch bei vernünftigen und ehrlichen Lesern keinen Zweifel übrig
gelassen zu haben, daß wir den Hippias für einen schlimmen und
gefährlichen Mann, und sein System, (in so fern es den echten Grundsätzen
der Religion und der Rechtschaffenheit widerspricht) für ein Gewebe von
Trugschlüssen ansehen, welche die menschliche Gesellschaft zu grunde
richten würden, wenn es moralisch möglich wäre, daß der größere Teil der
Menschen damit angesteckt werden könnte. Wir glauben also vor allem
Verdacht über diesen Artikel sicher zu sein. Aber da unter unsern Lesern
ehrliche Leute sein können, welche uns wenigstens eine Unvorsichtigkeit
Schuld geben, und davor halten möchten, daß wir diesen Hippias entweder
gar nicht einführen, oder wenn dieses der Plan unsers Werkes ja erfodert
hätte, seine Lehrsätze ausführlich hätten widerlegen sollen: So sehen wir
für billig an, ihnen die Ursachen zu sagen, warum wir das erste getan, und
das andere unterlassen haben.

Weil nach unserm Plan der Charakter unsers Helden auf verschiedene Proben
gestellt werden sollte, durch welche seine Denkensart und seine Tugend
erläutert, und dasjenige, was darin übertrieben, und unecht war, nach und
nach abgesondert würde; so war es um so viel nötiger ihn auch dieser Probe
zu unterwerfen, da Hippias, bekannter maßen, eine historische Person ist,
und mit den übrigen Sophisten derselben Zeit sehr vieles zur Verderbnis
der Sitten unter den Griechen beigetragen hat. überdem diente er den
Charakter und die Grundsätze unsers Helden durch den Kontrast, den er mit
selbigen macht, in ein desto höheres Licht zu setzen. Und da es mehr als
zu gewiß ist, daß der größeste Teil derjenigen, welche die große Welt
ausmachen, wie Hippias denkt, oder doch nach seinen Grundsätzen handelt;
so war es auch in dem Plan der moralischen Absichten, welche wir uns bei
diesem Werke vorgesetzt haben, zu zeigen, was für einen Effekt diese
Grundsätze machen, wenn sie in den gehörigen Zusammenhang gebracht werden.
Und dieses sind die hauptsächlichsten Ursachen, warum wir diesen
Sophisten (welchen wir nicht schlimmer vorgestellt haben, als er wirklich
war, und als seine Brüder noch heutiges Tages sind) in die Geschichte des
Agathon eingeflochten haben.

Eine ausführliche Widerlegung dessen, was in seinen Grundsätzen irrig und
gefährlich ist: (Denn in der Tat hat er nicht allemal unrecht,) wäre in
Absicht unsers Plans ein wahres hors d'oeuvre gewesen, und schien uns auch
in Absicht der Leser überflüssig; indem nicht nur die Antwort, welche ihm
Agathon gibt, das beste enthält, was man dagegen sagen kann; sondern auch
das ganze Werk (wie einem jeden in die Augen fallen wird, sobald man das
Ganze wird übersehen können) als eine Widerlegung desselben anzusehen ist.
Agathon widerlegt den Hippias beinahe auf die nämliche Art wie Diogenes
den Sophisten, welcher leugnete, daß eine Bewegung sei: Diogenes ließ den
Sophisten schwatzen, so lang er wollte; und da er fertig war, begnügte er
sich vor seinen Augen ganz gelassen auf und ab zu gehen. Dieses war
unstreitig die einzige Widerlegung, die er verdiente.

Wir würden dem zweiten Teile, dessen Ausgabe von der Aufnahme des ersten
abhangen wird, den Vorteil der Neuheit und den Lesern zu gleicher Zeit ein
künftiges Vergnügen rauben, wenn wir den Inhalt desselben vor der Zeit
bekannt machten. Genug, daß man unsern Helden in der Folge in eben so
sonderbaren und interessanten Umständen und Verwicklungen sehen wird, als
in dem ersten Teil. Alles, was wir vorläufig von der Entwicklung sagen
können, ist dieses: daß Agathon in der letzten Periode seines Lebens,
welche den Beschluß unsers Werkes macht, ein eben so weiser als
tugendhafter Mann sein wird, und (was uns hiebei das beste zu sein deucht,
) daß unsre Leser begreifen werden, wie und warum er es ist; warum
vielleicht viele unter ihnen, weder dieses noch jenes sind; und wie es
zugehen müßte, wenn sie es werden sollten.




ERSTER TEIL




ERSTES BUCH




ERSTES KAPITEL

Anfang dieser Geschichte


Die Sonne neigte sich bereits zum Untergang, als Agathon, der sich in
einem unwegsamen Walde verirret hatte, von der vergeblichen Bemühung einen
Ausgang zu finden abgemattet, an dem Fuß eines Berges anlangte, welchen er
noch zu ersteigen wünschte, in Hoffnung von dem Gipfel desselben irgend
einen bewohnten Ort zu entdecken, wo er die Nacht zubringen könnte. Er
schleppte sich also mit Mühe durch einen Fußweg hinauf, den er zwischen
den Gesträuchen gewahr ward; allein da er ungefähr die Mitte des Berges
erreicht hatte, fühlt er sich so entkräftet, daß er den Mut verlor den
Gipfel erreichen zu können, der sich immer weiter von ihm zu entfernen
schien, je mehr er ihm näher kam. Er warf sich also ganz Atemlos unter
einen Baum hin, der eine kleine Terrasse umschattete, auf welcher er die
einbrechende Nacht zuzubringen beschloß.

Wenn sich jemals ein Mensch in Umständen befunden hatte, die man
unglücklich nennen kann, so war es dieser Jüngling in denjenigen, worin
wir ihn das erstemal mit unsern Lesern bekannt machen. Vor wenigen Tagen
noch ein Günstling des Glücks, und der Gegenstand des Neides seiner
Mitbürger, befand er sich, durch einen plötzlichen Wechsel, seines
Vermögens, seiner Freunde, seines Vaterlands beraubt, allen Zufällen des
widrigen Glücks, und selbst der Ungewißheit ausgesetzt, wie er das nackte
Leben, das ihm allein übrig gelassen war, erhalten möchte. Allein
ungeachtet so vieler Widerwärtigkeiten, die sich vereinigten seinen Mut
niederzuschlagen, versichert uns doch die Geschichte, daß derjenige, der
ihn in diesem Augenblick gesehen hätte, weder in seiner Miene noch in
seinen Gebärden einige Spur von Verzweiflung, Ungeduld oder nur von
Mißvergnügen hätte bemerken können.

Vielleicht erinnern sich einige hiebei an den Weisen der Stoiker von
welchem man ehmals versicherte, daß er in dem glühenden Ochsen des
Phalaris zum wenigsten so glücklich sei, als ein Morgenländischer Bassa in
den weichen Armen einer jungen Circasserin. Da sich aber in dem Lauf
dieser Geschichte verschiedne Proben einer nicht geringen Ungleichheit
unsers Helden mit dem Weisen des Seneca zeigen werden, so halten wir für
wahrscheinlicher, daß seine Seele von der Art derjenigen gewesen sei,
welche dem Vergnügen immer offen stehen, und bei denen eine einzige
angenehme Empfindung hinlänglich ist, sie alles vergangnen und künftigen
Kummers vergessen zu machen. Eine öffnung des Waldes zwischen zween
Bergen zeigte ihm von fern die untergehende Sonne. Es brauchte nichts
mehr als diesen Anblick, um die Empfindung seiner widrigen Umstände zu
unterbrechen. Er überließ sich der Begeisterung, worin dieses
majestätische Schauspiel empfindliche Seelen zu setzen pflegt, ohne eine
lange Zeit sich seiner dringendsten Bedürfnisse zu erinnern. Endlich
weckte ihn doch das Rauschen einer Quelle, die nicht weit von ihm aus
einem Felsen hervor sprudelte, aus dem angenehmen Staunen, worin er
etliche Minuten sich selbst vergessen hatte; er stand auf, und schöpfte
mit der hohlen Hand von diesem Wasser, dessen fließenden Kristall, seiner
Einbildung nach, eine wohltätige Nymphe seinen Durst zu stillen, aus ihrem
Marmorkrug entgegen goß; und anstatt die von Cyprischem Wein sprudelnde
Becher der Athenischen Gastmähler zu vermissen, deuchte ihm, daß er
niemals angenehmer getrunken habe. Er legte sich hierauf wieder nieder,
entschlief unter dem sanftbetäubenden Gemurmel der Quelle, und träumte,
daß er seine geliebte Psyche wieder gefunden habe, deren Verlust das
einzige war, was ihm von Zeit zu Zeit einige Seufzer auspreßte.




ZWEITES KAPITEL

Etwas ganz Unerwartetes


Wenn es seine Richtigkeit hat, daß alle Dinge in der Welt in der
genauesten Beziehung auf einander stehen, so ist nicht minder gewiß, daß
diese Verbindung unter einzelnen Dingen oft ganz unmerklich ist; und daher
scheint es zu kommen, daß die Geschichte zuweilen viel seltsamere
Begebenheiten erzählt, als ein Romanen--Schreiber zu dichten wagen dürfte.
Dasjenige, was unserm Helden in dieser Nacht begegnete, gibt mir neue
Bekräftigung dieser Beobachtung ab. Er genoß noch der Süßigkeit des
Schlafs, den Homer für ein so großes Gut hält, daß er ihn auch den
Unsterblichen zueignet; als er durch ein lärmendes Getöse plötzlich
aufgeschreckt wurde. Er horchte gegen die Seite, woher es zu kommen
schiene, und glaubte in dem vermischten Getümmel ein seltsames Heulen und
Jauchzen zu unterscheiden, welches von den entgegenstehenden Felsen auf
eine fürchterliche Art widerhallte. Agathon, der nur im Schlaf erschreckt
werden konnte, beschloß diesem Getöse mit eben dem Mut entgegen zu gehen,
womit in spätern Zeiten der unbezwingbare Ritter von Mancha dem
nächtlichen Klappern der Walkmühlen Trotz bot. Er bestieg also den obern
Teil des Berges mit so vieler Eilfertigkeit als er konnte, und der Mond,
dessen voller Glanz die ganze Gegend weit umher aus den dämmernden
Schatten hob, begünstigte sein Unternehmen. Das Getümmel nahm immer zu,
je näher er dem Rücken des Berges kam; er unterschied itzt den Schall von
Trummeln und das Flüstern regelloser Flöten, und fing an zu erraten, was
dieser Lärm zu bedeuten haben möchte; als sich ihm plötzlich ein
Schauspiel darstellte, welches fähig scheinen könnte, den Weisen selbst,
dessen wir oben erwähnet haben, seiner eingebildeten Göttlichkeit
vergessen zu machen. Ein schwärmender Haufen von jungen Thracischen
Weibern war es, welche von der Orphischen Wut begeistert, sich in dieser
Nacht versammelt hatten, die unsinnigen Gebräuche zu begehen, die das
heidnische Altertum zum Andenken des berühmten Zuges des Bacchus aus
Indien eingesetzt hatte. Ohne Zweifel könnte eine ausschweifende
Einbildungskraft, oder der Griffel eines la Fage von einer solchen Szene
ein ziemlich verführerisches Gemälde machen; allein die Eindrücke die der
wirkliche Anblick auf unsern jungen Helden machte, waren nichts weniger
als von der reizenden Art. Das stürmisch fliegende Haar, die rollenden
Augen, die beschäumten Lippen und die aufgeschwollnen Muskeln, die wilden
Gebärden und die rasende Fröhlichkeit, mit der diese Unsinnigen in frechen
Stellungen, ihre mit zahmen Schlangen umwundnen Thyrsos schüttelten, ihre
Klapperbleche zusammen schlugen, oder abgebrochne Dithyramben mit
lallender Zunge stammelten; alle diese Ausbrüche einer fanatischen Wut,
die ihm nur desto schändlicher vorkam, weil sie den Aberglauben zur Quelle
hatte, machten seine Augen unempfindlich, und erweckten ihm einen Ekel vor
Reizungen, die mit der Schamhaftigkeit alle ihre Macht auf ihn verloren
hatten. Er wollte zurück fliehen, aber es war unmöglich, weil er in eben
dem Augenblick, da er sie erblickte, von ihnen bemerkt worden war. Der
unerwartete Anblick eines Jüngling, an einem Ort und bei einem Feste,
welches kein männliches Aug entweihen durfte, hemmte plötzlich den Lauf
ihrer lärmenden Fröhlichkeit, um alle ihre Aufmerksamkeit auf diese
Erscheinung zu wenden.

Hier können wir unsern Lesern einen Umstand nicht länger verhalten, der in
diese ganze Geschichte einen großen Einfluß hat. Agathon war von einer so
wunderbaren Schönheit, daß die Rubens und Girardons seiner Zeit, weil sie
die Hoffnung aufgaben, eine vollkommnere Gestalt zu erfinden, oder aus den
zerstreuten Schönheiten der Natur zusammen zu setzen, die seinige zum
Muster nahmen, wenn sie den Apollo oder Bacchus vorstellen wollten.
Niemals hatte ihn ein weibliches Aug erblickt, ohne die Schuld ihres
Geschlechts zu bezahlen, welches die Natur für die Schönheit so
empfindlich gemacht zu haben scheint, daß diese einzige Eigenschaft den
meisten unter ihnen die Abwesenheit aller übrigen verbirgt. Agathon hatte
ihr in diesem Augenblick noch mehr zu danken; sie rettete ihn von dem
Schicksal des Pentheus. Seine Schönheit setzte diese Mänaden in
Erstaunen. Ein Jüngling von einer solchen Gestalt, an einem solchen Ort,
zu einer solchen Zeit! Konnten sie ihn für etwas geringers halten, als
für den Bacchus selbst? In dem Taumel worin sich ihre Sinnen befanden,
war nichts natürlichers als dieser Gedanke; auch gab er ihrer Phantasie
auf einmal einen so feurigen Schwung, daß, da sie die Gestalt dieses
Gottes vor sich sahen, sie alles übrige hinzudichtete, was ihm zu einem
vollständigen Dionysus mangelte. Ihre bezauberten Augen stellten ihnen
die Silenen und die Ziegenfüßigen Faunen vor, die um ihn her schwärmten,
und Tyger und Leoparden die mit liebkosender Zunge seine Füße leckten;
Blumen, so deucht es sie, entsprangen unter seinen Fußsohlen, und Quellen
von Wein und Honig sprudelten von jedem seiner Tritte auf, und rannen in
schäumenden Bächen die Felsen hinab. Auf einmal erschallte der ganze
Berg, der Wald und die benachbarten Felsen von ihrem lauten "Evan, Evan!"
mit einem so entsetzlichen Getöse der Trummeln und Klapperbleche, daß
Agathon, bei dem das, was er in diesem Augenblick sah und hörte, alles
überstieg, was er jemals gesehen, gehört, gedichtet oder geträumt hatte,
von Entsetzen und Erstaunung gefesselt, wie eine Bildsäule stehen blieb,
indes, daß die entzückten Bacchantinnen gaukelnde Tänze um ihn her machten,
und durch tausend unsinnige Gebärden ihre Freude über die vermeinte
Gegenwart ihres Gottes ausdrückten.

Allein die unmäßigste Schwärmerei hat ihre Grenzen, und weicht endlich der
Obermacht der Sinnen. Zum Unglück für den Helden unsrer Geschichte kamen
diese Unsinnigen allmählich aus einer Entzückung zurück, worüber sich
vermutlich ihre Einbildungskraft gänzlich abgemattet hatte, und bemerkten
immer mehr menschliches an demjenigen, den seine ungewöhnliche Schönheit
in ihren trunknen Augen vergöttert hatte. Etliche, die das Bewußtsein
ihrer eignen stolz genug machte, die Ariadnen dieses neuen Bacchus zu sein,
näherten sich ihm, und setzten ihn durch die Art womit sie ihre
Empfindungen ausdrückten in eine desto größere Verlegenheit, je weniger er
geneigt war, ihre ungestümen Liebkosungen zu erwidern. Dem Ansehn nach
würde unter ihnen selbst ein grimmiger Streit entstanden sein, und Agathon
zuletzt das tragische Schicksal des Orpheus, der ehmals aus ähnlichen
Ursachen von den thracischen Mänaden zerrissen worden war, erfahren haben,
wenn nicht die Unsterblichen, die das Gewebe der menschlichen Zufälle
leiten, in eben dem Augenblick ein Mittel seiner Errettung herbeigebracht
hätten, da weder seine Stärke, noch seine Tugend ihn zu retten hinlänglich
war.




DRITTES KAPITEL

Unvermutete Unterbrechung des Bacchus-Festes


Eine Schar Cilicischer Seeräuber, welche frisches Wasser einzunehmen bei
nächtlicher Weile an dieser Küste geländet, hatten von fern das Getümmel
der Bacchantinnen gehört, und sogleich für einen Aufruf zu einer
ansehnlichen Beute aufgenommen. Sie erinnerten sich, daß die vornehmsten
Frauen dieser Gegend die geheimnisvollen Orgya um diese Zeit zu begehen
pflegten; und daß sie, wenn sie sich zu solchem Ende versammelten, in
ihrem schönsten Putz aufzuziehen pflegten, ob sie gleich vor Besteigung
des Berges sich dessen wieder entledigten, und alles bis zu ihrer
Wiederkunft von einer Anzahl Sklavinnen bewachen ließen. Die Hoffnung,
außer diesen Weibern, von denen sie die schönsten für die Asiatischen
Harems bestimmten, eine Menge von kostbaren Kleidern und Juwelen zu
erbeuten, schien ihnen wohl wert, sich etwas länger aufzuhalten. Sie
teilten sich also in zween Haufen, davon der eine sich derer bemächtigte,
welche die Kleider hüteten, indessen daß die übrigen den Berg bestiegen,
und mit großem Geschrei unter die Thracierinnen einstürmend, sich von
ihnen Meister machten, ehe sie Zeit oder Mut hatten, sich zur Wehr zu
setzen. Die Umstände waren allerdings so beschaffen, daß sie sich allein
mit den gewöhnlichen und anständigsten Waffen ihres Geschlechts
verteidigen konnten. Allein diese Cilicier waren allzusehr Seeräuber,
als daß sie auf die Tränen und Bitten, noch selbst auf die Reizungen
dieser Schönen einige Achtung gemacht hätten, welche doch in diesem
Augenblick, da Schrecken und Zagheit ihnen die Weiblichkeit (wenn es
erlaubt ist, dieses Wort einem großen Dichter abzuborgen) wiedergegeben
hatte, selbst dem sittsamen Agathon so verführerisch vorkamen, daß er vor
gut befand, seine nicht gerne gehorchende Augen an den Boden zu heften.
Allein die Räuber hatten itzt andre Sorgen, und waren nur darauf bedacht,
wie sie ihre Beute aufs schleunigste in Sicherheit bringen möchten. Und
so entging Agathon, für etliche nicht allzufeine Scherze über die
Gesellschaft, worin man ihn gefunden hatte, und für seine Freiheit, einer
Gefahr, aus der er seinen Gedanken nach sich nicht zu teuer loskaufen
konnte. Der Verlust der Freiheit schien ihn in den Umständen worin er war,
wenig zu bekümmern; und in der Tat, da er alles übrige verloren hatte,
was die Freiheit schätzbar macht, so hatte er wenig Ursache sich wegen
eines Verlusts zu kränken, der ihm wenigstens eine Veränderung im Unglück
versprach.




VIERTES KAPITEL

Agathon wird zu Schiffe gebracht


Nachdem die Cilicier mit ihrer gesamten Beute wieder zu Schiffe gegangen,
und die Teilung derselben mit größerer Eintracht, als womit die Vorsteher
einer kleinen Republik sich in die öffentlichen Einkünfte zu teilen
pflegen, geendiget hatten; brachten sie den Rest der Nacht mit einem
Schmause zu, bei welchem sie nicht vergaßen, sich wegen der mehr als
stoischen Unempfindlichkeit, die sie bei Eroberung der thracischen Schönen
bewiesen hatten, schadlos zu halten. Unterdessen aber, daß das ganze
Schiff beschäftiget war, das angefangne Bacchusfest zu vollenden, hatte
sich Agathon unbemerkt in einen Winkel zurück gezogen, wo er vor Müdigkeit
abermals einschlummerte, und den Traum gerne fortgesetzt hätte, aus
welchem ihn das "Evan Evan" der berauschten Mänaden geweckt hatte.




FÜNFTES KAPITEL

Eine Entdeckung


Die aufgehende Sonne, die von der rosenfingrichten Aurora angekündiget,
das jonische Meer mit ihren ersten Strahlen vergoldete, fand alle
diejenigen, mit dem Virgil zu reden, von Wein und Schlaf begraben, welche
die Nacht durch dem Bacchus und seiner Göttin Schwester geopfert hatten.
Nur Agathon, der gewohnt war mit der Morgenröte zu erwachen, wurde von den
ersten Strahlen geweckt, die in horizontalen Linien an seiner Stirne
hinschlüpften. Indem er die Augen aufschlug, sah er einen jungen Menschen
in einer Sklaven-Kleidung vor sich stehen, der ihn mit großer
Aufmerksamkeit betrachtete. So schön als Agathon war, so schien er doch
von diesem liebenswürdigen Jüngling an Feinheit der Gestalt und Farbe
übertroffen zu werden; in der Tat hatte er in seiner Gesichtsbildung und
in seiner ganzen Figur etwas so jungfräuliches, daß er, gleich dem schönen
Liebling des Horaz, in weiblicher Kleidung unter einer Schar von Mädchen
gemischt, gar leicht das Auge des schärfsten Kenners betrogen haben würde.
Agathon erwiderte den Anblick dieses jungen Sklaven mit einer
Aufmerksamkeit, in welcher ein angenehmes Erstaunen nach und nach sich bis
zur Entzückung erhob. Eben diese Bewegungen enthüllten sich auch in dem
anmutigen Gesichte des jungen Sklaven; ihre Seelen erkannten einander in
eben demselben Augenblicke, und schienen durch ihre Blicke schon in
einander zu fließen, eh ihre Arme sich umfangen, und die von Entzückung
bebende Lippen "Psyche--Agathon", ausrufen konnten. Sie schwiegen eine
lange Zeit; dasjenige, was sie empfanden, war über allen Ausdruck; und
wozu bedurften sie der Worte? Der Gebrauch der Sprache hört auf, wenn
sich die Seelen einander unmittelbar mitteilen, sich unmittelbar anschauen
und berühren, und in einem Augenblick mehr empfinden, als die Zunge der
Musen selbst in ganzen Jahren auszusprechen vermöchte. Die Sonne würde
vielleicht unbemerkt über ihrem Haupt hinweg, und wieder in den Ozean
hinab gestiegen sein, ohne daß sie in dem fortdaurenden Augenblick der
Entzückung den Wechsel der Stunden bemerkt hätten; wenn nicht Agathon dem
es allerdings zukam hierin der erste zu sein, sich mit sanfter Gewalt aus
den Armen seiner Psyche losgewunden hätte, um von ihr zu erfahren, durch
was für einen Zufall sie in die Gewalt der Seeräuber gekommen sei. "Die
Zeit ist kostbar, liebste Psyche" sagte er, "wir müssen uns der
Augenblicke bemächtigen, da diese Barbaren, von der Gewalt ihres Gottes
bezwungen, zu Boden liegen. Erzähle mir, durch was für einen Zufall
wurdest du von meiner Seite gerissen, ohne daß es mir möglich war zu
erfahren, wie oder wohin? Und wie finde ich dich itzt in diesem
Sklavenkleid, und in der Gewalt dieser Seeräuber?"




SECHSTES KAPITEL

Erzählung der Psyche


"Du erinnerst dich", antwortete ihm Psyche, "jener unglücklichen Stunde,
da die eifersüchtige Pythia unsre Liebe, so geheim wir sie zu halten
vermeinten, entdeckte. Nichts war ihrer Wut zu vergleichen, und es fehlte
nur noch, daß ihre Rache nicht mein Leben zum Opfer verlangte; denn sie
ließ mich einige Tage alles erfahren, was verschmähte Liebe erfinden kann,
eine glückliche Nebenbuhlerin zu quälen. Ob sie es nun gleich in ihrer
Gewalt hatte, mich deinen Augen gänzlich zu entziehen, so hielt sie sich
doch niemals sicher, so lang ich zu Delphi sein würde. Sie machte bald
ein Mittel ausfündig, sich meiner zu entledigen, ohne einigen Argwohn zu
erwecken; sie schenkte mich einer Verwandten, die sie zu Syracus hatte,
und weil sie mich an diesem Orte weit genug von dir entfernt hielt, säumte
sie nicht, mich in der größten Stille nach Corinth, und von da nach
Sicilien bringen zu lassen. Die Törin! kannte sie die Macht der Liebe
nicht, die Agathon einflößt? Wußte sie nicht, daß keine Scheidung der
Leiber durch Länder und Meere meine Seele verhindern könne, aus einer Zone
in die andre zu fliegen, und gleich einem liebenden Schatten um dich her
zu schweben? Oder hoffte sie, reizender in deinen Augen zu werden, wenn
du mich nicht mehr neben ihr sehen würdest? Wie wenig kannte sie unsre
Liebe! Nein, wahre Liebe kann so wenig eifersüchtig sein, als sich selbst
fühlende Stärke zittern kann.--Ich verließ Delphi mit zerrißnem Herzen.
Als ich den letzten Blick auf diese bezauberten Haine heftete, wo deine
Liebe mir ein neues Wesen gab, eine neue Würklichkeit, gegen die mein
voriges Leben eine ekelhafte Abwechslung von einförmigen Tagen und Nächten,
ein ungefühltes Pflanzen-Leben war, als ich diese geliebte Gegend endlich
ganz aus den Augen verlor.--Nein, Agathon, ich kann es nicht beschreiben,
du kannst es empfinden, du allein--Als ich mich selbst wieder fühlte,
erleichtert ein Strom von Tränen mein gepreßtes Herz. Es war eine Art von
Wollust in diesen Tränen, ich ließ ihnen freien Lauf, ohne mich zu
bekümmern, daß sie gesehen würden. Die Welt schien mir ein leerer Raum,
und alle Gegenstände um mich her Träume und Schatten; du und ich waren
allein; ich sah, ich hörte nur dich, ich lag an deiner Brust, ich legte
meinen Arm um deinen Hals, ich zeigte dir meine Seele in meinen Augen; ich
führte dich in die heiligen Schatten, wo du mich die Gegenwart der
Unsterblichen fühlen lehrtest; ich lag zu deinen Füßen, und meine an
deinen Lippen hangende Seele glaubte den Gesang der Musen zu hören, wenn
du sprächest; wir wandelten Hand in Hand beim sanften Mondschein durch
elysische Gegenden, oder setzten uns unter die Blumen, stillschweigend,
indem unsre Seelen, in ihrer eignen geistigen Sprache sich einander
enthüllten, und lauter Licht und Wonne um sich her sahen, und unsterblich
zu sein wünschten, um sich ewig lieben zu können. Unter diesen
Erinnerungen, deren Lebhaftigkeit alle äußre Empfindungen verdunkelte,
beruhigte sich mein Herz allgemach. Ich, die sich selbst nur für einen
Teil deines Wesens hielt, konnte nicht glauben, daß wir immer getrennt
bleiben würden. Diese Hoffnung machte nun mein Leben aus, und bemächtigte
sich meiner so sehr, daß ich wieder heiter wurde. Denn ich zweifelte
nicht, ich wußte es, daß du nicht aufhören könntest, mich zu lieben. Ich
überließ dich der glühenden Leidenschaft einer mächtigen und reizenden
Nebenbuhlerin, ohne sie einen Augenblick zu fürchten. Ich wußte, daß
wenn sie es auch so weit bringen könnte, deine Sinnen zu verführen, sie
doch unfähig sei, dir eine Liebe einzuflößen wie die unsrige, und daß du
dich bald wieder nach derjenigen sehnen würdest, die dich allein glücklich
machen, weil sie allein dich lieben kann, wie du geliebt zu sein wünschest.
Unter tausend solchen Gedanken kam ich endlich zu Syracus an. Die
vorsichtige Priesterin hatte Anstalt gemacht, daß ich nirgend Mittel
finden konnte, dir von meinem Aufenthalt Nachricht zu geben. Meine neue
Gebieterin war von der guten Art von Geschöpfen, die gemacht sind sich
selbst zu gefallen, und sich alles gefallen zu lassen. Ich wurde zu der
Ehre bestimmt, den Aufputz ihres schönen Kopfes zu besorgen; und die Art,
wie ich dieses Amt verwaltete, erwarb mir ihre Gunst so sehr, daß sie mich
beinahe so viel liebte, als ihren Schoßhund. In diesem Zustand hielt ich
mich für so glücklich, als ich es ohne deine Gegenwart in einem jeden
andern hätte sein können, bis die Ankunft des Sohnes meiner Gebieterin die
Szene veränderte."




SIEBENTES KAPITEL

Fortsetzung der Erzählung der Psyche


"Narcissus, so hieß dieser junge Herr, war von seiner Mutter nach Athen
geschickt worden, die Weisen daselbst zu hören, und die feinen Sitten der
Athenienser an sich zu nehmen. Allein er hatte keine Zeit gefunden, weder
das eine noch das andre zu tun. Einige junge Leute, die er seine Freunde
nannte, machten jeden Tag eine neue Lustbarkeit ausfündig, die ihn
verhinderte, die schwermütigen Spaziergänge der Philosophen zu besuchen.
überdas hatten ihm die artigsten Sträußermädchen von Athen gesagt, daß er
ein sehr liebenswürdiger junger Herr wäre; er hatte es ihnen geglaubt, und
sich also keine Mühe gegeben, erst zu werden, was er nach einem so
vollgültigen Zeugnis, schon war. Er hatte sich also mit nichts
beschäftiget, als seine Person in das gehörige Licht zu setzen; niemand in
Athen konnte sich rühmen lächerlicher geputzt zu sein, weißere Zähne und
sanftere Hände zu haben als Narcissus. Er war der erste in der Kunst,
sich in einem Augenblick zweimal auf einem Fuß herum zu drehen, einen
Fächer aufzuheben, oder ein Blumensträußchen an die Stirne einer Dame zu
stecken. Bei solchen Vorzügen glaubte er einen natürlichen Beruf zu haben,
sich dem weiblichen Geschlecht anzubieten. Die Leichtigkeit womit seine
Verdienste über die zärtlichen Herzen der Sträußermädchen gesiegt hatten,
machte ihm Mut sich an die Kammermädchen zu wagen, und von diesen Nymphen
erhob er sich endlich zu den Göttinnen selbst. Ohne sich zu bekümmern,
wie sein Herz aufgenommen wurde, hatte er sich angewöhnt zu glauben, daß
er unwiderstehlich sei; und wenn er nicht allemal Proben davon erhielt, so
machte er sich dafür schadlos, indem er sich der Gunstbezeugungen am
meisten rühmte, die er nicht genossen hatte.--Wunderst du dich, Agathon,
woher ich so wohl von ihm unterrichtet bin? Von ihm selbst. Was meine
Augen nicht an ihm entdeckten, das sagte mir sein Mund. Denn er selbst
war der unerschöpfliche Inhalt seiner Gespräche, so wie der einzige
Gegenstand seiner Bewunderung. Ein Liebhaber von dieser Art sollte dem
Ansehen nach wenig zu bedeuten haben. Eine Zeit lang belustigte mich
seine Torheit; allein er wurde ungestüm. Er fand es unanständig, daß eine
Aufwärterin seiner Mutter unempfindlich gegen ein Herz bleiben sollte, um
welches die Sträußer-Mädchen zu Athen einander beneidet hatten. Ich ward
endlich genötiget, meine Zuflucht zu seiner Mutter zu nehmen. Allein eben
diese leutselige Organisation, welche sie gütig gegen sich selbst, gegen
ihr Schoßhündchen und gegen alle Welt machte, machte sie auch gütig gegen
die Torheiten ihres Sohnes. Sie schien es so gar übel zu nehmen, daß ich
von den Vorzügen eines so liebreizenden jungen Herrn nicht stärker gerührt
würde. Die Ungeduld über die Anfälle, denen ich beständig ausgesetzt war,
gab mir tausendmal den Gedanken ein, mich heimlich hinweg zu stehlen.
Allein ich hatte keine Nachricht von dir; ein Reisender von Delphi hatte
uns zwar gesagt, daß du daselbst unsichtbar geworden, aber niemand konnte
sagen wo du seiest. Diese Ungewißheit stürzte mich in eine Unruhe, die
meiner Gesundheit nachteilig zu werden anfing; als eben dieser Narcissus,
dessen lächerliche Liebe zu sich selbst mich so lange gequält hatte, mir
ohne seine Absicht das Leben wieder gab, indem er erzählte, daß ein
gewisser Agathon von Athen, nach einem Sieg über die aufrührischen
Einwohner von Euböa, diese Insel seiner Republik wieder unterworfen habe.
Die Umstände die er von diesem Agathon hinzu fügte, ließen mich nicht
zweifeln, daß du es seiest. Eine Sklavin, die mir gewogen war, beförderte
meine Flucht. Sie hatte einen Liebhaber, der sie beredet hatte, sich von
ihm entführen zu lassen. Ich half ihr, dieses Vorhaben auszuführen und
begleitete sie; der junge Sicilianer verschaffte mir zur Dankbarkeit
dieses Sklavenkleid, und brachte mich auf ein Schiff, welches nach Athen
bestimmt war. Ich wurde für einen Sklaven ausgegeben, der seinen Herrn zu
Athen suchte, und überließ mich zum zweitenmal den Wellen, aber mit ganz
andern Empfindungen als das erstemal, da sie nun anstatt mich von dir zu
entfernen, uns wieder zusammen bringen sollten."




ACHTES KAPITEL

Psyche beschließt ihre Erzählung


"Unsre Fahrt war einige Tage glücklich, außer daß ein Wind der uns
westwärts trieb, unsre Reise ungewöhnlich verlängerte. Allein am Abend
des sechsten Tages erhob sich ein heftiger Sturm, der uns in wenigen
Stunden wieder einen großen Weg zurück machen ließ; unsre Schiffer waren
endlich so glücklich, eine von den unbewohnten Cycladen zu erreichen, wo
wir uns vor dem Sturm in Sicherheit setzten. Wir fanden in eben der Bucht
wohin wir uns geflüchtet hatten, ein anders Schiff liegen, worin sich eben
diese Cilicier befanden, denen wir itzt zugehören. Sie hatten eine
griechische Flagge aufgesteckt, sie grüßten uns, sie kamen zu uns herüber,
und weil sie unsre Sprache redeten, so hatten sie keine Mühe uns so viele
Märchen vorzuschwatzen, als sie nötig fanden, uns sicher zu machen. Nach
und nach wurde unser Volk vertraulich mit ihnen; sie brachten etliche
große Krüge mit Cyprischem Weine, wodurch sie in wenig Stunden alle unsre
Leute wehrlos machten. Sie bemächtigten sich hierauf unsers ganzen
Schiffes, und begaben sich, so bald sich der Sturm in etwas gelegt hatte,
wieder in die See. Bei der Teilung wurde ich einmütig dem Hauptmann der
Räuber zuerkannt. Man bewunderte meine Gestalt ohne mein Geschlecht zu
mutmaßen. Allein diese Verborgenheit half mir nicht so viel, als ich
gehofft hatte. Der Cilicier, den ich für meinen Herrn erkennen mußte,
verzog nicht lange, mich mit einer ekelhaften Leidenschaft zu quälen. Er
nannte mich Ganymedes, und schwur bei allen Tritonen und Nereiden, daß ich
ihm sein müßte, was dieser trojanische Prinz dem Jupiter gewesen sei. Wie
er sah, daß seine Schmeicheleien ohne Würkung waren, nötigte er mich
zuletzt, ihm zu zeigen, daß ich mein Leben gegen meine Ehre für nichts
halte. Dieses verschaffte mir bisher einige Ruhe, und ich fing an, auf
ein Mittel meiner Befreiung zu denken. Ich gab dem Räuber zu verstehen,
daß ich von einem ganz andern Stande sei, als mein Sklavenmäßiger Anzug zu
erkennen gäbe, und bat ihn aufs inständigste mich nach Athen zu führen, wo
er für meine Erledigung erhalten würde, was er nur fodern wollte. Allein
über diesen Punkt war er unerbittlich, und jeder Tag entfernte uns weiter
von diesem geliebten Athen, welches, wie ich glaubte, meinen Agathon in
sich hielt. Wie wenig dachte ich, daß eben diese Entfernung, über die ich
so untröstbar war, uns wieder zusammen bringen würde? Aber, ach! in was
für Umständen finden wir uns wieder! Beide der Freiheit beraubt, ohne
Freunde, ohne Hülfe, ohne Hoffnung befreit zu werden; verurteilt
ungesitteten Barbaren dienstbar zu sein. Die unsinnige Leidenschaft
meines Herrn wird uns so gar des einzigen Vergnügens berauben, das unsern
Zustand erleichtern könnte. Seitdem ihm meine Entschlossenheit die
Hoffnung benommen seinen Endzweck zu erreichen, scheint sich seine Liebe
in eine wütende Eifersucht verwandelt zu haben, die sich bemüht, dasjenige
was man selbst nicht genießen kann, wenigstens keinem andern zu Teil
werden zu lassen. Der Barbar wird dir keinen Umgang mit mir verstatten,
da er mir kaum sichtbar zu sein erlaubt. Doch die ungewisse Zukunft soll
mir nicht einen Augenblick von der gegenwärtigen Wonne rauben. Ich sehe
dich, Agathon, und bin glücklich. Wie begierig hätte ich vor wenigen
Stunden einen Augenblick wie diesen mit meinem Leben erkauft!" Indem sie
dieses sagte, umarmte sie den glücklichen Agathon mit einer so rührenden
Zärtlichkeit, daß die Entzückung, die ihre Herzen einander mitteilten,
eine zweite sprachlose Stille hervorbrachte; und wie sollten wir
beschreiben können, was sie empfanden, da der Mund der Liebe selbst nicht
beredt genug war, es auszudrucken?




NEUNTES KAPITEL

Wie Psyche und Agathon wieder getrennt werden


Nachdem unsre Liebhaber aus ihrer Entzückung zurückgekommen waren,
verlangte Psyche von Agathon eben dieselbe Gefälligkeit, die sie durch
Erzählung ihrer Begebenheiten für seine Neugierde gehabt hatte. Er
meldete ihr also, wiewohl ihm die Zeit nicht erlaubte umständlich zu sein,
auf was Weise er von Delphi entflohen, wie er mit einem Athenienser
bekannt geworden, und wie sich entdecket habe, daß dieser Athenienser sein
Vater sei; wie er durch einen Zufall in die öffentlichen Angelegenheiten
verwickelt und durch seine Beredsamkeit dem Volke angenehm geworden; die
Dienste, die er der Republik geleistet; durch was für Mittel seine Neider
das Volk wider ihn aufgebracht, und wie er vor wenig Tagen mit Verlust
aller seiner väterlichen Güter und Ansprüche lebenslänglich aus Athen
verbannt worden; wie er den Entschluß gefaßt, eine Reise in die
Morgenländer vorzunehmen, und durch was für einen Zufall er in die Hände
der Cilicier geraten. Sie fingen nun auch an, sich über die Mittel ihrer
Befreiung zu beratschlagen; allein die Bewegungen, welche die allmählich
erwachenden Räuber machten, nötigten Psyche sich aufs eilfertigste zu
verbergen, um einem Verdacht zuvorzukommen, wovon der Schatten genug war,
ihren Geliebten das Leben zu kosten. Sie beklagten itzt bei sich selbst,
daß sie, nach dem Beispiel der Liebhaber in den Romanen, eine so günstige
Zeit mit unnötigen Erzählungen verloren, da sie doch voraus sehen konnten,
daß ihnen künftig wenig Gelegenheit würde gegeben werden, sich zu
besprechen. Allein was sie hierüber hätte trösten können, war, daß alle
ihre Beratschlagungen und Erfindungen vergeblich gewesen wären. Denn an
eben diesem Morgen erhielt der Hauptmann Nachricht von einem reichbeladnen
Schiffe, welches im Begriff sei, von Lesbos nach Corinth abzugehen, und
welches, nach den Umständen die der Bericht angab, unterwegs aufgefangen
werden könnte. Diese Zeitung veranlaßte eine geheime Beratschlagung unter
den Häuptern der Räuber, wovon der Ausschlag war, daß Agathon mit den
gefangnen Thracierinnen und einigen andern jungen Sklaven unter einer
Bedeckung in eine Barke gesetzt wurde, um ungesäumt nach Smirna geführt
und daselbst verkauft zu werden; indes, daß die Galeere mit dem größten
Teil der Seeräuber sich fertig machte, der reichen Beute, die sie schon in
Gedanken verschlangen, entgegen zu gehen. In diesem Augenblick verlor
Agathon die Gelassenheit, mit der er bisher alle Stürme des widrigen
Glücks ausgehalten hatte. Der Gedanke, von seiner Psyche wieder getrennt
zu werden, setzte ihn außer sich selbst. Er warf sich zu den Füßen des
Ciliciers, er schwur ihm, daß der verkleidete Ganymedes sein Bruder sei;
er bot sich selbst zu seinem Sklaven an, er flehte, er weinte.--Aber
umsonst. Der Seeräuber hatte die Natur des Elements, welches er bewohnte,
und die Syrenen selbst hätten ihn nicht bereden können, seinen Entschluß
zu ändern. Agathon erhielt nicht einmal die Erlaubnis, von seinem
geliebten Bruder Abschied zu nehmen; die Lebhaftigkeit, die er bei diesem
Anlaß gezeigt, hatte ihn dem Hauptmann verdächtig gemacht. Er wurde also,
von Schmerz und Verzweiflung betäubt, in die Barke getragen, und befand
sich schon eine geraume Zeit außer dem Gesichtskreis seiner Psyche, eh er
wieder erwachte, um den ganzen Umfang seines Elends zu fühlen.




ZEHNTES KAPITEL

Ein Selbstgespräch


Da wir uns zum unverbrüchlichen Gesetze gemacht haben, in dieser
Geschichte alles sorgfältig zu vermeiden, was gegen die historische
Wahrheit derselben einigen gerechten Verdacht erwecken könnte; so würden
wir uns ein Bedenken gemacht haben, das Selbstgespräch, welches wir hier
in unserm Manuskript vor uns finden, mitzuteilen, wenn nicht der
ungenannte Verfasser die Vorsicht gebraucht hätte uns zu melden, daß seine
Erzählung sich in den meisten Umständen auf eine Art von Tagebuch gründe,
welches (sichern Anzeigen nach) von der eignen Hand des Agathon sei, und
wovon er durch einen Freund zu Crotona eine Abschrift erhalten. Dieser
Umstand macht begreiflich, wie der Geschichtschreiber habe wissen können,
was Agathon bei dieser und andern Gelegenheiten mit sich selbst gesprochen;
und schützet uns gegen die Einwürfe, die man gegen die Selbstgespräche
machen kann, worin die Geschichtschreiber den Poeten so gerne nachzuahmen
pflegen, ohne sich, wie sie, auf die Eingebung der Musen berufen zu können.


Unsre Urkunde meldet also, nachdem die erste Wut des Schmerzens, welche
allezeit stumm und Gedankenlos zu sein pflegt, sich geleget, habe Agathon
sich umgesehen; und da er von allen Seiten nichts als Luft und Wasser um
sich her erblickt, habe er, seiner Gewohnheit nach, also mit sich selbst
zu philosophieren angefangen:

"War es ein Traum, was mir begegnet ist, oder sah ich sie würklich, hört'
ich würklich den rührenden Akzent ihrer süßen Stimme, und umfingen meine
Arme keinen Schatten? Wenn es mehr als ein Traum war, warum ist mir von
einem Gegenstand, der alle andern aus meiner Seele auslöschte nichts als
die Erinnerung übrig? Wenn Ordnung und Zusammenhang die Kennzeichen der
Wahrheit sind, o! wie ähnlich dem ungefähren Spiel der träumenden
Phantasie sind die Zufälle meines ganzen Lebens!--Von Kindheit an unter
den heiligen Lorbeern des Delphischen Gottes erzogen, schmeichle ich mir
unter seinem Schutz, in Beschauung der Wahrheit und im geheimen Umgang mit
den Unsterblichen, ein stilles und sorgenfreies Leben zuzubringen. Tage
voll Unschuld, einer dem andern gleich, fließen in ruhiger Stille, wie
Augenblicke vorbei, und ich werde unvermerkt ein Jüngling. Eine
Priesterin, deren Seele eine Wohnung der Götter sein soll, wie ihre Zunge
das Werkzeug ihrer Aussprüche, vergißt ihre Gelübde, und bemüht sich meine
unerfahrne Jugend zu Befriedigung ihrer Begierde zu mißbrauchen. Ihre
Leidenschaft beraubt mich derjenigen, die ich liebe; ihre Nachstellungen
treiben mich endlich aus dem geheiligten Schutzort, wo ich, seit dem ich
mich selbst empfand, von Bildern der Götter und Helden umgeben, mich
einzig beschäftigt hatte, ihnen ähnlich zu werden. In eine unbekannte
Welt ausgestoßen, finde ich unvermutet einen Vater und ein Vaterland, die
ich nicht kannte. Ein schneller Wechsel von Umständen setzt mich eben so
unvermutet in den Besitz des größten Ansehens in Athen. Das blinde
Zutrauen eines Volkes, das in seiner Gunst so wenig Maß hält als in seinem
Unwillen, nötigt mir die Anführung seines Kriegsheers auf; ein wunderbares
Glück kömmt allen meinen Unternehmungen entgegen, und führt meine
Anschläge aus; ich kehre siegreich zurück. Welch ein Triumph! Welch ein
Zujauchzen! Welche Vergötterung! Und wofür? Für Taten, an denen ich den
wenigsten Anteil hatte. Aber kaum schimmert meine Bildsäule zwischen den
Bildern des Cecrops und Theseus, so reißt mich eben dieser Pöbel, der vor
wenigen Tagen bereit war, mir Altäre aufzurichten, mit ungestümer Wut zum
Gerichtsplatz hin. Die Mißgunst derer, die das übermaß meines Glücks
beleidigte, hat schon alle Gemüter wider mich eingenommen, und alle Ohren
gegen meine Verteidigung verstopft; Handlungen, worüber mein Herz mir
Beifall gibt, werden auf den Lippen meiner Ankläger zu Verbrechen, mein
Verdammungs-Urteil wird ausgesprochen. Von allen verlassen, die sich
meine Freunde genannt hatten, und kurz zuvor die eifrigsten gewesen waren,
neue Ehrenbezeugungen für mich zu erfinden, fliehe ich aus Athen, mit
leichterm Herzen, als womit ich vor wenigen Wochen, unter dem Zujauchzen
einer unzählbaren Menge, durch ihre Tore eingeführt wurde; und entschließe
mich den Erdboden zu durchwandern, ob ich einen Ort finden möchte, wo die
Tugend, von auswärtigen Beleidigungen sicher, ihrer eigentümlichen
Glückseligkeit genießen könnte, ohne sich aus der Gesellschaft der
Menschen zu verbannen. Ich nahm den Weg nach Asien, um an den Ufern des
Oxus die Quellen zu besuchen, aus denen die Geheimnisse des Orphischen
Gottesdiensts zu uns geflossen sind. Ein Zufall führt mich unter einen
Schwarm rasender Bachantinnen, und ich entrinne ihrer verliebten Wut bloß
dadurch, daß ich in die Hände seeräuberischer Barbaren falle. In diesem
Augenblicke, da mir von allem was man verlieren kann nur noch das Leben
übrig ist, finde ich meine Psyche wieder; aber kaum fange ich an meinen
Sinnen zu glauben, daß sie es sei, die ich in meinen Armen umschlossen
halte, so verschwindet sie wieder, und ich finde mich auf diesem Schiffe,
um zu Smyrna als ein Sklave verkauft zu werden--Wie ähnlich ist alles
dieses einem Traum, wo die schwärmende Phantasie, ohne Ordnung, ohne
Wahrscheinlichkeit, ohne Zeit oder Ort in Betracht zu ziehen, die betäubte
Seele von einem Abenteur zu dem andern, von der Krone zum Bettlers-Mantel,
von der Wonne zur Verzweiflung, vom Tartarus ins Elysium fortreißt?--Und
ist denn das Leben ein Traum, ein bloßer Traum, so eitel, so unwesentlich,
so unbedeutend als ein Traum? Ein unbeständiges Spiel des blinden Zufalls,
oder unsichtbarer Geister, die eine grausame Belustigung darin finden,
uns zum Scherz bald glücklich bald unglücklich zu machen? Oder, ist es
eben diese allgemeine Seele der Welt, deren Dasein die geheimnisvolle
Majestät der Natur ankündiget; ist es dieser allesbelebende Geist, der die
menschlichen Sachen anordnet; warum herrschet in der moralischen Welt
nicht eben diese unveränderliche Ordnung und Zusammenstimmung, wodurch die
Elemente die Jahres--und Tages-Zeiten, die Gestirne und die Kreise des
Himmels in ihrem gleichförmigen Lauf erhalten werden? Warum leidet der
Unschuldige? Warum sieget der Betrüger? Warum verfolgt ein unerbittliches
Schicksal die Tugendhaften? Sind unsre Seelen den Unsterblichen verwandt,
sind sie Kinder des Himmels; warum verkennt der Himmel sein Geschlecht,
und tritt auf die Seite seiner Feinde? Oder hat er uns die Sorge für uns
selbst gänzlich überlassen, warum sind wir keinen Augenblick unsers
Zustandes Meister? Warum vernichtet bald Notwendigkeit, bald Zufall, die
weisesten Entwürfe? -"

Hier hielt Agathon eine Zeitlang inne; sein in Zweifeln verwickelter Geist
arbeitete sich loszuwinden, bis ein neuer Blick auf die majestätische
Natur die ihn umgab, eine andre Reihe von Vorstellungen in ihm entwickelte.
--"Was sind", fuhr er mit sich selbst fort, "meine Zweifel anders, als
Eingebungen der eigennützigen Leidenschaft? Wer war diesen Morgen
glücklicher als ich? Alles war Wollust und Wonne um mich her. Hat sich
die Natur binnen dieser Zeit verändert, oder ist sie minder der Schauplatz
einer grenzenlosen Vollkommenheit, weil Agathon ein Sklave, und von Psyche
getrennet ist? Schäme dich, Kleinmütiger, deiner trübsinnigen Zweifel,
und deiner unmännlichen Klagen! Wie kannst du Verlust nennen, dessen
Besitz kein Gut war? Ist es ein übel, deines Ansehens, deines Vermögens,
deines Vaterlandes beraubt zu sein? Alles dessen beraubt warst du in
Delphi glücklich, und vermißtest es nicht. Und warum nennest du Dinge
dein, die nicht zu dir selbst gehören, die der Zufall gibt und nimmt, ohne
daß es in deiner Willkür steht sie zu erlangen oder zu erhalten? Wie
ruhig, wie heiter und glücklich floß mein Leben in Delphi hin, ehe ich die
Welt, ihre Geschäfte, ihre Sorgen, ihre Freuden und ihre Abwechselungen
kannte; eh ich genötiget war, mit den Leidenschaften andrer Menschen, oder
mit meinen eigenen zu kämpfen, mich selbst und den Genuß meines Daseins
einem undankbaren Volke aufzuopfern, und unter der vergeblichen Bemühung,
Toren oder Lasterhafte glücklich zu machen, selbst unglücklich zu sein!
--Meine eigene Erfahrung widerlegt die ungerechten Zweifel des
Mißvergnügens am besten. Es waren Augenblicke, Tage, lange Reihen von
Tagen, da ich glücklich war, glücklich in den frohen Stunden, da meine
Seele, vom Anblick der Natur begeistert, in tiefsinnigen Betrachtungen und
süßen Ahnungen, wie in den bezauberten Gärten der Hesperiden irrte;
glücklich, wenn mein befriedigtes Herz in den Armen der Liebe, aller
Bedürfnisse, aller Wünsche vergaß, und nun zu verstehen glaubte, was die
Wonne der Götter sei; glücklicher, wenn in Augenblicken, deren Erinnerung
den bittersten Schmerz zu versüßen genug ist, mein Geist in der großen
Betrachtung des Ewigen und Unbegrenzten sich verlor--Ja du bist, alles
beseelende, alles regierende Güte--ich sah, ich fühlte dich! Ich empfand
die Schönheit der Tugend, die dir ähnlich macht; ich genoß die
Glückseligkeit, welche Tagen die Schnelligkeit der Augenblicke, und
Augenblicken den Wert von Jahrhunderten gibt. Die Macht der Empfindung
zerstreut meine Zweifel; die Erinnerung der genossenen Glückseligkeit
heilet den gegenwärtigen Schmerz, und verspricht eine bessere Zukunft.
Alle diese allgemeine Quellen der Freude, woraus alle Wesen schöpfen,
fließen, wie ehmals, um mich her; meine Seele ist noch eben dieselbige,
wie die Natur, die mich umgibt--O Ruhe meines Delphischen Lebens, und du,
meine Psyche! Dich allein, von allem, was außer mir ist, nenne ich mein,
weil du die wehrtere Hälfte meines Wesens bist--Wenn ihr auf ewig verloren
wäret, dann würde meine untröstbare Seele nichts auf Erde finden, das ihr
die Liebe zum Leben wieder geben könnte. Aber ich besaß beide, ohne sie
mir selbst gegeben zu haben, und die wohltätige Macht, die sie gab, kann
sie wiedergeben. Teure Hoffnung, du bist schon ein Anfang der
Glückseligkeit, die du versprichst! Es wäre zugleich gottlos und töricht,
sich einem Kummer zu überlassen, der den Himmel beleidigt, und uns selbst
der Kräfte beraubt, dem Unglück zu widerstehen, und der Mittel, wieder
glücklich zu werden. Komm denn, du süße Hoffnung einer bessern Zukunft,
und feßle meine Seele mit deinen schmeichelnden Bezauberungen! Ruhe und
Psyche--Dieses allein, ihr Götter, so möget ihr Lorbeer-Kränze und Schätze
geben, wem ihr wollt!"




EILFTES KAPITEL

Agathon kömmt zu Smyrna an, und wird verkauft


Das Wetter war unsern Seefahrern so günstig, daß Agathon gute Muße hatte,
seinen Betrachtungen so lange nachzuhängen, als er wollte; zumal da seine
Reise von keinem der 5 Umstände begleitet war, womit eine poetische
Seefahrt ausgeschmückt zu sein pflegt. Denn man sahe da weder Tritonen,
die aus krummen Ammons-Hörnern bliesen, noch Nereiden, die auf Delphinen,
mit Blumen-Kränzen gezäumet, über den Wellen daherritten; noch Syrenen,
die mit halbem Leib aus dem Wasser hervorragend, die Augen durch ihre
Schönheit, und das Ohr durch die Süßigkeit ihrer Stimme bezaubert hätten.
Die Winde selbst waren etliche Tage lang so zahm, als ob sie es mit
einander abgeredet hätten, uns keine Gelegenheit zu irgend einer schönen
Beschreibung eines Sturms oder eines Schiffbruchs zu geben; kurz, die
Reise ging so glücklich von statten, daß die Barke am Abend des dritten
Tages in den Hafen von Smyrna einlief; wo die Räuber, nunmehr unter dem
Schutz des großen Königs gesichert, sich nicht säumten, ihre Gefangenen
ans Land zu setzen, in der Hoffnung, auf dem Sklaven-Markte keinen
geringen Vorteil aus ihnen zu ziehen. Ihre erste Sorge war, sie in eines
der öffentlichen Bäder zu führen, wo man nichts vergaß, was dazu dienen
konnte, sie den folgenden Tag verkäuflicher zu machen. Agathon war noch
zu sehr von allem demjenigen, was mit ihm vorgegangen war, eingenommen,
als daß er auf das gegenwärtige aufmerksam sein konnte. Er wurde gebadet,
abgerieben, mit Salben und wohlriechenden Wassern begossen, mit einem
Sklaven-Kleid von vielfarbichter Seide angetan, mit allem was seine
Gestalt erheben konnte, ausgeschmückt, und von allen, die ihn sahen,
bewundert; ohne daß ihn etwas aus der vollkommnen Unempfindlichkeit
erwecken konnte, welche in gewissen Umständen eine Folge der übermäßigen
Empfindlichkeit ist. In dasjenige vertieft, was in seiner Seele vorging,
schien er, weder zu sehen, noch zu hören; weil er nichts sah, oder hörte,
was er wünschte; und nichts als der Anblick, der sich ihm auf dem
Sklaven-Markte darstellte, war vermögend, ihn aus dieser wachenden
Träumerei aufzurütteln. Diese Szene hatte zwar das Abscheuliche nicht,
das ein Sklaven-Markt zu Barbados so gar für einen Europäer haben könnte,
dem die Vorurteile der gesitteten Völker noch einige überbleibsel des
angebornen menschlichen Gefühls gelassen hätten; allein sie hatte doch
genug, um eine Seele zu empören, die sich gewöhnt hatte, in den Menschen
mehr die Schönheit ihrer Natur, als die Erniedrigung ihres Zustands; mehr
das, was sie nach gewissen Voraussetzungen sein könnten, als was sie
würklich waren, zu sehen. Eine Menge von traurigen Vorstellungen stieg in
gedrängter Verwirrung bei diesem Anblick in ihm auf; und in eben dem
Augenblick, da sein Herz von Mitleiden und Wehmut zerfloß, brannte es von
einem zürnenden Abscheu vor den Menschen, dessen nur diejenigen fähig sind,
welche die Menschheit lieben. Er vergaß über diesen Empfindungen seines
eignen Unglücks, als ein Mann von edelm Ansehen, welcher schon bei Jahren
zu sein schien, im Vorübergehn seiner gewahr ward, stehen blieb, und ihn
mit besondrer Aufmerksamkeit betrachtete. "Wem gehört dieser junge
Leibeigene?" fragte endlich der Mann einen von den Ciliciern, der neben
ihm stand. "Dem, der ihn von mir kaufen wird", versetzte dieser. "Was
versteht er für eine Kunst?" fuhr jener fort. "Das wird er dir selbst am
besten sagen können", erwiderte der Cilicier. Der Mann wandte sich also
an den Agathon selbst, und fragte ihn, ob er nicht ein Grieche sei? ob er
sich nicht in Athen aufgehalten? und ob er in den Künsten der Musen
unterrichtet worden? Agathon bejahete diese Fragen: "Kannst du den Homer
lesen?" "Ich kann lesen; und ich meine, daß ich den Homer empfinden könne."
"Kennst du die Schriften der Philosophen?" "Nein, denn ich verstehe
sie nicht." "Du gefällst mir, junger Mensch! Wie hoch haltet ihr ihn,
mein Freund?" "Er sollte, wie die andern, durch den Herold ausgerufen
werden", antwortete der Cilicier, "aber für zwei Talente ist er euer."
"Begleite mich mit ihm in mein Haus", erwiderte der Alte, "du sollst zwei
Talente haben, und der Sklave ist mein." "Dein Geld muß dir sehr
beschwerlich sein", sagte Agathon; "woher weißt du, daß ich dir für zwei
Talente nützlich sein werde?" "Wenn du es nicht wärest", versetzte der
Käufer, "so bin ich unbesorgt, unter den Damen von Smyrna zwanzig für eine
zu finden, die mir auf deine bloße Miene hin wieder zwei Talente für dich
geben." Und mit diesen Worten befahl er dem Agathon, ihm in sein Haus zu
folgen.




ZWEITES BUCH




ERSTES KAPITEL

Wer der Käufer des Agathon gewesen


Der Mann, der sich für zwei Talente das Recht erworben hatte, den Agathon
als seinen Leibeignen zu behandeln, war einer von den merkwürdigen Leuten,
die unter dem Namen der Sophisten in den griechischen Städten umherzogen,
sich der edelsten und reichsten Jünglinge bemächtigten, und durch die
Annehmlichkeiten ihres Umgangs und die prächtigen Versprechungen, ihre
Freunde zu vollkommnen Rednern, Staatsmännern und Feldherren zu machen,
das Geheimnis gefunden hatten, welches die Alchymisten bis auf den
heutigen Tag vergeblich gesucht haben. Sie wurden von aller Welt mit dem
ehrenvollen Namen der Sophisten oder Weisen benennt; allein die Weisheit,
von der sie Profession machten, war von der Socratischen, die durch einige
Verehrer dieses Atheniensischen Bürgers so berühmt worden ist, so wohl in
ihrer Beschaffenheit, als in ihren Würkungen unendlich unterschieden; oder
besser zu sagen, sie war die vollkommne Antipode derselbigen. Die
Sophisten lehrten die Kunst, die Leidenschaften andrer Menschen zu erregen;
Socrates die Kunst, seine eigene zu dämpfen. Jene lehrten, wie man es
machen müsse, um weise und tugendhaft zu scheinen; dieser lehrte, wie man
es sei. Jene munterten die Jünglinge von Athen auf, sich der Regierung
des Staats anzumaßen; Socrates, daß sie vorher die Hälfte ihres Lebens
anwenden sollten, sich selbst regieren zu lernen. Jene spotteten der
Socratischen Weisheit, die nur in einem schlechten Mantel aufzog, und sich
mit einer Mahlzeit für sechs Pfenninge begnügte, da die ihrige in Purpur
schimmerte, und offne Tafel hielt. Die Socratische Weisheit war stolz
darauf, den Reichtum entbehren zu können; die ihrige wußte, ihn zu
erwerben. Sie war gefällig, einschmeichelnd, und wußte alle Gestalten
anzunehmen; sie vergötterte die Großen, kroch vor ihren Dienern, tändelte
mit den Damen, und schmeichelte allen, welche es bezahlten. Sie war
allenthalben an ihrem rechten Platz; beliebt bei Hofe, beliebt an der
Toilette, beliebt beim Spiel-Tisch, beliebt beim Adel, beliebt bei den
Finanz-Pachtern, beliebt bei den Theater-Göttinnen, beliebt so gar bei der
Priesterschaft. Die Socratische war weit entfernt, so liebenswürdig zu
sein; sie war trocken und langweilig; sie wußte nicht zu leben; sie war
unerträglich, weil sie alles tadelte, und immer Recht hatte; sie wurde von
dem geschäftigen Teil der Welt für unnützlich, von dem müßigen für
abgeschmackt, und von dem andächtigen gar für gefährlich erklärt. Wir
würden nicht fertig werden, wenn wir diese Gegensätze so weit treiben
wollten, als wir könnten. Genug, daß die Weisheit der Sophisten einen
Vorzug hatte, den ihr die Socratische nicht streitig machen konnte; sie
verschaffte ihren Besitzern Reichtum, Ansehen, Ruhm, und ein Leben, das
von allem, was die Welt glücklich nennet, überfloß.

Hippias (so hieß der neue Herr unsers Agathon) war einer von diesen
Glücklichen, dem die Kunst, sich die Torheiten andrer Leute zinsbar zu
machen, ein Vermögen erworben hatte; wodurch er sich im Stande sah, sich
der Ausübung derselben zu begeben, und die andre Hälfte seines Lebens in
den Ergötzungen eines begüterten Müßiggangs zu zubringen; zu deren
angenehmsten Genuß das zunehmende Alter viel geschickter scheint, als die
ungestüme Jugend. Er hatte sich zu diesem Ende Smyrna zu seinem Wohn-Ort
ausersehen, weil die Annehmlichkeiten des jonischen Klima, die schöne Lage
dieser Stadt, der überfluß, der ihr durch die Handlung aus allen Teilen
des Erdbodens zuströmte, und die Verbindung des griechischen Geschmacks
mit der wollüstigen üppigkeit der Morgenländer ihm diesen Aufenthalt vor
allen andern, die er kannte, vorzüglich machte. Hippias hatte den Ruhm,
daß ihm in den Talenten seiner Profession wenige den Vorzug streitig
machen könnten. Ob er gleich über fünfzig Jahre hatte, so war ihm doch
von der Gabe zu gefallen, die ihm in seiner Jugend so nützlich gewesen war,
noch genug übrig geblieben, daß sein Umgang von den artigsten Personen
des einen und andern Geschlechts gesucht wurde. Er hatte alles, was die
Art von Weisheit, die er ausübte, verführisch machen konnte; eine edle
Gestalt, eine einnehmende Gesichts-Bildung, einen angenehmen Ton der
Stimme, einen behenden und geschmeidigen Witz, und eine Beredsamkeit, die
desto mehr gefiel, weil sie mehr ein Geschenk der Natur, als eine durch
Fleiß erworbene Kunst zu sein schien. Diese Beredsamkeit, oder vielmehr
diese Gabe angenehm zu schwatzen, mit einer Tinktur von allen
Wissenschaften, einem feinen Geschmack in dem Schönen und Angenehmen, und
eine vollständige Kenntnis der Welt, war mehr als er nötig hatte, um in
den Augen aller derjenigen, mit denen er umging, (denn er ging mit keinen
Socraten um) für einen Genie vom ersten Rang, für einen Mann zu gelten,
welcher alles wisse; welchem schon zugelächelt wurde, eh man wußte, was er
sagen wollte, und wider dessen Aussprüche nicht erlaubt war, etwas
einzuwenden. Indessen war doch dasjenige, dem er sein Glück vornehmlich
zu danken hatte, die besondere Gabe, die er besaß, sich der schönern
Hälfte der Gesellschaft gefällig zu machen. Er war so klug, frühzeitig zu
entdecken, wie viel an der Gunst dieser reizenden Geschöpfe gelegen ist,
welche in den policierten Teilen des Erdbodens die Macht würklich ausüben,
die in den Märchen den Feen beigelegt wird; die mit einem einzigen Blick,
oder durch eine kleine Verschiebung des Halstuchs stärker überzeugen, als
Demosthenes und Lysias durch lange Reden; die mit einer einzigen Träne den
Gebieter über Legionen entwaffnen, und durch den bloßen Vorteil, den sie
von ihrer Gestalt und einem gewissen Bedürfnis des stärkern Geschlechts zu
ziehen wissen, sich zu unumschränkten Beherrscherinnen derjenigen machen,
in deren Händen das Schicksal ganzer Völker liegt. Hippias hatte diese
Entdeckung von so großem Nutzen gefunden, daß er keine Mühe gesparet hatte,
es in der Anwendung derselben zu dem höchsten Grade der Vollkommenheit zu
bringen; und dasjenige, was er in seinem Alter noch davon hatte, bewies,
was er in seinen schönen Jahren gewesen sein müsse. Seine Eitelkeit ging
so weit, daß er sich nicht enthalten konnte, die Kunst, die Zauberinnen zu
bezaubern, in die Form eines Lehr-Begriffs zu bringen, und seine
Erfahrungen und Beobachtungen hierüber der Welt in einer sehr gelehrten
Abhandlung mitzuteilen, deren Verlust nicht wenig zu bedauern ist, und
schwerlich von einem heutigen Schriftsteller unsrer Nation zu ersetzen
sein möchte.

Nach allem, was wir bereits von diesem weisen Manne gesagt haben, wär es
überflüssig, eine Abschilderung von seinen Sitten zu machen. Sein
Lehr-Begriff, von der Kunst zu leben, wird uns in kurzem umständlich
vorgelegt werden; und er besaß eine Tugend, welche nicht die Tugend der
Moralisten zu sein pflegt; er lebte nach seinen Grundsätzen.




ZWEITES KAPITEL

Absichten des weisen Hippias


Unter andern Neigungen, in deren Befriedigung man den rechten Gebrauch des
Reichtums zu setzen pflegt, hatte Hippias einen besondern Geschmack an
allem, was gut in die Augen fiel. Er wollte, daß die Seinigen, in seinem
Hause wenigstens, sich nirgends hinwenden sollten, ohne einem schönen
Gegenstande zu begegnen. Die schönsten Gemälde, die schönsten Bildsäulen
und Schnitzwerke, die reichsten Tapeten, das schönste Hausgeräte, die
schönsten Gefäße befriedigten seinen Geschmack noch nicht; er wollte auch,
daß der belebte Teil seines Hauses mit dieser allgemeinen Schönheit
übereinstimmen sollte; und seine Bediente und Sklavinnen waren die
ausgesuchtesten Gestalten, die er in einem Lande, wo die Schönheit
gewöhnlich ist, hatte finden können. Die Gestalt Agathons möchte also
allein hinreichend gewesen sein, ihm seine Gunst zu erwerben; zumal da er
eben einen Leser nötig hatte, und aus dem Anblick und den ersten Worten
desselben urteilte, daß er sich zu einem Dienst vollkommen schicken würde,
wozu eine gefallende Gesichts-Bildung und eine musikalische Stimme die
nötigsten Gaben sind. Allein Hippias hatte noch eine geheime Absicht, die
er durch diesen Jüngling zu erreichen hoffte. Obgleich die Liebe zu den
Wollüsten der Sinne seine herrschende Neigung zu sein schien, so hatte
doch die Eitelkeit nicht weniger Anteil an den meisten Handlungen seines
Lebens. Er hatte, bevor er sich nach Smyrna begab, um die Früchte seiner
Arbeit zu genießen, den schönsten Teil seines Lebens zugebracht, die
edelste Jugend der griechischen Städte zu bilden; er hatte Redner gebildet,
die durch eine künstliche Vermischung des Wahren und Falschen, und den
klugen Gebrauch gewisser Figuren, einer schlimmen Sache den Schein und die
Würkung einer guten zu geben wußten; Staats-Männer, welche die Kunst
besaßen, mitten unter den Zujauchzungen eines betörten Volks die Gesetze
durch die Freiheit und die Freiheit durch schlimme Sitten zu vernichten;
um diejenigen, die sich der heilsamen Zucht der Gesetze nicht unterwerfen
wollten, der willkürlichen Gewalt ihrer Leidenschaften zu unterwerfen;
kurz, er hatte Leute gebildet, die sich Ehren-Säulen dafür aufrichten
ließen, daß sie ihr Vaterland zu Grunde richteten. Allein dieses
befriedigte seine Eitelkeit noch nicht: Er wollte auch jemand hinterlassen,
der seine Kunst fortzusetzen geschickt wäre; eine Kunst, die in seinen
Augen allzuschön war, als daß sie mit ihm sterben sollte. Schon lange
hatte er einen jungen Menschen gesucht, bei dem er das natürliche
Geschicke, der Nachfolger eines Hippias zu sein, in derjenigen
Vollkommenheit finden möchte, die dazu erfodert wurde. Seine Gabe, aus
der Gestalt und Miene das Inwendige eines Menschen zu erraten, beredete
ihn, im Agathon zu finden, was er suchte; wenigstens hielt er es der Mühe
wert, den Versuch mit ihm zu machen; und da er von seiner Tüchtigkeit ein
so gutes Vorurteil gefasset hatte, so fiel ihm nur nicht ein, in seine
Willigkeit zu den großen Absichten, die er mit ihm vorhatte, einigen
Zweifel zu setzen.




DRITTES KAPITEL

Verwunderung, in welche Agathon gesetzt wird


Agathon wußte noch nichts, als daß er einem Manne zugehöre, dessen
äußerliches Ansehen ihm gefiel; als er bei dem Eintritt in sein Haus durch
die Schönheit des Gebäudes, die Bequemlichkeiten der Einrichtung, die
Menge und die gute Miene der Bedienten, und durch einen Schimmer von
Pracht und üppigkeit, der ihm allenthalben entgegen glänzte, in eine Art
von Verwunderung gesetzt wurde, die ihm sonst nicht gewöhnlich war, und
die nur desto mehr zunahm, wie er hörte, daß er die Ehre haben sollte, ein
Haus-Genosse von Hippias, dem Weisen, zu werden. Er war noch im
Nachdenken begriffen, was für eine Art von Weisheit dieses sein möchte,
als Hippias, der indes seinem Zahlmeister befohlen hatte, den Cilicier zu
befriedigen, ihn in sein Cabinet rufen ließ, und ihm seine künftige
Bestimmung in diesen Worten ankündigte: "Die Gesetze, Callias, (denn
dieses soll künftig dein Name sein) geben mir zwar das Recht, dich als
meinen Leibeigenen anzusehen; aber es wird nur von dir abhangen, so
glücklich in meinem Hause zu sein, als ich selbst. Alle deine
Verrichtungen werden darin bestehen, den Homer bei meinem Tische, und die
Aufsätze, mit deren Ausarbeitung ich mir die Zeit vertreibe, in meinem
Hör-Saal vorzulesen. Wenn dieses Amt leicht zu sein scheint, so versichre
ich dich, daß ich nicht leicht zu befriedigen bin, und daß du Kenner zu
Hörern haben wirst. Ein jonisches Ohr will nicht nur ergötzt, es will
bezaubert sein. Die Annehmlichkeit der Stimme, die Reinigkeit und das
Weiche der Aussprache, die Richtigkeit des Akzents, das Muntre, das
Ungezwungene, das Musikalische ist nicht hinlänglich; wir fodern eine
vollkommne Nachahmung, einen Ausdruck, der jedem Teile des Stücks, jeder
Periode, jedem Vers das Leben, den Affekt, die Seele gibt, die sie haben
sollen; kurz, die Art, wie gelesen wird, soll das Ohr an die Stelle aller
übrigen Sinne setzen. Das Gastmahl des Alcinous soll diesen Abend dein
Probstück sein. Die Fähigkeiten, die ich an dir zu entdecken hoffe,
werden meine Absichten mit dir bestimmen; und vielleicht wirst du in der
Zukunft Ursache finden, den Tag, an dem du dem Hippias gefallen hast,
unter deine Glücklichen zu zählen." Mit diesen Worten verließ er unsern
Jüngling, und ersparte sich dadurch die Demütigung zu sehen, wie wenig der
neue Callias durch die Hoffnungen gerührt schien, wozu ihn diese Erklärung
berechtigte. In der Tat hatte die Bestimmung, die jonischen Ohren zu
bezaubern, in Agathons Augen nicht edels genug, daß er sich deswegen hätte
glücklich schätzen sollen; und über dem war etwas in dem Ton dieser Anrede,
welches ihm mißfiel, ohne daß er eigentlich wußte, warum? Inzwischen
vermehrte sich seine Verwunderung, je mehr er sich in dem Hause des weisen
Hippias umsah; und er begriff nun ganz deutlich, daß sein Herr, was auch
sonst seine Grundsätze sein möchten, wenigstens von der Ertödung der
Sinnlichkeit, wovon er ehmals den Plato zu Athen sehr schöne Dinge sagen
gehört hatte, keine Profession mache. Allein wie er sah, was die Weisheit
in diesem Hause für eine Tafel hielt, wie prächtig sie sich bedienen ließ,
was für reizende Gegenstände ihre Augen, und was für wollüstige Harmonien
ihre Ohren ergötzten, während daß der Schenk-Tisch mit den ausgesuchtesten
Weinen und den angenehm-betäubenden Getränken der Asiaten beladen, den
Sinnen zum Genuß so vieler Wollüste neue Kräfte zu geben schien; wie er
die Menge von jungen Sklaven sah, die den Liebes-Göttern ähnlich schienen,
die Chöre von Tänzerinnen und Lauten-Spielerinnen, die durch die Reizungen
ihrer Gestalt so sehr als durch ihre Geschicklichkeit bezauberten, und die
nachahmenden Tänze, in denen sie die Geschichte der Leda oder Danae durch
bloße Bewegungen mit einer Lebhaftigkeit vorstellten, die einen Nestor
hätte verjüngern können; wie er die üppigen Bäder, die bezauberten Gärten,
kurz, wie er alles sah, was das Haus des weisen Hippias zu einem Tempel
der ausgekünsteltsten Sinnlichkeit machte, so stieg seine Verwunderung bis
zum Erstaunen; und er konnte nicht begreifen, was dieser Sybarite getan
haben müsse, um den Namen eines Weisen zu verdienen, oder wie er sich
einer Benennung nicht schäme, die ihm, seinen Gedanken nach, eben so gut
anstund, als dem Alexander von Phera, wenn man ihn den Leutseligen, oder
der Phryne, wenn man sie die Keusche hätte nennen wollen. Alle
Auflösungen, die er sich selbst hierüber machen konnte, befriedigten ihn
so wenig, daß er sich vornahm, bei der ersten Gelegenheit dieses Problem
dem Hippias selbst vorzulegen.




VIERTES KAPITEL

Welches bei einigen den Verdacht erwecken wird, daß diese Geschichte
erdichtet sei


Die Verrichtungen des Agathon ließen ihm so viel Zeit übrig, daß er in
wenigen Tagen in einem Hause, wo alles Freude atmete, sehr lange Weile
hatte. Zwar lag die Schuld nur an ihm selbst, wenn es ihm an einem
Zeit-Vertreib mangelte, der sonst die hauptsächlichste Beschäftigung der
Leute von seinem Alter auszumachen pflegt. Die Nymphen dieses Hauses
waren von einer so gefälligen Gemüts-Art, von einer so anziehenden Figur,
und von einem so günstigen Vorurteil für den neuen Haus-Genossen
eingenommen, daß es weder die Furcht abgewiesen zu werden, noch der Fehler
ihrer Reizungen war, was den schönen Callias so zurückhaltend oder
unempfindlich machte.

Verschiedene, die aus seinem Betragen schlossen, daß er noch ein Neuling
sein müsse, ließen sich die Mühe nicht dauern, ihm die Schwierigkeiten,
die ihm seine Schüchternheit, ihren Gedanken nach, in den Weg legte, zu
erleichtern; sie gaben ihm Gelegenheiten, die den Zaghaftesten hätten
unternehmend machen sollen. Allein (wir müssen es nur gestehen, was man
auch von unserm Helden deswegen denken mag) er gab sich eben so viel Mühe,
diese Gelegenheiten auszuweichen, als man sich geben konnte, sie ihm zu
machen. Wenn dieses anzuzeigen scheint, daß er entweder einiges Mißtrauen
in sich selbst, oder ein allzugroßes Vertrauen in die Reizungen dieser
schönen Verführerinnen gesetzt habe, so dienet vielleicht zu seiner
Entschuldigung, daß er noch nicht alt genug war, ein Xenocrates zu sein;
und daß er, vermutlich nicht ohne Ursache, ein Vorurteil wider dasjenige
gefaßt hatte, was man im Umgang von jungen Personen beiderlei Geschlechts
unschuldige Freiheiten zu nennen pflegt. Dem sei inzwischen wie ihm wolle,
so ist gewiß, daß Agathon durch dieses seltsame Bezeugen einen Argwohn
erweckte, der ihm bei allen Gelegenheiten sehr beißende Spöttereien von
den übrigen Hausgenossen, und selbst von den Schönen zuzog, die sich durch
seine Sprödigkeit nicht wenig beleidigt fanden, und ihm auf eine feine Art
zu verstehen gaben, daß sie ihn für geschickter hielten, die Tugend der
Damen zu bewachen, als auf die Probe zu stellen. Agathon fand nicht
ratsam, sich in einen Wett-Streit einzulassen, wo er besorgen mußte, daß
die Begierde, recht zu haben, die sich in der Hitze des Streites auch der
Klügsten zu bemeistern pflegt, ihn zu gefährlichen Erörterungen führen
könnte. Er machte daher bei solchen Anlässen eine so alberne Figur, daß
man von seinem Witz eine eben so verdächtige Meinung bekommen mußte, als
man schon von seiner Person gefaßt hatte; und die Verachtung, in die er
deswegen bei jedermann fiel, trug vielleicht nicht wenig dazu bei, ihm den
Aufenthalt in einem Hause beschwerlich zu machen, wo ihm ohnehin, alles,
was er sah und hörte, ärgerlich war. Er liebte diejenigen Künste sehr,
über welche, nach dem Glauben der Griechen, die Musen die Aufsicht hatten.
Allein die Gemälde, womit alle Säle und Gänge dieses Hauses ausgeziert
waren, stellten so schlüpfrige und unsittliche Gegenstände vor, daß er
seinen Augen um so weniger erlauben konnte, sich darauf zu verweilen, je
vollkommner die Natur darin nachgeahmt war, und je mehr sich der Genie
bemüht hatte, der Natur selbst neue Reizungen zu leihen. Eben so weit war
die Musik, die er alle Abende nach der Tafel hören konnte, von derjenigen
unterschieden, die seiner Einbildung nach allein der Musen würdig war. Er
liebte eine Musik, welche die Leidenschaften besänftigte, und die Seele in
ein angenehmes Staunen wiegte, oder das Lob der Unsterblichen mit einem
feurigen Schwung von Begeistrung sang, wodurch das Herz in heiliges
Entzücken und in ein schauervolles Gefühl der gegenwärtigen Gottheit
gesetzt wurde; und wenn sie Zärtlichkeit und Freude ausdrückte, so sollte
es die Zärtlichkeit der Unschuld und die rührende Freude der einfältigen
Natur sein. Allein in diesem Hause hatte man einen ganz andern Geschmack.
Was Agathon hörte, waren Syrenen-Gesänge, die den üppigsten Liedern des
tejischen Dichters einen Reiz gaben, der auch aus unangenehmen Lippen
verführerisch gewesen wäre; Gesänge, die durch den nachahmenden Ausdruck
des verschiednen Tons der schmeichelnden, seufzenden und schmachtenden,
oder der triumphierenden und in Entzückung aufgelösten Leidenschaft die
Begierde erregten, dasjenige zu erfahren, was in der Nachahmung schon so
reizend war; Lydische Flöten, deren girrendes, verliebtes Flüstern die
redenden Bewegungen der Tänzerinnen ergänzte, und ihrem Spiel eine
Deutlichkeit gab, die der Einbildungs-Kraft nichts zu erraten übrig ließ;
Symphonien, welche die Seele in ein bezaubertes Vergessen ihrer selbst
versenkten, und, nachdem sie alle ihre edlere Kräfte entwaffnet hatte, die
erregte und willige Sinnlichkeit der ganzen Gewalt der von allen Seiten
eindringenden Wollust auslieferten. Agathon konnte bei diesen Szenen, wo
so viele Künste, so viele Zauber-Mittel sich vereinigten, den Widerstand
der Tugend zu ermüden, nicht so gleichgültig bleiben, als diejenigen zu
sein schienen, die derselben gewohnt waren; und die Unruhe, in die er
dadurch gesetzt wurde, machte ihm, was auch die Stoiker sagen mögen, mehr
Ehre, als dem Hippias und seinen Freunden ihre Gelassenheit. Er befand
also für gut, sich allemal, wenn er seine Rolle, als Homerist, geendiget
hatte, hinweg und an einen Ort zu begeben, wo er in ungestörter Einsamkeit
sich von den widrigen Eindrücken befreien konnte, die das geschäftige und
fröhliche Getümmel des Hauses, und der Anblick von so vielen Gegenständen,
die seine moralischen Sinne beleidigten, den Tag über auf sein Gemüte
gemacht hatten.




FÜNFTES KAPITEL

Schwärmerei des Agathon


Die Wohnung des Hippias war auf der mittäglichen Seite von Gärten umgeben,
in deren weitläufigem Bezirk die Kunst und der Reichtum alle ihre Kräfte
aufgewandt hatten, die einfältige Natur mit ihren eignen und mit fremden
Schönheiten zu überladen. Gefilde voll Blumen, die aus allen Teilen der
Erde gesammelt, jeden Monat zum Frühling eines andern Klima machten,
Lauben von allerlei wohlriechenden Stauden, Lust-Gänge von Zitronen-Bäumen,
öl-Bäumen und Zedern, in deren Länge der schärfste Blick sich verlor,
Haine von allen Arten der fruchtbaren Bäume, und Irrgänge von Myrten und
Lorbeer-Hecken, mit Rosen von allen Farben durchwunden, wo tausend
marmorne Najaden, die sich zu regen und zu atmen schienen, kleine
murmelnde Bäche zwischen die Blumen hingossen, oder mit mutwilligem
Plätschern in spiegelhellen Brunnen spielten, oder unter überhangenden
Schatten von ihren Spielen auszuruhen schienen. Alles dieses machte die
Gärten des Hippias den bezauberten Gegenden ähnlich, diesen Spielen einer
dichtrischen und malerischen Phantasie, die man erstaunt ist, außerhalb
seiner Einbildung zu sehen. Hier war es, wo Agathon seine angenehmsten
Stunden zubrachte; hier fand er die Heiterkeit der Seele wieder, die er
dem angenehmsten Taumel der Sinne unendlich weit vorzog; hier konnt' er
sich mit sich selbst besprechen; hier war er von Gegenständen umgeben, die
sich zu seiner Gemüts-Beschaffenheit schickten, obgleich die seltsame
Denk-Art, wodurch er die Erwartung des Hippias so sehr betrog, auch hier
nicht ermangelte, sein Vergnügen durch den Gedanken zu vermindern, daß
alle diese Gegenstände weit schöner wären, wenn sich die Kunst nicht
angemaßet hätte, die Natur ihrer Freiheit und rührenden Einfältigkeit zu
berauben. Oft wenn er beim Mond-Schein, den er mehr als den Tag liebte,
so einsam im Schatten lag, erinnert' er sich der frohen Szenen seiner
ersten Jugend, der unbeschreiblichen Eindrücke, die jeder schöne
Gegenstand, jeder ihm neue Auftritt der Natur auf seine jugendlichen
unverwöhnten Sinnen gemacht hatte, der süßen Stunden, die ihm in den
Entzückungen einer ersten und unschuldigen Liebe zu Augenblicken geworden
waren. Diese Erinnerungen, mit der Stille der Nacht und dem Gemurmel
sanfter Bäche und der sanft wehenden Sommer-Lüfte, wiegten seine Sinnen in
eine Art von leichtem Schlummer ein, worin die innerlichen Kräfte der
Seele mit verdoppelter Stärke würken; dann bildeten sich ihm die reizenden
Aussichten einer bessern Zukunft vor; er sah alle seine Wünsch' erfüllt,
er fühlte sich etliche Augenblicke glücklich; und wenn sie vorbei waren,
beredete er sich, daß diese Hoffnungen ihn nicht so lebhaft rühren, nicht
in eine so gelassene Zufriedenheit senken würden, wenn es nur nächtliche
Spiele der Phantasie, und nicht vielmehr innerliche Ahnungen wären, Blicke,
welche der Geist in der Stille und Freiheit, die ihm die schlummernden
Sinne lassen, in die Zukunft und in eine weitere Sphäre tut, als diejenige,
die von der Schwäche ihrer körperlichen Sinne umschrieben wird.

In einer solchen Stunde war es, als Hippias, den die Anmut einer schönen
Sommer-Nacht zum Spaziergang einlud, ihn unter diesen Beschauungen
überraschte, denen er, in der Meinung, allein zu sein, sich zu überlassen
pflegte. Hippias blieb eine Weile vor ihm stehen, ohne daß Agathon seiner
gewahr wurde; endlich aber redet' er ihn an, und ließ sich in ein Gespräch
mit ihm ein; welches ihn nur allzusehr in dem Argwohn bestärkte, den er
von dem Hang unsers Helden zu demjenigen, was er Schwärmerei nannte,
bereits gefaßt hatte.




SECHSTES KAPITEL

Ein Gespräch zwischen Hippias und seinem Sklaven


HIPPIAS "Du scheinst in Gedanken vertieft, Callias?"

AGATHON "Ich glaubte allein zu sein."

HIPPIAS "Ein andrer an deiner Stelle würde sich die Freiheit meines Hauses
besser zu Nutze machen. Doch vielleicht gefällst du mir um dieser
Zurückhaltung willen nur desto besser. Aber mit was für Gedanken
vertreibst du dir die Zeit, wenn man fragen darf?"

AGATHON "Die allgemeine Stille, der Mondschein, die rührende Schönheit der
schlummernden Natur, die mit den Ausdünstungen der Blumen durchwürzte
Nachtluft, tausend angenehme Empfindungen, deren liebliche Verwirrung
meine Seele trunken machte, setzte sie in eine Art von Entzückung,
worinnen ein andrer Schauplatz von unbekannten Schönheiten sich vor mir
auftat; es war nur ein Augenblick, aber ein Augenblick, den ich um eines
von den Jahren des Königs von Persien nicht vertauschen wollte."

HIPPIAS (lächelt.)

AGATHON "Dieses brachte mich hernach auf die Gedanken, wie glücklich der
Zustand der Geister sei, die den groben tierischen Leib abgelegt haben,
und im Anschauen des wesentlichen Schönen, des Unvergänglichen, Ewigen und
Göttlichen, Jahrtausende durchleben, die ihnen nicht länger scheinen als
mir dieser Augenblick; und in den Betrachtungen, denen ich hierüber
nachhing, bin ich von dir überraschet worden."

HIPPIAS "Du schliefst doch nicht, Callias; du hast wie ich sehe, mehr
Talente als du nötig hast; du kannst auch wachend träumen?"

AGATHON "Es gibt vielerlei Arten von Träumen, und bei einigen Menschen
scheint ihr ganzes Leben Traum zu sein; wenn dieses Träume sind, so sind
sie wenigstens angenehmer als alles, was ich in dieser Zeit wachend hätte
erfahren können."

HIPPIAS "Du gedenkest also vielleicht einer von diesen Geistern zu werden,
die du so glücklich preisest?"

AGATHON "Ich hoff' es zu werden, und würde ohne diese Hoffnung mein Dasein
für kein Gut achten."

HIPPIAS "Besitzest du etwan ein Geheimnis, körperliche Wesen in geistige
zu erhöhen, einen Zaubertrank von der Art derjenigen, womit die Medeen und
Circen der Dichter so wunderbare Verwandlungen zuwege bringen?"

AGATHON "Ich verstehe dich nicht, Hippias."

HIPPIAS "So will ich deutlicher sein. Wenn ich anders dich verstanden
habe, so hältst du dich für einen Geist, der in einen tierischen Leib
eingekerkert ist?"

AGATHON "Wofür sollt ich mich sonst halten?"

HIPPIAS "Sind die vierfüßigen Tiere, die Vögel, die Fische, die Gewürme,
auch Geister, die in einen tierischen Leib eingeschlossen sind?"

AGATHON "Vielleicht."

HIPPIAS "Und die Pflanzen?"

AGATHON "Vielleicht auch diese."

HIPPIAS "Du bauest also deine Hoffnung auf ein Vielleicht. Wenn die
Tiere vielleicht auch nicht Geister sind, so bist du vielleicht eben so
wenig einer; denn das ist einmal gewiß, daß du ein Tier bist. Du
entstehest wie die Tiere, wächsest wie sie, hast ihre Bedürfnisse, ihre
Sinnen, ihre Leidenschaften, wirst erhalten wie sie, vermehrest dich wie
sie, stirbst wie sie, und wirst wie sie wieder zu einem bißchen Wasser und
Erde, wie du vorher gewesen warst. Wenn du einen Vorzug vor ihnen hast,
so ist es eine schönere Gestalt, ein paar Hände, mit denen du mehr
ausrichten kannst als ein Tier mit seinen Pfoten, eine Bildung gewisser
Gliedmaßen, die dich der Rede fähig macht, und ein lebhafterer Witz, der
von einer schwächern und reizbarern Beschaffenheit deiner Fibern herkommt;
und der doch alle Künste, womit wir uns so groß zu machen pflegen, den
Tieren abgelernt hat."

AGATHON "Wir haben also sehr verschiedene Begriffe von der menschlichen
Natur, du und ich."

HIPPIAS "Vermutlich, weil ich sie für nichts anders halte, als wofür meine
Sinnen und eine Beobachtung ohne Vorurteile sie mir geben. Doch ich will
freigebig sein; ich will dir zugeben, dasjenige was in dir denkt sei ein
Geist, und wesentlich von deinem Körper unterschieden.--Worauf gründest du
die Hoffnung, daß dieser Geist noch denken werde, wenn dein Leib zerstört
sein wird? Was für eine Erfahrung hast du, eine Meinung zu bestätigen,
die von so vielen Erfahrungen bestritten wird? Ich will nicht sagen, daß
er zu nichts werde; aber dein Leib verliert durch den Tod die Form die ihn
zu deinem Leibe machte; woher hoffest du, daß dein Geist die Form nicht
verlieren werde, die ihn zu deinem Geiste macht?"

AGATHON "Weil ich mir unmöglich vorstellen kann, daß der Oberste Geist,
dessen Geschöpfe oder Ausflüsse die übrigen Geister sind, ein Wesen
zerstören werde, das er fähig gemacht hat, so glücklich zu sein, als ich
es schon gewesen bin."

HIPPIAS "Ein neues Vielleicht? Woher kennst du diesen obersten Geist?"

AGATHON "Woher kennst du den Phidias, der diesen Amor gemacht hat?"

HIPPIAS "Weil ich ihm zusah wie er ihn machte; denn vielleicht könnt eine
Bildsäule auch entstehn, ohne daß sie von einem Künstler gemacht würde."

AGATHON "Wieso?"

HIPPIAS "Eine ungefähre Bewegung ihrer kleinsten Elemente könnte diese
Form endlich hervorbringen."

AGATHON "Eine regellose Bewegung ein regelmäßiges Werk?"

HIPPIAS "Warum das nicht? Du kannst im Würfelspiel von ungefähr alle drei
werfen. So gut als dieses möglich ist, könntest du auch unter etlichen
Billionen von Würfen einen werfen, wodurch eine gewisse Anzahl Sandkörner
in eine zirkelrunde Figur fallen würde. Die Anwendung ist leicht zu
machen."

AGATHON "Ich verstehe dich. Aber es bleibt allemal unendlich
unwahrscheinlich, daß die ungefähre Bewegung der Elemente nur eine Muschel,
deren so unzählich viele an jenem Ufer liegen, hervorbringen; und die
Ewigkeit selbst scheint nicht lange genug zu sein, nur diese Erdkugel,
diesen kleinen Atomen des ganzen Weltalls auf solche Weise entstehen zu
machen."

HIPPIAS "Es ist genug, daß unter unendlich vielen ungefähren Bewegungen,
die nichts regelmäßiges und dauerhaftes hervorbringen, eine möglich ist,
die eine Welt hervorbringen kann. Dieses setzt der Wahrscheinlichkeit
deiner Meinung ein Vielleicht entgegen, wodurch sie auf einmal entkräftet
wird."

AGATHON "So viel als das Gewicht einer unendlichen Last, durch die
Hinwegnahme eines einzigen Sandkorns."

HIPPIAS "Du hast vergessen, daß eine unendliche Zeit in die andere
Waagschale gelegt werden muß. Doch ich will diesen Einwurf fahren lassen,
ob er gleich weiter getrieben werden kann; was gewinnt deine Meinung
dadurch? Vielleicht ist die Welt immer in der allgemeinen Verfassung
gewesen, worin sie ist?--Vielleicht ist sie selbst das einzige Wesen, das
durch sich selbst bestehet? Vielleicht ist der Geist von dem du sagtest,
durch die wesentliche Beschaffenheit seiner Natur gezwungen, diesen
allgemeinen Weltkörper nach den Gesetzen einer unveränderlichen
Notwendigkeit zu beleben? Und gesetzt, die Welt sei, wie du meinest, das
Werk eines verständigen und freien Entschlusses; vielleicht hat sie viele
Urheber? Mit einem Worte, Callias, du hast viele mögliche Fälle zu
vernichten, eh du nur das Dasein deines obersten Geistes außer Zweifel
gesetzt hast."

AGATHON "Ich brauche zu meiner eignen Beruhigung keinen so weitläufigen
Weg. Ich sehe die Sonne, sie ist also; ich empfinde mich selbst, ich bin
also; ich empfinde, ich sehe diesen obersten Geist, er ist also."

HIPPIAS "Ein Träumender, ein Kranker, ein Wahnwitziger sieht; und doch ist
das nicht, was er sieht."

AGATHON "Weil er in diesem Zustande nicht recht sehen kann."

HIPPIAS "Wie kannst du beweisen, daß du nicht gerad in diesem Punkt krank
bist? Frage die ärzte; man kann in einem einzigen Stück wahnwitzig, und
in allen übrigen klug sein; so wie eine Laute bis auf eine einzige falsche
Saite wohl gestimmt sein kann. Der rasende Ajax sieht zwo Sonnen, ein
doppeltes Thebe. Was für ein untrügliches Kennzeichen hast du, das Wahre
von dem was nur scheint; das was du würklich empfindest, von dem was du
dir nur einbildest; das was du richtig empfindest, von dem was eine
verstimmte Nerve dich empfinden macht, zu unterscheiden? Und wie, wenn
alle Empfindung betröge, und nichts von allem was ist, so wäre, wie du es
empfindest?"

AGATHON "Darum bekümmere ich mich wenig. Gesetzt, die Sonne sei nicht so,
wie ich sie sehe und fühle; für mich ist sie darum nicht minder so, wie
ich sie sehe und fühle, und das ist für mich genug. Ihr Einfluß in das
System aller meiner übrigen Empfindungen ist darum nicht weniger würklich,
wenn sie gleich nicht so ist, wie sie sich meinen Sinnen darstellt, ja
wenn sie gar nicht ist."

HIPPIAS "Die Anwendung hievon, wenn dirs beliebt?"

AGATHON "Die Empfindung, die ich von dem höchsten Geiste habe, hat in das
innerliche System des meinigen den nämlichen Einfluß, den die Empfindung
die ich von der Sonne habe, auf mein körperliches System hat."

HIPPIAS "Wie so?"

AGATHON "Wenn sich mein Leib übel befindet, so vermehrt die Abwesenheit
der Sonne das Unbehagliche dieses Zustands. Der wiederkehrende
Sonnenschein belebt, ermuntert, erquicket meinen Körper wieder, und ich
befinde mich wohl, oder doch erleichtert. Eben diese Würkung tut die
Empfindung des alles beseelenden Geistes auf meine Seele; sie erheitert,
sie beruhiget, sie ermuntert mich; sie zerstreut meinen Unmut, sie belebt
meine Hoffnung; sie macht, daß ich in einem Zustande nicht unglücklich bin,
der mir ohne sie unerträglich wäre."

HIPPIAS "Ich bin also glücklicher als du, weil ich alles dieses nicht
nötig habe. Erfahrung und Nachdenken haben mich von Vorurteilen frei
gemacht; ich genieße alles was ich wünsche, und wünsche nichts, dessen
Genuß nicht in meiner Gewalt ist. Ich weiß also wenig von Unmut und
Sorgen. Ich hoffe wenig, weil ich mit dem Genuß des Gegenwärtigen
zufrieden bin. Ich genieße mit Mäßigung, damit ich desto länger genießen
könne, und wenn ich einen Schmerz fühle, so leide ich mit Geduld, weil
dieses das beste Mittel ist, seine Dauer abzukürzen."

AGATHON "Und worauf gründest du deine Tugend? Womit nährest und belebest
du sie? Womit überwindest du die Hinternisse, die sie aufhalten; die
Versuchungen, die von ihr ablocken, das ansteckende der Beispiele, die
Unordnung der Begierden, und die Trägheit, welche die Seele so oft erfährt,
wenn sie sich erheben will?"

HIPPIAS "O Jüngling, lange genug hab ich deinen Ausschweifungen zugehört.
In was für ein Gewebe von Hirngespinsten hat dich die Lebhaftigkeit deiner
Einbildungskraft verwickelt? Deine Seele schwebt in einer beständigen
Bezauberung, in einer Abwechselung von quälenden und entzückenden Träumen,
und die wahre Beschaffenheit der Dinge bleibt dir so verborgen, als die
sichtbare Gestalt der Welt einem Blindgebornen. Ich bedaure dich,
Callias. Deine Gestalt, deine Gaben berechtigen dich nach allem zu
trachten, was das menschliche Leben glückliches hat; deine Denkungsart
allein wird dich unglücklich machen. Angewöhnt lauter idealische Wesen
um dich her zu sehen, wirst du die Kunst niemals lernen, von den Menschen
Vorteil zu ziehen. Du wirst in einer Welt, die dich so wenig kennen wird
als du sie, wie ein Einwohner des Monds herum irren, und nirgends am
rechten Platze sein, als in einer Einöde oder im Fasse des Diogenes. Was
soll man mit einem Menschen anfangen, der Geister sieht? Der von der
Tugend fodert, daß sie mit aller Welt und mit sich selbst in beständigem
Kriege leben soll? Mit einem Menschen, der sich in den Mondschein
hinsetzt, und Betrachtungen über das Glück der entkörperten Geister
anstellt? Glaube mir, Callias, (ich kenne die Welt und sehe keine
Geister) deine Philosophie mag vielleicht gut genug sein eine Gesellschaft
müßiger Köpfe statt eines andern Spiels zu belustigen; aber es ist eine
Torheit sie ausüben zu wollen. Doch du bist jung; die Einsamkeit deiner
ersten Jugend und die morgenländischen Schwärmereien, die etliche
griechische Müßiggänger von den Egyptern und Chaldäern nach Hause gebracht,
haben deiner Phantasie einen romanhaften Schwung gegeben; die übermäßige
Empfindlichkeit deiner Organisation hat den angenehmen Betrug befödert;
Leuten von dieser Art ist nichts schön genug, was sie sehen, nichts
angenehm genug, was sie fühlen; die Phantasie muß ihnen andre Welten
erschaffen, die Unersättlichkeit ihres Herzens zu befriedigen. Allein
diesem übel kann noch geholfen werden. Selbst in den Ausschweifungen
deiner Einbildungskraft entdeckt sich eine natürliche Richtigkeit des
Verstandes, der nichts fehlt als auf andre Gegenstände angewendet zu
werden. Ein wenig Gelehrigkeit und eine unparteiische überlegung dessen,
was ich dir sagen werde, ist alles was du nötig hast, um von dieser
seltsamen Art von Wahnwitz geheilt zu werden, die du für Weisheit hältst.
überlaß es mir, dich aus den unsichtbaren Welten in die wirkliche
herabzuführen; sie wird dich anfangs befremden, aber nur weil sie dir neu
ist, und wenn du sie einmal gewohnt bist, wirst du die ätherischen so
wenig vermissen als ein erwachsner die Spiele seiner Kindheit. Diese
Schwärmereien sind Kinder der Einsamkeit und der Muße; ein Mensch der nach
angenehmen Empfindungen dürstet, und der Mittel beraubt ist, sich
würkliche zu verschaffen, ist genötiget sich mit Einbildungen zu speisen,
und aus Mangel einer bessern Gesellschaft mit den Sylphen umzugehen. Die
Erfahrung wird dich hievon am besten überzeugen können. Ich will dir die
Geheimnisse einer Weisheit entdecken, die zum Genuß alles dessen führt,
was die Natur, die Kunst, die Gesellschaft, und selbst die Einbildung
(denn der Mensch ist doch nicht gemacht immer weise zu sein) Gutes und
Angenehmes zu geben haben; und ich müßte mich ganz mit dir betrügen, wenn
die Stimme der Vernunft, die du noch niemals gehört zu haben scheinst,
dich nicht von einem Irrwege zurückrufen könnte, wo du am Ende deiner
Reise in das Land der Hoffnungen dich um nichts reicher befinden würdest,
als um die Erfahrung dich betrogen zu haben. Itzo ist es Zeit schlafen zu
gehen; aber der nächste ruhige Morgen den ich habe, soll dein sein. Ich
brauche dir nicht zu sagen, wie zufrieden ich mit der Art bin, wie du
bisher dein Amt versehen hast; und ich wünsche nichts, als daß eine
bessere übereinstimmung unsrer Denkungsart mich in den Stand setze, dir
Beweise von meiner Freundschaft zu geben." Mit diesen Worten begab sich
Hippias hinweg, und ließ unsern Agathon in einer Verfassung, die der Leser
aus dem folgenden Kapitel ersehen wird.




SIEBENTES KAPITEL

Worin Agathon für einen Schwärmer ziemlich gut räsoniert



Wir zweifeln nicht, daß verschiedene Leser dieser Geschichte in der
Vermutung stehen werden, Agathon müsse über diese nachdrucksvolle
Apostrophe des weisen Hippias nicht wenig betroffen, oder doch wenigstens
in einige Unruhe gesetzt worden sein. Das Alter des Hippias, der Ruf der
Weisheit, worin er stand, der zuversichtliche Ton, womit er sprach, der
Schein von Wahrheit der über seine Rede ausgebreitet war; und was nicht
das wenigste scheint, das Ansehen, welches ihm seine Reichtümer gaben;
alle diese Umstände hätten nicht fehlen sollen, einen Menschen aus der
Fassung zu setzen, der ihm so viele Vorzüge eingestehen mußte, und überdas
noch sein Sklave war. Allein man kann sich irren. Agathon hatte diese
ganze emphatische Rede mit einem Lächeln angehört, welches fähig gewesen
wäre, alle Sophisten der Welt irre zu machen, wenn die Dunkelheit und das
Vorurteil des Redners für sich selbst es hätten bemerken lassen; und kaum
befand er sich allein, so war die erste Würkung derselben, daß dieses
Lächeln sich in ein Lachen verwandelte, welches er zum Nachteil seines
Zwerchfells länger zurückzuhalten unnötig hielt, und welches immer wieder
anfing, so oft er sich die Miene, den Ton und die Gebärden vorstellte,
womit der weise Hippias die nachdrücklichsten Stellen seiner Rede von sich
gegeben hatte. Allein diese mechanische Bewegung machte bald ernsthaftern
Gedanken Platz, und es fehlte wenig, so hätte er sich selbst Vorwürfe
darüber gemacht, daß er fähig gewesen darüber zu lachen, daß ein so großer
Unterschied zwischen Hippias und Agathon war. "Ein Mensch, der so lebt
wie Hippias", dacht' er, "muß so denken; und wer so denkt wie Hippias
würde unglücklich sein, wenn er nicht so leben könnte. Ich muß lachen",
fuhr er mit sich selbst fort, "wenn ich an den Ton der Unfehlbarkeit denke,
womit er sprach. Dieser Ton ist mir nicht so neu, als der weise Hippias
glauben mag. Ich habe Gerber und Sackträger zu Athen gekannt, die sich
nicht zu wenig deuchten, mit dem ganzen Volk in diesem Ton zu sprechen.
Du glaubst mir etwas neues gesagt zu haben, wenn du meine Denkungsart
Schwärmerei nennst, und mir mit der Gewißheit eines Propheten die
Schicksale ankündigest, die sie mir zuziehen wird. Wie sehr betrügst du
dich, wenn du mich dadurch erschreckt zu haben glaubst! O! Hippias, was
ist das, was du Glückseligkeit nennest? Niemals wirst du fähig sein, zu
wissen was Glückseligkeit ist. Was du so nennst ist Glückseligkeit, wie
das Liebe ist, was dir deine Tänzerinnen einflößen. Du nennst die meinige
Schwärmerei; laß mich immer ein Schwärmer sein, und sei du ein Weiser.
Die Natur hat dir diese Empfindlichkeit, diese innerlichen Sinnen versagt,
die den Unterschied zwischen uns beiden machen; du bist einem Tauben
ähnlich, der die fröhlichen Bewegungen, welche die begeisternde Flöte
eines Damon in alle Glieder seiner Hörer bringt, dem Wein oder der
Unsinnigkeit zuschreibt; er würde tanzen wie sie, wenn er hören könnte.
Die Weltleute sind in der Tat nicht zu verdenken, wenn sie uns andre für
ein wenig mondsüchtig halten; wer will ihnen zumuten, daß sie glauben
sollen, es fehle ihnen etwas, das zu einem vollständigen Menschen gehört?
Ich kannte zu Athen ein junges Frauenzimmer, welches die Natur wegen der
Häßlichkeit ihrer übrigen Figur durch sehr artige Füße getröstet hatte.
'Ich möchte doch wissen', sagte sie zu einer Freundin, 'was diese jungen
Gecken an der einbildischen Timandra sehen, daß sie sonst für niemand
Augen haben als für sie? Es ist wahr, sie hat keine unfeine Farbe, ihre
Züge sind so so, ihre Augen wenigstens aufmunternd genug, und sie ist sehr
besorgt, ihre Bewunderer durch Auslegung gewisser schlüpfriger Schönheiten
für die Gleichgültigkeit ihres Gesichts schadlos zu halten; aber was sie
für Füße hat! Wie kann man einen Anspruch an Schönheit machen, ohne einen
feinen Fuß zu haben?' 'Du hast Recht', versetzte die Freundin, die der
Natur nichts schönes zu danken hatte, als ein paar überaus kleine Ohren;
'man muß einen Fuß haben wie du, um schön zu sein; aber was sagst du zu
ihren Ohren, Hermia? So wahr mir Diana gnädig sei, sie würden einem
Faunen Ehre machen.' So sind die Menschen, und es wäre unbillig ihnen übel
zu nehmen, daß sie so sind. Die Nachtigall singt, der Rabe krächzt, und
er müßte kein Rabe sein, wenn er nicht dächte, daß er gut krächze; er hat
noch recht, wenn er denkt, die Nachtigall krächze nicht gut; es ist wahr,
dann geht er zu weit, wenn er über die Nachtigall spottet, daß sie nicht
so gut krächzt wie er; aber sie würde eben so Unrecht haben, wenn sie über
ihn lachte, daß er nicht singe wie sie; er singt nicht, aber er krächzt
doch gut, und das ist für ihn genug. Aber Hippias ist besorgt für mich,
er bedaurt mich, er will mich so glücklich machen, wie er ist. Das ist
großmütig! Er hat ausfindig gemacht, daß ich das Schöne liebe, daß ich
gegen den Reiz, des Vergnügens nicht unempfindlich bin. Diese Entdeckung
war leicht zu machen; aber in den Schlüssen, die er daraus zieht, könnt'
er sich betrogen haben. Der kluge Ulysses zog sein steinichtes kleines
Ithaca, wo er frei war, und sein altes Weib mit der er vor zwanzig Jahren
jung gewesen war, der bezauberten Insel der schönen Calypso vor, wo er
unsterblich und ein Sklave gewesen wäre; und der Schwärmer Agathon würde
mit allem seinem Geschmack für das Schöne, und mit aller seiner
Empfindlichkeit für die Ergötzungen, ohne sich einen Augenblick zu
bedenken, lieber in das Faß des Diogenes kriechen, als den Palast, die
Gärten, das Serail und die Reichtümer des weisen Hippias besitzen, und
Hippias sein."

Immer Selbstgespräche, hören wir den Leser sagen. Wenigstens ist dieses
eines, und wer kann davor? Agathon hatte sonst niemand, mit dem er hätte
reden können als sich selbst; denn mit den Bäumen und Nymphen reden nur
die Verliebten. Wir müssen uns schon entschließen, ihm diese Unart zu gut
zu halten, und wir sollten es desto eher tun können, da ein so feiner
Weltmann als Horaz unstreitig war, sich nicht geschämt hat zu gestehen,
daß er öfters mit sich selbst zu reden pflege.




ACHTES KAPITEL

Vorbereitungen zum Folgenden


Agathon hatte noch nicht lange genug unter den Menschen gelebt, um die
Welt so gut zu kennen, als ein Theophrast sie zu der Zeit kannte, da er
sie verlassen mußte. Allein was ihm an Erfahrung abging, ersetzte seine
natürliche Gabe in den Seelen zu lesen, die durch die Aufmerksamkeit
geschärft worden war, womit er die Menschen und die Auftritte des Lebens,
die er zu sehen Gelegenheit gehabt, beobachtet hatte. Daher kam es, daß
seine letzte Unterredung mit dem Hippias, anstatt ihn etwas zu lehren, nur
den Verdacht rechtfertigte, den er schon einige Zeit gegen den Charakter
und die Denkungsart dieses Sophisten gefaßt hatte. Er konnte also auch
leicht erraten, von was für einer Art die geheime Philosophie sein würde,
von welcher er ihm so große Vorteile versprochen hatte. Dem ungeachtet
verlangte ihn nach dieser Zusammenkunft, teils weil er neugierig war, die
Denkungsart eines Hippias in ein System gebracht zu sehen, teils weil er
sich von der Beredsamkeit desselben diejenige Art von Ergötzung versprach,
die uns ein geschickter Gaukler macht, der uns einen Augenblick sehen läßt,
was wir nicht sehen, ohne es bei einem klugen Menschen so weit zu bringen,
daß man in eben demselben Augenblick nur daran zweifeln sollte, daß man
betrogen wird. Mit einer Gemütsverfassung, die so wenig von der
Gelehrigkeit hatte, welche Hippias foderte, fand sich Agathon ein, als er
nach Verfluß einiger Tage an einem Morgen in das Zimmer des Sophisten
gerufen wurde, welcher auf einem Ruhbette liegend seiner erwartete, und
ihm befahl sich neben ihm niederzusetzen und das Frühstück mit ihm zu
nehmen. Diese Höflichkeit war nach der Absicht des weisen Hippias eine
Vorbereitung, und er hatte, um die Würkung derselben zu befördern, das
schönste Mädchen in seinem Hause ausersehen, sie hiebei zu bedienen. In
der Tat die Gestalt dieser Nymphe, und die gute Art womit sie ihr Amt
versah, machten ihre Aufwartung für einen Weisen von Agathons Alter ein
wenig beunruhigend. Das schlimmste war, daß die kleine Hexe, um sich
wegen der Gleichgültigkeit zu rächen, womit Agathon ihre zuvorkommende
Gütigkeit bisher vernachlässiget hatte, keinen von den Kunstgriffen
verabsäumte, wodurch sie den Wert des von ihm verscherzten Glückes
empfindlicher zu machen glaubte. Sie hatte die Bosheit gehabt, sich in
einem so niedlichen, so sittsamen und doch so verführerischen Morgen-Anzug
darzustellen, daß Agathon sich nicht verhindern konnte zu denken, die
Grazien selbst könnten, wenn sie gekleidet erscheinen wollten, keinen
Anzug erfinden, der auf eine wohlanständigere Art das Mittel, zwischen der
eigentlichen Kleidung und ihrer gewöhnlichen Art sich sehen zu lassen,
hielte. Die Wahrheit zu sagen, das rosenfarbe Gewand, welches sie umfloß,
war eher demjenigen ähnlich, was Petron einen gewebten Wind oder einen
leinenen Nebel nennt, als einem Zeug der den Augen etwas entziehen soll;
und die kleinste Bewegung entdeckte Reizungen, die desto gefährlicher
waren, da sie sich gleich wieder in verräterische Schatten verbargen, und
der Einbildungskraft noch mehr als den Augen nachzustellen schienen. Dem
ungeachtet würde unser Held sich vielleicht ganz wohl aus der Sache
gezogen haben, wenn er nicht beim ersten Anblick die Absichten des Hippias
und der schönen Cyana (so hieß das junge Frauenzimmer) erraten hätte.
Diese Entdeckung setzte ihn in eine Art von Verlegenheit, die desto
merklicher wurde, je größere Gewalt er sich antat, sie zu verbergen; er
errötete zu seinem größten Verdruß bis an die Ohren, er machte allerlei
gezwungne Gebärden, und sah alle Gemälde in dem Zimmer nach einander an,
um seine Verwirrung unmerklich zu machen; aber alle seine Mühe war umsonst,
und die Geschäftigkeit der schalkhaften Cyane fand immer neuen Vorwand
seinen zerstreuten Blick auf sich zu ziehen. Doch der Triumph, dessen
sie in diesen Augenblicken genoß, währte nicht lange. So empfindlich die
Augen Agathons waren, so waren sie es doch nicht mehr als sein moralischer
Sinn; und ein Gegenstand, der diesen beleidigte, konnte keinen so
angenehmen Eindruck auf jene machen, daß er nicht von der unangenehmen
Empfindung des andern wäre überwogen worden. Die Forderungen der schönen
Cyane, das Gekünstelte, das Schlaue, das Schlüpfrige, das ihm an ihrer
ganzen Person anstößig war, löschte das Reizende so sehr aus, und
erkaltete seine Sinnen so sehr, daß ein größerer Grad davon, gleich dem
Anblick der Medusa, fähig gewesen wäre, ihn in einen Stein zu verwandeln.
Die Freiheit und Gleichgültigkeit, die ihm dieses gab, blieb Cyanen nicht
verborgen; und er sorgte dafür, sie durch gewisse Blicke, und ein gewisses
Lächeln, dessen Bedeutung ihr ganz deutlich war, zu überzeugen, daß sie zu
früh triumphiert habe. Dieses Betragen war für ihre Reizungen allzu
beleidigend, als daß sie es so gleich für ungezwungen hätte halten sollen;
der Widerstand, den sie fand, forderte sie zu einem Wettstreit heraus,
worin sie alle ihre Künste anwandte, den Sieg zu erhalten; allein die
Stärke ihres Gegners ermüdete endlich ihre Hoffnung, und sie behielt kaum
noch so viel Gewalt über sich selbst, den Verdruß zu verbergen, den sie
über diese Demütigung ihrer Eitelkeit empfand. Hippias, der sich eine
zeitlang stillschweigend mit diesem Spiel belustigte, urteilte bei sich
selbst, daß es nicht leicht sein werde, den Verstand eines Menschen zu
fangen, dessen Herz selbst auf der schwächsten Seite, sowohl befestiget
schien. Allein diese Anmerkung bekräftigte ihn nur in seinen Gedanken von
der Methode, die er bei seinem neuen Schüler gebrauchen müsse; und da er
selbst von seinem System besser überzeugt war, als irgend ein Bonze von
der Kraft der Amulete, die er seinen dankbaren Gläubigen austeilt, so
zweifelte er nicht, daß Agathon durch einen freimütigen Vortrag besser zu
gewinnen sein würde, als durch die rednerischen Kunstgriffe, deren er sich
bei schwachem Seelen mit gutem Erfolg zu bedienen pflegte. Sobald also
das Frühstück genommen, und die beschämte Cyane abgetreten war, fing er
nach einem kleinen Vorbereitungs-Gespräch, den merkwürdigen Diskurs an,
durch dessen vollständige Mitteilung wir desto mehr Dank zu verdienen
hoffen, da wir von Kennern versichert worden, daß der geheime Verstand
desselben den buchstäblichen an Wichtigkeit noch weit übertreffe, und der
wahre und unfehlbare Prozeß, den Stein der Weisen zu finden, darin
verborgen liege.




DRITTES BUCH




ERSTES KAPITEL


 


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