Geschichte des Agathon, Teil 1
by
Christoph Martin Wieland

Part 2 out of 5




Vorbereitung zu einem sehr interessanten Diskurs


"Wenn wir auf das Tun und Lassen der Menschen acht geben, mein lieber
Callias, so scheint zwar, daß alle ihre Sorgen und Bemühungen kein andres
Ziel haben als sich glücklich zu machen; allein die Seltenheit
dererjenigen die es würklich sind, oder es doch zu sein glauben, beweiset
zugleich, daß die meisten nicht wissen, durch was für Mittel sie sich
glücklich machen sollen, wenn sie es nicht sind; oder wie sie sich ihres
guten Glückes bedienen sollen, um in denjenigen Zustand zu kommen den man
Glückseligkeit nennt. Es gibt eben so viele die im Schoße des Ansehens,
des Glücks und der Wollust, als solche die in einem Zustande von Mangel,
Dienstbarkeit und Unterdrückung elend sind. Einige haben sich aus diesem
letztern Zustand emporgearbeitet, in der Meinung, daß sie nur darum
unglückselig sein, weil es ihnen am Besitz der Güter des Glücks fehle.
Allein die Erfahrung hat sie gelehrt, daß wenn es eine Kunst gibt, die
Mittel zur Glückseligkeit zu erwerben, es vielleicht eine noch schwerere,
zum wenigsten eine seltnere Kunst sei, diese Mittel recht zu gebrauchen.
Es ist daher allezeit die Beschäftigung der Verständigsten unter den
Menschen gewesen, durch Verbindung dieser beiden Künste diejenige heraus
zu bringen, die man die Kunst glücklich zu leben nennen kann, und in deren
würklichen Ausübung, nach meinem Begriffe, die Weisheit besteht, die so
selten ein Anteil der Sterblichen ist. Ich nenne sie eine Kunst, weil sie
von der fertigen Anwendung gewisser Regeln abhängt, die nur durch die
übung erlangt werden kann: Allein sie setzt wie alle Künste einen gewissen
Grad von Fähigkeit voraus, den nur die Natur gibt, und den sie nicht allen
zu geben pflegt. Einige Menschen scheinen kaum einer größern
Glückseligkeit fähig zu sein als die Austern, und wenn sie ja eine Seele
haben, so ist es nur so viel als sie brauchen, um ihren Leib eine Zeitlang
vor der Fäulnis zu bewahren. Ein größerer und vielleicht der größte Teil
der Menschen befindet sich nicht in diesem Fall; aber weil es ihnen an
genugsamer Stärke des Gemüts, und an einer gewissen Zärtlichkeit der
Empfindung mangelt, so ist ihr Leben gleich dem Leben der übrigen Tiere
des Erdbodens, zwischen Vergnügen, die sie weder zu wählen noch zu
genießen, und Schmerzen, denen sie weder zu widerstehen noch zu entfliehen
wissen, geteilt. Wahn und Leidenschaften sind die Triebfedern dieser
menschlichen Maschinen; beide setzen sie einer unendlichen Menge von übeln
aus, die es nur in einer betrognen Einbildung, aber eben darum wo nicht
schmerzlicher doch anhaltender und unheilbarer sind, als diejenigen die
uns die Natur auferlegt. Diese Art von Menschen ist keines gesetzten und
anhaltenden Vergnügens, keines Zustandes von Glückseligkeit fähig; ihre
Freuden sind Augenblicke, und ihre übrige Dauer ist entweder ein
würkliches Leiden, oder ein unaufhörliches Gefühl verworrner Wünsche, eine
immerwährende Ebbe und Flut von Furcht und Hoffnung, von Phantasien und
Gelüsten; kurz eine unruhige Bewegung die weder ein gewisses Maß noch ein
festes Ziel hat, und also weder ein Mittel zur Erhaltung dessen was gut
ist sein kann, noch dasjenige genießen läßt, was man würklich besitzt. Es
scheint also unmöglich zu sein, ohne eine gewisse Zärtlichkeit der
Empfindung, die uns in einer weitern Sphäre, mit feinern Sinnen und auf
eine angenehmere Art genießen läßt, und ohne diejenige Stärke der Seele,
die uns fähig macht das Joch der Phantasie und des Wahns abzuschütteln,
und die Leidenschaften in unsrer Gewalt zu haben, zu demjenigen ruhigen
Zustande von Genuß und Zufriedenheit zu kommen, der die Glückseligkeit
ausmacht. Nur derjenige ist in der Tat glücklich, der sich von den übeln
die nur in der Einbildung bestehen, gänzlich frei zu machen; diejenigen
aber, denen die Natur den Menschen unterworfen hat, entweder zu vermeiden,
oder doch zu vermindern--und das Gefühl derselben einzuschläfern, hingegen
sich in den Besitz alles des Guten, dessen uns die Natur fähig gemacht hat,
zu setzen, und was er besitzt, auf die angenehmste Art zu genießen weiß;
und dieser Glückselige allein ist der Weise.

Wenn ich dich anders recht kenne, Callias, so hat dich die Natur mit den
Fähigkeiten es zu sein so reichlich begabt, als mit den Vorzügen, deren
kluger Gebrauch uns die Gunstbezeugungen des Glücks zu verschaffen pflegt.
Dem ungeachtet bist du weder glücklich, noch hast du die Miene es jemals
zu werden, so lange du nicht gelernt haben wirst, von beiden einen andern
Gebrauch zu machen als du bisher getan hast. Du wendest die Stärke deiner
Seele an, dein Herz gegen das wahre Vergnügen unempfindlich zu machen, und
beschäftigest deine Empfindlichkeit mit unwesentlichen Gegenständen, die
du nur in der Einbildung siehest, und nur im Traume genießest; die
Vergnügungen, welche die Natur dem Menschen zugeteilt hat, sind für dich
Schmerzen, weil du dir Gewalt antun mußt sie zu entbehren; und du setzest
dich allen übeln aus, die sie uns vermeiden lehrt, indem du anstatt einer
nützlichen Geschäftigkeit dein Leben mit den süßen Einbildungen
wegträumest, womit du dir die Beraubung des würklichen Vergnügens zu
ersetzen suchst. Dein übel, mein lieber Callias, entspringt von einer
Einbildungskraft, die dir ihre Geschöpfe in einem überirdischen Glanze
zeigt, der dein Herz verblendet, und ein falsches Licht über das was
würklich ist ausbreitet; einer dichterischen Einbildungskraft, die sich
beschäftiget schönere Schönheiten, und angenehmere Vergnügungen zu
erfinden als die Natur hat; einer Einbildungskraft, ohne welche weder
Homere, noch Alcamene, noch Polygnote wären; welche gemacht ist unsre
Ergötzungen zu verschönern, aber nicht die Führerin unsers Lebens zu sein.
Um weise zu sein, hast du nichts nötig als die gesunde Vernunft an die
Stelle dieser begeisterten Zauberin, und die kalte überlegung an den Platz
eines sehr oft betrüglichen Gefühls zu setzen. Bilde dir auf etliche
Augenblick' ein, daß du den Weg zur Glückseligkeit erst suchen müssest;
frage die Natur, höre ihre Antwort, und folge dem Pfade, den sie dir
vorzeichnen wird."




ZWEITES KAPITEL

Theorie der angenehmen Empfindungen


"Und wen anders als die Natur können wir fragen, um zu wissen wie wir
leben sollen, um wohl zu leben? Die Götter? Wenn eine Gottheit ist, so
ist sie entweder die Natur selbst, oder die Urheberin der Natur; in beiden
Fällen ist die Stimme der Natur die Stimme der Gottheit. Sie ist die
allgemeine Lehrerin aller Wesen; sie lehrt jedes Tier vom Elephanten bis
zum Insekt, was seiner besondern Verfassung gut oder schädlich ist. Um so
glücklich zu sein als es diese innerliche Einrichtung erlaubt, braucht das
Tier nichts weiter, als dieser Stimme der Natur zu folgen, welche bald
durch den süßen Zug des Vergnügens, bald durch das ungedultige Fodern des
Bedürfnisses, bald durch das ängstliche Pochen des Schmerzens es zu
demjenigen locket, was ihm zuträglich ist, oder es zur Erhaltung seines
Lebens und seiner Gattung auffordert, oder es vor demjenigen warnet, was
seinem Wesen die Zerstörung dräuet. Sollte der Mensch allein von dieser
mütterlichen Vorsorge ausgenommen sein, oder er allein irren können, wenn
er der Stimme folget, die zu allen Wesen redet? Oder ist nicht vielmehr
die Unachtsamkeit und der Ungehorsam gegen ihre Erinnerungen die einzige
wahre Ursache, warum unter einer unendlichen Menge von lebenden Wesen der
Mensch das einzige Unglückselige ist?

Die Natur hat allen ihren Werken eine gewisse Einfalt eingedrückt, die
ihre mühsamen Anstalten und eine genaue Regelmäßigkeit unter einem Schein
von Leichtigkeit und ungezwungner Anmut verbirgt. Mit diesem Stempel
sind auch die Gesetze der Glückseligkeit bezeichnet, die sie dem Menschen
vorgeschrieben hat. Sie sind einfältig, leicht auszuüben, und führen
gerade und sicher zum Zweck. Die Kunst glücklich zu leben, würde die
gemeinste unter allen Künsten sein, wie sie die leichteste ist, wenn die
Menschen nicht gewohnt wären sich einzubilden, daß man große Absichten
nicht anders, als durch große Anstalten erreichen könne. Es scheint ihnen
zu einfältig, daß alles was ihnen die Natur durch den Mund der Weisheit zu
sagen hat, in diese drei Erinnerungen zusammen fließen soll: Befriedige
deine Bedürfnisse, vergnüge alle deine Sinnen, und erspare dir so viel du
kannst alle schmerzhaften Empfindungen. Und doch wird dich eine kleine
Aufmerksamkeit überführen, daß die vollständigste Glückseligkeit deren die
Sterblichen fähig sind, in die Linie eingeschlossen ist, die von diesen
dreien Formuln bezeichnet wird.

Es hat Narren gegeben, welche die Frage mühsam untersucht haben, ob das
Vergnügen ein Gut, und der Schmerz ein übel sei? Es hat noch größere
Narren gegeben, welche würklich behaupteten, der Schmerz sei kein übel,
und das Vergnügen kein Gut; und was das lustigste dabei ist, beide haben
Toren gefunden, die albern genug waren, diese Narren für weise zu halten.
Das Vergnügen ist kein Gut, sagen sie, weil es Fälle gibt wo der Schmerz
ein größeres Gut ist; und der Schmerz ist kein übel, weil er zuweilen
besser ist als das Vergnügen. Sind diese Wortspiele einer Antwort wert?
Was würd' ein Zustand sein, der in einem vollständigen unaufhörlichen
Gefühl des höchsten Grades aller möglichen Schmerzen bestünde? Wenn dieser
Zustand das höchste übel ist, so ist der Schmerz ein übel. Doch wir
wollen die Schwätzer mit Worten spielen lassen, die ihnen bedeuten müssen
was sie wollen. Die Natur entscheidet diese Frage, wenn es eine sein kann,
auf eine Art, die keinen Zweifel übrig läßt. Wer ist, der nicht lieber
vernichtet als unaufhörlich gepeiniget werden wollte? Wer sieht nicht
einen schönen Gegenstand lieber, als einen ekelhaften? Wer hört nicht
lieber den Gesang der Grasmücke, als das Geheul der Nachteule? Wer zieht
nicht einen angenehmen Geruch oder Geschmack einem widrigen vor? Und
würde nicht der enthaltsame Callias selbst lieber auf einem Lager von
Blumen in den Rosenarmen irgend einer schönen Nymphe ruhen, als in den
glühenden Armen des ehernen Götzenbildes, welchem die Andacht gewisser
Syrischer Völker, wie man sagt, ihre Kinder opfert? Eben so wenig scheint
es einem Zweifel unterworfen zu sein, daß der Schmerz und das Vergnügen so
unverträglich sind, daß eine einzige gepeinigte Nerve genug ist, uns gegen
die vereinigten Reizungen aller Wollüste unempfindlich zu machen. Die
Freiheit von allen Arten der Schmerzen ist also unstreitig eine
unumgängliche Bedingung der Glückseligkeit; allein da sie nichts positives
ist, so ist sie nicht so wohl ein Gut, als der Zustand, worin man des
Genusses des Guten fähig ist. Dieser Genuß allein ist es, dessen Dauer
den Stand hervorbringt, den man Glückseligkeit nennt.

Es ist unleugbar, daß nicht alle Arten und Grade des Vergnügens gut sind.
Die Natur allein hat das Recht uns die Vergnügen anzuzeigen, die sie uns
bestimmt hat. So unendlich die Menge dieser angenehmen Empfindungen zu
sein scheint, so ist doch leicht zu sehen, daß sie alle entweder zu den
Vergnügungen der Sinne, oder der Einbildungskraft, oder zu einer dritten
Klasse, die aus beiden zusammen gesetzt ist, gehören. Die Vergnügen der
Einbildungskraft sind entweder Erinnerungen an ehmals genossene sinnliche
Vergnügen; oder Mittel uns den Genuß derselben reizender zu machen; oder
angenehme Dichtungen und Träume, die entweder in einer neuen willkürlichen
Zusammensetzung der angenehmen Ideen, die uns die Sinne gegeben, oder in
einer dunkel eingebildeten Erhöhung der Grade jener Vergnügen, die wir
erfahren haben, bestehen. Es sind also, wenn man genau reden will, alle
Vergnügungen im Grunde sinnlich, indem sie, es sei nun unmittelbar oder
vermittelst der Einbildungskraft, von keinen andern als sinnlichen
Vorstellungen entstehen können.

Die Philosophen reden von Vergnügen des Geistes, von Vergnügen des Herzens,
von Vergnügen der Tugend. Alle diese Vergnügen sind es für die Sinnen
oder für die Einbildungskraft, oder sie sind nichts. Warum ist Homer
unendlich mal angenehmer zu lesen als Heraclitus? Weil die Gedichte des
ersten eine Reihe von Gemälden darstellen, die entweder durch die
eigentümliche Reizungen des Gegenstandes, oder die Lebhaftigkeit der
Farben, oder einen Kontrast, der das Vergnügen durch eine kleine Mischung
mit widrigen Empfindungen erhöhet, oder die Erregung angenehmer Bewegungen,
unsre Phantasie bezaubern.--Da die trocknen Schriften des Philosophen
nichts darstellen, als eine Reihe von Wörtern, womit man abgezogne
Begriffe bezeichnet, von denen sich die Einbildungskraft nicht anders als
mit vieler Anstrengung und einer beständigen Bemühung, die gänzliche
Verwirrung so vieler unbestimmter Schattenbilder zu verhüten, einige Ideen
machen kann; wenn anders dasjenige so genennt zu werden verdient, was in
Absicht seines wirklichen Gegenstands in der Natur, kaum so viel ist als
ein Schatten gegen den Körper der ihn zu werfen scheint. Es ist wahr, es
gibt abgezogene Begriffe, die für gewisse enthusiastische Seelen
entzückend sind; aber warum sind sie es? In der Tat bloß darum, weil ihre
Einbildungskraft sie auf eine schlaue Art zu verkörpern weiß. Untersuche
alle angenehmen Ideen von dieser Art, so unkörperlich und geistig sie
scheinen mögen, und du wirst finden, daß das Vergnügen, so sie deiner
Seele machen, von den sinnlichen Vorstellungen entsteht, womit sie
begleitet sind. Bemühe dich so sehr als du willst, dir Götter ohne
Gestalt, ohne Glanz, ohne etwas das die Sinnen rührt, vorzustellen; es
wird dir unmöglich sein. Der Jupiter des Homer und Phidias, die Idee
eines Hercules oder Theseus, wie unsre Einbildungskraft sich diese Helden
vorzustellen pflegt, die Ideen eines überirdischen Glanzes, einer mehr als
menschlichen Schönheit, eines ambrosischen Geruchs, werden sich unvermerkt
an die Stelle derjenigen setzen, die du dich vergeblich zu machen
bestrebest; und du wirst noch immer an dem irdischen Boden kleben, wenn du
schon in den empyreischen Gegenden zu schweben glaubst. Sind die
Vergnügen des Herzens weniger sinnlich? Sie sind die Allersinnlichsten.
Ein gewisser Grad derselben verbreitet eine wollüstige Wärme durch unser
ganzes Wesen, belebt den Umlauf des Blutes, ermuntert das Spiel der Fibern,
und setzt unsre ganze Maschine in einen Zustand von Behaglichkeit, der
sich der Seele um so mehr mitteilet, als ihre eigne natürliche
Verrichtungen auf eine angenehme Art dadurch erleichtert werden. Die
Bewunderung, die Liebe, das Verlangen, die Hoffnung, das Mitleiden, jeder
zärtliche Affekt bringt diese Würkung in einigem Grad hervor, und ist
desto angenehmer, je mehr er sich derjenigen Wollust nähert, die unsre
Alten würdig gefunden haben, in der Gestalt der personifizierten Schönheit,
aus deren Genuß sie entspringt, unter die Götter gesetzt zu werden.
Derjenige, den sein Freund niemals in Entzückungen gesetzt hat, die den
Entzückungen der Liebe ähnlich sind, ist nicht berechtiget von den
Vergnügen der Freundschaft zu reden. Was ist das Mitleiden, welches uns
zur Guttätigkeit treibt? Wer anders ist desselben fähig als diese
empfindlichen Seelen, deren Auge durch den Anblick, deren Ohr durch den
ächzenden Ton des Schmerzens und Elends gequälet wird, und die in dem
Augenblick, da sie die Not eines Unglücklichen erleichtern, beinahe
dasselbige Vergnügen fühlen, welches sie in eben diesem Augenblick an
seiner Stelle gefühlt hätten? Wenn das Mitleiden nicht ein wollüstiges
Gefühl ist, warum rührt uns nichts so sehr als die leidende Schönheit?
Warum lockt die klagende Phädra in der Nachahmung zärtliche Tränen aus
unsern Augen, da die winselnde Häßlichkeit in der Natur nichts als Ekel
erweckt? Und sind etwan die Vergnügen der Wohltätigkeit und Menschenliebe
weniger sinnlich? Dasjenige, was in dir vorgehen wird, wenn du dir die
kontrastierenden Gemälde einer geängstigten und einer fröhlichen Stadt
vorstellest, die Homer auf den Schild des Achilles setzt, wird dir diese
Frage auflösen! Nur diejenigen, die der Genuß des Vergnügens in die
lebhafteste Entzückung setzt, sind fähig, von den lachenden Bildern einer
allgemeinen Freude und Wonne so sehr gerührt zu werden, daß sie dieselbige
außer sich zu sehen wünschen; das Vergnügen der Guttätigkeit wird allemal
mit demjenigen in Verhältnis stehen, welches ihnen der Anblick eines
vergnügten Gesichts, eines fröhlichen Tanzes, einer öffentlichen
Lustbarkeit macht; und es ist nur der Vorteil ihres Vergnügens, je
allgemeiner diese Szene ist. Je größer die Anzahl der Fröhlichen und die
Mannigfaltigkeit der Freuden, desto größer die Wollust, wovon diese Art
von Menschen, an denen alles Sinn, alles Herz und Seele ist, beim Anblick
derselben überströmet werden. Laß uns also gestehen, Callias, daß alle
Vergnügen, die uns die Natur anbeut, sinnlich sind; und daß die
hochfliegendste, abgezogenste und geistigste Einbildungskraft uns keine
andre verschaffen kann, als solche, die wir auf eine weit vollkommnere Art
aus dem rosenbekränzten Becher, und von den Lippen der schönen Cyane
saugen könnten.

Es ist wahr, es gibt noch eine Art von Vergnügen, die beim ersten Anblick
eine Ausnahme von meinem Satz zu machen scheint. Man könnte sie
künstliche nennen, weil wir sie nicht aus den Händen der Natur empfangen,
sondern nur gewissen übereinkommnissen der menschlichen Gesellschaft zu
danken haben, durch welche dasjenige, was uns dieses Vergnügen macht, die
Bedeutung eines Gutes erhalten hat. Allein die kleinste überlegung ist
hinlänglich uns zu überzeugen, daß diese Dinge uns keine andre Art von
Vergnügen machen, als die wir vom Besitz des Geldes haben; welches wir mit
Gleichgültigkeit ansehen würden, wenn es uns nicht für alle die würklichen
Vergnügen Gewähr leistete, die wir uns dadurch verschaffen können. Von
dieser Art ist dasjenige, welches der Ehrgeizige empfindet, wenn ihm
Bezeugungen einer scheinbaren Hochachtung oder Unterwürfigkeit gemacht
werden, die ihm als Zeichen seines Ansehens und der Macht, die ihm
dasselbe über andre gibt, angenehm sind. Ein morgenländischer Despot
bekümmert sich wenig um die Hochachtung seiner Völker; sklavische
Unterwürfigkeit ist für ihn genug. Ein Mensch hingegen, dessen Glück in
den Händen solcher Leute liegt, die seines gleichen sind, ist genötiget,
sich ihre Hochachtung zu erwerben. Allein diese Unterwürfigkeit ist dem
Despoten, diese Hochachtung ist dem Republikaner nur darum angenehm, weil
sie das Vermögen oder die Gelegenheit gibt, die Leidenschaften und die
Begierden desto besser zu befriedigen, welche die unmittelbaren Quellen
des Vergnügens sind. Warum ist Alcibiades ehrgeizig? Alcibiades bewirbt
sich um einen Ruhm, der seine Ausschweifungen, seinen übermut, seinen
schleppenden Purpur, seine Schmäuse und Liebeshändel bedeckt; der es den
Atheniensern erträglich macht, den Liebesgott, mit dem Blitze Jupiters
bewaffnet, auf dem Schilde seines Feldherrn zu sehen; der die Gemahlin
eines spartanischen Königs so sehr verblendet, daß sie stolz darauf ist,
für seine Buhlerin gehalten zu werden. Ohne diese Vorteile würde ihm
Ansehn und Ruhm so gleichgültig sein, als ein Haufen Rechenpfennige einem
corinthischen Wucherer. 'Allein', spricht man, 'wenn es seine Richtigkeit
hat, daß die Vergnügen der Sinne alles sind, was uns die Natur zuerkannt
hat, was ist leichter und was braucht weniger Kunst und Anstalten, als
glücklich zu sein? Wie wenig bedarf die Natur um zu frieden zu sein?' Es
ist wahr, die rohe Natur bedarf wenig. Ihre Unwissenheit ist ihr Reichtum.
Eine Bewegung, die seinen Körper munter erhält, eine Nahrung die den
Hunger stillt, ein Weib, schön oder häßlich, wenn ihn die Ungeduld eines
gewissen Bedürfnisses beunruhiget, ein schattichter Rasen, wenn er des
Schlafs bedarf, und eine Höhle, sich vor dem Ungewitter zu sichern, ist
alles was der wilde Mensch nötig hat, um in dem Lauf von achtzig oder
hundert Jahren sich nur nicht einmal einfallen zu lassen, daß man mehr
brauchen könne. Die Vergnügen der Einbildungskraft und des Geschmacks
sind nicht für ihn; er genießt nicht mehr als die übrigen Tiere, und
genießt wie sie. Wenn er glücklich ist, weil er sich nicht für
unglücklich hält, so ist er es doch nicht in Vergleichung mit demjenigen,
für den die Künste des Witzes und des Geschmacks die angenehmste Art der
Bedürfnisse der Natur zu genießen, und eine unendliche Menge von
Ergötzungen der Sinne und der Einbildung erfunden haben, wovon die Natur
in dem rohen Zustande, worin wir sie uns in den ältesten Zeiten vorstellen,
keinen Begriff hat. Diese Vergleichung, es ist wahr, findet nur in dem
Stand einer Gesellschaft statt, die sich in einer langen Reihe von
Jahrhunderten endlich zu einem gewissen Grade der Vollkommenheit erhoben
hat. In einem solchen aber wird alles das zum Bedürfnis, was der Wilde
nur darum nicht vermisset, weil es ihm unbekannt ist; und ein Diogenes
könnte zu Corinth nicht glücklich sein, wenn er nicht ein Narr wäre.
Gewisse poetische Köpfe haben sich ein goldnes Alter, ein Arcadien, ein
angenehmes Hirtenleben geträumt, welches zwischen der rohen Natur und der
Lebensart des begüterten Teils eines gesitteten und sinnreichen Volkes das
Mittel halten soll. Sie haben die verschönerte Natur von allem demjenigen
entkleidet, wodurch sie verschönert worden ist, und dieses idealische
Wesen die schöne Natur genannt. Allein außerdem, daß diese schöne Natur,
in dieser nackten Einfalt, welche man ihr gibt, niemals irgendwo vorhanden
war; wer siehet nicht, daß die Lebensart des goldnen Alters der Dichter,
zu derjenigen, welche durch die Künste mit allem bereichert und ausgeziert
worden, was der Witz zu erfinden fähig ist, um uns in den Armen einer
ununterbrochnen Wollust, vor dem überdruß der Sättigung zu bewahren; daß,
sage ich, jene dichtrische Lebensart zu dieser sich eben so verhält, wie
die Lebensart des wildesten Sogdianers zu jener? Wenn es angenehmer ist
in einer bequemen Hütte zu wohnen als in einem hohlen Baum, so ist es noch
angenehmer in einem geräumigen Hause zu wohnen, das mit den
ausgesuchtesten und wollüstigsten Bequemlichkeiten versehen, und, wohin
man die Augen wendet, mit Bildern des Vergnügens ausgeziert ist; und wenn
eine mit Bändern und Blumen geschmückte Phyllis reizender ist als eine
schmutzige und zottichte Wilde, muß nicht eine von unsern Schönen, deren
natürliche Reizungen durch einen wohlausgesonnenen und schimmernden Putz
erhoben werden, um eben so viel besser gefallen als eine Phyllis?"




DRITTES KAPITEL

Die Geisterlehre eines echten Materialisten


"Wir haben die Natur gefragt, Callias, worin die Glückseligkeit bestehe,
die sie uns zugedacht habe, und wir haben ihre Antwort. Ein
schmerzenfreies Leben, die angenehmste Befriedigung unsrer natürlichen
Bedürfnisse, und der abwechslende Genuß aller Arten von Vergnügen, womit
die Einbildungskraft, der Witz und die Künste unsern Sinnen zu schmeicheln
fähig sind.--Dieses ist alles was der Mensch fodern kann, und wenn es eine
erhabnere Art von Glückseligkeit gibt, so können wir wenigstens gewiß sein,
daß sie nicht für uns gehört, da wir nicht einmal fähig sind, uns eine
Vorstellung davon zu machen. Es ist wahr, der enthusiastische Teil unter
den Verehrern der Götter schmeichelt sich mit einer zukünftigen
Glückseligkeit, zu welcher die Seele nach der Zerstörung des Körpers erst
gelangen soll. Die Seele, sagen sie, war ehmals eine Freundin und
Gespielin der Götter, sie war unsterblich wie sie, und begleitete (wie
Plato homerisiert) den geflügelten Wagen Jupiters, um mit den übrigen
Unsterblichen die unvergängliche Schönheiten zu beschauen, womit die
unermeßlichen Räume über den Sphären erfüllt sind. Ein Krieg, der unter
den Bewohnern der unsichtbaren Welt entstand, verwickelte sie in den Fall
der Besiegten; sie ward vom Himmel gestürzt, und in den Kerker eines
tierischen Leibes eingeschlossen, um durch den Verlust ihrer ehmaligen
Wonne, in einem Zustand, der eine Kette von Plagen und Schmerzen ist, ihre
Schuld auszutilgen. Das unendliche Verlangen, der nie gestillte Durst
nach einer Glückseligkeit, die sie in keinem irdischen Gut findet, ist das
einzige, das ihr zu ihrer Qual von ihrem vormaligen Zustand übrig
geblieben ist; und es ist unmöglich, daß sie diese vollkommne Seligkeit,
wodurch sie allein befriediget werden kann, wieder erlange, eh sie sich
wieder in ihren ursprünglichen Stand, in das reine Element der Geister
empor geschwungen hat. Sie ist also vor dem Tode keiner andern
Glückseligkeit fähig als derjenigen, deren sie durch eine freiwillige
Absonderung von allen irdischen Dingen, durch Ertödung aller irdischen
Leidenschaften und Entbehrung aller sinnlichen Vergnügen, fähig gemacht
wird. Nur durch diese Entkörperung wird sie der Beschauung der
wesentlichen und göttlichen Dinge fähig, worin die Geister ihre einzige
Nahrung und diese vollkommne Wonne finden, wovon die sinnlichen Menschen
sich keinen Begriff machen können. Solchergestalt kann sie nur, nachdem
sie durch verschiedne Grade der Reinigung, von allem was tierisch und
körperlich ist, gesäubert worden, sich wieder zu der überirdischen Sphäre
erheben, mit den Göttern leben, und im Unverwandten Anschauen des
wesentlichen und ewigen Schönen, wovon alles Sichtbare bloß der Schatten
ist, Ewigkeiten durchleben, die eben so grenzenlos sind, als die Wonne,
von der sie überströmet werden.

Ich zweifle nicht daran, Callias, daß es Leute geben mag, bei denen die
Milzsucht hoch genug gestiegen ist, daß diese Begriffe eine Art von
Wahrheit für sie haben. Es ist auch nichts leichters, als daß junge Leute
von lebhafter Empfindung und feurigen Einbildungskraft, durch eine einsame
Lebensart und den Mangel solcher Gegenstände und Freuden, worin sich
dieses übermäßige Feuer verzehren könnte, von diesen hochfliegenden
Schimären eingenommen werden, welche so geschickt sind, ihre nach
Vergnügen lechzende Einbildungskraft durch eine Art von Wollust zu
täuschen, die nur desto lebhafter ist, je verworrener und dunkler die
bezaubernden Phantomen sind die sie hervorbringen; allein ob diese Träume
außer dem Gehirn ihrer Erfinder, und derjenigen, deren Einbildungskraft so
glücklich ist ihnen nachfliegen zu können, einige Wahrheit oder
Würklichkeit haben, ist eine Frage, deren Erörterung nicht zum Vorteil
derselben ausfällt, wenn sie der gesunden Vernunft aufgetragen wird. Je
weniger die Menschen wissen, desto geneigter sind sie, zu wähnen und zu
glauben. Wem anders als der Unwissenheit und dem Aberglauben der ältesten
Welt haben die Nymphen und Faunen, die Najaden und Tritonen, die Furien
und die erscheinenden Schatten der Verstorbnen ihre vermeinte Würklichkeit
zu danken? Je besser wir die Körperwelt kennen lernen, desto enger werden
die Grenzen des Geister-Reichs. Ich will itzo nichts davon sagen, ob es
wahrscheinlich sei, daß die Priesterschaft, die von jeher einen so
zahlreichen Orden unter den Menschen ausgemacht, bald genug die Entdeckung
machen mußte, was für große Vorteile man durch diesen Hang der Menschen
zum Wunderbaren von ihren beiden heftigsten Leidenschaften, der Furcht und
der Hoffnung, ziehen könne. Wir wollen bei der Sache selbst bleiben.
Worauf gründet sich die erhabne Theorie, von der wir reden? Wer hat
jemals diese Götter, diese Geister gesehen, deren Dasein sie voraussetzt?
Welcher Mensch erinnert sich dessen, daß er ehmals ohne Körper in den
ätherischen Gegenden geschwebt, den geflügelten Wagen Jupiters begleitet,
und mit den Göttern Nektar getrunken habe? Was für einen sechsten oder
siebenten Sinn haben wir, um die Würklichkeit der Gegenstände damit zu
erkennen, womit man die Geisterwelt bevölkert? Sind es unsre innerlichen
Sinnen? Was sind diese anders als das Vermögen der Einbildungskraft die
Würkungen der äußern Sinnen nachzuäffen? Was sieht das inwendige Auge
eines Blindgebornen? Was hört das innere Ohr eines gebornen Tauben? Oder
was sind diese Szenen, in welche die erhabenste Einbildungskraft
auszuschweifen fähig ist, anders als neue Zusammensetzungen, die sie
gerade so macht, wie ein Mädchen aus den Blumen, die in einem Parterre
zerstreut stehen, einen Kranz flicht; oder höhere Grade dessen was die
Sinnen würklich empfunden haben, von welchen man jedoch immer unfähig
bleibt, sich einige klare Vorstellung zu machen; denn was empfinden wir
bei dem ätherischen Schimmer, oder den ambrosischen Gerüchen der
homerischen Götter? Wir sehen, wenn ich so sagen kann, den Schatten eines
Glanzes in unsrer Einbildung; wir glauben einen lieblichen Geruch zu
empfinden; aber wir sehen keinen ätherischen Glanz, und empfinden keinen
ambrosischen Geruch. Kurz, man verbiete den Schöpfern der überirdischen
Welten sich keiner irdischen und sinnlichen Materialien zu bedienen, so
werden ihre Welten, um mich eines ihrer Ausdrücke zu bedienen, plötzlich
wieder in den Schoß des Nichts zurückfallen, woraus sie gezogen worden.
Und brauchen wir wohl noch einen andern Beweis, um uns diese ganze Theorie
verdächtig zu machen, als die Methode, die man uns vorschreibt, um zu der
geheimnisvollen Glückseligkeit zu gelangen, welcher wir diejenige
aufopfern sollen, die uns die Natur und unsre Sinnen anbieten? Wir sollen
uns den sichtbaren Dingen entziehen, um die unsichtbaren zu sehen; wir
sollen aufhören zu empfinden, damit wir desto lebhafter phantasieren
können. 'Verstopfet eure Sinnen', sagen sie, 'so werdet ihr Dinge sehen
und hören, wovon diese tierischen Menschen, die gleich dem Vieh mit den
Augen sehen, und mit den Ohren hören, sich keinen Begriff machen können.'
Eine vortreffliche Diät, in Wahrheit; die Schüler des Hippokrates werden
dir beweisen, daß man keine bessere erfinden kann, um wahnwitzig zu werden.
Es scheint also sehr wahrscheinlich, daß alle diese Geister, diese
Welten, welche sie bewohnen, und diese Glückseligkeiten, welche man nach
dem Tode mit ihnen zu teilen hofft, nicht mehr Wahrheit haben, als die
Nymphen, die Liebesgötter und die Grazien der Dichter, als die Gärten der
Hesperiden und die Inseln der Circe und Calypso; kurz, als alle diese
Spiele der Einbildungskraft, welche uns belustigen, ohne daß wir sie für
würklich halten. Die Religion unsrer Väter befiehlt uns einen Jupiter,
eine Venus zu glauben; ganz gut; aber was für eine Vorstellung macht man
uns von ihnen? Jupiter soll ein Gott, Venus eine Göttin sein: Allein der
Jupiter des Phidias ist nichts mehr als ein heroischer Mann, noch die
Venus des Praxiteles mehr als ein schönes Weib; von dem Gott und der
Göttin hat kein Mensch in Griechenland den mindesten Begriff. Man
verspricht uns nach dem Tod ein unsterbliches Leben bei den Göttern; aber
die Begriffe die wir uns davon machen, sind entweder aus den sinnlichen
Wollüsten, oder den feinern und geistigern Freuden, die wir in diesem
Leben erfahren haben, zusammengesetzt; es ist also klar, daß wir gar keine
echte Vorstellung von dem Leben der Geister und von ihren Freuden haben.
Ich will hiemit nicht leugnen, daß es Götter, Geister oder vollkommnere
Wesen als wir sind, haben könne oder würklich habe. Alles was meine
Schlüsse zu beweisen scheinen, ist dieses, daß wir unfähig sind, uns eine
richtige Idee von ihnen zu machen, oder kurz, daß wir nichts von ihnen
wissen. Wissen wir aber nichts, weder von ihrem Zustande noch von ihrer
Natur, so ist es für uns eben so viel, als ob sie gar nicht wären.
Anaxagoras bewies mir einst mit dem ganzen Enthusiasmus eines Sternsehers,
daß der Mond Einwohner habe. Vielleicht sagte er die Wahrheit. Allein
was sind diese Mondbewohner für uns? Meinest du, der König Philippus
werde sich die mindeste Sorge machen, die Griechen möchten sie gegen ihn
zu Hülfe rufen? Es mögen Einwohner im Monde sein; für uns ist der Mond
weder mehr noch weniger als eine leere glänzende Scheibe, die unsre Nächte
erheitert, und unsre Zeit abmißt. Hat es aber diese Bewandtnis, wie es
denn nicht anders sein kann, wie töricht ist es, den Plan seines Lebens
nach Schimären einzurichten, und sich der Glückseligkeit deren man
würklich genießen könnte, zu begeben, um sich mit ungewissen Hoffnungen zu
weiden; die Frucht seines Daseins zu verlieren, so lange man lebt, in
Hoffnung sich dafür schadlos zu halten, wenn man nicht mehr sein wird!
Denn daß wir itzt leben, und daß dieses Leben aufhören wird, das wissen
wir gewiß; ob ein andres alsdann anfange, ist wenigstens ungewiß, und wenn
es auch wäre, so ist es doch unmöglich, das Verhältnis desselben gegen das
itzige zu bestimmen, da wir kein Mittel haben uns einen echten Begriff
davon zu machen. Laß uns also den Plan unsers Lebens auf das gründen, was
wir kennen und wissen; und nachdem wir gefunden haben, was das glückliche
Leben ist, den geradesten und sichersten Weg suchen, auf dem wir dazu
gelangen können."




VIERTES KAPITEL

Worin Hippias bessere Schlüsse macht


"Ich habe schon bemerkt, daß die Glückseligkeit, welche wir suchen, nur in
dem Stand einer Gesellschaft, die sich schon zu einem gewissen Grade der
Vollkommenheit erhoben hat, statt finde. In einer solchen Gesellschaft
entwickeln sich alle diese mannichfaltigen Geschicklichkeiten, die bei dem
wilden Menschen, der so wenig bedarf, so einsam lebt, und so wenig
Leidenschaften hat, immer müßige Fähigkeiten bleiben. Die Einführung des
Eigentums, die Ungleichheit der Güter und Stände, die Armut der einen, der
überfluß, die üppigkeit und die Trägheit der andern, dieses sind die
wahren Götter der Künste, die Mercure und die Musen, denen wir ihre
Erfindung oder doch ihre Vollkommenheit zu danken haben. Wie viel
Menschen müssen ihre Bemühungen vereinigen, um einen einzigen Reichen zu
befriedigen! Diese bauen seine Felder und Weinberge, andre pflanzen seine
Lustgärten, noch andre bearbeiten den Marmor, woraus seine Wohnung
aufgeführt wird; tausende durchschiffen den Ozean um ihm die Reichtümer
fremder Länder zuzuführen; tausende beschäftigen sich, die Seide und den
Purpur zu bereiten, die ihn kleiden; die Tapeten, die seine Zimmer
schmücken; die kostbaren Gefäße, woraus er ißt und trinkt; und die weichen
Lager, worauf er der wollüstigsten Ruhe genießt. Tausende müssen in
schlaflosen Nächten ihren Witz verzehren, um neue Bequemlichkeiten, neue
Wollüste, eine leichtere und angenehmere Art die leichtesten und
angenehmsten Verrichtungen, die uns die Natur auferlegt, zu tun, für ihn
zu erfinden, und durch die Zaubereien der Kunst, die den gemeinsten Dingen
einen Schein der Neuheit zu geben weiß, seinen Ekel zu täuschen, und seine
vom Genuß ermüdeten Sinnen aufzuwecken. Für ihn arbeitet der Maler, der
Tonkünstler, der Dichter, der Schauspieler, und überwindet unendliche
Schwierigkeiten, um Künste zur Vollkommenheit zu treiben, welche die
Anzahl seiner Ergötzungen vermehren sollen. Allein alle diese Leute,
welche für den glücklichen Menschen arbeiten, würden es nicht tun, wenn
sie nicht selbst glücklich zu sein wünschten. Sie arbeiten nur für
denjenigen, der ihre Bemühung für sein Vergnügen belohnen kann. Der König
von Persien selbst ist nicht mächtig genug, den Zeuxes zu zwingen, daß er
ihm eine Leda male. Nur die Zauberkraft des Goldes, welchem eine
allgemeine übereinkunft der gesitteten Völker den Wert aller nützlichen
und angenehmen Dinge beigelegt hat, kann den Genie und den Fleiß einem
Midas dienstbar machen, der ohne seine Schätze kaum so viel wert wäre, dem
Maler, der für ihn arbeitet, die Farben zu reiben. Die Kunst, sich die
Mittel zur Glückseligkeit zu verschaffen, ist also schon gefunden, mein
lieber Callias, sobald wir die Kunst gefunden haben, einen genugsamen
Vorrat von diesem Steine der Weisen zu bekommen, der uns die ganze Natur
unterwirft, der Millionen von unsers Gleichen zu freiwilligen Sklaven
unsrer üppigkeit macht, und der uns in jedem schlauen Kopf einen
dienstwilligen Mercur, und durch den unwiderstehlichen Glanz eines goldnen
Regens, in jeder Schönen eine Danae finden läßt. Die Kunst reich zu
werden, Callias, ist im Grunde nichts anders, als die Kunst, sich des
Eigentums andrer Leute mit ihrem guten Willen zu bemächtigen. Ein Despot
hat unter dem Schutz eines Vorurteils, welches demjenigen sehr ähnlich ist,
womit die Egypter den Krokodil vergötterten, in diesem Stück einen
ungemeinen Vorteil: Da sich seine Rechte so weit erstrecken als seine
Macht, und diese Macht durch keine Pflichten eingeschränkt ist, weil ihn
niemand zwingen kann, sie zu erfüllen; so kann er sich das Vermögen seiner
Untertanen zueignen, ohne sich darum zu bekümmern, ob es mit ihrem guten
Willen geschieht. Es kostet ihn keine Mühe, unermeßliche Reichtümer zu
erwerben, und, um mit der unmäßigsten Schwelgerei in einem Tag Millionen
zu verschwenden, hat er nichts nötig, als denjenigen Teil des Volkes, den
seine Dürftigkeit zu einer immerwährenden Arbeit verdammt, an diesem Tage
fasten zu lassen. Allein außer dem, daß dieser Vorteil nur sehr wenigen
Sterblichen zu Teil werden kann, so ist er nicht so beschaffen, daß ein
weiser Mann ihn beneiden könnte. Das Vergnügen höret auf Vergnügen zu
sein, so bald es über einen gewissen Grad getrieben wird. Das übermaß
der sinnlichen Wollüste zerstöret die Werkzeuge der Empfindung; das
übermaß der Vergnügen der Einbildungskraft, verderbt den Geschmack des
echten Schönen, indem für unmäßige Begierden nichts reizend sein kann, was
in die Verhältnisse und das Ebenmaß der Natur eingeschlossen ist. Daher
ist das gewöhnliche Schicksal der morgenländischen Fürsten, die in die
Mauern ihres Serails eingekerkert sind, in den Armen der Wollust vor
Ersättigung und überdruß umzukommen; indessen, daß die süßesten Gerüche
von Arabien vergeblich für sie düften, daß die geistigen Weine ihnen
ungekostet aus Kristallen entgegenblinken, daß tausend Schönheiten, deren
jede zu Paphos einen Altar erhielte, alle ihre Reizungen, alle ihre
buhlerische Künste umsonst verschwenden, ihre schlaffen Sinnen zu erwecken,
und zehen tausend Sklaven ihrer üppigkeit in die Wette eifern, um
unerhörte und ungeheure Wollüste zu erdenken, welche fähig sein möchten,
wenigstens die glühende Phantasie dieser unglückseligen Glücklichen auf
etliche Augenblicke zu betrügen. Wir haben also mehr Ursache, als man
insgemein glaubt, der Natur zu danken, wenn sie uns in einen Stand setzt,
wo wir das Vergnügen durch Arbeit erkaufen müssen, und vorher unsre
Leidenschaften mäßigen lernen, eh wir zu einer Glückseligkeit gelangen,
die wir ohne diese Mäßigung nicht genießen könnten.

Da nun die Despoten und die Straßenräuber die einzigen sind, denen es,
jedoch auf ihre Gefahr, zusteht, sich des Vermögens andrer Leute mit
Gewalt zu bemächtigen: So bleibt demjenigen, der sich aus einem Zustand
von Mangel und Abhänglichkeit empor schwingen will, nichts anders übrig,
als daß er sich die Geschicklichkeit erwerbe, den Vorteil und das
Vergnügen der Lieblinge des Glückes zu befördern. Unter den vielerlei
Arten, wie dieses geschehen kann, sind einige dem Menschen von Genie, mit
Ausschluß aller übrigen, vorbehalten, und teilen sich nach ihrem
verschiednen Endzweck in zwo Klassen ein, wovon die erste die Vorteile,
und die andre das Vergnügen des beträchtlichsten Teils einer Nation zum
Gegenstand hat. Die erste, welche die Regierungs--und Kriegs-Künste in
sich begreift, scheint ordentlicher Weise nur in freien Staaten Platz zu
finden; die andre hat keine Grenzen als den Grad des Reichtums und der
üppigkeit eines jeden Volks, von welcher Art seine Staatsverfassung sein
mag. In dem armen Athen wurde ein guter Feld-Herr unendlichmal höher
geschätzt, als ein guter Maler; in dem reichen und wollüstigen Athen gibt
man sich keine Mühe zu untersuchen, wer der tüchtigste sei, ein Kriegsheer
anzuführen; man hat wichtigere Dinge zu entscheiden; die Frage ist, welche
unter etlichen Tänzerinnen die artigsten Füße hat, und die schönsten
Sprünge macht? ob die Venus des Praxiteles, oder des Alcamenes die
schönere ist?--Die Künste des Genie von der ersten Klasse führen für sich
allein selten zum Reichtum. Die großen Talente, die großen Verdienste und
Tugenden, die dazu erfodert werden, finden sich gemeiniglich nur in armen
und emporstrebenden Republiken, die alles, was man für sie tut, nur mit
Lorbeerkränzen bezahlen. In Staaten aber, wo Reichtum und üppigkeit schon
die Oberhand gewonnen haben, braucht man alle diese Talente und Tugenden
nicht, welche die Regierungskunst zu erfodern scheint. Man kann in
solchen Staaten Gesetze geben, ohne ein Solon zu sein; man kann ihre
Kriegsheere anführen, ohne ein Leonidas oder Themistokles zu sein.
Perikles, Alcibiades, regierten zu Athen den Staat, und führten die Völker
an; obgleich jener nur ein Redner war, und dieser keine andre Kunst kannte,
als die Kunst sich der Herzen zu bemeistern. In solchen Republiken hat
das Volk die Eigenschaften, die in einem despotischen Staate der Einzige
hat, der kein Sklave ist; man braucht ihm nur zu gefallen, um zu allem
tüchtig befunden zu werden. Perikles herrschte, ohne die äußerlichen
Zeichen der königlichen Würde zu tragen, so unumschränkt in dem freien
Athen, als Artaxerxes in dem untertänigen Asien. Seine Talente, und die
Künste die er von der schönen Aspasia gelernt hatte, erwarben ihm eine Art
von Oberherrschaft, die nur desto unumschränkter war, da sie ihm
freiwillig zugestanden wurde; die Kunst eine große Meinung von sich zu
erwecken, die Kunst zu überreden, die Kunst von der Eitelkeit der
Athenienser Vorteil zu ziehen und ihre Leidenschaften zu lenken; diese
machten seine ganze Regierungskunst aus. Er verwickelte die Republik in
ungerechte und unglückliche Kriege, er erschöpfte die öffentliche
Schatzkammer, er erbitterte die Bundsgenossen durch gewaltsame
Erpressungen; und damit das Volk keine Zeit hätte, eine so schöne
Staats-Verwaltung genauer zu beobachten, so bauete er Schauspielhäuser,
gab ihnen schöne Statuen und Gemälde zu sehen, unterhielt sie mit
Tänzerinnen und Virtuosen, und gewöhnte sie so sehr an diese abwechselnden
Ergötzungen, daß die Vorstellung eines neuen Stücks, oder der Wettstreit
unter etlichen Flötenspielern zuletzt Staats-Angelegenheiten wurden, über
welchen man diejenigen vergaß die es in der Tat waren. Hundert Jahre
früher würde man einen Perikles für eine Pest der Republik angesehen haben;
allein damals würde Perikles ein Aristides gewesen sein. In der Zeit
worin er lebte, war Perikles, so wie er war, der größte Mann der Republik;
der Mann der Athen zu dem höchsten Grade der Macht und des Glanzes erhub,
den es zu erreichen fähig war; der Mann, dessen Zeit als das goldne Alter
der Musen in allen künftigen Jahrhunderten angezogen werden wird; und, was
für ihn selbst das interessanteste war, der Mann, für den die Natur die
Euripiden und Aristophane, die Phidias, die Zeuxes, die Damonen, und die
Aspasien zusammen brachte, um sein Privatleben so angenehm zu machen, als
sein öffentliches Leben glänzend war. Die Kunst über die Einbildungskraft
der Menschen zu herrschen, die geheimen, ihnen selbst verborgnen
Triebfedern ihrer Bewegungen nach unserm Gefallen zu lenken, und sie zu
Werkzeugen unsrer Absichten zu machen, indem wir sie in der Meinung
erhalten, daß wir es von den ihrigen sind, ist also, ohne Zweifel,
diejenige, die ihrem Besitzer am nützlichsten ist, und dieses ist die
Kunst welche die Sophisten lehren und ausüben; die Kunst, welcher sie das
Ansehen, die Unabhänglichkeit und die glücklichen Tage, deren sie genießen,
zu danken haben. Du kannst dir leicht vorstellen, Callias, daß sie sich
in etlichen Stunden weder lehren noch lernen läßt; allein meine Absicht
ist auch für itzt nur, dir überhaupt einen Begriff davon zu geben.
Dasjenige, was man die Weisheit der Sophisten nennt, ist die
Geschicklichkeit sich der Menschen so zu bedienen, daß sie geneigt sind,
unser Vergnügen zu befördern, oder überhaupt die Werkzeuge unsrer
Absichten zu sein. Die Beredsamkeit, welche diesen Namen erst alsdann
verdient, wenn sie im Stand ist, die Zuhörer, wer sie auch sein mögen, von
allem zu überreden, was wir wollen, und in jeden Grad einer jeden
Leidenschaft zu setzen, die zu unsrer Absicht nötig ist; eine solche
Beredsamkeit ist unstreitig ein unentbehrliches Werkzeug, und das
vornehmste wodurch die Sophisten diesen Zweck erreichen. Die Grammatici
bemühen sich, junge Leute zu Rednern zu bilden; die Sophisten tun mehr,
sie lehren sie überreder zu werden, wenn mir dieses Wort erlaubt ist.
Hierin allein besteht das Erhabne einer Kunst, die vielleicht noch niemand
in dem Grade besessen hat, wie Alcibiades, der in unsern Zeiten so viel
Aufsehens gemacht hat. Der Weise bedient sich dieser überredungs-Gabe nur
als eines Werkzeugs zu höhern Absichten. Alcibiades überläßt es einem
Antiphon, sich mit Ausfeilung einer künstlichgesetzten Rede zu bemühen; er
überredet indessen seine Landsleute, daß ein so liebenswürdiger Mann wie
Alcibiades das Recht habe zu tun, was ihm einfalle; er überredet die
Spartaner zu vergessen, daß er ihr Feind gewesen, und daß er es bei der
ersten Gelegenheit wieder sein wird; er überredet die Königin Timea, daß
sie ihn bei sich schlafen lasse, und die Satrapen des großen Königs, daß
er ihnen die Athenienser zu eben der Zeit verraten wolle, da er die
Athenienser überredet, daß sie ihm Unrecht tun, ihn für einen Verräter zu
halten. Diese überredungskraft setzt die Geschicklichkeit voraus, jede
Gestalt anzunehmen, wodurch wir demjenigen gefällig werden können, auf den
wir Absichten haben; die Geschicklichkeit, sich der verborgensten Zugänge
seines Herzens zu versichern, seine Leidenschaften, je nachdem wir es
nötig finden, zu erregen, zu liebkosen, eine durch die andre zu verstärken,
oder zu schwächen, oder gar zu unterdrucken; sie erfodert eine
Gefälligkeit, die von den Sittenlehrern Schmeichelei genennt wird, aber
diesen Namen nur alsdann verdient, wenn sie von den Gnathonen die um die
Tafeln der Reichen sumsen, nachgeäffet wird,--eine Gefälligkeit, die aus
einer tiefen Kenntnis der Menschen entspringt, und das Gegenteil von der
lächerlichen Sprödigkeit gewisser Phantasten ist, die den Menschen übel
nehmen, daß sie anders sind, als wie diese ungebetenen Gesetzgeber es
haben wollen; kurz, diejenige Gefälligkeit ohne welche es vielleicht
möglich ist, die Hochachtung, aber niemals die Liebe der Menschen zu
erlangen; weil wir nur diejenigen lieben können, die uns ähnlich sind, die
unsern Geschmack haben oder zu haben scheinen, und so eifrig sind, unser
Vergnügen zu befördern, daß sie hierin die Aspasia von Milet zum Muster
nehmen, welche sich bis ans Ende in der Gunst des Perikles erhielt, indem
sie in demjenigen Alter, worin man die Seele der Damen zu lieben pflegt,
sich in die Grenzen der Platonischen Liebe zurückzog, und die Rolle des
Körpers durch andre spielen ließ. Ich lese in deinen Augen Callias, was
du gegen diese Künste einzuwenden hast, die sich so übel mit den
Vorurteilen vertragen, die du gewohnt bist für Grundsätze zu halten. Es
ist wahr, die Kunst zu leben, welche die Sophisten lehren, ist auf ganz
andre Begriffe von dem, was in sittlichem Verstande schön und gut ist
gebaut, als diejenigen hegen, die von dem idealischen Schönen, und von
einer gewissen Tugend, die ihr eigner Lohn sein soll, so viel schöne Dinge
zu sagen wissen. Allein, wenn du noch nicht müde bist mir zuzuhören, als
ich es bin zu schwatzen; so denke ich, daß es nicht schwer sein werde dich
zu überzeugen, daß das idealische Schöne und die idealische Tugend mit
jenen Geistermärchen, wovon wir erst gesprochen haben, in die nämliche
Klasse gehören."




FÜNFTES KAPITEL

Der Anti-Platonismus in Nuce


"Was ist das Schöne? Was ist das Gute? Eh wir diese Fragen beantworten
können, müssen wir, deucht mich, vorher fragen: Was ist das, was die
Menschen schön und gut nennen? Wir wollen vom Schönen den Anfang machen.
Was für eine unendliche Verschiedenheit in den Begriffen, die man sich bei
den verschiedenen Völkern des Erdbodens von der Schönheit macht! Alle
Welt kommt darin überein, daß ein schönes Weib das schönste unter allen
Werken der Natur sei. Allein wie muß sie sein, um für eine vollkommne
Schönheit in ihrer Art gehalten zu werden? Hier fängt der Widerspruch an.
Stelle dir eine Versammlung von so vielen Liebhabern vor, als es
verschiedne Nationen unter verschiednen Himmelsstrichen gibt; was ist
gewisser, als daß ein jeder den Vorzug seiner Geliebten vor den übrigen
behaupten wird? Der Europäer wird die blendende weiße, der Mohr die
rabengleiche Schwärze der seinigen vorziehen; der Grieche wird einen
kleinen Mund, eine Brust, die mit der hohlen Hand bedeckt werden kann, und
das angenehme Ebenmaß einer feinen Gestalt; der Africaner wird die
eingedrückte Nase, und die aufgeschwollnen dickroten Lippen; der Persianer
die großen Augen und den schlanken Wuchs, der Serer, die kleinen Augen,
die Kegelrunde dicke und winzigen Füße an der seinigen bezaubernd finden.
Hat es mit dem Schönen in sittlichen Verstande, mit dem was sich geziemt,
eine andre Bewandtnis? Die Spartanischen Töchter scheuen sich nicht, in
einem Aufzug gesehen zu werden, wodurch in Athen die geringste öffentliche
Metze sich entehrt hielte. In Persien würd' ein Frauenzimmer, das an
einem öffentlichen Orte sein Gesicht entblößte, eben so angesehen, als in
Smyrna eine die sich nackend sehen ließe. Bei den morgenländischen
Völkern erfodert der Wohlstand eine Menge von Beugungen und untertänigen
Gebärden, die man gegen diejenigen macht, die man ehren will; bei den
Griechen würde diese Höflichkeit für eben so schändlich und sklavenmäßig
gehalten werden, als die attische Politesse zu Persepolis grob und
bäurisch scheinen würde. Bei den Griechen hat eine freigeborne ihre Ehre
verloren, die sich den jungfräulichen Gürtel von einem andern, als ihrem
Manne auflösen läßt; bei gewissen Völkern die jenseits des Ganges wohnen,
ist ein Mädchen desto vorzüglicher, je mehr es Liebhaber gehabt hat, die
seine Reizungen aus Erfahrung anzurühmen wissen. Diese Verschiedenheit
der Begriffe vom sittlichen Schönen zeigt sich nicht nur in besondern
Gebräuchen und Gewohnheiten verschiedner Völker, wovon sich die Beispiele
ins Unendliche häufen ließen; sondern selbst in dem Begriff, den sie sich
überhaupt von der Tugend machen. Bei den Römern ist Tugend und Tapferkeit
einerlei; bei den Atheniensern schließt dieses Wort alle Arten von
nützlichen und angenehmen Eigenschaften in sich. Zu Sparta kennt man
keine andre Tugend als den Gehorsam gegen die Gesetze; in despotischen
Reichen keine andre, als die sklavische Untertänigkeit gegen den Monarchen
und seine Satrapen; am caspischen Meere ist der tugenhafteste der am
besten rauben kann, und die meisten Feinde erschlagen hat; und in dem
wärmsten Striche von Indien hat nur der die höchste Tugend erreicht, der
sich durch eine völlige Untätigkeit, ihrer Meinung nach, den Göttern
ähnlich macht. Was folget nun aus allen diesen Beispielen? Ist nichts an
sich selbst schön oder recht? Gibt es kein gewisses Modell, wornach
dasjenige, was schön oder sittlich ist, beurteilt werden muß? Wir wollen
sehen. Wenn ein solches Modell ist, so muß es in der Natur sein. Denn es
wäre Torheit, sich einzubilden, daß ein Pygmalion eine Bildsäule schnitzen
könne, welche schöner sei als Phryne, die kühn genug war, bei den
Olympischen Spielen, in eben dem Aufzug worin die drei Göttinnen um den
Preis der Schönheit stritten, das ganze Griechenland zum Richter über die
ihrige zu machen. Die Venus eines jeden Volks ist nichts anders als die
Abbildung eines Weibes, die bei einer allgemeinen Versammlung dieses Volks
für diejenige erklärt würde, bei der sich die National-Schönheit im
höchsten Grade befinde. Allein welches unter so vielerlei Modellen ist
denn an sich selbst das schönste? Der Grieche wird für seine
rosenwangichte, der Mohr für seine rabenschwarze, der Perser für seine
schlanke, und der Serer für seine runde Venus mit dem dreifachen Kinn
streiten. Wer soll den Ausschlag geben? Wir wollen es versuchen.
Gesetzt, es würde eine allgemeine Versammlung angestellt, wozu eine jede
Nation den schönsten Mann und das schönste Weib, nach ihrem
National-Modell zu urteilen, geschickt hätten; und wo die Weiber zu
entscheiden hätten, welcher unter allen diesen Mitwerbern um den Preis der
Schönheit der schönste Mann, und die Männer, welche unter allen das
schönste Weib wäre: Ich sage also, man würde gar bald diejenigen aus allen
übrigen aussondern, die unter diesen milden und gemäßigten Himmelsstrichen
geboren worden, wo die Natur allen ihren Werken ein feineres Ebenmaß der
Gestalt, und eine angenehmere Mischung der Farben zu geben pflegt. Denn
die vorzügliche Schönheit der Natur in den gemäßigten Zonen erstreckt sich
vom Menschen bis auf die Pflanzen. Unter diesen Auserlesnen von beiden
Geschlechtern würde vielleicht der Vorzug lange zweifelhaft sein; allein
endlich würde doch unter den Männern derjenige den Preis erhalten, bei
dessen Landesleuten die verschiednen gymnastischen übungen am stärksten,
und Verhältnisweise in dem höchsten Grade der Vollkommenheit getrieben
würden; und alle Männer würden mit einer Stimme diejenige für die schönste
unter den Schönen erklären, die von einem Volke abgeschickt worden,
welches bei der Erziehung der Töchter die möglichste Entwicklung und
Kultur der natürlichen Schönheit zur Hauptsache machte. Der Spartaner
würde also vermutlich für den schönsten Mann, und die Perserin für das
schönste Weib erklärt werden. Der Grieche, welcher der Anmut den Vorzug
vor der Schönheit gibt, weil die griechischen Weiber mehr reizend als
schön sind, würde nichts desto weniger zu eben der Zeit, da sein Herz
einem Mädchen von Paphos oder Milet den Vorzug gäbe, bekennen müssen, daß
die Perserin schöner sei; und eben dieses würde der Serer tun, ob er
gleich das dreifache Kinn und den Wanst seiner Landsmännin reizender
finden würde.--Laß uns zu dem sittlichen Schönen fortgehen. So groß auch
hierin die Verschiedenheit der Begriffe unter verschiednen Zonen ist, so
wird doch schwerlich geleugnet werden können, daß die Sitten derjenigen
Nation, welche die geistreichste, die munterste, die geselligste, die
angenehmste ist, den Vorzug der Schönheit haben. Die ungezwungne und
einnehmende Höflichkeit des Atheniensers muß einem jeden Fremden
angenehmer sein, als die abgemessene, ernsthafte und zeremonienvolle
Höflichkeit der Morgenländer; das verbindliche Wesen, der Schein von
Leutseligkeit, so der erste seinen kleinsten Handlungen zu geben weiß, muß
vor dem steifen Ernst des Persers, oder der rauhen Gutherzigkeit des
Scythen eben so sehr den Vorzug erhalten, als der Putz einer Dame von
Smyrna, der die Schönheit weder ganz verhüllt, noch ganz den Augen preis
gibt, vor der Vermummung der Morgenländerin oder der tierischen Blöße
einer Wilden. Das Muster der aufgeklärtesten und geselligsten Nation
scheint also die wahre Regul des sittlichen Schönen, oder des Anständigen
zu sein, und Athen und Smyrna sind die Schulen, worin man seinen Geschmack
und seine Sitten bilden muß. Allein nachdem wir eine Regul für das Schöne
gefunden haben, was für eine werden wir für das, was Recht ist finden?
wovon so verschiedene und widersprechende Begriffe unter den Menschen
herrschen, daß eben dieselbe Handlung, die bei dem einen Volke mit
Lorbeerkränzen und Statuen belohnt wird, bei der andern eine schmähliche
Todesstrafe verdient; und daß kaum ein Laster ist, welches nicht irgendwo
seinen Altar und seinen Priester habe. Es ist wahr, die Gesetze sind bei
dem Volke, welchem sie gegeben sind, die Richtschnur des Rechts und
Unrechts; allein was bei diesem Volk durch das Gesetz befohlen wird, wird
bei einem andern durch das Gesetz verboten. Die Frage ist also: Gibt es
nicht ein allgemeines Gesetz, welches bestimmt, was an sich selbst Recht
ist? Ich antworte ja, und dieses allgemeine Gesetz kann kein andres sein,
als die Stimme der Natur, die zu einem jeden spricht: Suche dein Bestes;
oder mit andern Worten: Befriedige deine natürliche Begierden, und genieße
so viel Vergnügen als du kannst. Dieses ist das einzige Gesetz, das die
Natur dem Menschen gegeben hat; und so lang er sich im Stande der Natur
befindet, ist das Recht, das er an alles hat, was seine Begierden
verlangen, oder was ihm gut ist, durch nichts anders als das Maß seiner
Stärke eingeschränkt; er darf alles, was er kann, und ist keinem andern
nichts schuldig. Allein der Stand der Gesellschaft, welcher eine Anzahl
von Menschen zu ihrem gemeinschaftlichen Besten vereiniget, setzt zu jenem
einzigen Gesetz der Natur, suche dein eignes Bestes, die Einschränkung,
ohne einem andern zu schaden. Wie also im Stande der Natur einem jeden
Menschen alles recht ist, was ihm nützlich ist; so erklärt im Stande der
Gesellschaft das Gesetz alles für unrecht und strafwürdig, was der
Gesellschaft schädlich ist, und verbindet hingegen die Vorstellung eines
Vorzugs und belohnungswürdigen Verdienstes mit allen Handlungen, wodurch
der Nutzen oder das Vergnügen der Gesellschaft befördert wird. Die
Begriffe von Tugend und Laster gründen sich also eines Teils auf den
Vertrag den eine gewisse Gesellschaft unter sich gemacht hat, und in so
ferne sind sie willkürlich; andern Teils auf dasjenige, was einem jeden
Volke nützlich oder schädlich ist; und daher kommt es, daß ein so großer
Widerspruch unter den Gesetzen verschiedner Nationen herrschet. Das Klima,
die Lage, die Regierungsform, die Religion, das eigne Temperament und der
National-Charakter eines jeden Volks, seine Lebensart, seine Stärke oder
Schwäche, seine Armut oder sein Reichtum, bestimmen seine Begriffe von dem,
was ihm gut oder schädlich ist; daher diese unendliche Verschiedenheit
des Rechts oder Unrechts unter den policiertesten Nationen; daher der
Kontrast der Moral der glühenden Zonen mit der Moral der kalten Länder,
der Moral der freien Staaten mit der Moral der despotischen Reiche; der
Moral einer armen Republik, welche nur durch den kriegerischen Geist
gewinnen kann, mit der Moral einer reichen, die ihren Wohlstand dem Geist
der Handelschaft und dem Frieden zu danken hat; daher endlich die
Albernheit der Moralisten, welche sich den Kopf zerbrechen, um zu
bestimmen, was für alle Nationen recht sei, ehe sie die Auflösung der
Aufgabe gefunden haben, wie man machen könne, daß eben dasselbe für alle
Nationen gleich nützlich sei.


Die Sophisten, deren Sittenlehre sich nicht auf abstrakte Ideen, sondern
auf die Natur und wirkliche Beschaffenheit der Dinge gründet, finden die
Menschen an einem jeden Ort, so, wie sie sein können. Sie schätzen einen
Staatsmann zu Athen, an sich selbst, nicht höher als einen Gaukler zu
Persepolis, und eine ehrbare Matrone von Sparta ist in ihren Augen kein
vortrefflicheres Wesen als eine Lais zu Corinth. Es ist wahr, der Gaukler
würde zu Athen, und die Lais zu Sparta schädlich sein; allein ein
Aristides würde zu Persepolis, und eine Spartanerin zu Corinth wo nicht
eben so schädlich, doch wenigstens ganz unnützlich sein. Die Idealisten,
wie ich diese Philosophen zu nennen pflege, welche die Welt nach ihren
Ideen umschmelzen wollen, bilden ihre Lehrjünger zu Menschen, die man
nirgends für einheimisch erkennen kann, weil ihre Moral eine Gesetzgebung
voraussetzt, welche nirgends vorhanden ist. Sie bleiben arm und
ungeachtet, weil ein Volk nur demjenigen Hochachtung und Belohnung
zuerkennt, der seinen Nutzen befördert oder doch zu befördern scheint; ja
sie werden als Verderber der Jugend, und als heimliche Feinde der
Gesellschaft angesehen, und die Landesverweisung oder der Giftbecher ist
zuletzt alles, was sie für die undankbare Bemühung davon tragen, die
Menschen zu entkörpern, um sie in die Klasse der idealischen Wesen, der
mathematischen Punkte, Linien und Dreiecke zu erhöhen. Klüger, als diese
eingebildeten Weisen, die, wie jener Flötenspieler von Aspondus, nur für
sich selbst singen, überlassen die Sophisten den Gesetzen eines jeden
Volks ihre Bürger zu lehren, was Recht oder Unrecht sei. Da sie selbst zu
keinem besondern Staatskörper gehören, so genießen sie die Vorrechte eines
Weltbürgers, und indem sie den Gesetzen und der Religion eines jeden
Volkes bei dem sie sich befinden, eine äußerliche Achtung bezeugen,
wodurch sie vor allen Ungelegenheiten mit den Handhabern derselben
gesichert werden; so erkennen und befolgen sie doch in der Tat kein andres
als jenes allgemeine Gesetz der Natur, welches dem Menschen sein eignes
Bestes zur einzigen Richtschnur gibt. Alles wodurch ihre natürliche
Freiheit eingeschränkt wird, ist die Beobachtung einer nützlichen Klugheit,
die ihnen vorschreibt ihren Handlungen die Farbe, den Schnitt und die
Auszierung zu geben, wodurch sie denjenigen, mit welchen sie zu tun haben,
am gefälligsten werden. Das moralische Schöne ist für unsre Handlungen
eben das, was der Putz für unsern Leib; und es ist eben so nötig, seine
Aufführung nach den Vorurteilen und dem Geschmack derjenigen zu modeln,
mit denen man lebt, als es nötig ist sich so zu kleiden wie sie. Ein
Mensch, der nach einem gewissen besondern Modell gebildet worden, sollte,
wie die wandelnden Bildsäulen des Dädalus, an seinen väterlichen Boden
angefesselt werden; denn er ist nirgends an seinem Platz als unter seines
gleichen. Ein Spartaner würde sich nicht besser schicken, die Rolle eines
obersten Sklaven des Artaxerxes zu spielen, als ein Sarmater sich schickte
Polemarchus zu Athen zu sein. Der Weise hingegen ist der allgemeine
Mensch, der Mensch, dem alle Farben, alle Umstände, alle Verfassungen und
Stellungen anstehen, und er ist es eben darum, weil er keine besondre
Vorurteile und Leidenschaften hat, weil er nichts als ein Mensch ist. Er
gefällt allenthalben, weil er, wohin er kommt, sich die Vorurteile und
Torheiten gefallen läßt, die er antrifft. Wie sollte er nicht geliebt
werden, er, der immer bereit ist sich für die Vorteile andrer zu beeifern,
ihre Begriffe zu billigen, ihren Leidenschaften zu schmeicheln? Er weiß,
daß die Menschen von nichts überzeugter sind, als von ihren Irrtümern, und
nichts zärtlicher lieben als ihre Fehler; und daß es kein gewisseres
Mittel gibt sich ihren Abscheu zuzuziehen, als wenn man ihnen eine
Wahrheit entdeckt, die sie nicht wissen wollen. Weit entfernt also,
ihnen die Augen wider ihren Willen zu eröffnen, oder ihnen einen Spiegel
vorzuhalten, der ihnen ihre Häßlichkeit vorrückte, bestärkt er den Toren
in dem Gedanken, daß nichts abgeschmackter sei als Verstand haben, den
Verschwender in dem Wahn, daß er großmütig, den Knicker in den Gedanken,
daß er ein guter Haushalter, die Häßliche in der süßen Einbildung, daß sie
desto geistreicher, und den Reichen in der überredung, daß er ein
Staatsmann, ein Gelehrter, ein Held, ein Gönner der Musen und ein Liebling
der Damen sei. Er bewundert das System des Philosophen, die einbildische
Unwissenheit des Hofmanns, und die großen Taten des Generals; er gestehet
dem Tanzmeister ohne Widerrede zu, daß Cimon der größte Mann in
Griechenland gewesen wäre, wenn er die Füße besser zu setzen gewußt hätte;
und dem Maler, daß man mehr Genie braucht, ein Zeuxes als ein Homer zu
sein. Diese Art mit den Menschen umzugehen, ist von unendlich größerm
Vorteil als man beim ersten Anblick denken möchte. Sie erwirbt ihm ihre
Liebe, ihr Zutrauen, und eine desto größere Meinung von seinen Verdienste,
je größer diejenige ist, die er von den ihrigen zu haben scheint. Sie ist
das gewisseste Mittel, zu den höchsten Stufen des Glücks empor zu steigen.
Meinest du, daß es allein die größten Talente, die vorzüglichsten
Verdienste seien, die einen Archonten, einen Heerführer, einen Satrapen,
oder den Günstling eines Fürsten machen? Siehe dich in den Republiken um;
du wirst finden, daß dieser sein Ansehen der lächelnden Miene zu danken
hat, womit er die Bürger grüßt; ein andrer der emphatischen Peripherie
seines Wanstes; ein dritter der Schönheit seiner Gemahlin, und ein vierter
seiner brüllenden Stimme. Gehe an die Höfe, du wirst Leute finden, welche
das Glück, worin sie schimmern, der Empfehlung eines Kammerdieners, der
Gunst einer Dame, die sich für ihre Talente verbürgt hat, oder der Gabe
des Schlafs schuldig sind, womit sie befallen werden, wenn der Vezier mit
ihren Weibern scherzt. Nichts ist in diesem Lande der Bezauberungen
gewöhnlicher, als einen unbärtigen Knaben in einen General, einen
Pantomimen in einen Staatsminister, einen Kuppler in einen Oberpriester
verwandelt zu sehen; ein Mensch ohne alle Verdienste kann oft durch ein
einziges Talent, und wenn es auch nur das Talent eines Esels wäre, zu
einem Glücke gelangen, das ein andrer durch die größten Verdienste
vergeblich zu erhalten gesucht hat. Wer könnte demnach zweifeln, daß die
Kunst der Sophisten nicht fähig sein sollte, ihrem Besitzer auf diese oder
jene Art die Gunst des Glückes zu verschaffen? Vorausgesetzt, daß er die
natürlichen Gaben besitze, ohne welche der Mann von Verstand in der Welt
allezeit dem Narren Platz machen muß, der damit versehen ist. Allein
selbst auf dem Wege der Verdienste ist niemand gewisser sein Glück zu
machen, als ein Sophist. Wo ist der Platz, den er nicht mit Ruhm
bekleiden wird? Wer ist geschickter die Menschen zu regieren als
derjenige, der am besten mit ihnen umzugehen weiß? Wer schickt sich
besser zu öffentlichen Unterhandlungen? Wer ist fähiger der Ratgeber
eines Fürsten zu sein? Ja, wofern er nur das Glück auf seiner Seite hat,
wer wird mit größerm Ruhm ein Kriegsheer anführen als er? Wer wird die
Kunst besser verstehen, sich für die Geschicklichkeit und die Verdienste
seiner Subalternen belohnen zu lassen? Wer wird die Vorsicht, die er
nicht gehabt, die klugen Anstalten, die er nicht gemacht, die Wunden, die
er nicht bekommen hat, besser gelten zu machen wissen, als er?

Doch es ist Zeit einen Diskurs zu enden, der für beide ermüdend zu werden
anfangt. Ich habe dir genug gesagt, um den Zauber zu vernichten, den die
Schwärmerei auf deine Seele gelegt hat; und wenn dieses nicht genug ist,
so würde alles überflüssig sein was ich sagen könnte. Glaube übrigens
nicht, Callias, daß der Orden der Sophisten einen unansehnlichen Teil der
menschlichen Gesellschaft ausmache. Die Anzahl derjenigen die unsre Kunst
ausüben, ist in allen Ständen sehr beträchtlich, und du wirst unter denen
die ein großes Glück gemacht haben, schwerlich einen einzigen finden, der
es nicht einer geschickten Anwendung unsrer Grundsätze zu danken habe.
Diese Grundsätze machen die gewöhnliche Denkungsart der Hofleute, der
Leute die sich dem Dienste der Großen gewidmet haben, und überhaupt
derjenigen Klasse von Menschen aus, die an jedem Orte die edelsten und
angesehensten sind, und (die wenigen Fälle ausgenommen, wo das spielende
Glück durch einen blinden Wurf einen Narren an den Platz eines klugen
Menschen fallen läßt) sind die geschickten Köpfe, die von diesen Maximen
den besten Gebrauch zu machen wissen, allezeit diejenigen, die es auf der
Bahn der Ehre und des Glücks am weitesten bringen."




SECHSTES KAPITEL

Ungelehrigkeit des Agathon


Hippias konnte sich wohl berechtiget halten, einigen Dank bei seinem
Lehrjünger verdient zu haben, da er sich so viele Mühe gegeben hatte, ihn
weise zu machen. Allein wir müssen es nur gestehen, er hatte es mit einem
Menschen zu tun, der nicht fähig war, die Wichtigkeit dieses Dienstes
einzusehen, oder die Schönheit eines Systems zu empfinden, welches seinen
vermeinten Empfindungen so zuwider war. Seine Erwartung wurde also nicht
wenig betrogen, als Agathon, wie er sah, daß der weise Hippias zu reden
aufgehört hatte, ihm diese kurze Antwort gab: "Du hast eine schöne Rede
gehalten, Hippias; deine Beobachtungen sind sehr fein, deine Schlüsse sehr
bündig, deine Maximen sehr praktisch, und ich zweifle nicht, daß der Weg,
den du mir vorgezeichnet hast, zu der Glückseligkeit würklich führe, deren
Vorzüge vor meiner Art glücklich zu sein, du in ein so helles Licht
gesetzt. Dem ungeachtet empfinde ich nicht die mindeste Lust so glücklich
zu sein, und wenn ich mich anders recht kenne, so werde ich schwerlich
eher ein Sophist werden, bis du deine Tänzerinnen entlässest, dein Haus zu
einem öffentlichen Tempel der Diana widmest, und nach Indien ziehst, ein
Bramine zu werden." Hippias lachte über diese Antwort, ohne daß sie ihm
desto besser gefiel. "Und was hast du gegen mein System einzuwenden?"
fragte er. "Daß es mich nicht überzeugt", erwiderte Agathon. "Und warum
nicht?" "Weil meine Erfahrung und Empfindung deinen Schlüssen
widerspricht." "Ich möchte wohl wissen, was dieses für Erfahrungen und
Empfindungen sind, die demjenigen widersprechen, was alle Welt erfährt und
empfindt." "Du würdest beweisen, daß es Schimären sind." "Und wenn ich
es bewiesen hätte?" "Du würdest es nur dir beweisen, Hippias; du würdest
nichts beweisen, als daß du nicht Callias bist." "Aber die Frage ist, ob
Hippias oder Callias richtig denkt?" "Wer soll Richter sein?" "Das ganze
menschliche Geschlecht." "Was würde das wider mich beweisen?" "Sehr viel.
Wenn zehen Millionen Menschen urteilen, daß zween oder drei aus ihrem
Mittel Narren sind, so sind sie es; das ist unleugbar." "Aber wie, wenn
die zehen Millionen, deren Ausspruch dir so entscheidend vorkommt, zehn
Millionen Toren wären, und die drei wären klug?" "Wie müßte das zugehen?"
"Können nicht zehn Millionen die Pest haben, und Sokrates allein gesund
herum gehen?" "Diese Instanz beweist nichts für dich. Ein Volk hat nicht
immer die Pest; Allein die zehn Millionen denken immer so wie ich. Sie
sind also in ihrem natürlichen Zustande, wenn sie so denken; und wer
anders denkt, gehört folglich entweder zu einer andern Gattung von Wesen,
oder zu den Wesen, die man Toren nennt." "So ergeb ich mich in mein
Schicksal." "Es gibt noch eine Alternative, junger Mensch. Du schämest
dich, entweder deine Gedanken so schnell zu verändern, oder du bist ein
Heuchler." "Keines von beiden, Hippias." "Leugne mir zum Exempel, wenn
du kannst, daß dir die schöne Cyane, die uns beim Frühstück bediente,
Begierden eingeflößt hat, und daß du verstohlne Blicke -" "Ich leugne
nichts." "So gestehe, daß das Anschauen dieser runden schneeweißen Arme,
dieses aus der flatternden Seide hervoratmenden Busens, die Begierde in
dir erregt, ihrer zu genießen." "Ist das Anschauen kein Genuß?" "Keine
Ausflüchte, junger Mensch!" "Du betrügst dich, Hippias, wenn es erlaubt
ist einem Weisen das zu sagen; ich bedarf keiner Ausflüchte. Ich mache
nur einen Unterschied zwischen einem mechanischen Instinkt, der nicht
gänzlich von mir abhängt, und dem Willen meiner Seele. Ich habe den
Willen nicht gehabt, dessen du mich beschuldigest." "Ich beschuldige dich
nichts, als daß du meiner spottest. Ich denke, daß ich die Natur kennen
sollte. Die Schwärmerei kann in deinen Jahren keine so unheilbare
Krankheit sein, daß sie wider die Reizung des Vergnügens sollte aushalten
können." "Deswegen vermeide ich die Gelegenheiten." "Du gestehest also,
daß Cyane reizend ist?" "Sehr reizend." "Und daß ihr Genuß ein Vergnügen
wäre?" "Vermutlich." "Warum quälest du dich dann, dir ein Vergnügen zu
versagen, das in deiner Gewalt ist." "Weil ich mich dadurch vieler andern
Vergnügen berauben würde, die ich höher schätze." "Kann man in deinem
Alter so sehr ein Neuling sein? Was für Vergnügen, die allen übrigen
Menschen unbekannt sind, hat die Natur für dich allein aufbehalten? Wenn
du noch größere kennest als dieses,--doch ich merke dich. Du wirst mir
wieder von den Vergnügungen der Geister, von Nektar und Ambrosia sprechen;
aber wir spielen itzt keine Komödie, mein Freund. Die Erscheinung einer
Cyane in einem von den Gebüschen meiner Gärten würde fähig sein, so gar
deinen Geistern Körper zu geben." "Hippias, ich rede wie ich denke. Ich
kenne Vergnügen, die ich höher schätze als diejenigen, die der Mensch mit
den Tieren gemein hat." "Zum Exempel?" "Das Vergnügen eine gute Handlung
zu tun." "Was nennest du eine gute Handlung?" "Eine Handlung, wodurch
ich, mit einiger Anstrengung meiner Kräfte, oder Aufopferung eines
Vorteils oder Vergnügens, andrer Bestes befördere." "Du bist also töricht
genug zu glauben, daß du andern mehr schuldig seiest, als dir selbst?"
"Das nicht; sondern ich finde für gut, ein geringeres Vergnügen dem
größern aufzuopfern, welches ich alsdann genieße, wenn ich das Glück
meiner Nebengeschöpfe befördern kann." "Du bist sehr dienstfertig;
gesetzt aber es sei so, wie hängt dieses mit demjenigen zusammen, wovon
itzt die Rede ist?" "Das ist leicht zu sehen. Gesetzt, ich überließe
mich den Eindrücken, welche die Reizungen der schönen Cyane auf mich
machen könnten; gesetzt, sie liebte mich, und ließe mich alles erfahren,
was die Wollust berauschendes hat; eine Verbindung von dieser Art könnte
von keiner langen Dauer sein;" "aber würden die Erinnerungen der genoßnen
Freuden nicht die Begierde erwecken, sie wieder zu genießen? Eine neue
Cyane"--"würde mir wieder gleichgültig werden, und eben diese Begierden
zurück lassen." "Eine immerwährende Abwechslung ist also hierin, wie du
siehst, das Gesetz der Natur." "Aber auf diese Art würde ichs gar bald so
weit bringen, keiner Begierde widerstehen zu können." "Wozu brauchst du
zu widerstehen, so lange deine Begierden in den Schranken der Natur und
der Mäßigung bleiben?" "Wie aber, wenn endlich das Weib meines Freundes,
oder welche es sonst wäre, die der ehrwürdige Name einer Mutter gegen den
bloßen Gedanken eines unkeuschen Anfalls sicher stellen soll; oder wie,
wenn die unschuldige Jugend einer Tochter, die vielleicht kein andres
Heuratsgut als ihre Unschuld und Schönheit hat; der Gegenstand dieser
Begierden würde, über die ich durch so vieles Nachgeben alle Gewalt
verloren hätte?" "So hättest du dich in Griechenland wenigstens vor den
Gesetzen vorzusehen. Allein was müßte das für ein Hirn sein, das in
solchen Umständen kein Mittel ausfündig machen könnte, seine Leidenschaft
zu vergnügen, ohne sich mit den Gesetzen abzuwerfen? Ich sehe, du kennest
die Damen zu Athen und Sparta nicht." "O! was das betrifft, ich kenne so
gar die Priesterinnen zu Delphi. Aber ists möglich, daß du im Ernste
gesprochen hast?" "Ich habe nach meinen Grundsätzen gesprochen. Die
Gesetze haben in gewissen Staaten, (denn es gibt einige, wo sie mehr
Nachsicht haben) nötig gefunden, unser natürliches Recht an eine jede, die
unsre Begierden erregt, einzuschränken. Allein da dieses nur geschah, um
gewisse Ungelegenheiten zu verhindern, die aus dem ungescheuten Gebrauch
jenes Rechts in solchen Staaten zu besorgen wären, so siehst du, daß der
Geist und die Absicht des Gesetzes nicht verletzt wird, wenn man
vorsichtig genug ist zu den Ausnahmen die man davon macht keine Zeugen zu
nehmen" "O Hippias!" rief Agathon hier aus, "ich habe dich, wohin ich
dich bringen wollte. Du siehest die Folgen deiner Grundsätze. Wenn alles
an sich selbst recht ist, was meine Begierden wollen; wenn die
ausschweifenden Forderungen der Leidenschaft unter dem Namen des
Nützlichen, den sie nicht verdienen, die einzige Richtschnur unsrer
Handlungen sind; wenn die Gesetze nur mit einer guten Art ausgewichen
werden müssen, und im Dunkeln alles erlaubt ist; wenn die Tugend, und die
Hoffnungen der Tugend nur Schimären sind; was hindert die Kinder, sich
wider ihre Eltern zu verschwören? Was hindert die Mutter, sich selbst und
ihre Tochter dem meistbietenden Preis zu geben? Was hindert mich, wenn ich
dadurch gewinnen kann, den Dolch in die Brust meines Freundes zu stoßen,
die Tempel der Götter zu berauben, mein Vaterland zu verraten, oder mich
an die Spitze einer Räuberbande zu stellen; und, wenn ich anders Macht
genug habe, ganze Länder zu verwüsten, ganze Völker in ihrem Blute zu
ertränken? Siehest du nicht, daß deine Grundsätze, die du so unverschämt
Weisheit nennest, und durch eine künstliche Vermischung des Wahren mit dem
Falschen scheinbar zu machen suchst, wenn sie allgemein würden, die
Menschen in weit ärgere Ungeheuer, als Hyänen, Tyger und Krokodille sind,
verwandeln würden? Du spottest der Tugend und Religion? Wisse, nur den
unauslöschlichen Zügen, womit ihr Bild in unsre Seelen eingegraben ist,
nur dem geheimen und wunderbaren Reiz, der uns zu Wahrheit, Ordnung und
Güte zieht, und den Gesetzen besser zu statten kommt, als alle Belohnungen
und Strafen, ist es zuzuschreiben, daß es noch Menschen auf dem Erdboden
gibt, und daß unter diesen Menschen noch ein Schatten von Sittlichkeit und
Güte zu finden ist. Du erklärst die Ideen von Tugend und sittlicher
Vollkommenheit für Phantasien. Siehe mich hier, Hippias, so wie ich hier
bin, biete ich den Verführungen aller deiner Cyanen, den scheinbarsten
überredungen deiner Weisheit, und allen Vorteilen, die mir deine
Grundsätze und dein Beispiel versprechen, trotz. Eine einzige von diesen
Phantasien ist hinreichend die unwesentliche Zauberei aller dieser
Blendwerke zu zerstreuen. Laß die Tugend immer eine Schwärmerei sein,
diese Schwärmerei macht mich glücklich, und würde alle Menschen glücklich,
und den ganzen Erdboden zu einem Himmel machen, wenn deine Grundsätze, und
diejenige, welche sie ausüben, nicht, so weit ihr ansteckendes Gift dringt,
Elend und Verderbnis ausbreiteten."

Agathon wurde ganz glühend, indem er dieses sagte; und ein Maler, um den
zürnenden Apollo zu malen, hätte sein Gesicht in diesem Augenblick zum
Urbild nehmen müssen. Allein der weise Hippias erwiderte diesen Eifer mit
einem Lächeln, welches dem Momus selbst Ehre gemacht hätte, und sagte ohne
seine Stimme zu verändern: "Nunmehr glaube ich dich zu kennen, Callias,
und du wirst von meinen Verführungen weiter nichts zu besorgen haben. Die
gesunde Vernunft ist nicht für so warme Köpfe gemacht, wie der deinige.
Wie leicht, wenn du mich zu verstehen fähig gewesen wärest, hättest du dir
den Einwurf selbst beantworten können, daß die Grundsätze der Sophisten
und Weltleute verderblich wären, wenn sie allgemein würden? Die Natur hat
schon davor gesorgt, daß sie nicht allgemein werden,--doch ich würde mir
selbst lächerlich sein, wenn ich deine begeisterte Apostrophe beantworten,
oder dir zeigen wollte, wie sehr auch der Affekt der Tugend das Gesicht
verfälschen kann. Sei tugendhaft, Callias; fahre fort dich um den Beifall
der Geister, und die Gunst der ätherischen Schönen zu bewerben; rüste dich,
dem Ungemach, das dein Platonismus dir in dieser Unterwelt zuziehen wird,
großmütig entgegen zu gehen, und tröste dich, wenn du Leute siehst, die
niedrig genug sind, sich an irdischen Glückseligkeiten zu weiden, mit dem
frommen Gedanken, daß sie in dem andern Leben, wo die Reihe an dich kommt,
glücklich zu sein, sich in den Flammen des Phlegeton wälzen werden."

Mit diesen Worten stund Hippias auf, warf einen verächtlichmitleidigen
Blick auf den Agathon, und wandte ihm den Rücken zu, um ihm mit einer
unter seines gleichen gewöhnlichen Höflichkeit zu verstehen zu geben, daß
er sich zurückziehen könne.




VIERTES BUCH




ERSTES KAPITEL

Geheimer Anschlag, den Hippias gegen die Tugend unsers Helden macht


Wir vermuten, daß es einigen Lesern scheinen werde, Hippias habe in seinem
Diskurs bei Agathon einen größern Mangel von Erfahrung und Kenntnis der
Welt vorausgesetzt, als er, nach allem, was bereits mit ihm vorgegangen
war, haben konnte. Wir müssen also zur Entschuldigung dieses Weisen sagen,
daß Agathon, aus Ursachen, die uns unbekannt geblieben, für gut befunden
habe, von dem glänzenden Teil seiner Begebenheiten, und sogar von seinem
Namen ein Geheimnis zu machen. Denn sein Name war durch die Rolle, die er
zu Athen gespielt hatte, in den griechischen Städten allzubekannt worden,
als daß er es nicht auch dem Hippias hätte sein sollen; ob dieser gleich,
seit dem er in Smyrna wohnte, sich wenig um die Staatsangelegenheiten der
Griechen bekümmerte, die er in den Händen seiner Freunde und Schüler ganz
wohl versorgt hielte. Da nun Agathon so sorgfältig gewesen war, ihm alles
zu verbergen, was einigen Verdacht hätte erwecken können, daß er jemals
etwas mehr als ein Aufwärter in dem Tempel zu Delphi gewesen; so konnte
Hippias mit desto besserm Grunde voraussetzen, daß er noch ein vollkommner
Neuling in der Welt sei, als weder die Denkungsart noch das Betragen
dieses jungen Menschen so beschaffen war, daß ein Kenner auf günstigere
Gedanken hätte gebracht werden sollen. Leute von seiner Art können, in
der Tat zehen Jahre hinter einander in der großen Welt gelebt haben, ohne
daß sie dieses fremde und entlehnte Ansehen verlieren, welches beim ersten
Blick verkündiget, daß sie hier nicht einheimisch sind; geschweige, daß
sie fähig wären, sich jemals zu dieser edeln Freiheit von den Fesseln der
gesunden Vernunft, zu dieser weisen Gleichgültigkeit gegen alles was die
schwärmerischen Seelen Empfindung nennen, und zu dieser verzärtelten
Feinheit des Geschmacks zu erheben, wodurch die Weltleute sich auf eine so
vorteilhafte Art unterscheiden. Solche Leute können wohl Beobachtungen
machen; allein da ihnen dieser Instinkt, dieses sympathetische Gefühl
mangelt, mittelst dessen jene einander so schnell und zuverlässig
ausfindig machen; oder deutlicher zu reden, da sie von allem auf eine
andre Art gerührt werden, als jene; und sich, so sehr sie sich auch
anstrengten, niemals an ihre Stelle setzen können: so bleiben sie doch
immer in einem unbekannten Lande, wo ihre Erkenntnis nur bei Mutmaßungen
stehen bleibt, und ihre Erwartung alle Augenblicke durch unbegreifliche
Zufälle und unverhoffte Veränderungen betrogen wird. Mit allen seinen
Vorzügen war Agathon doch in eben dieser Klasse, und es ist also kein
Wunder, daß er, ungeachtet der tiefen Betrachtungen die er über seine
Unterredung mit dem Hippias bei sich selbst anstellte, sehr weit entfernt
war, die Gedanken zu erraten, womit dieser Sophist itzt umging, dessen
Eitelkeit durch den schlechten Fortgang seines Vorhabens, und den
Eigensinn dieses seltsamen Jünglings weit mehr beleidiget war, als er sich
hatte anmerken lassen. Agathon, wenn er das würklich wäre, was er zu sein
schien, wäre (dachte der weise Mann nicht ohne Grund) eine lebendige
Widerlegung seines Systems. "Wie?" sagte er zu sich selbst, (ein Umstand,
der ihm selten begegnete) "ich habe mehr als vierzig Jahre in der Welt
gelebt, und unter einer unendlichen Menge von Menschen von allen Ständen
und Klassen, nicht einen einzigen angetroffen, der meine Begriffe von der
menschlichen Natur nicht bestätiget hätte, und dieser junge Mensch sollte
mich noch an die Tugend glauben lehren? Es kann nicht sein; er ist ein
Phantast oder ein Heuchler. Was er auch sein mag, ich will es ausfündig
machen.--Gut! Das ist ein vortrefflicher Einfall! Ich will ihn auf eine
Probe stellen, wo er unterliegen muß, wenn er ein Schwärmer, und wo er die
Maske ablegen wird, wenn er ein Komödiant ist. Er hat gegen Cyane
ausgehalten, dies hat ihn stolz und sicher gemacht. Aber das beweist noch
nichts. Wir wollen ihn auf eine stärkere Probe setzen; wenn er in dieser
den Sieg erhält, so muß er--ja, so will ich meine Nymphen entlassen, mein
Haus den Priestern der Cybele vermachen, und an den Ganges ziehen, und in
der Höhle eines alten Palmbaums, mit geschloßnen Augen und den Kopf
zwischen den Knien, so lange in der nämlichen Positur sitzen bleiben, bis
ich, allen meinen Sinnen zu trotz, mir einbilde, daß ich nicht mehr bin!
"--Dies war ein hartes Gelübde; auch hielt sich Hippias sehr überzeugt,
daß es so weit nicht kommen würde, und damit er keine Zeit versäumen
möchte; so machte er noch an demselbigen Tag Anstalt, seinen Anschlag
auszuführen.




ZWEITES KAPITEL

Hippias stattet einer Dame einen Besuch ab


Die Damen zu Smyrna hatten damals eine Gewohnheit, welche ihrer Schönheit
mehr Ehre machte als ihrer Sittsamkeit. Sie pflegten sich in den warmen
Monaten gemeiniglich alle Nachmittage eines kühlenden Bades zu bedienen,
und, um keine lange Weile zu haben, nahmen sie um diese Zeit die Besuche
derjenigen Mannspersonen an, die das Recht eines freien Zutritts in ihren
Häusern hatten. Diese Gewohnheit war in Smyrna eben so unschuldig als es
der Gebrauch bei unsern westlichen Nachbarinnen ist, Mannspersonen bei der
Toilette um sich zu haben; auch kam diese Freiheit nur den Freunden zu
statten, und, den besondern Fall ausgenommen, wenn die hartnäckige
Blödigkeit eines noch unerfahrnen Neulings einiger Aufmunterung nötig
hatte, waren die Liebhaber gänzlich davon ausgeschlossen. Unter einer
großen Anzahl von Schönen, bei denen der weise Hippias dieses Vorrecht
genoß, war auch eine, die unter dem Namen Danae den ersten Rang in
derjenigen Klasse von Frauenzimmern einnahm, die man bei den Griechen
Freundinnen, oder noch eigentlicher Gesellschafterinnen zu nennen pflegte.
Diese Gattung von Damen war damals unter ihrem Geschlecht, was die
Sophisten unter dem männlichen; sie stunden in keiner geringern Achtung,
und konnten sich rühmen, daß die vollkommensten Modelle aller Vorzüge
ihres Geschlechts, wenn man die strenge Tugend ausnimmt, die Aspasien, die
Leontium und die Phrynen sich kein Bedenken machten von ihrem Orden zu
sein. Was die Danae betrifft, so machten die Mannspersonen zu Smyrna kein
Geheimnis daraus, daß sie, ihrem Urteil nach, an Schönheit und Artigkeit
alle andre Frauenzimmer, galante und spröde, tugendhafte und andächtige,
übertreffe. Es ist wahr, die Geschichte meldet nicht, daß die Damen sich
sehr beeifert hätten, das Urteil der Mannspersonen durch ihren
öffentlichen Beitritt zu bestätigen; allein soviel ist gewiß, daß keine
unter ihnen war, die sich selbst nicht gestanden hätte, daß, eine einzige
Person ausgenommen, die sie niemals öffentlich nennen wollten, die schöne
Danae alle übrigen eben so weit übertreffe, als sie von dieser einzigen
Ungenannten übertroffen werde. In der Tat war ihr Ruhm von dieser Seite
so festgesetzt, daß man das Gerücht nicht unwahrscheinlich fand, welches
versicherte, daß sie in ihrer ersten Jugend den berühmtesten Malern zum
Modell gedient habe; und daß sie bei einer solchen Gelegenheit den Namen
erhalten, unter welchem sie in Jonien berühmt war. Itzo hatte sie zwar
das dreißigste Jahr schon zurückgelegt, allein ihre Schönheit hatte
dadurch mehr gewonnen als verloren; und der blendende Jugendglanz, der mit
dem Mai des Lebens zu verschwinden pflegt, wurde durch tausend andre
Reizungen ersetzt, welche ihr, nach dem Urteil der Kenner, eine gewisse
Anziehungskraft gaben, die man, ohne sich eines schwülstigen Ausdrucks
schuldig zu machen, in gewissen Umständen für unwiderstehlich halten
konnte. Dem ungeachtet scheute sich, unter der ägide der Gleichgültigkeit,
worin ihn damals ordentlicher Weise auch die schönsten Figuren zulassen
pflegten, der weise Hippias nicht, seine Tugend öfters dieser Gefahr
auszusetzen. Er war der schönen Danae unter dem Titel eines Freundes
vorzüglich angenehm, und die geheime Geschichte sagt so gar, daß sie ihn
ehmals nicht unwürdig gefunden, ihm eine Zeitlang eine noch interessantere
Stelle, bei ihrer Person anzuvertrauen; eine Stelle die nur von den
liebenswürdigsten seines Geschlechts bekleidet zu werden pflegte. Diese
Dame war es, deren Beihülfe Hippias sich zu Ausführung seines Anschlags
wider den Agathon bedienen wollte, dessen schwärmerische Tugend, seinen
Gedanken nach, eine Beschimpfung seiner Grundsätze war, die er viel
weniger leiden konnte, als die allerscharfsinnigste Widerlegung in forma.
Er begab sich also zu der gewöhnlichen Stunde zu ihr, und war kaum in den
Saal getreten, wo sie sich befand, und in den Bedürfnissen des Bades, von
zween jungen Knaben, welche eher ein paar Liebesgötter zu sein schienen,
bedient wurde; als sie schon in seinem Gesicht etwas bemerkte, das mit
seiner gewöhnlichen Heiterkeit einen Absatz machte. "Was hast du,
Hippias", sagte sie zu ihm, "daß du eine so tiefsinnige Miene mitbringst?"
"Ich weiß nicht", antwortete er, "warum ich tiefsinnig aussehen sollte,
wenn ich eine Dame im Bade besuche; aber das weiß ich, daß ich dich noch
nie so schön gesehen habe, als diesen Augenblick." "Gut", sagte sie, "das
beweist, daß ich recht geraten habe. Ich bin gewiß, daß ich heute nicht
besser aussehe als das letztemal, da du mich sahest; aber deine Phantasie
ist höher gestimmt als gewöhnlich, und du schreibst den Einfluß, den sie
auf deine Augen hat, großmütig auf die Rechnung des Gegenstands, den du
vor dir hast; ich wollte wetten, daß die häßlichste meiner Kammermädchen,
dir in diesem Augenblick eine Grazie scheinen würde." "Ich habe",
versetzte Hippias, "keine Ansprüche an eine lebhaftere Einbildungskraft zu
machen als Zeuxes und Aglaophon, welche sich nichts vollkommners zu
erfinden getrauten als Danae. Welche schöne Gelegenheit zu einer neuen
Verwandlung, wenn ich Jupiter wäre!"--"Und was für eine Gestalt wolltest
du annehmen, um zu gleicher Zeit meine Sprödigkeit und deine liebe
Gemahlin zu hintergehen? Denn ich glaube kaum, daß unter allen
geflügelten, vierfüßigen und kriechenden Tieren eines ist, das nicht schon
einem Unsterblichen hätte dienen müssen, irgend ein ehrliches Mädchen zu
beschleichen." "Ich würde mich nicht lange besinnen", sagte Hippias; "was
für eine Gestalt könnte ich annehmen, die dir angenehmer und mir zu meiner
Absicht bequemer wäre, als dieses Sperlings, der deine Liebhaber so oft zu
einer gerechten Eifersucht reizt; der, durch die zärtlichsten Namen
aufgemuntert, mit solcher Freiheit um deinen Nacken flattert, oder mit
mutwilligem Schnabel den schönsten Busen neckt, und die Liebkosungen
allezeit doppelt wieder empfängt, die er dir gemacht hat." "Es ist dir
leichter wie es scheint", versetzte Danae, "einen Sperling an deine Stelle,
als dich an die Stelle eines Sperlings zu setzen; bald könntest du mir
die Schmeicheleien meines kleinen Lieblings verdächtig machen. Aber genug
von den Wundern, die du meiner Schönheit zutrauest; wir wollen von was
anderm reden. Weißest du, daß ich meinem Liebhaber den Abschied gegeben
habe?" "Dem schönen Hiacinthus?" "Ihm selbst, und was noch mehr ist, mit
dem festen Entschluß, seine Stelle nimmer zu ersetzen." "Das ist eine
tragische Entschließung, schöne Danae." "Nicht so sehr als du denkest.
Ich versichre dich, Hippias, meine Geduld reicht nicht mehr zu, alle
Torheiten dieser abgeschmackten Gecken auszustehen, welche die Sprache der
Empfindung reden wollen und nichts fühlen; deren Herz nicht so viel als
mit einer Nadelritze verwundet ist, ob sie gleich von Martern und von
Flammen reden; die unfähig sind etwas anders zu lieben als sich, und denen
meine Augen nur zum Spiegel dienen sollen, um darin den Wert ihrer kleinen
unverschämten Figur zu bewundern. Kaum glauben sie ein Recht an unsre
Gütigkeit zu haben, so bilden sie sich ein, daß sie uns viel Ehre erweisen,
wenn sie unsere Liebkosungen mit einer zerstreuten Miene dulden. Ein
jeder Blick, den sie auf mich werfen, sagt mir, daß ich ihnen nur zum
Spielzeug diene; und die Hälfte meiner Reizungen geht an ihnen verloren,
weil sie keine Seele haben, um die Schönheiten einer Seele zu empfinden."
"Dein Unwille ist gerecht", versetzte der Sophist; "es ist verdrießlich,
daß man diesen Mannsleuten nicht begreiflich machen kann, daß die Seele
das liebenswürdigste an einem schönen Frauenzimmer ist. Aber beruhige
dich; nicht alle Männer denken so unedel, und ich kenne einen, der dir
gefallen würde, wenn du, zur Abwechslung, einmal Lust hättest, es mit
einem geistigen Liebhaber zu versuchen." "Und wer kann das sein, wenn man
fragen darf?" "Es ist ein Jüngling, gegen den deine Hyacinthe nur
Meerkatzengesichter sind, schöner als Adonis."--"Fi, Hippias, das ist als
wie wenn du sagtest, süßer als Honigseim. Du begreifst nicht, wie sehr
mir vor diesen schönen Herren ekelt." "O! das hat nichts zu bedeuten; ich
stehe dir für diesen. Er hat keinen von den Fehlern der schönen
Narcissen, die dir so ärgerlich sind. Kaum scheint er es zu wissen, daß
er einen Leib hat. Das ist ein Mensch wie man nicht viele sieht, schön
wie Apollo, aber geistig wie ein Zephyr; ein Mensch, der lauter Seele ist,
der dich, wie du hier bist, für eine bloße Seele ansehen würde, und der
alles auf eine geistige Art tut, was wir andere körperlich tun. Du
verstehst mich ja, schöne Danae?" "Nicht allzuwohl; aber deine
Beschreibung gefällt mir nichts desto minder. Du sprichst doch im Ernst?"
"In ganzem Ernst: Wenn du Lust hast die metaphysische Liebe zu kosten, so
habe ich deinen Mann gefunden. Er ist platonischer als Plato
selbst--denn ich denke, du könntest uns geheime Nachrichten von diesem
berühmten Weisen geben." "Ich erinnere mich", antwortete Danae lächelnd,
"daß er einmal mit einer meiner Freundinnen eine kleine Zerstreuung gehabt
hat, die du ihm nicht übel nehmen mußt. Wo ist ein Geist, dem ein
hübsches Mädchen von achtzehn Jahren nicht einen Körper geben könnte?"
"Du kennest meinen Mann noch nicht", erwiderte Hippias; "die Göttin von
Paphos, ja du selbst würdest es bei ihm so weit nicht bringen. Du kannst
ihn Tag und Nacht um dich haben. Du kannst ihn auf alle Proben stellen,
du kannst ihn--bei dir schlafen lassen, Danae, ohne daß er dir Gelegenheit
geben wird, nur die mindeste kleine Ausrufung anzubringen; kurz, bei ihm
kann deine Tugend ganz ruhig einschlummern, ohne jemals in Gefahr zu
kommen, aufgeweckt zu werden." "Ach! nun verstehe ich dich; es verlohnte
sich der Mühe nicht, den Scherz so weit zu treiben. Ich verlange keinen
Liebhaber der sich nur darum an meine Seele hält, weil ihm das übrige zu
nichts nütze ist." "Auch ist derjenige, den ich dir anpreise, weit
entfernt in diese Klasse zu gehören; mache dir darüber keinen Kummer. Was
du für die Folge einer physischen Notwendigkeit hältst, ist bei ihm die
Würkung der Tugend, und der erhabnen Philosophie, von der er Profession
macht." "Du machst mich sehr neugierig ihn zu sehen; aber weißt du,
Hippias, daß meine Eitelkeit nicht zu frieden wäre, auf eine so
kaltsinnige Art geliebt zu sein. Es ist wahr, ich bin dieser mechanischen
Liebhaber von Herzen überdrüssig; aber ich würde mit einem andern eben so
übel zu frieden sein, der gegen dasjenige ganz unempfindlich wäre, wofür
jene allein empfindlich sind. Ein Frauenzimmer findet allezeit ein
Vergnügen darin, Begierden einzuflößen, auch wann sie nicht im Sinn hat,
sie zu vergnügen. Die Spröden selbst sind von dieser Schwachheit nicht
ausgenommen. Wozu haben wir nötig, daß uns ein Liebhaber sagt, daß wir
reizend sind? Wir wollen es aus den Würkungen sehen, die wir auf ihn
machen. Je weiser er ist, desto schmeichelnder ist es für unsre Eitelkeit,
wenn wir ihn aus seiner Fassung setzen können. Nein, du begreifst nicht,
wie sehr das Vergnügen, das uns der Anblick aller der Torheiten macht,
wozu wir diese Herren der Schöpfung bringen können, alle andre übertrifft,
die sie uns zu machen fähig sind. Ein Philosoph, der zu meinen Füßen wie
eine Turteldaube girret, der mir zu Gefallen seine Haare und seinen Bart
kräuseln läßt, der so wohl riecht wie ein arabischer Salbenhändler, der
mir den Hof zu machen, mit meinem Schoßhund schwatzt und Oden auf meinen
Sperling macht--ah! Hippias, man muß ein Frauenzimmer sein, um zu
begreifen, was das für ein Vergnügen ist!"--"Ich bedaure dich"; erwiderte
der schalkhafte Sophist, "daß du diesem Vergnügen bei dem Liebhaber, von
dem ich rede, entsagen mußt. Er hat seine Proben schon gemacht. Er ist
zärtlich wie ein junger Seufzer, aber, wie gesagt, er ist es nur für die
Seele der Schönen; alles übrige macht keinen größern Eindruck auf ihn, als
ein Gemälde, oder eine Bildsäule." "Das wollen wir sehen", versetzte
Danae; "ich verlange schlechterdings, daß du ihn diesen Abend zu mir
bringest; du wirst nur eine kleine Gesellschaft finden, die uns nicht
hindern soll. Aber wer ist denn dieser Ungenannte, von dem wir schon so
lange schwatzen?" "Es ist ein Sklave, den ich vor etlichen Wochen von
einem Cilicier gekauft habe, aber ein Sklave, wie man sonst nirgends sieht.
Er ist zu Delphi im Tempel des Apollo erzogen worden, und, so viel ich
vermute, wird er sein Dasein der antiplatonischen Liebe dieses Gottes zu
irgend einer artigen Schäferin zu danken haben, die sich zu weit in seinen
Lorbeerhain gewagt haben mag. Er ist hernach eine geraume Zeit zu Athen
gewesen, und die schönen Reden des Plato haben die romanhafte Erziehung
vollendet, die er in den geheiligten Hainen zu Delphi erhalten. Er geriet
durch einen Zufall in die Hände Cilicischer Seeräuber, und aus diesen in
die meinige. Er nannte sich Pythokles; aber weil ich diese Art von Namen
nicht leiden kann, so hieß ich ihn Callias, und er verdient so zu heißen,
denn er ist der schönste Mensch, den ich jemals gesehen habe. Seine
übrigen Gaben bestätigen die gute Meinung, die sein Anblick von ihm
erweckt. Er hat Verstand, Geschmack, und Wissenschaft; er ist ein
Liebhaber und ein Günstling der Musen; aber mit allen diesen Vorzügen ist
er doch nichts weiter als ein wunderlicher Kopf, ein Schwärmer und ein
unbrauchbarer Mensch. Er nennt seinen Eigensinn Tugend, weil er sich
einbildet, die Tugend müsse die Antipode der Natur sein; er hält die
Ausschweifungen seiner Phantasie für Vernunft, weil er sie in einen
gewissen Zusammenhang gebracht hat; und sich selbst für weise, weil er auf
eine methodische Art raset. Er gefiel mir beim ersten Anblick, ich faßte
den Entschluß, etwas aus diesem jungen Menschen zu machen; aber alle meine
Mühe war umsonst; und wenn es möglich ist, daß er durch jemand zu recht
gebracht werden kann, so muß es durch ein Frauenzimmer geschehen; denn ich
glaube bemerkt zu haben, daß man nur durch sein Herz in seinen Kopf kommen
kann. Die Unternehmung wäre deiner würdig, schöne Danae, und wenn sie dir
nicht gelingt, so ist er unverbesserlich, und verdient nichts, als daß man
ihn seiner Torheit und seinem Schicksal überlasse."

"Du hast meinen ganzen Ehrgeiz rege gemacht, Hippias", versetzte die
schöne Danae; "bringe ihn diesen Abend mit; ich will ihn sehen, und wenn
er aus eben denselben Elementen zusammengesetzt ist, wie andre Erden-Söhne,
so wollen wir eine Probe machen, ob Danae ihrer Lehrmeisterin würdig ist."

Hippias war sehr erfreut, den Zweck seines Besuchs so glücklich erreicht
zu haben, und versprach beim Abschied, zur bestimmten Zeit diesen
wunderbaren Jüngling aufzuführen, an welchem die schöne Danae so begierig
war, die Macht ihrer Reizungen zu versuchen.




DRITTES KAPITEL

Geschichte der schönen Danae


Die Dame, mit welcher unsre Leser im vorigen Kapitel Bekanntschaft gemacht,
hat vermutlich einem guten Teil derselben nicht so übel gefallen, daß sie
nicht eine nähere Nachricht von dem Charakter und der Geschichte derselben
erwarten sollten; und wir sind desto geneigter, ihrem Verlangen ein Genüge
zu tun, je nötiger der Verfolg unsrer Geschichten zu machen scheint, daß
der Leser in den Stand gesetzt werde, der schönen Danae Gerechtigkeit
widerfahren zu lassen.

Die allgemeine Meinung zu Smyrna war, daß sie eine Tochter der berühmten
Aspasia von Milet sei, die, nachdem sie in ihrer Vaterstadt die Kunst der
Galanterie, wovon sie Profession machte, durch die Verbindung derselben
mit der Philosophie und den Künsten der Musen, zu jenem Grade der
Vollkommenheit erhoben hatte, der sie zur wahren Erfinderin derselben zu
machen schien, nach Athen gezogen war, wo sie sich ihrer seltnen Vorzüge
auf eine so kluge Art zu bedienen gewußt, daß sie sich endlich zur
unumschränkten Beherrscherin des großen Perikles, der das ganze
Griechenland beherrschte, oder wie die komischen Dichter ihrer Zeit sich
ausdrückten, zur Juno dieses atheniensischen Jupiters erhoben hatte.
Allein die Vermutungen, worauf sich diese Meinung von der Abkunft der
Danae gründeten, können nicht für hinlänglich angesehen werden, das
Zeugnis verschiedner Geschichtschreiber zu überwägen, welche versichern,
daß sie aus der Insel Scios gebürtig gewesen, und nach dem Tod ihrer
Eltern, in ihrem vierzehnten Jahr mit einem Bruder nach Athen gekommen, um
in dieser Stadt, worin alle angenehmen Talente willkommen waren, durch die
ihrigen ihren Unterhalt zu gewinnen. Die Kunst, welche sie hier trieb,
war eine Art von pantomimischen Tänzen, wozu gemeiniglich nur eine oder
zwo Personen erfordert wurden, und worin die tanzende Person, nach der
Modulation einer Flöte oder Leier, gewisse Stücke aus der Götter--und
Heldengeschichte der Griechen, durch Gebärden und Bewegungen vorstellte.
Allein, da diese Kunst wegen der Menge derer die sie trieben, nicht
zureichte sie zu unterhalten, so sahe sich die junge Danae genötiget, den
Künstlern zu Athen die Dienste eines Models zu tun; und erhielt dadurch
außer dem Nutzen, den sie davon zog, die schmeichelnde Ehre, bald als
Diana, bald als Venus auf die Altäre gestellt, die Bewunderung der Kenner
und die Anbetung des Pöbels zu erhalten. Bei einer solchen Gelegenheit
trug es sich zu, daß sie von dem jungen Alcibiades überraschet, und in der
Stellung der Danae des Acrisius, welche sie eben vorstellte, allzureizend
befunden wurde, als daß einem geringern als Alcibiades auch nur der
Anblick so vieler Schönheiten erlaubt sein sollte. Auf der andern Seite
wurde die junge Danae von der Figur, den Manieren, dem Stand und den
Reichtümern dieses liebenswürdigen Verführers so sehr eingenommen, daß er
keine große Mühe hatte, sie zu bereden sich in seinen Schutz zu begeben.
Er brachte sie also in das Haus der Aspasia, welches zu gleicher Zeit eine
Akademie der schönsten Geister von Athen, und eine Frauenzimmer-Schule war,
worin junge Mädchen von den vorzüglichsten Gaben, unter der Aufsicht
einer so vollkommen Meisterin, eine Erziehung erhielten, welche sie zu der
Bestimmung geschickt machen sollte, die Großen und die Weisen der Republik
in ihren Ruhestunden zu ergötzen. Danae machte sich diese Gelegenheit
sowohl zu Nutze, daß sie die Gunst, und endlich selbst die Vertraulichkeit
der Aspasia erhielt, welche, weit über die Niederträchtigkeit gemeiner
Seelen erhaben, sich mit so vielem Vergnügen in dieser jungen Person
wieder hervorgebracht sah, daß sie dadurch zu der Vermutung Anlaß gab,
deren wir bereits Erwähnung getan haben. Inzwischen genoß Alcibiades
allein der Früchte einer Erziehung, wodurch die natürlichen Gaben seiner
jungen Freundin zu einer Vollkommenheit entwickelt wurden, die ihr den
Namen der zweiten Aspasia erwarb; und die schöne Danae legte sich selbst
die Pflicht auf, eine Treue gegen ihn zu beobachten, die er nicht zu
erwidern nötig fand. Da die Liebe zur Veränderung eine stärkere
Leidenschaft bei ihm war, als die Liebe die ihm irgend ein Frauenzimmer
einflößen konnte, so mußte auch Danae, nachdem sie sich eine geraume Zeit
in dem ersten Platz bei ihm erhalten hatte, einer andern weichen, die
keinen Vorzug vor ihr hatte, als daß sie ihm neu war. So schwach Danae
von einer gewissen Seite sein mochte, so edel war ihr Herz in andern
Stücken. Sie liebte den Alcibiades, weil sie von seiner Person und von
seinen Eigenschaften bezaubert war, und dachte wenig daran, von seinen
Reichtümern Vorteil zu ziehen. Sie würde also nichts von ihm übrig
behalten haben, als das Andenken von dem liebenswürdigsten Mann ihrer Zeit
geliebt worden zu sein; wenn er nicht eben so stolz und freigebig gewesen
wäre, als sie, wider die Gewohnheit ihrer Gespielen, uneigennützig war.
"Ich verlasse dich Danae", sagte er zu ihr, "allein ich werde nicht
zugeben, daß diejenige, die einst dem Alcibiades zugehörte, jemals
genötiget sein soll, dem Reichsten zu überlassen, was nur dem
Liebenswürdigsten gehört." Mit diesen Worten drang er ihr eine Summe auf,
die mehr als zulänglich war, sie von dieser Seite außer aller Gefahr zu
setzen. Der Tod der Aspasia und die Veränderungen, die er nach sich zog,
bewogen sie, wenige Jahre darauf Athen zu verlassen, und nach etlichen
Begebenheiten, an denen ihr Herz keinen geringen Anteil hatte, Smyrna zu
ihrem beständigen Sitz zu erwählen. Hier hatte sie Gelegenheit dem
jüngern Cyrus bekannt zu werden, dessen liebenswürdige Eigenschaften durch
die Feder des Xenophon eben so bekannt worden sind, als der unglückliche
Ausgang der Unternehmung, wodurch er sich auf den Thron des ersten Cyrus
zu schwingen hoffte. Ihr erster Anblick unterwarf ihr das Herz dieses
Prinzen, der so empfindlich gegen diejenige Art von Reizungen war, wodurch
sich die Schülerinnen der Aspasia von den lebenden Statuen unterschieden,
die in den Morgenländern zum Vergnügen der Großen bestimmt werden, und in
der Tat zu dem einzigen Gebrauch den diese von ihnen zu machen wissen,
wenig Seele nötig haben. Allein so schmeichelhaft diese Eroberung für sie
war, so konnte sie doch nichts bewegen, ihn nach Sardes zu begleiten, und
ihre Freiheit der Ehre aufzuopfern, die erste seiner Sklavinnen zu sein.
Sie blieb also in Smyrna zurück, wo sie durch die großmütige Freigebigkeit
des Cyrus, der sich hierin von keinem Athenienser übertreffen lassen
wollte, in den Stand gesetzt war, ihre einzige Sorge sein zu lassen, wie
sie auf die angenehmste Art leben wollte. Sie bediente sich dieses Glücks,
wie es der Name der zwoten Aspasia erfoderte. Ihre Wohnung schien ein
Tempel der Musen und Grazien zu sein, und wenn Amor von einer so reizenden
Gesellschaft nicht ausgeschlossen war, so war es jener Amor, den die Musen
beim Anacreon mit Blumenkränzen binden, und der sich in dieser
Gefangenschaft so wohl gefällt, daß Venus ihn vergeblich bereden will,
sich in seine vorige Freiheit setzen zu lassen. Die Spiele, die Scherze
und die Freuden, (wenn es uns erlaubt ist, die Sprache Homers zu
gebrauchen, wo die gewöhnliche zu matt scheint), schlossen mit den
lächelnden Stunden einen unauflöslichen Reihentanz um sie her, und
Schwermut, überdruß, und Langeweile waren mit allen andern Feinden der
Ruhe und des Vergnügens aus diesem Wohnplatz der Freude verbannt.

Wir haben, deucht uns, schon mehr als genug gesagt, um unsre Leser in
keine mittelmäßige Sorge für die Tugend unsers Helden zu setzen. In der
Tat hatte er sich noch niemals in Umständen befunden, wo wir weniger
hoffen dürfen, daß sie sich werde erhalten können; die Gefahr worin sie
bei der üppigen Pythia, unter den rasenden Bachantinnen und in dem Hause
des weisen Hippias, welches dem Stalle der Circe so ähnlich sah,
geschwebet hatte, verdient nur nicht neben derjenigen genannt zu werden,
welcher wir ihn bald ausgesetzt sehen werden, und deren wir ihn gerne
überhoben hätten, wenn uns die Pflichten eines Geschichtschreibers
erlaubten, unsrer freundschaftlichen Parteilichkeit für ihn, auf Unkosten
der Wahrheit nachzugeben.




VIERTES KAPITEL

Wie gefährlich es ist, der Besitzer einer verschönernden Einbildungskraft
zu sein


Wenn eine lebhafte Einbildungskraft ihrem Besitzer eine unendliche Menge
von Vergnügen gewährt, die den übrigen Sterblichen versagt sind; wenn ihre
magische Würkung alles Schöne in seinen Augen verschönert, und ihn da in
Entzückung setzt, wo andre kaum empfinden; wenn sie in glücklichen Stunden,
ihm diese Welt zu einem Paradiese macht, und in traurigen seine Seele von
der Szene seines Kummers hinwegzieht, und in andre Welten versetzt, die
durch die vergrößernden Schatten einer vollkommnen Wonne seinen Schmerz
bezaubern: So müssen wir auf der andern Seite gestehen, daß sie nicht
weniger eine Quelle von Irrtümern, von Ausschweifungen und von Qualen für
ihn ist, wovon er, selbst mit Beihülfe der Weisheit und mit der feurigsten
Liebe zur Tugend, sich nicht eher losmachen kann, bis er, auf welche Art
es nun sein mag, so weit gekommen ist, die allzugroße Lebhaftigkeit
derselben zu mäßigen. Der weise Hippias hatte, die Wahrheit zu gestehen,
unserm Helden sehr wenig Unrecht getan, als er ihm eine Einbildungskraft
von dieser Art zuschrieb; ob wir ihm gleich in Absicht des Mittels nicht
völlig beifallen können, wodurch selbige, seiner Meinung nach, am besten
in das gehörige Gleichgewicht mit den übrigen Kräften der Seele gesetzt
werden könne. Die schlaue Danae hatte sich aus der Beschreibung des
Hippias eine solche Vorstellung von dem Agathon gemacht, daß sie alles
gewonnen zu haben glaubte, wenn sie nur seine Einbildungskraft auf ihre
Seite gebracht haben würde. Hippias, dachte sie, hatte nur darin gefehlt,
daß er ihn durch die Sinnen verführen wollte. Auf diese Voraussetzung
machte sie einen Plan, über den sie nicht wenig vergnügt war; und dachte
so wenig daran, daß die Ausführung sie ihr eignes Herz kosten könnte, als
Agathon sich von der Gefahr träumen ließ, die dem seinigen zubereitet
wurde. Endlich kam die Stunde, die dem Hippias bestimmt worden war.
Agathon begleitete seinen Herrn, ohne zu wissen wohin. Sie traten in
einen Palast, der auf einer doppelten Reihe von jonischen Säulen ruhte,
und mit vielen vergoldeten Bildsäulen ausgezieret war. Das Inwendige
dieses Hauses stimmte vollkommen mit der Pracht des äußerlichen Anblicks
überein. Allenthalben begegnete ihm das geschäftige Gewimmel von
unzählichen Sklaven und Sklavinnen, wovon die erstern alle unter zwölf
Jahren zu sein schienen, und so wie die letztern von außerordentlicher
Schönheit waren. Ihre Kleidung stellte dem Aug' eine angenehme
Verbindung der Einförmigkeit mit der Abwechslung vor; einige waren in weiß,
andre in himmelblau, andre in rosenfarb, andre in andre Farben gekleidet,
und jede Farbe schien eine besondere Klasse zu bezeichnen, welcher ihre
eigne Dienste angewiesen waren. Agathon, auf den alles lebhaftere
Eindrücke machte, als es nötig war, um nach dem Maßstab der Moralisten
genug zu sein, wurde durch alles was er sah, so sehr bezaubert, daß er
sich in eine von seinen idealischen Welten versetzt glaubte. Allein eh er
Zeit hatte zu sich selbst zu kommen, führte ihn Hippias in einen großen
und hellerleuchteten Saal, worin die Gesellschaft versammelt war, welche
sie vermehren sollten. Er hatte kaum einen Blick auf sie geworfen, als
die schöne Danae ihm mit einer Anmut und Leutseligkeit die ihr eigen war,
entgegen kam, und ihm sagte, daß ein Freund des Hippias das Recht habe,
sich in ihrem Hause und in dieser Gesellschaft als einheimisch anzusehen.
Ein so verbindliches Kompliment verdiente wohl eine Antwort in eben diesem
Ton; allein Agathon war in diesem Augenblick außer Stand, höflich zu sein:
Ein Blick, womit man den äußersten Grad des angenehmsten Erstaunens malen
müßte, war alles, was er auf diese Anred' erwidern konnte. Die
Gesellschaft, die er versammelt fand, war aus lauter solchen Personen
zusammengesetzt, welche die Vorrechte des vertrautesten Umgangs in diesem
Hause genossen, und die attische Urbanität, die von der spröden,
regelmäßigen und manierenreichen Politesse der heutigen Europäer so sehr
verschieden war, in einem so hohen Grad als Danae selbst, besaßen. In
einer Gesellschaft nach der heutigen Art würde Agathon, in den ersten
Augenblicken, da er sich darstellte, zu einer unendlichen Menge von
boshaften und spöttischen Anmerkungen Stoff gegeben haben; allein in
dieser war ein flüchtiger Blick alles, was er auszuhalten hatte. Die
Unterredung wurde fortgesetzt, niemand zischelte dem andern ins Ohr, oder
schien das Erstaunen zu bemerken, mit der seine Augen die schöne Danae zu
verschlingen schienen; kurz, man ließ ihm alle Zeit die er brauchte um
wieder zu sich selbst zu kommen, wofern sich anders dieser Ausdruck für
die Verfassung schickt, in der er sich diesen ganzen Abend durch befand.
Vielleicht erwartet man, daß wir eine nähere Erläuterung über diesen
außerordentlichen Eindruck geben sollen, welchen Danae auf unsern
allzureizbaren Helden machte; allein wir sehen uns noch außer Stand, die
Neugierde des Lesers über einen Punkt zu befriedigen, wovon Agathon selbst
noch nicht fähig gewesen wäre, Rechenschaft zu geben: Soviel können wir
inzwischen sagen, daß diese Dame dem Anschein nach niemals weniger
erwarten konnte, eine solche Würkung zu machen; so wenig Mühe hatte sie
sich gegeben, durch einen schlauen Putz ihre Reizungen in ein günstiges
Licht zu setzen. Ein Kleid von weißem Taft, mit kleinen Streifen von
Purpur, und eine halberöffnete Rose in ihrem schwarzen Haar, machte ihren
ganzen Staat aus; und von der Durchsichtigkeit, wodurch die Kleidung der
Cyane den Augen unsers Helden anstößig gewesen, war die ihrige so weit
entfernt, daß man mit besserm Recht an ihr hätte aussetzen können, daß sie
zu sehr verhüllt sei. Es ist wahr, sie hatte Sorge getragen, daß ein
kleiner niedlicher Fuß, der an Weiße den Alabaster übertraf, dem Auge
nicht immer entzogen würde; und die ganze Schönheit ihres Gesichts war
nicht vermögend, den Agathon aufmerksam zu erhalten, wenn sich dieser
reizende Fuß sehen ließ. Allein dieses, und eine schneeweiße Hand mit dem
Anfang eines vollkommen schönen Arms war alles, was das neidische Gewand
den vorwitzigen Blicken nicht versagte; was es also auch sein mochte, was
in seinem Herzen vorging, so ist doch dieses gewiß, daß an der Person und
dem Betragen der schönen Danae nicht das mindeste zu entdecken war, das
einige besondere Absicht auf unsern Helden hätte anzeigen können; und daß
sie, es sei nun aus Unachtsamkeit oder Bescheidenheit, nicht einmal zu
bemerken schien, daß Agathon für sie allein Augen, und über ihrem
Anschauen den Gebrauch aller andern Sinnen verloren hatte.




FÜNFTES KAPITEL

Pantomimen


Nach Endigung der Mahlzeit, bei welcher Agathon beinahe einen bloßen
Zuschauer abgegeben hatte, trat ein Tänzer und eine junge Tänzerin herein,
die nach der Modulation eben so vieler Flöten die Geschichte des Apollo
und der Daphne tanzten. Die Geschicklichkeit der Tanzenden befriedigte
alle Zuschauer; alles an ihnen war Seele und Ausdruck, und man glaubte sie
immer zu hören, ob man sie gleich nur sah. "Wie gefällt dir diese
Tänzerin, Callias", fragte Danae den Agathon, welcher nur mittelmäßig
aufmerksam auf dieses Spiel zu sein schien, und der einzige war, der nicht
beobachtete, daß die Tänzerin von ungemeiner Schönheit, und eben so wie
Cyane, kaum mit etwas mehr als gewebter Luft umhüllt war. "Mich deucht",
versetzte Agathon, der itzt erst anfing sie aufmerksamer anzusehen, "mich
deucht, daß sie, vielleicht aus allzugroßer Begierde zu gefallen, den
Charakter verläßt den sie vorstellen soll. Warum sieht sie sich im
Fliehen um? Und mit einem Blick, der es ihrem Verfolger zu verweisen
scheint, daß er nicht schneller ist als sie?--Gut, sehr gut!" (fuhr er
fort, wie die Stelle kam, wo Daphne den Flußgott um Hülfe anruft,)
"unverbesserlich! Wie sie mitten in ihrem Gebet sich verwandelt! Wie sie
erbleicht! Wie sie schauert! Ihre Füße wurzeln mitten in einer
schreckhaften Bewegung ein; umsonst will sie ihre ausgebreiteten Arme
zurückziehen.--Aber warum dieser zärtlichbange Blick auf ihren Liebhaber?
Warum diese Träne, die in ihrem Auge zu erstarren scheint?"--Ein
allgemeines Lächeln beantwortete die Frage Agathons. "Du tadelst gerade",
versetzte zuletzt einer von den Gästen, "was wir am meisten bewundern.
Eine gewöhnliche Tänzerin würde nicht fähig gewesen sein, deinen Tadel zu
verdienen. Es ist unmöglich mehr Geist, mehr Feinheit und einen schönern
Kontrast in diese Rolle zu bringen, als die kleine Psyche, (so hieß die
Tänzerin) getan hat." Daphne selbst war nicht bestürzter gewesen, da sie
sich verwandelt fühlte, als Agathon in dem Augenblick, als er den Namen
Psyche hörte; er stockte mitten in einem Worte, das er sagen wollte; er
errötete, und seine Verwirrung war so merklich, daß Danae, welche sie der
Beschämung seines Tadels zuschrieb, für nötig hielt, ihm zu Hülfe zu
kommen. "Der Tadel des Callias", sagte sie, "beweist, daß er den Geist,
womit Psyche ihre Rolle gespielt, so gut empfunden hat, als Phädrias.
Aber vielleicht ist er darum nicht minder gegründet. Psyche sollte die
Person der Daphne gespielt haben, und hat ihre eigene gespielt; ist es
nicht so, Psyche? Du dachtest, wie würde mir's an Daphnens Stelle gewesen
sein?"--"Und wie hätte ichs anders machen können, meine Gebieterin?"
fragte die kleine Tänzerin. "Du hättest den Charakter annehmen sollen,
den ihr die Dichter geben, und hast dich begnügt dich selbst in ihre
Umstände zu setzen." "Was für ein Charakter ist denn das", erwiderte
Psyche. "Einer Spröden", sagte der weise Hippias; "das ist der
Lieblings-Charakter des Callias." Abermalige Gelegenheit zum Erröten für
den guten Agathon. "Du hast es nicht erraten", sagte er; "der Charakter,
den Daphne nach meiner Idee haben soll, ist Gleichgültigkeit und Unschuld;
sie kann beides haben, ohne eine Spröde zu sein." "Psyche verdient also
desto mehr Lob", erwiderte Phädrias (für den sie, wie die Geschichte
meldet, noch etwas mehr als eine Tänzerin war) "weil sie den Charakter
verschönert hat, den sie vorstellen sollte. Der Streit zwischen Liebe und
Ehre erfordert mehr Genie um nachgeahmt zu werden, und ist für den
Zuschauer rührender, als die Gleichgültigkeit, die ihr Callias geben will.
Und zudem, wo ist die junge Nymphe, die gegen die Liebe eines so schönen
Gottes wie Apollo ist, gleichgültig sein könnte?" "Ich bin deiner
Meinung", sagte Hippias. "Daphne flieht vor dem Apollo, weil sie ein
junges Mädchen ist; und weil sie ein junges Mädchen ist, so wünscht sie
heimlich, daß er sie erhaschen möge. Warum sieht sie sich so oft um, als
um ihm zu verweisen, daß er nicht schneller sei? Wie er ihr so nahe ist,
daß sie nicht mehr entfliehen kann, so fleht sie dem Flußgotte, daß er sie
verwandeln soll. Grimasse! Warum stürzte sie sich nicht in den Fluß,
wenn es ihr Ernst war? Sie tat was eine Nymphe tun soll, da sie den
Flußgott anrief; das war in der Ordnung: Aber wer konnte auch fürchten, so
schnell erhört zu werden? Und in welchem Augenblick konnte sie es weniger
wünschen, als in eben diesem, da sie sich von den begierigen Armen ihres
Liebhabers schon umschlungen fühlte? Hatte sie sich denn aus einem andern
Grund außer Atem geloffen, als damit er sie desto gewisser erhaschen
möchte? Was ist also natürlicher als der Unwille, der Schmerz und die
Traurigkeit, womit sie sein Betragen erwidert, da sie die Arme, womit sie
ihn--zurückstoßen will, zu Lorbeerzweigen erstarret fühlt? Selbst der
zärtliche Blick ist natürlich; die Verstellung hört auf, wenn man in einen
Lorbeerbaum verwandelt wird. War nicht dieses das ganze Spiel der
Psyche? Und kann etwas natürlicher sein? Es ist der Charakter eines
jungen Mädchens; eines von denen jungen Mädchen, versteht sichs, mein
lieber Callias, wie man sie in dieser materiellen Welt findet." "Ich
ergebe mich", versetzte Agathon; "die Tänzerin hat alles getan, was man
von ihr fodern konnte, und ich war lächerlich zu erwarten, daß sie die
Idee ausführen sollte, die ich von einer Daphne in meiner Phantasie habe."
Agathon hatte dieses kaum gesprochen, als Danae, ohne ein Wort zu sagen,
aufstund, der Tänzerin einen Wink gab, und mit ihr verschwand. In einer
kleinen Weile kam die Tänzerin allein wieder zurück, die Flöten fingen
wieder an, und Apollo und Daphne wiederholten ihre Pantomime. Aber wie
erstaunte Agathon als er sah, daß es Danae selbst war, die in der Kleidung
der Tänzerin die Person der Daphne spielte! Armer Agathon! Allzureizende
Danae! Wer hätte es glauben sollen? Ihr ganzes Spiel drückte die eigenste
Idee des Agathon aus, aber mit einer Anmut, mit einer Zauberei, wovon ihm
seine Phantasie keine Idee gegeben hatte. Die Empfindungen, von denen
seine Seele in diesen Augenblicken überfallen wurde, waren so lebhaft, daß
er sich bemühte, seine Augen von diesem zu sehr bezaubernden Gegenstand
abzuziehen; aber vergeblich! Eine unwiderstehliche Gewalt zog sie zurück.
Wie edel, wie schön waren ihre Bewegungen! Mit welch einer rührenden
Einfalt drückte sie den Charakter der Unschuld aus! Er sah noch in
sprachloser Entzückung nach dem Orte, wo sie zum Lorbeerbaum erstarrte,
als sie schon wieder verschwunden war, ohne das Lob und das Händeklatschen
der Zuschauer zu erwarten, welche nicht Worte genug finden konnten, das
Vergnügen auszudrücken, das ihnen Danae durch diese unerwartete Probe
ihres Talents gemacht hatte. In wenigen Minuten kam sie schon wieder in
ihrer eignen Person zurück. "Wie sehr ist Callias dir verbunden, schöne
Danae", sagte Phädrias indem sie hereintrat! "Du allein konntest seinen
Tadel rechtfertigen, nur diejenige konnte es, die liebenswürdig genug ist,
um die Sprödigkeit selbst reizend zu machen. Wie sehr wäre ein Apollo zu
bedauren, für den du Daphne wärest!" Es war glücklich für den guten
Agathon, daß er, indem dieses mit einem bedeutenden Blick gesagt wurde, in
dem Anschauen der schönen Danae so verloren war, daß er nichts hörte; denn
sonst würde ein abermaliges Erröten die Auslegung zu diesem Text gemacht
haben. Das Lob dieser Dame, und ein Gespräch über die Tanzkunst füllte
den überrest der Zeit aus, welche diese Gesellschaft noch beieinander
zubrachte; ein Gespräch, dessen Mitteilung uns der Leser gerne nachlassen
wird, da wir seine Begierde nach angelegenern Materien zu befriedigen
haben. Nur diesen Umstand können wir nicht vorbeigehen, daß Agathon bei
diesem Anlaß auf einmal so beredt wurde, als er vorher tiefsinnig und
stillschweigend gewesen war; eine lächelnde Heiterkeit schimmerte um sein
ganzes Gesicht, und noch niemal hatte sein Witz sich mit solcher
Lebhaftigkeit hervorgetan. Er erhielt den Beifall der ganzen Gesellschaft,
und die schöne Danae selbst konnte sich nicht enthalten, ihn von Zeit zu
Zeit mit einem Ausdruck von Vergnügen und Zufriedenheit anzusehen;
indessen daß in seinen nur selten von ihr abgewandten Augen etwas glänzte,
für welches wir uns umsonst bemühet haben, in der Sprache der Menschen
einen Namen zu finden.




SECHSTES KAPITEL

Geheime Nachrichten


Wir haben von unserm Freunde Plutarch gelernt, daß sehr kleine
Begebenheiten öfters durch große Folgen merkwürdig werden, und sehr kleine
Handlungen uns nicht selten tiefere Blicke in das Inwendige der Menschen
tun lassen, als die feierlichen Handlungen, wozu man, weil sie dem
öffentlichen Urteil ausgesetzt sind, sich ordentlicher Weise in eine
gewisse mit sich selbst abgeredete Verfassung zu setzen pflegt. Die
Gründlichkeit dieser Beobachtung hat uns bewogen, in der Geschichte der
Pantomime, welche das vorige Kapitel ausfüllt, so umständlich zu sein; und
wir hoffen uns deshalb vollkommen zu rechtfertigen, wenn wir diese
Erzählung durch dasjenige ergänzen, was die liebenswürdige Psyche betrifft,
mit welcher der Leser schon im ersten Buche, wiewohl nur im Vorbeigehen,
bekannt zu werden angefangen hat. Diese Psyche, so wie sie war, hatte
bisher unter allen Wesen, welche in die Sinne fallen, (wir setzen diese
Einschränkung nicht ohne Ursach hinzu, so seltsam sie auch in
anti-platonischen Ohren klingen mag) den ersten Platz in seinem Herzen
eingenommen, und er hatte, seitdem sie von ihm entfernt war, kein
Frauenzimmer gesehen, die nicht durch die bloße Erinnerung an Psyche alle
Macht über sein Herz und selbst über seine Sinnen verloren hätte; deren
Bewegungen, wie man weiß, sonst nicht immer mit den erstern so parallel
laufen, als gewisse Romanenschreiber vorauszusetzen scheinen. Die
Wahrheit zu gestehen, so war dieses nicht die Würkung derjenigen
heroischen Treue und Standhaftigkeit in der Liebe, welche in besagten
Romanen zu einer Tugend von der ersten Klasse gemacht wird; Psyche erhielt
sich im Besitz seines Herzens, weil ihm die Erinnerungen, die er von ihr
hatte, angenehmer waren, als die Empfindungen, die ihm irgend eine andre
Schöne einzuflößen vermocht, oder weil er bisher keine andre gesehen hatte,
die so sehr nach seinem Herzen gewesen wäre. Eine Erfahrung von etlichen
Jahren beredete ihn, daß es allezeit so sein würde, und daher kam
vielleicht die Bestürzung, wovon er befallen wurde, als der erste Anblick
der schönen Danae ihm eine Vollkommenheit darstellte, die seiner
Einbildung nach allein jenseits des Mondes anzutreffen sein sollte. Er
müßte nicht Agathon gewesen sein, wenn diese Erscheinung sich nicht seiner
ganzen Seele so sehr bemeistert hätte, wie wir gesehen haben. Niemals,
deuchte ihn, hatte er in einem so hohen Grad und in einer so seltnen
Harmonie alle diese feinern Schönheiten, von denen gemeine Seelen nicht
gerührt zu werden fähig sind, vereiniget gesehen. Ihre Gestalt, ihre
Blicke, ihr Lächeln, ihre Gebärden, ihr Gang, alles hatte diese
Vollkommenheit, welche die Dichter den Göttinnen zuzuschreiben pflegen.
Was Wunder also, daß er in den ersten Stunden nichts als anschauen und
bewundern konnte, und daß seine entzückte Seele noch keine Zeit hatte auf
dasjenige acht zu geben, was in ihr vorging. In der Tat waren alle ihre
übrigen Kräfte so gebunden, daß er wider seine Gewohnheit in dieser ganzen
Zeit sich seiner Psyche eben so wenig erinnerte, als ob sie nie gewesen
wäre. Allein als die junge Tänzerin zum Vorschein kam, welche die Person
der Daphne spielte, so stellte einige ähnlichkeit, die sie würklich in der
Gesichtsbildung und Figur mit Psyche hatte, ihm auf einmal, wiewohl ohne
daß er sich dessen deutlich bewußt war, das Bild seiner abwesenden
Geliebten vor die Augen; seine Einbildungskraft setzte durch eine
gewöhnliche mechanische Würkung Psyche an die Stelle dieser Daphne, und
wenn er so vieles an der Tänzerin auszusetzen fand, so war es im Grunde
nur darum, weil die Vergleichung den Betrug des ersten Anblicks entdeckte,
oder weil sie nicht Psyche war. So gewöhnlich dergleichen Spiele der
Einbildung sind, so selten ist es, daß man den Einfluß deutlich
unterscheidet, den sie auf unsre Urteile oder Neigungen zu haben pflegen.
Agathon selbst, der sich von seiner ersten Jugend an eine Beschäftigung
daraus gemacht hatte, den geheimen Triebfedern seiner innerlichen
Bewegungen nachzuspüren, merkte dennoch nicht eher, was bei diesem Anlaß
in seiner Phantasie vorging, bis der Name Psyche, dieser Name, dessen
bloßer Ton sonst Musik in seinen Ohren gewesen war, ihn erschütterte, und
in eine Verwirrung von Empfindungen setzte, die er selbst zu beschreiben
Mühe gehabt hat; wenn wir anders hievon nach der besondern Dunkelheit, die
in unsrer Urkunde über diese Stelle liegt, urteilen dürfen. Was auch die
Ursache dieser Bestürzung gewesen sein mag, so ist gewiß, daß er weit
davon entfernt war nur zu argwöhnen, der Genius seiner ersten Liebe stutze
vielleicht darüber, eine Nebenbuhlerin in einem Herzen zu finden, welches
er von Psyche allein ausgefüllt zu sehen gewohnt war. Sein Selbstbetrug,
wofern es anders einer war, scheint desto mehr Entschuldigung zu verdienen,
weil dieser geliebte Name würklich in wenig Augenblicken seine ganze
Zärtlichkeit rege machte. Er bemerkte nun erst deutlich die ähnlichkeiten,
welche die beiden Psychen mit einander hatten; er verglich sie mit einem
Vorurteile, welches der Abwesenden so günstig war, daß die Gegenwärtige
ihr nur zum Schatten dienen mußte; ja wir wissen nicht, ob eine so
lebhafte Erinnerung nicht endlich der schönen Danae selbst Abbruch getan
hätte, wenn diese, gleich als ob sie durch eine Art von Divination erraten
hätte was in seiner Seele vorging, nicht auf den glücklichen Einfall
gekommen wäre, sich an den Platz der kleinen Tänzerin zu setzen, um die
Vorstellung auszuführen, welche sich Agathon von einer idealischen Daphne
gemacht, und deren die Geschmeidigkeit ihres Geistes sich so schnell und
so glücklich zu bemächtigen gewußt hatte. Einen schlimmern Streich konnte
sie in der Tat der einen und der andern Psyche nicht spielen. Beide
wurden von ihrem blendenden Glanze, wie benachbarte Sterne von dem vollen
Mond, ausgelöscht. Und wie hätte ihn auch das Bild seiner abwesenden
Geliebten noch länger beschäftigen können, da alle Anschauungskräfte
seiner Seele, auf diesen einzigen bezaubernden Gegenstand geheftet, ihm
kaum zureichend schienen, dessen ganze Vollkommenheit zu empfinden; da er
diese sittliche Venus mit allen ihren geistigen Grazien würklich vor sich
sah, zu deren bloßen Schattenbild ihn Psyche zu erheben vermocht hatte?

Wir wissen nicht, ob man eben ein Hippias sein müßte, um zu glauben, daß
gewisse Schönheiten von einer nicht so unkörperlichen, wiewohl in ihrer
Art eben so vollkommenen Natur, weit mehr als Agathon selbst gewahr wurde,
zu dieser Verzückung in die idealischen Welten beigetragen haben könnten,
worin er während dem pantomimischen Tanz der Danae sich befand. Die
Nymphen-mäßige Kleidung, welche dieser Tanz erforderte, war nur
allzugeschickt diese Reizungen in ihrer ganzen Macht und in dem
mannigfaltigsten Lichte zu entwickeln; und wir müssen gestehen, die Göttin
der Liebe selbst hätte sich nicht zuversichtlicher als die untadelliche
Danae dem Auge der schärfsten Kenner, ja selbst den Augen einer
Nebenbuhlerin, in diesem Aufzug überlassen dürfen. Der Charakter der
ungeschminkten Unschuld, welchen sie so unverbesserlich nachahmte, schien
dadurch einen noch lebhaftern Ausdruck zu erhalten; aber einen so
lebhaften, daß ein jeder andrer als ein Agathon dabei in Gefahr gewesen
wäre, die seinige zu verlieren. Freilich hatten die übrigen Zuschauer
Mühe genug, sich zu enthalten, die Rolle des Apollo in ganzem Ernste zu
machen; aber von unsern Helden hatte Danae nichts zu besorgen; und sie
fand, daß Hippias nicht zuviel von ihm versprochen hatte. Diese
materiellen Schönheiten, die er nicht einmal deutlich unterschied, weil
sie in seinen Augen mit den geistigen in Eins zusammengeflossen waren,
mochten den Grad der Lebhaftigkeit seiner Empfindungen noch so sehr
erhöhen, so konnten sie doch die Natur derselben nicht verändern; niemals
in seinem Leben waren sie reiner, Begierden-freier, unkörperlicher gewesen.
Kurz, so widersinnisch es jenen aus gröberm Stoff gebildeten Erdensöhnen,
welche in dem vollkommensten Weibe nur ein Weib sehen, scheinen mag, so
gewiß war es, daß Danae mit einer Gestalt und in einem Aufzug, welcher
(mit dem weisen Hippias zu reden) einen Geist hätte verkörpern mögen,
diesen seltsamen Jüngling in einen so völligen Geist verwandelte, als man
jemals diesseits und vielleicht auch jenseits des Mondes gesehen hat.




FÜNFTES BUCH




ERSTES KAPITEL

Was die Nacht durch in den Gemütern einiger von unsern Personen
vorgegangen


Wir haben schon so viel von der gegenwärtigen Gemütsverfassung unsers
Helden gesagt, daß man sich nicht verwundern wird, wenn wir hinzusetzen,
daß er den übrigen Teil der Nacht in ununterbrochenem Anschauen dieser
idealen Vollkommenheit zubrachte, die seine Einbildungskraft mit einer ihr
gewöhnlichen Kunst, und ohne daß er den Betrug merkte, an die Stelle der
schönen Danae geschoben hatte. Dieses Anschauen setzte sein Gemüt in eine
so angenehme und ruhige Entzückung, daß er, gleich als ob nun alle seine
Wünsche befriediget wären, nicht das geringste von der Unruhe, den
Begierden, der innerlichen Gärung, der Abwechslung von Frost und Hitze
fühlte, womit die Leidenschaft, mit der man ihn, nicht ohne
Wahrscheinlichkeit, behaftet glauben konnte, sich ordentlicher Weise
anzukündigen pflegt.

Was die Danae betrifft, welche die Ehre hatte, diese erhabene Entzückungen
in ihm zu erwecken, so brachte sie den Rest der Nacht wo nicht mit eben so
erhabenen doch in ihrer Art mit eben so angenehmen Betrachtungen zu.
Agathon hatte ihr gefallen, sie war mit dem Eindruck, den sie auf ihn
gemacht, zufrieden; und sie glaubte, nach den Beobachtungen, die ihr
dieser Abend bereits an die Hand gegeben, daß sie sich selbst mit gutem
Grunde zutrauen könne, ihn, durch die gehörigen Gradationen, zu einem
zweiten und vielleicht standhaftern Alcibiades zu machen. Nichts war ihr
hiebei angenehmer als die Bestätigung des Plans, den sie sich über die Art
und Weise, wie man seinem Herzen am leichtesten beikommen könne, gemacht
hatte. Es ist wahr, daß der Einfall, sich an die Stelle der Tänzerin zu
setzen, ihr erst in dem Augenblick gekommen war, da sie ihn ausführte;
allein sie würde ihn nicht ausgeführt haben, wenn sie nicht die gute
Würkung davon mit einer Art von Gewißheit vorausgesehen hätte. Hätte sie
in dem ersten Augenblick, da sie sich ihm darstellte, in ihren Gebärden,
oder in ihrem Anzug das mindeste gehabt, das ihm anstößig hätte sein
können, so würde es ihr schwer gewesen sein, den widrigen Eindruck dieses
ersten Augenblicks jemals wieder gut zu machen. Agathon mußte in den Fall
gesetzt werden, sich selbst zu hintergehen, ohne es gewahr zu werden; und
wenn er für subalterne Reizungen empfindlich gemacht werden sollte, so
mußte es durch Vermittlung der Einbildungskraft und auf eine solche Art
geschehen, daß die geistigen und die materiellen Schönheiten sich in
seinen Augen vermengten, und daß er in den letztern nichts als den
Widerschein der ersten zu sehen glaubte. Danae wußte sehr wohl, daß die
intelligible Schönheit keine Leidenschaft erweckt, und daß die Tugend
selbst, wenn sie (wie Plato sagt) in sichtbarer Gestalt unaussprechliche
Liebe einflößen würde, diese Würkung mehr der blendenden Weiße und dem
reizenden Contour eines schönen Busens, als der Unschuld, die aus
demselben hervorschimmerte, zuzuschreiben haben würde. Allein das wußte
Agathon noch nicht; er mußte also betrogen werden, und, so wie sie es
anging, konnte sie mit der größten Wahrscheinlichkeit hoffen, daß es ihr
gelingen würde.

Der weise Hippias hatte zuviel Ursache, den Agathon bei dieser Gelegenheit
zu beobachten, als daß ihm das geringste entgangen wäre, was ihn von dem
glücklichen Fortgang seines Anschlags zu versichern schien. Allein er
schmeichelte sich zuviel, wenn er hoffte, Callias werde, in dem
ekstatischen Zustande, worin er zu sein schien, ihn zum Vertrauten seiner
Empfindungen machen. Das Vorurteil, welches dieser wider ihn gefaßt
hatte, verschloß ihm den Mund, so gern er auch dem Strome seiner
Begeisterung den Lauf gelassen hätte. Eine Danae war in seinen Augen ein
so vortrefflicher Gegenstand, und das was er für sie empfand, so rein, so
weit über die brutale Denkungsart eines Hippias erhaben; daß er durch eine
unzeitige Vertraulichkeit gegen diesen Ungeweihten beides zu entheiligen
geglaubt hätte.


 


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