Geschichte des Agathon, Teil 2
by
Christoph Martin Wieland

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müssen wir gestehen, daß es ihm hierin eben so erging, wie es, vermöge der
täglichen Erfahrung, allen andern Sterblichen zu gehen pflegt. Er wurde
diese eben so unmerkliche als unleugbare Einflüsse, und die Veränderungen,
welche sie verstohlner Weise in seiner Seele verursacheten, eben so wenig
gewahr, als ein gesunder Mensch die geheimen und schleichenden
Zerrüttungen empfindet, welche die Unbeständigkeit der Witterung, die
kleinen Unordnungen in der Lebensart, die heterogene Beschaffenheit der
Nahrungs-Mittel, und das langsam würkende Gift der Leidenschaften,
stündlich in seiner Maschine verursachen. Die Veränderungen, die in
unsrer innerlichen Verfassung vorgehen, müssen beträchtlich sein, wenn sie
in die Augen fallen sollen; und wir fangen gemeiniglich nicht eher an, sie
deutlich wahrzunehmen, bis wir uns genötigt finden, zu stutzen, und uns
selbst zu fragen, ob wir noch eben dieselbe Person seien, die wir waren?
Aus diesem Grunde geschah es vermutlich, daß Agathon die Progressen,
welche die schon zu Smyrna angefangene Revolution in seiner Seele während
seinem Aufenthalt zu Syracus machte, ohne das mindeste Mißtrauen in sie zu
setzen, ganz allein den neuen oder bestätigten Erfahrungen zuschrieb,
welche er in dieser ausgebreiteten Sphäre zu machen, so viele
Gelegenheiten hatte.

Es ist unstreitig einer der größesten Vorteile, wo nicht der einzige, den
ein denkender Mensch aus dem Leben in der großen Welt mit sich nimmt,
wofern es ihm jemals so gut wird, sich wieder aus derselben herauswinden
zu können--daß er die Menschen darin kennen gelernt hat. Es läßt sich
zwar gegen diese Art von Kenntnis der Menschen, aus guten Gründen eben so
viel einwenden, als gegen diejenige, welche man aus der Geschichte, und
den Schriften der Dichter, Sittenlehrer, Satyristen und Romanenmacher
zieht--oder gegen irgend eine andere: Aber man muß hingegen auch gestehen,
daß sie wenigstens eben so zuverlässig ist, als irgend eine andre; ja daß
sie es noch in einem höhern Grade ist, wenn anders das Subjekt, bei dem
sie sich befindet, mit allen den Eigenschaften versehen ist, die zu einem
Beobachter erfordert werden. Denn freilich kann nichts lächerlicher sein
als ein Geck, der nachdem er zehn oder fünfzehn Jahre seine Figur durch
alle Länder und Höfe der Welt herumgeführt, etliche Dutzend zweideutige
Tugenden besiegt, und eben so viel schale Histörchen oder verdächtige
Beiträge zur Chronique scandaleuse eines jeden Ortes, wo er gewesen ist,
zusammengebracht hat, mit deren Hülfe er zween oder drei Tage eine
Tischgesellschaft lachen oder gähnen machen kann--sich selbst mit dem
Besitz einer vollkommenen Kenntnis der Welt und der Menschen schmeichelt,
und denjenigen mit dummem Hohnlächeln von der Seite ansieht, der vermöge
einer vieljährigen tiefen Erforschung der menschlichen Natur,
gelegenheitlich von Charaktern und Sitten urteilt, ohne die sieben Türme
gesehen, oder der Vermählung des Doge von Venedig mit dem adriatischen
Meer beigewohnt zu haben. Wir wissen nicht, wie groß ungefähr die Anzahl
der so genannten Welt-Leute sein mag, die in diese Klasse gehören: Aber
das scheint uns gewiß zu sein, daß ein Mann von Genie und aufgeklärtem
Verstande (denn die bloße Empirie reicht hier so wenig zu, als in irgend
einer andern praktischen Wissenschaft) durch das Leben in der großen Welt,
(in so fern wir dieses Wort in seiner echten Bedeutung nehmen) durch die
Verhältnisse, worin er an einem beträchtlichen Platze mit allen Arten von
Ständen und Charaktern kömmt, durch die häufigen Gelegenheiten die er hat,
diejenige so er beobachtet, unter allerlei Umständen, mit und ohne Maske
zusehen, sie auf allerlei Proben zu setzen, und so wohl durch den Gebrauch,
den man von ihnen macht, als den sie von andern zu manchen suchen, ihre
herrschenden Neigungen und geheime Springfedern ausfündig zu machen--daß
er dadurch zu einer unmittelbarern, ausgebreitetern und richtigern
Kenntnis der Menschen gelangt, als andre, welche ihre Theorie lediglich
den Geschichtschreibern, Metaphysikern und Moralisten (drei sehr wenig
zuverlässigen Gattungen von Lehrern) zu danken--oder welche ihre
Beobachtungen nur in dem Microcosmus ihres eigenen Selbst angestellt haben.


Es ist oben schon bemerkt worden, daß Agathon bei seinem Auftritt auf dem
Schauplatz, von dem er nun wieder abgetreten ist, lange nicht mehr so
erhaben und idealisch von der menschlichen Natur dachte, als zu Delphi;
denn es macht einen beträchtlichen Unterschied, ob man unter Bildsäulen
von Göttern und Helden, oder unter Menschen lebt; aber nachdem er die
Beobachtungen, die er zu Athen und Smyrna schon gesammelt, noch durch die
nähere Bekanntschaft mit den Großen, und mit den Hofleuten bereichert
hatte, sank seine Meinung von der angebornen Schönheit und Würde dieser
menschlichen Natur, von Grade zu Grade so tief, daß er zuweilen in
Versuchung geriet, gegen die Stimme seines Herzens (welche eben so wohl,
dachte er, die Stimme der Eigenliebe oder des Vorurteils sein könnte,)
alles was der göttliche Plato erhabenes und herrliches davon gesagt und
geschrieben hatte, für Märchen aus einer andern Welt zu halten.
Unvermerkt kamen ihm die Begriffe, welche sich Hippias davon machte, nicht
mehr so ungeheuer vor, als damals, da er sich in den Garten dieses
wollüstigen Weisen in den Mondschein hinsetzte, und Betrachtungen über den
Zustand der entkörperten Geister anstellte. Endlich kam es gar so weit,
daß ihm diese Begriffe wahrscheinlich genug deuchten, um sich vorstellen
zu können, wie Leute, die in ihrem eigenen Herzen nichts fanden, das ihnen
eine edlere Meinung von ihrer Natur zu geben geschickt wäre, durch einen
langen Umgang mit der Welt dazu gelangen könnten, sich gänzlich von der
Wahrheit desselben zu überreden.

Soweit hätte Agathon gehen können, ohne die Grenzen der weisen Mäßigung zu
überschreiten, welche uns in unsern Urteilen über diesen wichtigen
Gegenstand, und alles was sich auf ihn bezieht, langsam und zurückhaltend
machen sollen. Aber in Stunden, da der Unmut seine schönsten Hoffnungen
durch die Torheit oder Bosheit derjenigen mit denen er leben mußte, vor
seinen Augen vernichten zu sehen, eine mehr als gewöhnliche Verdüsterung
in seiner Seele verursachte, ging er noch um einen Schritt weiter. "Nein",
sagte er dann zu sich selbst, "die Menschen sind nicht wofür ich sie
hielt, da ich sie nach mir selbst, und mich selbst nach den jugendlichen
Empfindungen eines gefühlvollen Herzens, und nach einer noch ungeprüften
Unschuld beurteilte. Meine Erfahrungen rechtfertigen das Schlimmste, was
Hippias von ihnen sagte; und wenn sie nichts bessers sind, was für Ursache
habe ich, mich darüber zu beschweren, daß sie sich nicht nach Grundsätzen
behandeln lassen, die in keinem Ebenmaß mit ihrer Natur stehen? An mir
war der Fehler, an mir, der einen Mercur aus einem knottichten Feigenstock
schnitzeln wollte. Sagte er mir nicht vorher, daß ich nichts anders zu
gewarten hätte, wenn ich den Plan meines Lebens nach meinen Ideen
einrichten würde. Seine Vorhersagung hätte nicht richtiger eintreffen
können. Hätte ich seinen Grundsätzen gefolgt, hätte ich mich ehmals zu
Athen, oder hier zu Syracus so betragen, wie Hippias an meinem Platze
getan haben würde--so würde ich meine Absichten ausgeführt haben; so würde
ich glücklich gewesen sein--und der Himmel weiß, ob es den Sicilianern
desto schlimmer ergangen wäre. Dieses ist nun das zweite mal, daß
Philistus, ein echter Anhänger des Systems meines Sophisten, ob er gleich
nicht fähig wäre es so zusammenhängend und scheinbar vorzutragen, über
Weisheit und Tugend den Sieg davon getragen hat.--Und habe ich noch der
Erfahrung vonnöten, um zu wissen, daß er eben so gewiß über einen andern
Plato, und über einen andern Agathon siegen würde?--Wieviel ließ ich von
meinen Grundsätzen nach, wie tief stimmte ich mich selbst herab, da ich
die Unmöglichkeit sah, diejenigen mit denen ich's zu tun hatte, so weit zu
mir heraufzuziehen? Wozu half es mir?--ich konnte mich nicht entschließen
niederträchtig zu handeln, ein Schmeichler, ein Kuppler, ein Verräter an
dem wahren Interesse des Fürsten und des Landes zu werden--und so verlor'
ich die Gunst des Fürsten, und die einzige Belohnung, die ich für meine
Arbeiten verlange, die Vorteile, welche dieses Land von meiner Verwaltung
zu genießen anfing, auf einmal, weil ich mich nicht dazu bequemen konnte,
alles für anständig und recht zu halten, was nützlich ist--O! gewiß
Hippias, deine Begriffe und Maximen, deine Moral, deine Staatskunst,
gründen sich auf die Erfahrung aller Zeiten. Wenn sind die Menschen
jemals anders gewesen? Wenn haben sie jemals die Tugend hochgeschätzt,
als wenn sie ihrer Dienste benötigt waren; und wenn ist sie ihnen nicht
verhaßt gewesen, so bald sie ihren Leidenschaften im Lichte stund?"


Diese Betrachtungen führten unsern Helden bis an die äußerste Spitze des
tiefen Abgrunds, der zwischen dem System der Tugend, und dem System des
Hippias liegt; aber der erste schüchterne Blick, den er hinunter wagte,
war genug, ihn mit Entsetzen zurückfahren zu machen. Die Begriffe des
wesentlichen Unterschieds zwischen Recht und Unrecht, und die Ideen des
sittlichen Schönen, hatten zu tiefe Wurzeln in seiner Seele gefaßt, waren
zu genau mit den zartesten Fibern derselben verflochten und
zusammengewachsen, als daß es möglich gewesen wäre, daß irgend eine
zufällige Ursache, so stark sie immer auf seine Einbildung und auf seine
Leidenschaften würken mochte, sie hätte ausreuten können. Die Tugend
hatte bei ihm keinen anderen Sachwalter nötig als sein eignes Herz. In
eben dem Augenblick, da eine nur allzugegründete Misanthropie ihm die
Menschen in einem verächtlichen Lichte, und vielleicht wie gewisse Spiegel,
um ein gutes Teil häßlicher zeigte, als sie würklich sind, fühlte er mit
der vollkommensten Gewißheit, daß er, um die Krone des Monarchen von
Persien selbst, weder Hippias noch Philistus sein wollte; und daß er,
sobald er sich wieder in die nämliche Umstände gesetzt sähe, eben so
handeln würde, wie er gehandelt hatte, ohne sich durch irgend eine Folge
davon erschrecken zu lassen. Hingegen konnte es nicht wohl anders sein,
als daß diese Betrachtungen, denen er sich seit seinem Fall, und
sonderheitlich während seiner Gefangenschaft, fast gänzlich überließ, den
überrest des moralischen Enthusiasmus, von dem wir ihn bei seiner Flucht
aus Smyrna erhitzt gesehen haben, vollends verzehren mußten. Der Gedanke
für das Glück der Menschen, für das allgemeine Beste der ganzen Gattung zu
arbeiten, verliert seinen mächtigen Reiz, sobald wir klein von dieser
Gattung denken. Die Größe dieses Vorhabens ist es eigentlich, was den
Reiz derselben ausmacht--und diese schrumpft natürlicher Weise sehr
zusammen, sobald wir uns die Menschen als eine Herde von Kreaturen
vorstellen, deren größester Teil seine ganze Glückseligkeit, den letzten
Endzweck aller seiner Bemühungen auf seine körperliche Bedürfnisse
einschränkt, und dabei dumm genug ist, durch eine niederträchtige
Unterwürfigkeit unter eine kleine Anzahl der schlimmsten seiner Gattung,
sich fast immer in den Fall zu setzen, auch dieser bloß tierischen
Glückseligkeit nur selten oder auf kurze Zeit, bittweise oder verstohlner
Weise habhaft zu werden. "Jedes Tier sucht seine Nahrung--gräbt sich eine
Höhle, oder baut sich ein Nest--begattet sich--schläft--und stirbt. Was
tut der größeste Teil der Menschen mehr? Das beträchtlichste Geschäfte,
das sie von den übrigen Tieren voraus haben, ist die Sorge sich zu
bekleiden, welche die hauptsächlichste Beschäftigung vieler Millionen
ausmacht. Und ich sollte", (sagte Agathon in einer von seinen schlimmsten
Launen zu sich selbst) "ich sollte meine Ruhe, meine Vergnügungen, meine
Kräfte, mein Dasein der Sorge aufopfern, damit irgend eine besondere Herde
dieser edeln Kreaturen besser esse, schöner wohne, sich häufiger begatte,
sich besser kleide, und weicher schlafe als sie zuvor taten, oder als
andere ihrer Gattung tun?--Ist das nicht alles was sie wünschen? Und
gebrauchen sie mich dazu? Was sollte mich bewegen, mir diese Verdienste
um sie zu machen? Ist vielleicht nur ein einziger unter ihnen, der bei
allem was er unternimmt, eine edlere Absicht hat, als seine eigne
Befriedigung? Bin ich ihnen etwan einige Hochachtung oder Dankbarkeit
dafür schuldig, daß sie für meine Bedürfnisse oder für mein Vergnügen
arbeiten? Ich bin schuldig, sie dafür zu bezahlen; das ist alles was sie
wollen, und alles was sie an mich fordern können."

"Himmel!"--so deucht mich, höre ich hier einige rührende Stimmen
ausrufen--"ist's möglich? Konnte Agathon so denken? So klein, so unedel
-" "so kalt, meine schönen Damen, so kalt! Und sie werden mir gestehen,
daß man in einer Einkerkerung von zween oder drei Monaten, die man sich
ganz allein durch große und edle Gesinnungen zugezogen, gute Gelegenheit
hat, sich von der Hitze der großmütigen Schwärmerei ein wenig abzukühlen
-" "Aber was wird nun aus der Tugend unsers Helden werden?--Was ist die
Tugend ohne dieses schöne Feuer, ohne diese erhabene Begeisterung, welche
den Menschen über die übrigen seiner Gattung, welche ihn über sich selbst
erhöht, und zu einem allgemeinen Wohltäter, zu einem Genius, zu einer
subalternen Gottheit macht?"--"Wir gestehen es, sie ist ohne diese
ätherische Flamme ein sehr unansehnliches, sehr wenig glänzendes Ding -"
"Und wie traurig ist es, die Tugend unsers Helden gerade da unterliegen zu
sehen, wo sie sich in ihrer größesten Stärke zeigen
sollte?--Wie?--erliegen, weil man Widerstand findet? Die gute Sache
aufgeben, weil man, und vielleicht ohne Not, an einem glücklichen Ausgang
verzweifelt? Was ist denn die wahre Tugend anders, als ein immerwährender
Streit mit den Leidenschaften, Torheiten und Lastern--in uns, und außer
uns?"--"Vortrefflich!--und in Bunyans 'Reise' so wohl ausgeführt, meine
Herren, daß ihr uns hier weiter nichts zu sagen braucht. Es ist
bedaurlich, daß unser Held seine Rolle nicht besser behauptet--Aber allem
Ansehen nach, war er wohl niemals ein Held--und wir hatten Unrecht ihm
einen so ehrenvollen Namen beizulegen -" "Das eben nicht; er fing
vortrefflich an; er war ein Held, da er sich den zudringlichen
Liebkosungen der verführischen Pythia entriß -" "Das konnte die scheue und
schamhafte Unschuld der unbärtigen Jugend getan haben; und liebte er
damals nicht die schöne Psyche?"--"So verdiente er doch ein Held genannt
zu werden, als er den Mut hatte, sich eines verlassenen Unschuldigen gegen
eine mächtige Partei anzunehmen?"--"Ihr könntet vielleicht eben soviel aus
Ehrgeiz--oder aus Haß gegen einen der Feinde eures Klienten--oder aus
einer geheimen Absicht auf die Gemahlin eures Klienten--oder um vierzig
tausend Livres aus der Kasse eures Klienten tun?--und ihr hättet in keinem
von diesen Fällen eine Heldentat getan. Daß Agathon damals aus edeln
Gesinnungen handelte, wissen wir--von ihm selbst; und wir haben Gründe, es
ihm zu glauben--aber er konnte sich mit der größesten Wahrscheinlichkeit
einen glänzenden Sukzeß versprechen; und was für ein Triumph war das für
die Ruhmbegierde eines Jünglings von zwanzig Jahren?"--"Nun, so war er
doch gewiß ein Held, da er gleichmütig und unerschütterlich sich dem
ungerechten Verbannungs-Urteil der Athenienser unterzog, und lieber das
äußerste erdulden, als seine Lossprechung einer Niederträchtigkeit zu
danken haben wollte!--So war er's damals, da er von sich sagen konnte:
'Ich verwies es der Tugend nicht, daß sie mir den Haß und die Verfolgungen
der Bösen zugezogen hatte; ich fühlte, daß sie sich selbst belohnt.'"--"In
der Tat, er war in diesem Augenblick groß; aber wir müssen nicht vergessen,
daß er sich damals in einem außerordentlichen Zustande, auf dem äußersten
Grade dieses Enthusiasmus der Tugend befand, der den Menschen vergessen
macht, daß er nur ein Mensch ist. Diese Art von Heldentum daurt
natürlicher Weise nicht länger, als der Paroxysmus des Affekts. Agathon
war sich damals, als er so dachte, einer unbefleckten Tugend bewußt; und
zu was für einem Stolz mußte dieses Gefühl seine Seele in einem Augenblick
aufschwellen, da sich ganz Athen zusammenverschworen zu haben schien, ihn
zu demütigen; in einem Augenblick, da dieser Stolz der ganzen Last seines
Unglücks das Gleichgewicht halten mußte, und ihm den Triumph verschaffte,
die Herren über sein Schicksal die ganze Obermacht, die ihm seine Tugend
über sie gab, fühlen zu lassen? Diese Art von Stolz gleicht in ihren
Würkungen der Wut eines tapfern Mannes der zur Verzweiflung getrieben wird.
Die Gewißheit des Todes, in den er sich hineinstürzt, macht, daß er
Taten eines Unsterblichen tut. Aber Agathon hatte dermalen nicht mehr
soviel Ursache, auf seine Tugend stolz zu sein. Eben diese
enthusiastische Gemüts-Beschaffenheit, welche ihm bei seiner Verbannung zu
Athen die Gesinnungen eines Gottes eingehaucht, hatte ihn zu Smyrna den
Schwachheiten eines gemeinen Menschen ausgesetzt. Er dachte nicht mehr so
groß von sich selbst, und da ihm nun, in ähnlichen Umständen, dieser
heroische Stolz nicht mehr zu statten kommen konnte, so mußte sich
derselbe notwendig in diejenige Art von Misanthropie verwandeln, welche
sich über die ganze Gattung erstreckt. In diesem Stücke, wie in vielen
andern, ist die Geschichte Agathons die Geschichte aller Menschen. Wir
denken so lange groß von der menschlichen Natur, als wir groß von uns
selber denken; unsere Verachtung hat alsdann nur einzelne Menschen oder
kleinere Gesellschaften zum Gegenstand. Aber sobald wir in unsrer Meinung
von uns selbst fallen, sinkt durch eine innerliche Gewalt über welche wir
nicht Meister sind, unsre Meinung von der ganzen Gattung zu welcher wir
gehören; wir verwundern uns, daß wir nicht eher wahrgenommen, daß die
Torheiten, die Laster derjenigen, unter denen wir leben, Gebrechen der
Natur selbst sind, denen (mehr oder weniger, auf diese oder eine andre Art,
je nachdem Zeit, Umstände, Temperament und Gewohnheit es mit sich
bringen) ein jeder unterworfen ist; je genauer wir die Menschen
untersuchen, je mehr Gründe finden wir, so zu denken; und diese
Denkungsart flößet uns, zu eben der Zeit, da sie uns eine gewisse
Geringschätzung gegen die ganze Gattung gibt, mehr Nachsicht gegen die
Fehler und Gebrechen der einzelnen Personen, und besondern Gesellschaften,
mit denen wir in Verhältnis stehen, ein; so daß wir das, was wir an jenem
tugendhaften Schwulst, welchen die Einfalt übereilter Weise für die Tugend
selbst hält, verlieren, zu eben der Zeit an den notwendigsten und
liebenswürdigsten Tugenden, an Geselligkeit und Mäßigung gewinnen:
Tugenden, welche zwar nichts blendendes haben, aber desto mehr Wärme geben,
und uns desto geschickter machen, unter Geschöpfen zu leben, welche ihrer
alle Augenblicke benötiget sind.

Es ist ein gemeiner und oft getadelter Fehler des menschlichen Geschlechts,
daß sie das Wunderbare mehr lieben als das Natürliche, und das Glänzende
mehr als was nicht so gut in die Augen fällt, wenn es gleich brauchbarer
und dauerhafter ist. Diese Art von dem Werte der Sachen zu urteilen ist
nirgends betrüglicher, als wenn sie auf moralische Gegenstände angewendet
wird. Der Schluß, den man öfters von der Erhabenheit der Begriffe und
Empfindungen einer Person, und von der Fertigkeit eine gewisse Sprache der
Begeistrung zu reden, welche (wie die homerische Göttersprache) allen
Dingen andre Namen gibt, ohne daß die Dinge selbst darum etwas anders sind,
als sie unter ihren gewöhnlichen Namen sind, auf eine außerordentliche
Vortrefflichkeit des Charakters dieser Person zu machen pflegt, ist eben
so falsch, als das Vorurteil, welches viele gegen eine gelassene und
bescheidene Tugend gefaßt haben, welche, ohne sich durch feirliches
Gepränge, hochfliegende Ideen, anmaßliche Privilegien von den Gebrechen
der menschlichen Natur, und unerbittliche Strenge gegen dieselben
anzukündigen, nur darum weniger zu versprechen scheint, um im Werke selbst
desto mehr zu leisten. Dieses vorausgesetzt könnten wir vielleicht mit
gutem Grunde behaupten, daß die Tugend unsers Helden, durch die neuerliche
Veränderung, die in seiner Denkensart vorging, in verschiedenen
Betrachtungen, große Vorteile erhalten habe. Aber (wir wollen es nur
gestehen) was sie dabei auf einer Seite gewann, verlor sie auf einer
andern wieder. Die Begriffe, welche wir uns von unsrer eignen Natur
machen, haben einen entscheidenden Einfluß auf alle unsre übrigen Begriffe.
So irrig, so lächerlich und kindisch es ist, wenn wir uns einbilden (und
doch bilden sich das die Meisten ein) daß der Mensch die Hauptfigur in der
ganzen Schöpfung, und alles andere bloß um seinetwillen da sei--So
natürlich ist hingegen, daß er es in dem besondern System seiner eignen
Ideen ist. In dieser kleinen Welt ist und bleibt er, er wolle oder wolle
nicht, der Mittelpunkt--der Held des Stücks, auf den alles sich bezieht,
und dessen Glück oder Fall alles entscheidet. Alles ist groß, wichtig,
interessant, wenn die Hauptperson wichtig ist, und eine große Rolle zu
spielen hat; aber wenn Scapin oder Harlekin der Held ist, was kann das
ganze Stück anders sein, als eine Farce?"


Man erinnert sich vermutlich noch der Zweifel, worin sich Agathon
verwickelt fand, als er die bezauberten Ufer von Jonien verließ, wo er,
vielleicht zu seinem Vorteil, erfahren hatte, daß die Ideen, welche sich
in den Hainen zu Delphi seiner jugendlichen Seele bemächtiget, und durch
den Unterricht und Umgang des göttlichen Platons zu Athen noch mehr darin
befestiget hatten, ihm bei einer Gelegenheit, wo er sich mit vollkommner
Sicherheit auf ihre Stärke und beschützende Kraft verlassen hatte, mehr
nachteilig als nützlich gewesen waren, ja sich endlich (zu einem billigen
Verdacht gegen ihre Realität) von ganz entgegengesetzten so unmerklich und
gutwillig hatten verdrängen lassen, daß er die Veränderung nicht eher
wahrgenommen, als da sie schon völlig zu Stande gekommen war. Agathon
hatte damals keine Zeit, dieser Zweifel wegen mit sich selbst einig zu
werden; er glaubte zwar, oder hoffte vielmehr überhaupt, daß dasjenige was
in seinen vormaligen Grundsätzen wahres sei, sich mit seinen neuerlangten
Begriffen sehr wohl vereinigen lassen werde--aber er sah doch noch nicht
deutlich genug, wie?--und wurde beim ersten Anblick Lücken gewahr, welche
ihm desto mehr Sorge machten, je weniger er geneigt war, sie nach dem
Exempel der Meisten, die sich in dieser Schwierigkeit befinden, mit dem
ersten Besten, es möchte Stroh, Leimen, Lumpen oder was ihm sonst in die
Hände fiele, sein, auszustopfen. Indes hatten doch damals seine vorigen
Lieblings-Ideen noch einen starken Anhang in seinem Herzen, und er
beruhigte sich, auf die Eingebungen desselben hin, mit der Hoffnung, daß
es ihm, sobald er in ruhigere Umstände käme, leicht sein würde, die
Harmonie zwischen seinem Kopf und seinem Herzen vollkommen wieder
herzustellen. Allein die Geschäfte und die Zerstreuungen, welche zu
Syracus alle seine Zeit verschlangen, hatten ihn genötigt, eine für ihn so
wichtige Arbeit lange genug aufzuschieben, um sie durch immer neu
hervorbrechende Schwierigkeiten ungleich schwerer zu machen, als sie
anfangs gewesen wäre. Die ungereimte und lächerliche Seite der
menschlichen Meinungen, Leidenschaften, und Gewohnheiten ist gemeiniglich
die erste, welche sie einem Manne von Verstand und Witz zeigen, der die
Muße nicht hat, sie mit anhaltender Aufmerksamkeit zu betrachten. Agathon
gewöhnte sich also unvermerkt an diese Art, die Sachen anzuschauen; die
natürliche Heiterkeit und Lebhaftigkeit seiner Sinnesart disponierte ihn
ohnehin dazu; und die Syracusaner, deren Charakter eine Vermischung des
Atheniensischen und Corinthischen, oder eine Komposition von den
widersprechendesten Eigenschaften, welche ein Volk nur immer haben kann,
ausmachte--und ein Hof, wie Dionysens Hof war--versahen ihn so reichlich
mit komischen Charaktern, Bildern und Begebenheiten, daß der Absatz,
welchen der gegenwärtige Ton seiner Seele (wenn man uns dieses malerische
Kunst-Wort hier erlauben will) mit seinem ehmaligen machte, von Tag zu Tag
immer stärker werden mußte. Der Oromasdes und Arimanius der alten Persen
werden uns nicht als tödlichere Feinde vorgestellt, als es der komische
Geist, und der Geist des Enthusiasmus sind; und die natürliche Antipathie
dieser beiden Geister wird dadurch nicht wenig vermehrt, daß beide gleich
geneigt sind, über die Grenzen der Mäßigung hinauszuschweifen. Der
Enthusiastische Geist sieht alles in einem strengen feierlichen Licht; der
Komische alles in einem milden und lachenden; nichts ist dem ersten
leichter als so weit zugehen, bis ihm alles, was Spiel und Scherz heißt,
verdammlich vorkommt; nichts dem andern leichter, als gerade in demjenigen,
was jener mit der größesten Ernsthaftigkeit behandelt, am meisten Stoff
zum Scherzen und Lachen zu finden.

Nehmen wir zu diesem noch, daß der leichtsinnige und scherzhafte Ton von
jeher den Höfen vorzüglich eigen gewesen ist--und den besondern Umstand,
daß die anmaßlichen Akademisten, oder Hof-Philosophen des Dionys, den
einzigen Aristipp ausgenommen, eine Art von Tragikomischen Narren
vorstellten, welche recht mit Fleiß dazu ausgesucht zu sein schienen, um
die erhabenen Wissenschaften, für deren Priester und Mystagogen sie sich
ausgeben, so verächtlich zu machen, als sie selbst waren--Nehmen wir alles
dieses zusammen, so werden wir uns kaum verwundern können, wie es möglich
gewesen, daß unser Held nach und nach sich endlich auf einem Punkt befand,
wo ihn damals, da er in der Grotte der Nymphen auf Erscheinungen der
Götter wartete--oder da er die Grundsätze, die Verheißungen und die
Freundschaft des Sophisten Hippias mit einem so feurigen Unwillen von sich
stieß--vermutlich niemand, oder nur die schlauesten Kenner des
menschlichen Herzens erwartet haben mögen--nämlich da, wo ihm ein großer
Teil seiner vormaligen Ideen, an denen er zu Smyrna nur zu zweifeln
angefangen hatte, nun selbsten ganz schimärisch und belachenswert, und
diejenigen, deren Gegenstände ihm zwar ehrwürdig bleiben mußten, doch
subjektivisch betrachtet, in der barokischen Gestalt, wie sie in der
Einbildung der Sterblichen verkleinert, verzerrt, vermischt oder
verkleidet werden, zu nichts anderm zu taugen schienen, als lustig damit
zu machen.

Unsere nachdenkenden Leser werden nunmehr ganz deutlich begreifen, warum
wir Bedenken getragen haben, dem Urheber der Griechischen Handschrift in
seinem allzugünstigen Urteil von dem gegenwärtigen moralischen Zustande
unsers Helden, Beifall zu geben. Wir können uns nicht verbergen, daß
dieser Zustand für seine Tugend gefährlich ist, und desto gefährlicher, je
mehr man in demselben durch eine gewisse Behaglichkeit, Munterkeit des
Geistes, und andre Anscheinungen einer völligen Gesundheit, sicher gemacht
zu werden pflegt, sich in seinem natürlichen Zustande zu glauben. Nicht
als ob es uns eben so leid sei, unsern Helden (den wir mit allen seinen
Fehlern eben so sehr lieben, als ob er ein Sir Carl Grandison wäre) auf
dem Wege zu sehen, von allen Arten der Schwärmerei von Grund aus geheilt
zu werden--Denn so viel schönes und gutes sich immer zu ihrem Vorteil
sagen lassen mag, so bleibt doch gewiß, daß es besser ist gesund sein, und
keine Entzückungen haben, als die Harmonie der Sphären hören, und an einem
hitzigen Fieber liegen--aber wir besorgen billig, daß die allzustarke
Nachlassung, welche in der Seele eben sowohl als im Leibe, auf eine
übermäßige Spannung zu folgen pflegt, seinem Herzen wenigstens so
nachteilig werden könnte, als es die liebenswürdige Schwärmerei, womit wir
ihn behaftet gesehen haben, seiner Vernunft sein mochte. Der neue Schwung,
den seine Denkungsart zu Syracus bekam, würde uns ziemlich gleichgültig
sein, wenn die Veränderung sich bloß auf spekulative Begriffe oder den Ton
und die Verteilung des Lichts und Schattens in seiner Seele erstreckte:
Aber wenn er dadurch weniger rechtschaffen, weniger ein Liebhaber der
Wahrheit, weniger empfindlich für das Beste des menschlichen Geschlechts,
weniger edelgesinnt, und wohltätig, weniger zur vorzüglichen Teilnehmung
an der Glückseligkeit irgend einer besondern Gesellschaft (ohne welche die
anmaßliche Welt-Bürgerschaft gewisser Leute bloße Großsprecherei oder
höchstens eine Art von Don-Quischotterie ist) und zur Freundschaft, diesem
Lieblings-Phantom schöner Seelen, weniger aufgelegt würde--erlaubet mir,
ihr strengen Anti-Platonisten, denen alles Schimäre heißt, was sich nicht
geometrisch beweisen läßt, erlaubet mir noch weiter zu gehen--wenn dieser
schöne, herzerhöhende, wohltätige, und der Tugend so vorteilhafte
Gedanke--für eine größere Sphäre als dieses animalische Leben, für eine
edlere Art von Existenz, für vollkommnere Gegenstände, und zu einer
vollkommnern Art von Aktivität, als unsre dermalige bestimmt zu sein--und
die begeisternden, wiewohl träumerischen Aussichten, die uns dieser Beste
aller Gedanken gibt--wenn er keinen Reiz, keine Macht auf seine Seele mehr
hätte--O! Agathon, Agathon! dann würdest du, nicht unsern Haß, nicht eine
lieblose Beurteilung, nicht eine triumphierende Freude über deinen Fall,
aber--unser Mitleiden verdienen.

Die Gemüts-Verfassung worin wir ihn in diesem Kapitel gesehen haben,
scheint allerdings nicht sehr geschickt zu sein, uns über diesen Punkt
seinetwegen außer Sorgen zu setzen. Es ist eine so unbeständige Sache um
die Begriffe, Meinungen und Urteile eines Menschen! Die Umstände, der
besondere Gesichts-Punkt, in den sie uns stellen, die Gesellschaft worin
wir leben, tausend kleine Einflüsse, die wir einzeln nicht gewahr werden,
haben soviel Gewalt über dieses unerklärbare, launische, widersinnische
Ding, unsre Seele!--daß wir nicht Bürge dafür sein wollten, was aus unserm
Helden hätte werden können, wofern er mit solchen Dispositionen in eine
Gesellschaft von Hippiassen und Alcibiaden, oder zurück in die schöne Welt
zu Smyrna versetzt worden wäre. Zu gutem Glück sehen wir ihn im Begriff,
zu Leuten zukommen, welche ihn mit der Menschheit wieder aussöhnen, und
seinem schon erkältenden Herzen diese beseelende Wärme wieder mitteilen
werden, ohne welche die Tugend eine bloße Spekulation ist, die zwar einen
unerschöpflichen Stoff zu scharfsinnigen Betrachtungen gibt, aber unter
den vielerlei chemischen Prozessen, welche die allzuspitzfündige Vernunft
mit ihr vornimmt, endlich ein so abgezogenes, so feines, so delikates Ding
wird, daß sich kein Gebrauch davon machen läßt.

So sehr sich auch die Einbildungs-Kraft unsers Helden abgekühlt hat, so
unzuverlässig, übertrieben und grillenhaft er die Geister-Lehre und die
metaphysische Politik seines Freundes Plato zu finden glaubt; so komisch
ihm seine eigene Ausschweifungen in dem Stande der Bezauberung, worin er
sich ehemals befunden, vorkommen; so klein er überhaupt von den Menschen
denkt, und so fest er entschlossen zu sein vermeint, von dem schönen
Phantom, wie er es itzo nennt, von dem Gedanken, sich Verdienste um seine
Gattung zu machen, in seinem Leben sich nicht wieder täuschen zu lassen;
so ist es doch bei weitem noch nicht an dem, daß er diese zarte
Empfindlichkeit der Seele, und diesen eingewurzelten Hang zu dem
idealischen Schönen verloren haben sollte, der das geheime Principium
seiner ehemaligen Begeisterung, und aller der manchfaltigen Schwärmereien,
Bezauberungen und Entzückungen, in deren magischem Labyrinthe sie ihn,
nach Maßgabe der Umstände, herumgeführt, gewesen ist. Die verstohlnen
Blicke, die er noch so gerne in die Szenen seiner glücklichen Jugend wirft;
das Bild der liebenswürdigen Psyche, welches durch alle Veränderungen,
die in seiner Seele vorgegangen, nichts von seinem Glanze verloren hat;
die Erinnerung dieser reinen, unbeschreiblichen, fast vergötternden
Wollust, in welcher sein Herz zerfloß, als er es noch in seiner Gewalt
hatte, Glückliche zu machen; und als die Reinigkeit dieser göttlichen Lust
noch durch keine Erfahrungen von der Undankbarkeit und Bosheit der
Menschen verdüstert und trübe gemacht wurde--diese Bilder, denen er sich
noch so gerne überläßt--welche sich selbst in seinen Träumen seiner
gerührten Seele so oft und so lebhaft darstellen--die Seufzer, die Wünsche,
die er diesen geliebten verschwindenden Schatten nachschickt--alle diese
Symptomen sind uns Bürge dafür, daß er noch Agathon ist; daß die
Veränderung in seinen Begriffen und Urteilen, die neue Theorie von allem
dem, was würklich ein Gegenstand unsrer Nachforschung zu sein verdient,
oder von Eitelkeit und Vorwitz dazu gemacht worden, welche sich in seiner
Seele zu entwickeln angefangen, die edlern Teile seines Herzens nicht
angegriffen habe; kurz, daß wir uns Hoffnung machen können, aus dem Streit
der beiden widerwärtigen und feindlichen Geister, wodurch seine ganze
innerliche Verfassung seit einiger Zeit erschüttert, verwirrt und in
Gärung gesetzt worden, zuletzt eine eben so schöne Harmonie von Weisheit
und Tugend hervorkommen zu sehen, wie nach dem System der alten
Morgenländischen Weisen, aus dem Streit der Finsternis und des Lichts,
diese schöne Welt hervorgegangen sein soll.




EILFTES BUCH




ERSTES KAPITEL

Apologie des griechischen Autors


Bis hieher scheint die Geschichte unsers Helden, wenigstens in den
hauptsächlichsten Stücken, dem ordentlichen Lauf der Natur, und den
strengesten Gesetzen der Wahrscheinlichkeit so gemäß zu sein, daß wir
keinen Grund sehen, an der Wahrheit derselben zu zweifeln. Aber in diesem
eilften Buch, wir müssen es gestehen, scheint der Autor aus dieser unsrer
Welt, welche, unparteiisch von der Sache reden, zu allen Zeiten nichts
bessers als eine Werkel-Tags-Welt (wie Shakespear sie irgendwo nennt)
gewesen ist, ein wenig in das Land der Ideen, der Wunder, der
Begebenheiten, welche gerade so ausfallen, wie man sie hätte wünschen
können, und um alles auf einmal zu sagen, in das Land der schönen Seelen,
und der utopischen Republiken verirret zu sein. Es stehet bei den Lesern,
ihm hierin soviel Glauben beizumessen, als sie gerne wollen; wir an unserm
Teil nehmen uns der Sache weiter nichts an; unsere Absichten sind bereits
erreicht, und die glücklichen oder unglücklichen Umstände, welche dem
Agathon noch bevorstehen mögen, haben nichts damit zu tun. Indessen
glauben wir doch, daß der Autor allen den gutherzigen Leuten, welche sich
für den Helden einer solchen Geschichte nach und nach interessieren, und
gerne haben, wenn sich am Ende alles zu allerseitigem Vergnügen, mit
Entdeckungen, Erkennungen, glücklichem Wiederfinden der verlornen Freunde,
und etlichen Hochzeiten endet, einen Gefallen getan habe, seinen Helden,
nachdem er eine hinlängliche Anzahl guter und schlimmer Abenteuer
bestanden hat, endlich für seine ganze übrige Lebens-Zeit glücklich zu
machen. Es mag sein, daß der Verfasser der griechischen Handschrift
hierin seinem guten Naturell den Lauf gelassen hat; denn in der Tat,
scheint es ein Zeichen eines harten und grausamen Herzens zu sein, welches
ein Vergnügen an der Qual und den Tränen seiner unschuldigen Leser findet,
wenn man alles anwendet, uns für den Helden und die Heldin einer
wundervollen Geschichte einzunehmen, bloß um uns zuletzt durch einen so
jämmerlichen Ausgang, als eine schwermütige, menschenfeindliche
Imagination nur immer erdenken kann, in einen desto empfindlichern und
unleidlichern Schmerz zu versenken, da es lediglich bei dem guten Willen
des Autors stund, uns desselben zu überheben. Gleichwohl aber scheint uns
unser edler gesinnte Verfasser noch eine andre Absicht dabei gehabt zu
haben, welche er, ohne sich einer noch größern Unwahrscheinlichkeit
schuldig zu machen, nicht wohl anders als durch diese nicht
allzuwahrscheinliche Verbindung glücklicher Umstände, worein er seinen
Helden in diesem Buche setzt, erreichen konnte--Und was für eine Absicht
mag das wohl sein?--Ich will es ihnen unverblümt und ohne Umschweife sagen,
meine Herren und Damen, ob ich gleich besorgen muß, daß die ungewöhnliche
Offenherzigkeit, welche ich ihnen in dem ganzen Laufe dieses Werkes habe
sehen lassen, mir von einem oder dem andern aus ihrem Mittel übel
aufgenommen werden möchte--Unser Verfasser wollte dem Vorwurf ausweichen,
welchen Horaz gleichnisweise in dem bekannten Verse-... Amphora coepit
Institui--currente rotâ cur urceus exit?- denjenigen Dichtern macht, in
deren Werken das Ende sich nicht zu dem Anfang schickt. Er wollte in
seinem Helden, dessen Jugend und erste Auftritte in der Welt so große
Hoffnungen erweckt hatten, nachdem er ihn durch so viele verschiedene
Umstände geführt, als er für nötig hielt seine Tugend zu prüfen, zu
läutern und zu der gehörigen Konsistenz zu bringen, am Ende einen so
weisen und tugendhaften Mann darstellen, als man nur immer unter der Sonne
zu sehen wünschen, oder nach Gestalt der Sachen, erwarten könnte. Der
Enthusiasmus, der die eigentliche Anlage seines Helden zu einem mehr als
gewöhnlichen Grade moralischer Vollkommenheit enthielt, verhinderte ihn zu
eben der Zeit da er seine Tugend erhöhte, so weise zu sein, als man sein
muß, um nicht mit den erhabensten Begriffen, und den edelsten Gesinnungen,
von sich selbst und von andern betrogen zu werden. Eine Art zu denken,
welche ihn zu einer höhern Klasse von Wesen als die gewöhnlichen Menschen
sind, zu erheben schien, setzte ihn dem Neid, der verkehrten Beurteilung,
den Nachstellungen und Verfolgungen dieser Menschen aus; und machte ihn,
welches für seine Tugend das Schlimmste war, unvermerkt vergessen, daß er
im Grunde doch immer weder mehr noch weniger sei, als ein Mensch. Die
Erfahrungen, die er endlich hierüber bekam, öffneten ihm die Augen, und
zerstreuten einen Teil der Bezauberung; er lernte sich selbst besser
kennen; aber er kannte die Welt noch nicht genug. Ein neues und großes
Theater, auf welches er versetzt wurde, half diesem Mangel ab; eine immer
weiter ausgebreitete und vervielfältigte Erfahrung stimmte seine
allzuidealische Denk-Art herab, und überführte ihn, daß er, wie der
großmütige, tugendhafte und tapfre Ritter von Mancha (dieses lehrreiche
Bild der Schwachheiten und Verirrungen des menschlichen Geistes!)
Windmühlen für Riesen, Wirtshäuser für bezauberte Schlösser, und
Dorf-Nymphen für göttliche Dulcineen angesehen hatte. Er wurde weiser,
aber auf Unkosten seiner Tugend. So wie die Bezauberung seiner
Einbildungs-Kraft vorging, hörte auch die Begierde auf, große Taten zu tun,
allem Unrecht in der Welt zu steuern, mit den Feinden der allgemeinen
Glückseligkeit sich herumzuschlagen, und die Menschen, wider ihren Dank
und Willen, glücklich machen zu wollen. Nun sage man mir, nachdem es mit
unserm Helden dazu gekommen war, (und, alles wohl erwogen, mußte es auf
eine oder andere Art endlich dazu kommen; denn die edelste, die
liebenswürdigste Schwärmerei, wenn sie gar zu lange dauert, und sich so
gar durch die Maul-Esel-Treiber von Jangois nicht austreiben lassen will,
wird endlich zu Narrheit,) was sollte, was konnte unser Autor nun weiter
mit ihm anfangen? Einen misanthropischen Einsiedler aus ihm machen?--Dazu
war sein Kopf zu heiter und sein Herz zu schwach--oder zu zärtlich--oder
zu gut; was ihr wollt; und zudem mochte unser Autor, der ein Grieche war,
und wenigstens in die Zeiten des Alciphrons gesetzt werden muß, (wie die
Gelehrten ohne unser Erinnern bemerkt haben) vermutlich von der
Vortrefflichkeit einer einsiedlerischen Tugend die erhabenen Begriffe
nicht haben, welche man sich in den wundervollen Zeiten des dreizehnten
und vierzehnten Jahrhunderts bis zu unsern philosophischen Zeiten davon
gemacht hat, und (allem Ansehen nach) in einigen Ländern noch lange machen
wird. Ihn wieder in die weite Welt zurückzuführen, wäre nichts anders
gewesen, als ihn der augenscheinlichsten Gefahr aussetzen, in seiner
antiplatonischen Denk-Art durch immer neue Erfahrungen bestärkt, und durch
die Gesellschaft witziger und liebenswürdiger Leute, welche entweder gar
keine Grundsätze, oder nicht viel bessere als der weise Hippias, gehabt
hätten, nach und nach auch um diesen kostbaren überrest seiner ehemaligen
Tugend gebracht zu werden, den er glücklicher Weise aus der verpesteten
Luft der großen Welt noch davon gebracht hat. Vielleicht hätte er in
solchen Umständen noch immer eine Art von Mittel zwischen Weisheit und
Torheit, eine mehr lächerliche als hassenswürdige Komposition von kühnem
Witz und unschlüssiger Vernunft, von wahren und willkürlichen Begriffen,
von Aberglauben und Unglauben, von guten und bösen Leidenschaften,
Gewohnheiten und Launen, von gleich betrüglichen Tugenden und Lastern;
kurz, eine so vortreffliche Art von Geschöpfen werden können, wie ungefähr
die meisten von uns andern sind, wir mögen es nun einsehen--und wenn wir's
einsehen, eingestehen--oder nicht. Bei so bewandten Umständen, und da es
(wie gesagt) nun einmal die Absicht des Autors war, aus seinem Helden
einen tugendhaften Weisen zu machen, und zwar solchergestalt, daß man ganz
deutlich möchte begreifen können, wie ein solcher Mann--so geboren--so
erzogen--mit solchen Fähigkeiten und Dispositionen--mit einer solchen
besondern Bestimmung derselben--nach einer solchen Reihe von Erfahrungen,
Entwicklungen und Veränderungen--in solchen Glücks-Umständen--an einem
solchen Ort und in einer solchen Zeit--in einer solchen
Gesellschaft--unter einem solchen Himmels-Strich--bei solchen
Nahrungs-Mitteln (denn auch diese haben einen stärkern Einfluß auf
Weisheit und Tugend, als sich manche Moralisten einbilden)--bei einer
solchen Diät--kurz, unter solchen gegebenen Bedingungen, wie alle
diejenigen Umstände sind, in welche er den Agathon bisher gesetzt hat, und
noch setzen wird--ein so weiser und tugendhafter Mann habe sein können,
und (diejenigen, welche nicht gewohnt sind zu denken, mögen es nun glauben
oder nicht,) unter den nämlichen, oder doch sehr ähnlichen Umständen, es
auch noch heutzutage werden könnte: Da, sage ich, dieses seine Absicht war,
so blieb ihm freilich kein andrer Weg übrig, als seinen Helden in diesen
Zusammenhang glücklicher Umstände zu setzen, in welchen er sich nun bald,
zu seinem eigenen Erstaunen, befinden wird. Freilich ist ein solcher
Zusammenfluß glücklicher Umstände allzuselten, um wahrscheinlich zu sein.
Aber wie soll sich ein armer Autor helfen, der (alles wohl überlegt) nur
ein einziges Mittel vor sich sieht, aus der Sache zu kommen, und dieses
ein gewagtes? Man hilft sich wie man kann, und wenn es auch durch einen
Sprung aus dem Fenster sein sollte. Der kleine Held der Königin von
Golconde ist nicht der erste, der sich durch dieses Mittel helfen mußte:
Julius Cäsar würde ohne einen solchen Sprung das Vergnügen nicht gehabt
haben, als Herr der Welt (wie man, zwar lächerlich genug, zu sprechen
gewohnt ist,) durch die Straßen Roms ins Capitolium einzuziehen.

Und soviel mag dann zur Rechtfertigung unsers Autors gesagt sein; wenn es
anders zu seiner Rechtfertigung dienen kann, welches wir den Kunstrichtern
überlassen müssen. Das Urteil mag indessen ausfallen wie es will, so
beladet sich der Herausgeber, wie er schon erklärt hat, dessen im
geringsten nicht. Die Absichten, warum er die alte Urkunde, welche
zufälliger Weise in seine Hände gekommen ist, in einen Auszug von
derjenigen Form und Beschaffenheit, wie die vorhergehenden zehen Bücher
weisen, gebracht hat, sind bereits erreicht. Es ist verhoffentlich
unnötig, sich hierüber näher zu erklären. Doch soviel können wir wohl
sagen, daß er niemalen daran gedacht hat, einen Roman zu schreiben, wie
sich vielleicht manche, ungeachtet des Titels und der Vorrede, zu glauben
in den Kopf gesetzt haben mögen--und da dieses Buch, in so fern der
Herausgeber Teil daran hat, kein Roman ist, noch einer sein soll; so hat
er sich auch um die so genannte Schürzung des Knotens, und ob der
Verfasser der Urkunde seinen Knoten geschickt oder ungeschickt entwickelt
oder zerschnitten hat, wenig zu bekümmern.




ZWEITES KAPITEL

Die Tarentiner. Charakter eines liebenswürdigen alten Mannes


Archytas, durch dessen nachdrückliche Verwendung Agathon der Hände seiner
Feinde zu Syracus entrissen worden, war ein vertrauter Freund seines
Vaters Stratonicus gewesen; ihre beiden Familien waren durch die Bande des
Gastrechts (welches bekannter maßen den Griechen sehr heilig war) von
uralten Zeiten her verbunden; der ausgebreitete Ruhm, welchen sich der
Philosoph von Tarent, als der Würdigste unter den Nachfolgern des
Pythagoras, als ein tiefer Kenner der Geheimnisse der Natur und der
mechanischen Künste, als ein weiser Staatsmann, als ein geschickter und
allezeit glücklicher Feldherr, und was allen diesen Vorzügen die Krone
aufsetzt, als ein rechtschaffener Mann, in der vollkommensten Bedeutung
dieses Worts erworben, hatte den Namen des Archytas unserm Helden schon
lange ehrwürdig gemacht; und hiezu kam noch, daß dessen jüngerer Sohn,
Critolaus, in den Zeiten des höchsten Wohlstandes Agathons zu Athen zwei
Jahre in seinem Hause zugebracht, und mit allen ersinnlichen
Freundschafts-Erweisungen überhäuft, eine Zuneigung von derjenigen Art für
ihn gefaßt hatte, welche in schönen Seelen (denn damals gab es noch schöne
Seelen) sich nur mit dem Leben endet. Diese Freundschaft war zwar durch
zufällige Ursachen, und den Aufenthalt Agathons zu Smyrna eine Zeitlang
unterbrochen, aber sogleich nach seinem Entschluß, bei dem Dionys zu leben,
wieder erneuert, und seither sorgfältig unterhalten worden. Agathon
hatte während seiner Staats-Verwaltung sich öfters bei der weisen
Erfahrenheit des Archytas Rats erholt; und die verschiedenen Verhältnisse,
worin die Tarentiner und Syracusaner, besonders in Absicht der
Handelschaft, mit einander stunden, hatten ihm öfters Gelegenheit gegeben,
sich um die ersten verdient zu machen. Bei allen diesen Umständen ist
leicht zu ermessen, daß er den zärtlichen und dringenden Einladungen
seines Freundes Critolaus um so weniger widerstehen konnte, als die
Pflichten der Erkenntlichkeit gegen seine Erretter ihm keine Freiheit zu
lassen schienen, andere Beweggründe bei der Wahl seines Aufenthalts in
Betrachtung zu ziehen.

In der Tat hätte er sich auch keinen zu seinen nunmehrigen Absichten
bequemern Ort erwählen können als Tarent. Diese Republik war damals
gerade in dem Zustande, worin ein jeder patriotischer Republikaner die
seinige zu sehen wünschen soll--zu klein, um ehrgeizige Projekte zu machen,
und zu groß, um den Ehrgeiz und die Vergrößrungs-Sucht ihrer Nachbarn
fürchten zu müssen; zu schwach, um in andern Unternehmungen, als in den
Künsten des Friedens, ihren Vorteil zu finden; stark genug, sich gegen
einen jeden nicht allzuübermächtigen Feind (und solche Feinde hat eine
kleine Republik selten) in ihrer Verfassung zu erhalten. Archytas hatte
sie, in einer Zeit von mehr als dreißig Jahren, in welcher er sieben mal
die Stelle des obersten Befehlhabers in der Republik bekleidete, an die
weisen Gesetze, die er ihnen gegeben hatte, so gut angewöhnt, daß sie mehr
durch die Macht der Sitten als durch das Ansehen der Gesetze regiert zu
werden schienen. Der größeste Teil der Tarentiner bestund aus Fabrikanten
und Handelsleuten. Die Wissenschaften und schönen Künste stunden in
keiner besondern Hochachtung bei ihnen; aber sie waren auch nicht
verachtet. Diese Gleichgültigkeit bewahrte die Tarentiner vor den
Fehlern und Ausschweifungen der Athenienser, bei denen jedermann, bis auf
die Gerber und Schuster, ein Philosoph und Redner, ein witziger Kopf und
ein Kenner sein wollte. Sie waren eine gute Art von Leuten, einfältig von
Sitten, emsig, arbeitsam, regelmäßig, Feinde der Pracht und Verschwendung,
* leutselig und gastfrei gegen die Fremden, Hässer des Gezwungnen,
Spitzfündigen und übertriebenen in allen Sachen, und aus eben diesem
Grunde, Liebhaber des Natürlichen und Gründlichen, welche bei allem mehr
auf die Materie als auf die Form sahen, und nicht begreifen konnten, daß
eine fein gearbeitete Schüssel aus corinthischem Erzt besser sein könne,
als eine schlechte aus Silber, oder daß ein Narr liebenswürdig sein könne,
weil er artig sei. Sie liebten ihre Freiheit, wie eine Gattin, nicht wie
eine Beischläferin, ohne Leidenschaft, und ohne Eifersucht; sie setzten
ein billiges Vertrauen in diejenige, denen sie die Vormundschaft über den
Staat anvertrauten; aber sie forderten auch, daß man dieses Vertrauen
verdiene. Der Geist der Emsigkeit, der dieses achtungswürdige und
glückliche Volk beseelte--der unschuldigste und wohltätigste unter allen
sublunarischen Geistern, die uns bekannt sind--machte, daß man sich zu
Tarent weniger, als in den meisten mittelmäßigen Städten zu geschehen
pflegt, um andre bekümmerte; in so fern man sie durch keine gesetzwidrige
Tat, oder durch einen beleidigenden Kontrast mit ihren Sitten ärgerte,
konnte jeder leben wie er wollte. Alles dieses zusammengenommen, machte,
wie uns deucht, eine sehr gute Art von republikanischem Charakter; und
Agathon hätte schwerlich einen Freistaat finden können, welcher
geschickter gewesen wäre, seinen gegen dieselbe gefaßten Widerwillen zu
besänftigen. Ohne Zweifel hatte dieses Volk auch seine Fehler, wie alle
andre; aber der weise Archytas, unter welchem der National-Charakter der
Tarentiner erst eine gesetzte und feste Gestalt gewonnen hatte, wußte
diejenige Art derselben, welche man die Temperaments-Fehler eines Volks
nennen kann, so klüglich zu behandeln, daß sie durch die Vermischung mit
ihren Tugenden, beinahe aufhörten, Fehler zu sein--eine notwendige und
vielleicht die größeste Kunst eines Gesetzgebers, deren genauere
Untersuchung und Analyse wir, beiläufig, denenjenigen empfohlen haben
wollen, welche zu der schweren, und vermutlich spätern Zeiten aufbehaltnen,
aber möglichen Auflösung eines Problems, welches nur von Lilliputtischen
Seelen für schimärisch gehalten wird, der Aufgabe, welche Gesetzgebung
unter gegebenen Bedingungen, die beste sei? etwas beizutragen sich
berufen fühlen.

Agathon entdeckte beim ersten Blick an die Italischen Ufer, seinen Freund
Critolaus, der mit einem Gefolge der edelsten Jünglinge von Tarent ihm
entgegengeflogen war, um ihn in einer Art von freundschaftlichem Triumph
in eine Stadt einzuführen, welche sich's zur Ehre rechnete, von einem
Manne wie Agathon, vor andern zu seinem Aufenthalt erwählt zu werden. Die
angenehme Luft dieser von einem günstigen Himmel umflossenen Ufer, der
Anblick eines der schönsten Länder unter der Sonne, und der noch süßere
Anblick eines Freundes, von dem er bis zur Schwärmerei geliebt wurde,
machten unsern Helden in einem einzigen Augenblick alles Ungemach
vergessen, das er in Sicilien und in seinem ganzen Leben ausgestanden
hatte. Ein frohes ahnendes Erwarten der Glückseligkeit, die in diesem zum
erstenmal betretenen Lande auf ihn wartete, verbreitete eine Art von
angenehmer Empfindung durch sein ganzes Wesen, welche sich nicht
beschreiben läßt. Die unbestimmte Wollust, welche alle seine Sinnen
zugleich einzunehmen schien, war nicht dieses seltsame zauberische Gefühl,
womit ihn die Schönheiten der Natur und die Empfindung ihrer reinsten
Triebe, in seiner Jugend durchdrungen hatte--dieses Gefühl, diese Blüte
der Empfindlichkeit, diese zärtliche Sympathie mit allem was lebt oder zu
leben scheint; dieser Geist der Freude, der uns aus allen Gegenständen
entgegenatmet; dieser magische Firnis der sie überzieht, und uns über
einem Anblick, von dem wir zehn Jahre später kaum noch flüchtig gerührt
werden, in stillem Entzücken zerfließen macht--dieses beneidenswürdige
Vorrecht der ersten Jugend verliert sich mit dem Anwachs unsrer Jahre
unvermerkt, und kann nicht wieder gefunden werden; aber es war etwas, das
ihm ähnlich war; seine Seele schien dadurch wie von allen verdüsternden
Flecken seines unmittelbar vorhergehenden Zustandes ausgewaschen, und zu
den zärtlichen Eindrücken vorbereitet zu werden, welche sie in dieser
neuen Periode seines Lebens bekommen sollte.

Eine seiner glückseligsten Stunden, (wie er in der Folge öfters zu
versichern pflegte) war diejenige, worin er die persönliche Bekanntschaft
des Archytas machte. Dieser ehrwürdige Greis hatte der Natur und der
Mäßigung, welche von seiner Jugend an ein unterscheidender Zug seines
Charakters gewesen war, den Vorteil einer Lebhaftigkeit aller Kräfte zu
danken, welche in seinem Alter etwas seltnes ist, aber bei den alten
Griechen lange nicht so selten war, als bei den meisten Europäischen
Völkern unsrer Zeit, bei denen es zur Gewohnheit zu werden angefangen hat,
die erste Hälfte des Lebens so unbesonnen zu verschwenden, daß man in der
andern die geheimsten Kräfte der Arznei-Kunst zu Hülfe rufen muß, um einen
schmachtenden Mittelstand von Sein und Nichtsein, von einem Tag zum andern
erbettelter Weise fortschleppen zu können. So erkaltet als die
Einbildungs-Kraft unsers Helden war, so konnte er doch nicht anders als
etwas idealisches in dem Gemische von Majestät und Anmut, welches über die
ganze Person dieses liebenswürdigen Alten ausgebreitet war, zu
empfinden--und es desto stärker zu empfinden, je stärker der Absatz war,
den dieser Anblick mit allem demjenigen machte, woran sich seine Augen
seit geraumer Zeit hatten gewöhnen müssen--Und warum konnte er nicht
anders? Die Ursache ist ganz simpel; weil dieses idealische nicht in
seinem Gehirne, sondern in dem Gegenstande selbst war. Stellet euch einen
großen stattlichen Mann vor, dessen Ansehen beim ersten Blick ankündiget,
daß er dazu gemacht ist, andre zu regieren, und dem ihr ungeachtet seiner
silbernen Haare noch ganz wohl ansehen könnet, daß er vor fünfzig Jahren
ein schöner Mann gewesen ist--Ihr erinnert euch ohne Zweifel dergleichen
gesehen zu haben; aber das ist es noch nicht--Stellet euch vor, daß dieser
Mann in dem ganzen Laufe seines Lebens ein tugendhafter Mann gewesen ist;
daß eine lange Reihe von Jahren seine Tugend zu Weisheit gereift hat; daß
die unbewölkte Heiterkeit seiner Seele, die Ruhe seines Herzens, die
allgemeine Güte wovon es beseelt ist, das stille Bewußtsein eines
unschuldigen und mit guten Taten erfüllten Lebens, sich in seinen Augen
und in seiner ganzen Gesichts-Bildung mit einer Wahrheit, mit einem
Ausdruck von stiller Größe und Würdigkeit abmalt, dessen Macht man fühlen
muß, man wolle oder nicht--das ist, was ihr vielleicht noch nicht gesehen
habt--das ist das idealische, das ich meinte; und das war es was Agathon
sah--Ihr erinnert euch doch der guten alten Frau Shirley?--welche ich, für
meinen Teil, so reizend und selbst idealisch auch immer die Henrietten
Byrons, und ihre Rivalinnen sind, dennoch in gewissen Stunden einem ganzen
Serail von Henrietten, Clementinen und Emilien, (die Charlotten, Olivien
und alle andern Göttinnen von dieser Art, zusamt der schönen Magellone,
mit eingerechnet,) vorziehen wollte--Gut; ein Gemälde von dieser nämlichen
alten Frau, von der Hand eines van Dyk, (wenn es noch einen van Dyk gäbe)
würde ein Cabinetstück machen, um welches ich alle Liebes-Göttinnen und
Grazien der Vanloos und Bouchers, so wenig ich sonst ein Feind von ihnen
wäre, mit Freuden geben würde. Archytas, von der Hand eines Apelles (wenn
zu seiner Zeit ein Apelles gewesen wäre) würde das Gegenbild davon sein.
Agathon hatte nichts nötig, als ihn anzusehen, um überzeugt zu sein, daß
er endlich gefunden habe, was er so oft gewünscht, aber noch nie gefunden
zu haben geglaubt hatte, ohne daß er in der Folge auf eine oder die andere
Art seines Irrtums überführt worden wäre--einen wahrhaftig weisen Mann,
einen Mann, der nichts zu sein scheinen wollte, als was er würklich war,
und an welchem das scharfsichtigste Auge nichts entdecken konnte, das man
anders hätte wünschen mögen. Die Natur schien sich vorgesetzt zu haben,
durch ihn zu beweisen, daß die Weisheit nicht weniger ein Geschenke von
ihr sei, als der Genie; und daß, wofern es gleich der Kunst nicht
unmöglich ist, ein schlimmes Naturell zu verbessern, und aus einem Silen,
so der Himmel will, einen Socrates zu machen, (ein Triumph, den die Kunst
gleichwohl sehr selten davon trägt,) es dennoch der Natur allein zukomme,
diese glückliche Temperatur der Elemente, woraus der Mensch
zusammengesetzt ist, hervorzubringen, welche, unter einem Zusammenfluß
eben so glücklicher Umstände, endlich zu dieser vollkommnen Harmonie aller
Kräfte und Bewegungen des Menschen, worin Weisheit und Tugend in Einem
Punkt zusammenfließen, erhöht werden kann. Archytas hatte niemalen weder
eine glühende Einbildungs-Kraft, noch heftige Leidenschaften gehabt; eine
gewisse Stärke, welche den Mechanismus seines Kopfs und seines Herzens
charakterisierte, hatte von seiner Jugend an die Würkung der Gegenstände
auf seine Seele gemäßiget; die Eindrücke, die er von ihnen bekam, waren
deutlich und nett genug, um seinen Verstand mit wahren Bildern zu erfüllen,
und die Verwirrung zu verhindern, welche in dem Gehirne derjenigen zu
herrschen pflegt, deren allzuschlaffe Fibern nur schwache und matte
Eindrücke von den Gegenständen empfangen; aber sie waren nicht so lebhaft
und von keiner so starken Erschütterung begleitet, wie bei denjenigen,
welche, durch zärtlichere Werkzeuge und reizbarere Sinnen zu den
enthusiastischen Künsten der Musen bestimmt, den zweideutigen Vorzug einer
zauberischen Einbildungs-Kraft und eines unendlich empfindlichen Herzens
durch die Tyrannie der Leidenschaften, der sie, mehr oder weniger,
unterworfen sind, teuer genug bezahlen müssen. Archytas hatte es dem
Mangel dieses eben so schimmernden, als wenig beneidenswerten Vorzugs zu
danken, daß er wenig Mühe hatte, Ruhe und Ordnung in seiner innerlichen
Verfassung zu erhalten; daß er anstatt von seinen Ideen und Empfindungen
beherrscht zu werden, allezeit Meister von ihnen blieb, und die
Verirrungen des Geistes und des Herzens nur aus der Erfahrung andrer
kannte, von denen das schwärmerische Volk der Helden, Dichter und
Virtuosen aller Arten aus seiner eigenen sprechen kann. Und daher kam es
auch, daß die Pythagoräische Philosophie, in deren Grundsätzen er erzogen
worden war--eben diese Philosophie, welche in dem Gehirne so vieler andrer
zu einem seltsamen Gemische von Wahrheit und Träumerei wurde,--sich durch
Nachdenken und Erfahrung in dem seinigen zu einem System von eben so
simpeln, als fruchtbaren und praktischen Begriffen ausbildete; zu einem
System, welches der Wahrheit näher zu kommen scheint, als irgend ein
anders; welches die menschliche Natur veredelt, ohne sie aufzublähen, und
ihr Aussichten in bessere Welten eröffnet, ohne sie fremd und unbrauchbar
in der gegenwärtigen zu machen; welches durch das Erhabenste und Beste,
was unsre Seele von Gott, von dem Welt-System, und von ihrer eigenen Natur
und Bestimmung zu denken fähig ist, ihre Leidenschaften reiniget und
mäßiget, ihre Gesinnungen verschönert, und (was kein so kleiner Vorteil
ist, als neunhundert und neun und neunzig Menschen unter tausenden sich
einbilden,) sie von der tyrannischen Herrschaft dieser pöbelhaften
Begriffe befreiet, welche die Seele verunstalten, sie klein,
niederträchtig, furchtsam, falsch und sklavenmäßig machen; jede edle
Neigung, jeden großen Gedanken abschrecken und ersticken, und doch darum
nicht weniger von politischen und religiösen Dämagogen unter dem größten
Teile des menschlichen Geschlechts, aus Absichten, woraus diese Herren
billig ein Geheimnis machen, eifrigst unterhalten werden.

Die zuverlässigste Probe über die Güte der Philosophie des weisen Archytas
ist, wie uns deucht, der moralische Charakter, den ihm das einstimmige
Zeugnis der Alten beilegt. Diese Probe, es ist wahr, geht bei einem
System von metaphysischen Spekulationen nicht an; aber die Philosophie des
Archytas war ganz praktisch. Das Exempel so vieler großen Geister,
welche in der Bestrebung, über die Grenzen des menschlichen Verstandes
hinauszugehen, verunglückt waren, hätte ihn in diesem Stücke vielleicht
nicht weiser gemacht, wenn er mehr Eitelkeit und weniger kaltes Blut
gehabt hätte; aber so wie er war, überließ er diese Art von Spekulationen
seinem Freunde Plato, und schränkte seine Nachforschungen über die bloß
intellektualischen Gegenstände lediglich auf diese einfältigen Wahrheiten
ein, welche das allgemeine Gefühl erreichen kann, welche die Vernunft
bekräftiget, und deren wohltätiger Einfluß auf den Wohlstand unsers
Privat-Systems so wohl als auf das allgemeine Beste allein schon genugsam
ist, ihren Wert zu beweisen. Es läßt sich also ganz sicher von dem Leben
eines solchen Mannes auf die Güte seiner Denkens-Art schließen. Archytas
verband alle häuslichen und bürgerlichen Tugenden, mit dieser schönsten
und göttlichsten unter allen, welche sich auf keine andre Beziehung
gründet, als das allgemeine Band, womit die Natur alle Wesen verknüpft.
Er hatte das seltene Glück, daß die untadeliche Unschuld seines
öffentlichen und Privat-Lebens, die Bescheidenheit, wodurch er den Glanz
so vieler Verdienste zu mildern wußte, und die Mäßigung, womit er sich
seines Ansehens bediente, endlich so gar den Neid entwaffnete, und ihm die
Herzen seiner Mitbürger so gänzlich gewannen daß er (ungeachtet er sich
seines hohen Alters wegen von den Geschäften zurückgezogen hatte) bis an
sein Ende als die Seele des Staats und der Vater des Vaterlands angesehen
wurde, und in dieser Qualität eine Autorität beibehielt, welcher nur die
äußerlichen Zeichen der königlichen Würde fehlten. Niemals hat ein Despot
unumschränkter über die Leiber seiner Sklaven geherrschet, als dieser
ehrwürdige Greis über die Herzen eines freien Volkes; niemals ist der
beste Vater von seinen Kindern zärtlicher geliebt worden. Glückliches
Volk! welches von einem Archytas geregiert wurde, und den ganzen Wert
dieses Glücks so wohl zu schätzen wußte!--Und glücklicher Agathon, der in
einem solchen Mann einen Beschützer, einen Freund, und einen zweiten Vater
fand.



* Der Charakter, der hier den Tarentinern gegeben wird, macht einen
starken Absatz mit demjenigen, den sie zu den Zeiten des Königs Pyrrhus
hatten, und bis zum Untergang ihrer Freiheit behielten; allein es ist zu
bemerken, daß Archytas und Pyrrhus wenigstens 80 Jahre von einander
entfernt sind. (Zurück)




DRITTES KAPITEL

Eine unverhoffte Entdeckung


Archytas hatte zwei Söhne, deren wetteifernde Tugend die seltene und
verdiente Glückseligkeit seines Alters vollkommen machte. Diese
liebenswürdige Familie lebte in einer Harmonie beisammen, deren Anblick
unsern Helden in die selige Einfalt und Unschuld des goldnen Alters
versetzte. Niemals hatte er eine so schöne Ordnung, eine so vollkommne
Eintracht, ein so regelmäßiges und schönes Ganzes gesehen, als das Haus
des weisen Archytas darstellte. Alle Hausgenossen, bis auf die unterste
Klasse der Bedienten, waren eines solchen Hausvaters würdig. Jedes schien
für den Platz, den es einnahm, ausdrücklich gemacht zu sein. Archytas
hatte keine Sklaven; der freie, aber sittsame Anstand seiner Bedienten,
die Munterkeit, die Genauigkeit, der Wetteifer, womit sie ihre Pflichten
erfüllten, das Vertrauen, welches man auf sie setzte, bewies, daß er
Mittel gefunden hatte, selbst diesen rohen und mechanischen Seelen ein
Gefühl von Ehre und Tugend einzuflößen; die Art wie sie dienten, und die
Art, wie ihnen begegnet wurde, schien das unedle und demütigende ihres
Standes auszulöschen; sie waren stolz darauf, einem so vortrefflichen
Herrn zu dienen, und es war nicht einer, der die Freiheit auch unter den
vorteilhaftesten Bedingungen angenommen hätte, wenn er der Glückseligkeit
hätte entsagen müssen, ein Hausgenosse des Archytas zu sein. Das
Vergnügen mit seinem Zustande leuchtete aus jedem Gesicht hervor; aber
keine Spur dieses üppigen übermuts, der gemeiniglich den müßiggängerischen
Haufen der Bedienten in großen Häusern bezeichnet; alles war in Bewegung;
aber ohne dieses lärmende Geräusch, welches den schweren Gang der Maschine
ankündiget; das Haus des Archytas glich dem inwendigen Mechanismus des
animalischen Körpers, in welchem alles in rastloser Arbeit begriffen ist,
ohne daß man eine Bewegung wahrnimmt, wenn die äußern Teile ruhen.

Agathon befand sich noch in diesem angenehmen Erstaunen, welches in den
ersten Stunden, die er in einem so sonderbaren Hause zubrachte, sich mit
jedem Augenblick vermehren mußte; als er auf einmal, und ohne daß ihn die
mindeste innerliche Ahnung dazu vorbereitet hätte, durch eine Entdeckung
überrascht wurde, welche ihn beinahe dahin gebracht hätte, alles was er
sah, für einen Traum zu halten.

Das Gynäceum war, wie man weiß, bei den Griechen den Fremden, welche in
einem Hause aufgenommen wurden, ordentlicher Weise, eben so unzugangbar
als der Harem bei den Morgenländern. Aber Agathon wurde in dem Hause des
Archytas nicht wie ein Fremder behandelt. Dieser liebenswürdige Alte
führte ihn also, nachdem sie sich ein paar Stunden, welche unserm Helden
sehr kurz wurden, mit einander besprochen hatten, in Begleitung seiner
beiden Söhne in das Innerste des Hauses, welches von dem weiblichen Teil
der Familie bewohnt wurde; um, wie er sagte, seinen Töchtern ein Vergnügen,
worauf sie sich schon so lange gefreuet hätten, nicht länger
vorzuenthalten. Stellet euch vor, was für eine süße Bestürzung ihn befiel,
da die erste Person, die ihm beim Eintritt in die Augen fiel, seine
Psyche war!--Augenblicke von dieser Art lassen sich besser malen, als
beschreiben--diese Erscheinung war so unerwartet, daß sein erster Gedanke
war, sich durch eine zufällige ähnlichkeit dieser jungen Dame mit seiner
geliebten Psyche betrogen zu glauben. Er stutzte; er betrachtete sie von
neuem; und wenn er nunmehr auch seinen Augen nicht hätte trauen wollen, so
ließ ihm das, was in seinem Herzen vorging, keinen Zweifel übrig. Und
doch kam es ihm so wenig glaublich vor, daß er glücklich genug sein sollte,
nach einer so langen Abwesenheit und bei so wenigem Anschein, sie jemals
wieder zu sehen, sie in dem Gynäceo seiner Freunde zu Tarent wieder zu
finden! Ein andrer Gedanke, der in diesen Umständen sehr natürlich war,
vermehrte seine Verwirrung, und hielt ihn zurück, sich der Freude zu
überlassen, welche ein eben so erwünschter als wenig verhoffter Anblick
über seine Seele ergoß. Psyche sah nicht so aus, als ob sie eine Sklavin
in diesem Hause vorstelle; was konnte er also anders denken, als daß sie
die Gemahlin eines von den Söhnen des Archytas sein müßte? Es ist wahr, er
hätte eben so wohl denken können, daß sie seine wiedergefundene Tochter
sein könnte; aber in solchen Umständen bildet man sich immer das ein, was
man am meisten fürchtet. In der Tat erriet er die Sache aufs erstemal;
Psyche war seit einigen Monaten die Gemahlin des Critolaus.

Unsere Leser sehen nun auf den ersten Blick, was für schöne Gelegenheit zu
pathetischen Beschreibungen und tragischen Auftritten uns dieser kleine
Umstand gibt--was für eine Situation! Den Gegenstand der zärtlichsten
Neigung seines Herzens, seine erste Liebe, nach einer langen schmerzlichen
Trennung unverhofft wieder finden, aber nur dazu wieder finden, um sie in
den Armen eines andern, und was uns nicht einmal das Recht zu klagen, zu
wüten und Rache zu schnauben übrig läßt, in den Armen unsers liebsten
Freundes zu sehen!--Zu gutem Glück für unsern Helden--und für den
Autor--waren diejenigen, welche in diesem Augenblick Zeugen von seiner
Bestürzung waren, keine so passionierte Liebhaber pathetischer Auftritte,
daß sie hätten fähig sein können, an seiner Qual Vergnügen zu finden. Sie
wollten sich ein Vergnügen daraus machen, ihn zu überraschen; aber es
würde grausam gewesen sein, eine Tragödie mit ihm zu spielen, so glücklich
auch am Ende die Entwicklung immer hätte sein mögen. Die zärtliche
Psyche sah etliche Augenblicke seiner Verwirrung zu; aber länger konnte
sie sich nicht zurückhalten. Sie flog ihm mit offnen Armen entgegen, und
indem ihre Freuden-Tränen seine glühende Wangen betauten, hörte er sich
mit einem Namen benennen, der ihre zärtlichste Liebkosungen selbst in
Gegenwart eines Gemahls rechtfertigte.

Wäre die Liebe, welche sie ihm in dem Hain zu Delphi eingeflößt hatte,
weniger platonisch gewesen, so würde die Entdeckung einer Schwester in der
Geliebten seines Herzens nicht so erfreulich gewesen sein, als sie ihm war.
Aber man erinnert sich noch, daß ihre Liebe, so ausnehmend zärtlich sie
auch gewesen war, doch mehr der Liebe, welche die Natur zwischen
Geschwistern von übereinstimmender Gemüts-Art stiftet, als derjenigen
geglichen hatte, welche sich auf die Zauberei eines andern Instinkts
gründet, von dessen fiebrischen Symptomen die ihrige allezeit frei
geblieben war. Sie hatten damals schon ein sonderbares Vergnügen daran
gefunden, sich einzubilden, daß ihre Seelen wenigstens einander
verschwistert seien, da sie nicht Grund genug hatten, so sehr sie es auch
wünschten, die unschuldige Anmutung, welche sie für einander fühlten, der
Würkung der Sympathie des Blutes zu zuschreiben. Agathon befand sich also
über alles was er hätte wünschen können, glücklich, da er, nach den
Erläuterungen, welche ihm gegeben wurden, nicht mehr zweifeln konnte, in
Psyche eine Schwester, welche er nach der ehmaligen Erzählung seines
Vaters für tot gehalten hatte, wieder zu finden, und durch sie ein Teil
einer Familie zu werden, für welche sein Herz bereits so eingenommen war,
daß der Gedanke sich jemals wieder von ihr zu trennen, ihm unerträglich
gewesen sein würde. Nun meine zärtlichen Leserinnen, mangelte ihm, um so
glückselig zu sein, als es Sterbliche sein können, nichts als daß
Archytas--nicht irgend eine liebenswürdige Tochter oder Nichte hatte, mit
der wir ihn vermählen könnten. Aber unglücklicher Weise für ihn hatte
Archytas keine Tochter; und wofern er Nichten hatte, welches wir nicht für
gewiß sagen können, so waren sie entweder schon verheiratet, oder nicht
dazu gemacht, das Bild der schönen Danae, und die Erinnerungen seiner
ehmaligen Glückseligkeit, welche von Tag zu Tag wieder lebhafter in seinem
Gemüte wurden, auszulöschen.

Diese Erinnerungen hatten schon zu Syracus in melancholischen Stunden
wieder angefangen einige Gewalt über sein Herz zu bekommen; der Gram,
wovon seine Seele in der letzten Periode seines Hof-Lebens, ganz
verdüstert und niedergeschlagen wurde, veranlaßte ihn, Vergleichungen
zwischen seinem vormaligen und nunmehrigen Zustande anzustellen, welche
unmöglich anders als zum Vorteil des ersten ausfallen konnten. Er machte
sich selbst Vorwürfe, daß er das liebenswürdigste unter allen Geschöpfen,
in einem Anstoß von schwärmerischem Heldentum, aus so schlechten Ursachen,
auf die bloße Anklage eines so verächtlichen Menschen als Hippias, über
welche sie sich vielleicht, wenn er sie gehört hätte, vollkommen hätte
rechtfertigen können, verlassen habe. Diese Tat, auf welche er sich
damals, da er sie für einen herrlichen Sieg über die unedlere Hälfte
seiner selbst, für ein großes Versöhn-Opfer, welches er der beleidigten
Tugend brachte, ansah, so viel zu gut getan hatte, schien ihm itzt
undankbar und niederträchtig-, es schmerzte ihn, wenn er dachte, wie
glücklich er durch die Verbindung seines Schicksals mit dem ihrigen hätte
werden können; und der Enthusiasmus gewann nichts dabei, wenn er zugleich
dachte, durch was für schimärische Vorstellungen und Hoffnungen er ihn um
seine Privat-Glückseligkeit gebracht habe. Aber der Gedanke, daß er durch
ein so schnödes Verfahren die schöne Danae gezwungen habe, ihn zu
verachten, zu hassen, sich der Zärtlichkeit, die er ihr eingeflößt,
niemals anders als wie einer unglücklichen Schwachheit zu erinnern, deren
Andenken sie mit Gram und Reue erfüllen mußte--dieser Gedanke war ihm ganz
unerträglich; Danae, so sehr sie auch beleidigt war, konnte ihn unmöglich
so sehr verabscheuen, als er in den Stunden, da diese Vorstellungen seine
Vernunft überwältigten, sich selbst verabscheuete. Allein diese Stunden
gingen endlich vorüber, und das ungeduldige Gefühl der gegenwärtigen übel
trug nicht wenig dazu bei, ihm die Ursachen und Umstände seiner Entfernung
von Smyrna in einem so splenetischen Lichte vorzustellen. Die glückliche
Veränderung, welche die Versetzung in den Schoß der liebenswürdigsten
Familie, die vielleicht jemals gewesen ist, in seinen Umständen
hervorbrachte, veränderte notwendiger Weise auch die Farbe seiner
Einbildungs-Kraft. Hätte er Danae nicht verlassen, so würde er weder
seine Schwester gefunden, noch mit dem weisen Archytas persönlich bekannt
worden sein. Diese Folgen seiner tugendhaften Untreue machten den Wunsch,
sie nicht begangen zu haben, unmöglich; aber sie beförderten dagegen einen
andern, der in den Umständen, worin er zu Tarent lebte, sehr natürlich war.
Die heitre Stille, welche in seinem ohnehin zur Freude aufgelegten Gemüt
in kurzem wieder hergestellt wurde; die Freiheit von allen Geschäften und
Sorgen; der Genuß alles dessen, womit die Freundschaft ein gefühlvolles
Herz beseligen kann; der Anblick der Glückseligkeit seines Freundes
Critolaus, welche im Besitz der liebenswürdigen Psyche alle Tage zu
zunehmen schien; der Mangel an Zerstreuungen, wodurch die Seele verhindert
wird, sich in die Sphäre ihrer angenehmsten Ideen und Empfindungen zu
konzentrieren; die natürliche Folge hievon, daß diese Ideen und
Empfindungen desto lebhafter werden müssen--alles dieses vereinigte sich,
ihn nach und nach wieder in Dispositionen zu setzen, welche die
zärtlichste Erinnerungen an die einst so sehr geliebte Danae erweckten,
und ihn von Zeit zu Zeit in eine Art von sanfter wollüstiger Melancholie
setzten, worin sein Herz sich ohne Widerstand in diese zauberischen Szenen
von Liebe und Wonne zurückführen ließ, welche--aus Ursachen, die wir den
Moralisten zu entwickeln überlassen wollen--durch die in seiner Seele
vorgegangene Revolution ungleich weniger von ihrem Reiz verloren hatten,
als die abstraktern und bloß intellektualischen Gegenstände seines
ehmaligen Enthusiasmus. Können wir ihn verdenken, daß er in solchen
Stunden die schöne Danae unschuldig zu finden wünschte--daß er dieses so
oft und so lebhaft wünschte, bis er sich endlich überredete, sie für
unschuldig zu halten--und daß die Unmöglichkeit, ein Gut wieder zu
erlangen, dessen er sich selbst so leichtgläubig und auf eine so verhaßte
Art beraubt hatte, ihn zuweilen in eine Traurigkeit versenkte, die ihm den
Geschmack seiner gegenwärtigen Glückseligkeit verbitterte, und sich nur
desto tiefer in sein Gemüt eingrub, weil er sich nicht entschließen konnte,
sein Anliegen denjenigen anzuvertrauen, denen er, diesen einzigen Winkel
ausgenommen, das Innerste seiner Seele aufzuschließen pflegte--"Wohin uns
diese Vorbereitung wohl führen soll?"--werden vielleicht einige von unsern
scharfsinnigen Lesern denken--"ohne Zweifel wird man uns nun auch die Dame
Danae von irgend einem dienstwilligen Sturmwind herbeiführen lassen,
nachdem uns, ohne zu wissen, wie? das gute Mädchen Psyche, durch einen
wahren Schlag mit der Zauberrute, aus dem Gynäceo des alten Archytas
entgegengesprungen ist -" "Und warum nicht?--nachdem wir nun einmal wissen,
wie glücklich wir unsern Freund Agathon dadurch machen könnten" "aber wo
bleibt alsdann das Vergnügen der überraschung, welches andre Autoren ihren
Lesern mit so vieler Mühe und Kunst zu zuwenden pflegen." "Es bleibt aus,
meine Herren; und Diderot kann Ihnen, wenn Sie wollen, sagen, warum Sie
wenig oder nichts dabei verlieren werden. Inzwischen ist uns lieb,
erinnert worden zu sein, daß wir Ihnen einige Nachricht schuldig sind, wie
Psyche (welche wir, in einen Ganymed verkleidet, in den Händen eines
Seeräubers verlassen hatten,) dazu gekommen sei, die Gemahlin des
Critolaus und die Schwester Agathons zu werden. Ein kurzer Auszug aus der
Erzählung, welche dem Agathon teils von seiner Schwester selbst, teils von
ihrer Amme gemacht wurde, (und die letzte hatte den Fehler, ein wenig
weitläufiger in ihren Erzählungen zu sein, als wir selbst,) wird
hinlänglich sein, dero gerechte Wissens-Begierde über diesen Punkt zu
befriedigen."


Ein heftiger Sturm ist ein sehr unglücklicher Zufall für Leute, die sich
mitten auf der offenen See, nur durch die Dicke eines Brettes von einem
feuchten Tode geschieden finden; aber für die Geschichtschreiber der
Helden und Heldinnen ist es beinahe der glücklichste unter allen Zufällen,
welche man herbeibringen kann, um sich aus einer Schwierigkeit
herauszuhelfen. Es war also ein Sturm, (und Sie haben sich nicht darüber
zu beschweren, meine Herren, denn es ist, unsers Wissens, der erste in
dieser Geschichte,) der die liebenswürdige Psyche aus der fürchterlichen
Gewalt eines verliebten Seeräubers rettete. Das Schiff scheiterte an der
Italienischen Küste, einige Meilen von Capua; und Psyche, von den Nereiden
oder Liebes-Göttern beschirmt, war die einzige Person auf dem Schiffe,
welche auf einem Brette glücklich von den Zephyrn ans Land getragen wurde.
Die Zephyrn allein wären hiezu vielleicht nicht hinreichend gewesen; aber
mit Hülfe einiger Fischer, welche glücklicher Weise bei der Hand waren,
hatte die Sache keine Schwierigkeit. Das war nun alles sehr glücklich;
aber es ist nichts in Vergleichung mit dem, was nun folgen wird. Einer
von den Fischern (der mitleidigste ohne Zweifel) führte die verkleidete
Psyche, welche sehr vonnöten hatte, sich zu trocknen, und von dem
ausgestandenen Ungemach zu erholen, zu seinem Weib in seine Hütte. Die
Fischerin, (eine hübsche, dicke Frau von drei oder vier und vierzig
Jahren) welche die Miene hatte, in ihrer Jugend kein unempfindliches Herz
gehabt zu haben, bezeugte ungemeines Mitleiden mit dem Unglück eines so
liebenswürdigen jungen Herrn, als die schöne Psyche zu sein schien; sie
pflegte seiner, so gut es nur immer möglich war, und konnte sich nicht
satt an ihm sehen. Es war ihr immer, sagte sie, als ob sie schon einmal
ein solches Gesicht gesehen hätte, wie das seinige; und sie konnte es kaum
erwarten, bis der schöne Fremdling im Stande war, nach eingeführter
Gewohnheit, seine Geschichte zu erzählen. Aber Psyche hatte der Ruhe
vonnöten; sie wurde also zu Bette gebracht; und bei dieser Gelegenheit
entdeckte die Fischerin, welche auf die kleinsten Umstände aufmerksam war,
daß der vermeinte Jüngling ein überaus schönes Mädchen--aber doch nicht
mehr so schön war, als sie in ihren Manns-Kleidern ausgesehen hatte. Es
war natürlich, über diese Verwandlung im ersten Augenblick ein wenig
mißvergnügt zu sein; aber dieser kleine vorübergehende Unmut verwandelte
sich bald in die lebhafteste und zärtlichste Freude--kurz, es entdeckte
sich, daß die Fischerin Clonarion, die Amme der schönen Psyche war, welche,
mit Hülfe dieses Namens, ihrer geliebten Amme sich wieder eben so gut zu
erinnern glaubte, als diese aus den Gesichts-Zügen der Psyche, aus ihrer
ähnlichkeit mit ihrer Mutter, Musarion, und besonders aus einem kleinen
Mal, welches sie unter der linken Brust hatte, ihre allerliebste
Pflegtochter erkannte. Clonarion war die vertrauteste Sklavin der Mutter
unsrer Heldin gewesen, und ihrer Pflege wurde nach dem Tode derselben die
kleine Psyche, oder Philoclea, wie sie eigentlich hieß, anvertraut; denn
Psyche war nur ein Liebkosungs-Name, den ihr ihre Amme aus Zärtlichkeit
gab, und welchen die kleine Philoclea, weil sie sich niemals anders als
Psyche oder Psycharion nennen gehört hatte, in der Folge als ihren
würklichen Namen angab. Stratonicus hatte der Clonarion mit der noch
unmündigen Psyche eine hinlängliche Summe Gelds übergeben, und befohlen,
sie in der Nähe von Corinth zu erziehen, weil er dort die beste
Gelegenheit hatte, sie von Zeit zu Zeit unerkannt zu sehen. Die junge
Psyche, die Freude und der Stolz ihrer zärtlichen Amme, von der sie wie
ihr eigenes Kind geliebet wurde, wuchs so schön heran, daß man nichts
liebenswürdigers sehen konnte. Die Hoffnung des Gewinsts reizte endlich
einige Bösewichter, sie, da sie ungefähr fünf bis sechs Jahre alt war,
heimlich wegzustehlen, und an die Priesterin zu Delphi zu verkaufen. Ein
Halsgeschmeide, woran ein kleines Bildnis ihrer Mutter hing, und womit die
junge Psyche allezeit geschmückt zu sein pflegte, wurde zugleich mit ihr
verkauft, und diente in der Folge zur Bestätigung, daß sie würklich die
Tochter des Stratonicus sei. Clonarion raufte sich einen guten Teil ihrer
Haare aus, da sie ihre Psyche vermißte; und nachdem sie eine ziemliche
Zeit zugebracht hatte, sie allenthalben (außer da, wo sie würklich war,)
zu suchen, wußte sie kein ander Mittel, sich bei ihrem Herrn von der
Schuld einer strafbarn Nachlässigkeit entledigen zu können, als vorzugeben,
daß sie gestorben sei; und Stratonicus konnte desto leichter hintergangen
werden, weil er damals eben in Geschäfte verwickelt war, welche ihn lange
Zeit hinderten, nach Corinth zu kommen. Inzwischen hatte die allenthalben
herumirrende Clonarion eine Menge Abenteuer, welche sich endlich damit
endigten, daß sie die Gattin eines schon ziemlich bejahrten Fischers aus
der Gegend von Capua wurde, in dessen Augen sie damals wenigstens so schön
als Thetis und Galathea war. Sie hatte ihre geliebte Pflegtochter in so
zärtlichem Andenken behalten, daß sie einer Tochter, von der sie selbst
entbunden wurde, den Namen Psyche gab, bloß um sich derselben beständig zu
erinnern. Der Tod dieses Kindes, der beinahe in eben dem Alter erfolgte,
worin Psyche geraubt worden war, riß die alte Wunde wieder auf; und da ihr
durch diese Umstände das Bild der jungen Psyche immer gegenwärtig blieb,
so hatte sie desto weniger Mühe, sie wieder zu erkennen, ungeachtet
vierzehn oder fünfzehn Jahre einige Veränderung in ihren Gesichts-Zügen
gemacht haben mußten. Unsre Heldin vermehrte also nunmehr die kleine
Familie des alten Fischers, welcher seinen Aufenthalt veränderte, und in
die Gegend von Tarent zog, wo er sie, weil sie alle unbekannt waren, für
seine Tochter ausgeben konnte. Psyche bequemte sich so gut in die
schlechten Umstände, worin sie bei ihrer Pflegmutter leben mußte, als ob
sie niemals in bessern gelebt hätte, und ließ sich nichts angelegner sein,
als ihr durch emsiges Arbeiten die Last ihres Unterhalts zu erleichtern.
Endlich fügte es sich zufälliger Weise, daß der junge Critolaus unsre
Heldin zu Gesicht bekam, welche in ihrem bäurischen, aber reinlichen Anzug,
und mit frischen Blumen geschmückt, demjenigen, dem sie in einem Haine
begegnete, eher eine von den Gespielen der Diana, als die Tochter eines
armen Fischers scheinen mußte. Critolaus faßte die heftigste Leidenschaft
für sie; weil seine Liebe eben so tugendhaft, als zärtlich war, so brachte
er bald die mitleidige Clonarion auf seine Seite; und da Psyche selbst
nunmehr wußte, daß Agathon ihr Bruder sei, so war kein Grund, warum sie
gegen die Zuneigung eines so liebenswürdigen jungen Menschen unempfindlich
hätte sein sollen. In der Tat war Critolaus in mehrern Absichten der
zweite Agathon; allein die Umstände ließen so wenig Hoffnung zu, daß eine
rechtmäßige Verbindung zwischen ihnen möglich sein könnte, daß Psyche sich
verbunden hielt, ihm dasjenige, was zu seinem Vorteil in ihrem Herzen
vorging, desto sorgfältiger zu verbergen, je entschlossener er war, seiner
Liebe alle andre Betrachtungen aufzuopfern. Endlich wußte er sich nicht
anders zu helfen, als daß er das Geheimnis seines Herzens demjenigen
entdeckte, dessen Beifall er am wenigsten zu erhalten hoffen konnte. Die
ganze Beredsamkeit der begeisterten Liebe würde über einen Weisen, wie
Archytas war, wenig vermocht haben; aber Critolaus sagte so viel
außerordentliches von dem Geist und der Tugend seiner Geliebten, daß sein
Vater endlich aufmerksam zu werden anfing. Archytas hatte die Macht des
Dämons der Liebe nie erfahren; aber er war menschlich, gütig, und über die
gemeine Vorurteile und Absichten erhaben. Ein schönes und tugendhaftes
Mädchen war in seinen Augen ein sehr edles Geschöpfe, dessen Wert durch
den Schatten der Niedrigkeit und Armut nur desto mehr erhaben wurde. Kaum
wurde der junge Critolaus gewahr, daß sein Vater zu wanken anfing; so
wagte er's, ihm das Geheimnis der Geburt seiner Geliebten zu entdecken,
welches ihm Clonarion, in Hoffnung, daß es gute Folgen haben könnte, ohne
Wissen der schönen Psyche vertraut hatte. Archytas, welchem Stratonicus
ehmals seine heimliche Verbindung mit Musarion entdeckt hatte, war über
diesen Zufall nicht wenig erfreut; er wünschte nichts mehr, als daß
diejenige, für welche sein Sohn so heftig eingenommen war, die Tochter
seines liebsten Freundes sein möchte; aber er wollte gewiß sein, daß sie
es sei; und hiezu schien ihm das bloße Zeugnis eines Fischer-Weibs zu
wenig. Er veranstaltete es, daß er Psychen und ihre angebliche Amme
selbst zu sehen bekam; er glaubte, in der Gesichtsbildung der ersten
einige Züge von ihrem Vater zu entdecken; und die Unterredung, die er mit
ihr hatte, bestätigte den günstigen Eindruck, den ihr Anblick auf sein
Gemüt gemacht hatte. Er ließ sich ihre Geschichte mit allen Umständen
erzählen, und fand nun immer weniger Ursache, an der Wahrheit dessen zu
zweifeln, was sein Sohn auf die bloße Aussage der Amme, ohne die mindeste
Untersuchung, für die ausgemachteste Wahrheit hielt. Das Halsgeschmeide,
welches Psyche in den Händen der Pythia hatte zurücklassen müssen, schien
ihm allein noch abzugehen, um ihn gänzlich zu überzeugen. Er schickte
deswegen einen seiner Vertrauten nach Delphi ab; und die Pythia, da sie
sah, daß ein Mann von solcher Wichtigkeit sich des Schicksals ihrer
ehemaligen Sklavin annahm, machte keine Schwierigkeiten, dieses
Merkzeichen der Abkunft derselben auszuliefern. Nunmehr glaubte Archytas
berechtigt zu sein, Psyche als die Tochter eines Freundes, dessen Andenken
ihm teuer war, anzusehen; und nun hatte er selbst nichts angelegners, als
sie je eher je lieber in seine Familie zu verpflanzen. Sie wurde also die
Gemahlin des glücklichen Critolaus; und diese Verbindung gab natürlicher
Weise neue Beweggründe, sich der Befreiung Agathons mit so lebhaftem Eifer
anzunehmen, als es, obenerzählter maßen, geschehen war.




VIERTES KAPITEL

Etwas, das man ohne Divination vorhersehen konnte


Agathon hatte zwar viel früher zu leben angefangen, als es gemeiniglich
geschieht; aber er war doch noch lange nicht alt genug, um sich von der
Welt gänzlich zurückzuziehen. Indessen hielt er sich, nachdem er schon
zu zweien malen eine nicht unansehnliche Rolle auf dem Schauplatz des
öffentlichen Lebens gespielt, und sie für einen jungen Mann gut genug
gespielt hatte, berechtiget, so lange er keinen besondern Beruf erhalten
würde, seiner Nation zu dienen, oder so lange sie seiner Dienste nicht
schlechterdings vonnöten hätte, sich in den Zirkel des Privat-Lebens
zurückzuziehen; und hierin stimmten die Grundsätze des weisen Archytas
völlig mit seiner Art zu denken überein. "Ein Mann von mehr als
gewöhnlicher Fähigkeit", sagte Archytas, "hat zu tun genug, an seiner
eigenen Besserung und Vervollkommnung zu arbeiten; er ist am
geschicktesten zu dieser Beschäftigung, nachdem er durch eine Reihe
beträchtlicher Erfahrungen sich selbst und die Welt kennen zu lernen
angefangen hat; und indem er solchergestalt an sich selbst arbeitet,
arbeitet er würklich für die Welt, indem er dadurch um soviel geschickter
wird, seinen Freunden, seinem Vaterland, und den Menschen überhaupt,
nützlich zu sein, und es sei nun mit vielem oder wenigem Gepränge, in
einem größern oder kleinern Zirkel, auf eine öffentliche oder nicht so
merkliche Art, zum allgemeinen Besten des Systems mitzuwürken."

Dieser Maxime zufolge beschäftigte sich Agathon, nachdem er zu Tarent
einheimisch zu sein angefangen hatte, hauptsächlich mit den mathematischen
Wissenschaften, mit Erforschung der Kräfte und Eigenschaften der
natürlichen Dinge, mit der Astronomie, kurz mit demjenigen Teil der
spekulativen Philosophie, welche uns, mit Hülfe unsrer Sinnen und
behutsamer Vernunft-Schlüsse zu einer zwar mangelhaften, aber doch
zuverlässigen Erkenntnis der Natur und ihrer majestätisch-einfältigen,
weisen und wohltätigen Gesetze führt. Er verband mit diesen erhabenen
Studien, worin ihm die Anleitung des Archytas vorzüglich zu statten kam,
das Lesen der besten Schriftsteller von allen Klassen, insonderheit der
Geschichtschreiber, und das Studium des Altertums, welches er, so wie die
Verbal-Kritik, für eine der edelsten und nützlichsten, oder für eine der
nichtswürdigsten Spekulationen hielt, je nachdem es auf eine
philosophische oder bloß mechanische Art getrieben werde. Nicht selten
setzte er diese anstrengenden Beschäftigungen bei Seite, um, wie er sagte,
mit den Musen zu scherzen; und der natürliche Schwung seines Genie machte
ihm diese Art von Gemüts-Ergötzung so angenehm, daß er Mühe hatte sich
wieder von ihr loszureißen. Auch die Malerei und die Musik, die
Schwestern der Dichtkunst, deren höhere Theorie sich in den
geheimnisvollesten Tiefen der Philosophie verliert, hatten einen Anteil an
seinen Stunden, und halfen ihm, das allzueinförmige in den Beschäftigungen
seines Geistes, und die schädlichen Folgen, die aus der Einschränkung
desselben auf eine einzige Art von Gegenständen entspringen, zu vermeiden.

Die häufigen Unterredungen, welche er mit dem weisen Archytas hatte,
trugen viel und vielleicht das Meiste bei, seinen Geist in den
tiefsinnigern Spekulationen über die metaphysischen Gegenstände, von
Abwegen zurückzuhalten. Agathon, welcher ehmals, da alles in seiner Seele
zur Empfindung wurde, seinen Beifall zu leicht überraschen ließ; fand itzt,
seitdem er mit kälterm Blute philosophierte, beinahe alles zweifelhaft;
die Zahl der menschlichen Begriffe und Meinungen, welche die Probe einer
ruhigen, gleichgültigen und genauen Prüfung aushielten, wurde alle Tage
kleiner für ihn; die Systeme der dogmatischen Weisen verschwanden nach und
nach, und zerflossen vor den Strahlen der prüfenden Vernunft, wie die
Luft-Schlösser und Zauber-Gärten, welche wir zuweilen an Sommer-Morgen im
düftigen Gewölke zu sehen glauben, vor der aufgehenden Sonne. Der weise
Archytas billigte den bescheidnen Skeptizismus seines Freundes; aber indem
er ihn von allzukühnen Reisen im Lande der Ideen zu den wenigen
einfältigen, aber desto schätzbarern Wahrheiten zurückführte, welche der
Leitfaden zu sein scheinen, an welchem uns der allgemeine Vater der Wesen
durch diesen Labyrinth des Lebens sicher hindurchführen will--verwahrte er
ihn vor dieser gänzlichen Ungewißheit des Geistes, welche eine eben so
große Unentschlossenheit und Mutlosigkeit des Willens nach sich zieht, und
dadurch eine Quelle so vieler schädlicher Folgen für die Tugend und
Religion, und also für die Ruhe und Glückseligkeit unsers Lebens wird, daß
der Zustand des bezaubertesten Enthusiasten dem Zustand eines solchen
Weisen vorzuziehen ist, der aus immerwährender Furcht zu irren, sich
endlich gar nichts mehr zu bejahen oder zu verneinen getraut. In der Tat
gleicht die Vernunft in diesem Stück ein wenig dem Doktor Peter Rezio von
Aguero; sie hat gegen alles, womit unsre Seele genährt werden soll, soviel
einzuwenden, daß diese endlich eben sowohl aus Inanition verschmachten
müßte, wie die unglücklichen Statthalter der Insel Barataria bei der Diät,
wozu sie das verwünschte Stäbchen ihres allzuskrupulosen Leibarztes
verurteilte. Das beste ist in diesem Falle, sich wie Sancho zu helfen.
Der Instinkt und dieses am wenigsten betrügliche Gefühl des Wahren und
Guten, welches die Natur allen Menschen zugeteilt hat, können uns am
besten sagen, woran wir uns halten sollen; und dahin müssen, früher oder
später, die größesten Geister zurückkommen, wenn sie nicht das Schicksal
haben wollen, wie die Taube des Altvaters Noah allenthalben
herumzuflattern und nirgends Ruhe zu finden.

Bei allen diesen manchfaltigen Beschäftigungen, womit unser ehmaliger Held
seine Muße zu seinem eigenen Vorteil erfüllte, blieben ihm doch viele
Stunden übrig, welche der Freundschaft und dem geselligen Vergnügen
gewidmet waren--und für seine Ruhe nur allzuviele, in denen eine Art von
zärtlicher Schwermut, deren er sich nicht erwehren konnte, seine Seele in
die bezauberten Gegenden zurückführte, deren wir im vorigen Kapitel schon
Erwähnung getan haben. In einer solchen Gemüts-Disposition liebt man
vorzüglich den Aufenthalt auf dem Lande, wo man Gelegenheit hat, seinen
Gedanken ungestörter nachzuhängen, als unter den Pflichten und
Zerstreuungen des geselligern Stadt-Lebens. Agathon zog sich also öfters
in ein Landgut zurück, welches sein Bruder Critolaus, ungefähr zwo Stunden
von Tarent besaß, und wo er sich in seiner Gesellschaft zuweilen mit der
Jagd belustigte. Hier geschah es einsmals, daß sie von einem Ungewitter
überrascht wurden, welches wenigstens so heftig war, als dasjenige,
wodurch, auf Veranstaltung zwoer Göttinnen, Aeneas und Dido in die
nämliche Höhle zusammengescheucht wurden-Aber da zeigte sich nirgends
keine wirtschaftliche Höhle, welche ihnen einigen Schirm angeboten hätte;
und das schlimmste war, daß sie sich von ihren Leuten verloren hatten, und
eine geraume Zeit nicht wußten, wo sie waren; ein Zufall, der an sich
selbst wenig außerordentliches hat, aber wie man sehen wird, eines der
glücklichsten Abenteuer veranlassete, das unserm Helden jemals zugestoßen
ist. Nachdem sie sich endlich aus dem Walde herausgefunden hatten,
erkannte Critolaus die Gegend wieder; aber er sah zugleich, daß sie
etliche Stunden weit von Haus entfernt waren. Das Ungewitter wütete noch
immer fort, und es fand sich kein näherer Ort, wohin sie ihre Zuflucht
nehmen konnten, als ein einsames Landhaus, welches seit mehr als einem
Jahr von einer fremden Dame von sehr sonderbarem Charakter bewohnt wurde.
Man vermutete aus einigen Umständen, daß sie die Witwe eines Mannes von
Ansehen und Vermögen sein müsse; aber es war bisher unmöglich gewesen,
ihren Namen und vorigen Aufenthalt, oder was sie bewogen haben könnte, ihn
zu verändern, und in einer gänzlichen Abgeschiedenheit von der Welt zu
leben, auszuforschen. Das Gerüchte sagte Wunder von ihrer Schönheit;
indessen war doch niemand der sich rühmen konnte, sie gesehen zu haben.
überhaupt hatte man eine Zeit lang vieles und desto mehr von ihr
gesprochen, je weniger man wußte; allein da sie fest entschlossen schien,
sich nichts darum zu bekümmern; so hatte man endlich auf einmal aufgehört
von ihr zu reden, und es der Zeit überlassen, das Geheimnis, das unter
dieser Person und ihrer sonderbaren Lebens-Art verborgen sein möchte, zu
entdecken. "Vielleicht", sagte Critolaus, "ist es eine zweite Artemisia,
die sich, ihrem Schmerz ungestört nachzuhängen, in dieser Einöde lebendig
begraben will. Ich bin schon lange begierig gewesen sie zu sehen; dieser
Sturm hoff' ich, soll uns Gelegenheit dazu geben. Sie kann uns eine
Zuflucht in ihrem Hause nicht versagen; und wenn wir nur einmal drinnen
sind, so wollen wir wohl Mittel finden, vor sie zu kommen, ob wir gleich
die ersten in dieser Gegend wären, denen dieses Glück zu Teil würde." Man
kann sich leicht vorstellen, daß Agathon, so gleichgültig er auch seit
seiner Entfernung von der schönen Danae gegen die Damen war, dennoch
begierig werden mußte, eine so außerordentliche Person kennen zu lernen.
Sie kamen vor dem äußersten Tor eines Hauses an, welches einem
verwünschten Schlosse ähnlicher sah, als einem Landhause in Jonischem oder
Corinthischem Geschmacke. Das schlimme Wetter, ihr anhaltendes Bitten,
und vielleicht auch ihre gute Miene brachte zuwegen, daß sie eingelassen
wurden. Einige alte Sklaven führten sie in einen Saal, wo man sie mit
vieler Freundlichkeit nötigte, alle die kleinen Dienste anzunehmen, welche
sie in dem Zustande, worin sie waren, nötig hatten. Die Figur dieser
Fremden schien die Leute des Hauses in Verwundrung zu setzen, und die
Meinung von ihnen zu erwecken, daß es Personen von Bedeutung sein müßten;
aber Agathon, dessen Aufmerksamkeit bald durch einige Gemälde angezogen
wurde, womit der Saal ausgeziert war, wurde nicht gewahr, daß er von einer
Sklavin mit noch weit größerer Aufmerksamkeit betrachtet wurde. Diese
Sklavin, (wie Critolaus in der Folge erzählte, denn anfangs hielt er's
bloß für eine Würkung der Schönheit unsers Helden) schien einer Person
gleich zu sehen, welche nicht weiß, ob sie ihren Augen trauen soll; und
nachdem sie ihn einige Minuten mit verschlingenden Blicken angestarrt
hatte, verlor sie sich auf einmal aus dem Saal. Sie lief so hastig dem
Zimmer ihrer Gebieterin zu, daß sie ganz außer Atem kam. "Und wer meinen
sie wohl, gnädige Frau", keuchte sie, "daß unten im Saal ist? Hat es
ihnen ihr Herz nicht schon gesagt?--Diana sei mir gnädig! Was für ein
Zufall das ist! Wer hätte sich das nur im Traum einbilden können? Ich
weiß vor Erstaunen nicht wo ich bin -" "In der Tat deucht mich, du bist
nicht recht bei Sinnen", sagte die Dame ein wenig betroffen; "und wer ist
denn unten im Saal?"--"O! bei den Göttinnen! ich hätte es bei nahe
meinen eignen Augen nicht geglaubt--aber ich erkannte ihn auf den ersten
Blick, ob er gleich ein wenig stärker worden ist; es ist nichts
gewisser--er ist es, er ist es!"--"Plage mich nicht länger mit deinem
geheimnisvollen Galimathias", rief die Dame, immer mehr bestürzt; "rede
Närrin, wer ist es?"--"Aber sie erraten doch auch gar nichts, gnädige
Frau--wer ist es?--Ich sage ihnen, daß Agathon unten im Saal ist, ja
Agathon, es kann nichts gewisser sein--er selbst, oder sein Geist, eines
von beiden unfehlbar, denn die Mutter die ihn geboren hat, kann ihn nicht
besser kennen, als ich ihn erkannt habe, sobald er den Mantel von sich
warf, worin er anfangs eingewickelt war"--Das gute Mädchen würde noch
länger in diesem Ton fortgeplaudert haben, denn ihr Herz überfloß von
Freude--wenn sie nicht auf einmal wahrgenommen hätte, daß ihre Gebieterin
ohnmächtig auf ihren Sopha zurückgesunken war. Sie hatte einige Mühe sie
wieder zu sich selbst zu bringen; endlich erholte sich die schöne Dame
wieder, aber nur, um über sich selbst zu zörnen, daß sie sich so
empfindlich fand. "Sie machen einem ja ganz bange, Madam", rief die
Sklavin--"wenn sie schon bei seinem bloßen Namen in Ohnmacht fallen, wie
wird es ihnen erst werden, wenn sie ihn selbst sehen?--Soll ich gehen, und
ihn geschwinde heraufholen?"--"Ihn heraufholen?" versetzte die Dame; "nein
wahrhaftig; ich will ihn nicht sehen!"--"Sie wollen ihn nicht sehen,
Madam? Was für ein Einfall! Aber es kann nicht ihr Ernst sein! O! wenn
sie ihn nur sehen sollten--er ist so schön--so schön als er noch nie
gewesen ist, deucht mich; ich hätte ihn mit den Augen aufessen mögen; sie
müssen ihn sehen, Madam--das wäre ja unverantwortlich, wenn sie ihn wieder
fortgehen lassen wollten, ohne daß er sie gesehen hätte--wofür hätten sie
sich dann -" "Schweige, nichts weiter", rief die Dame; "verlaß mich--aber
untersteh dich nicht wieder in den Saal hinunter zu gehen; wenn er es ist,
so will ich nicht, daß er dich erkennen soll; ich hoffe doch nicht, daß du
mich schon verraten haben solltest?"--"Nein, Madam", erwiderte die
Vertraute; "er hat mich noch nicht wahrgenommen, denn er schien ganz in
die Betrachtung der Gemälde vertieft, und mich deuchte, ich hörte ihn ein
oder zweimal seufzen; vermutlich -" "Du bist nicht klug", fiel ihr die
Dame ins Wort; "verlaß mich--ich will ihn nicht sehen, und er soll nicht
wissen, in wessen Hause er ist; wenn er's erfährt, so hast du eine
Freundin verloren"--die Sklavin entfernte sich also, in Hoffnung, daß ihre
Gebieterin sich wohl eines bessern besinnen würde, und--die schöne Danae
blieb allein.


Eine Erzählung alles dessen, was in ihrem Gemüte vorging, würde etliche
Bogen ausfüllen, ob es gleich weniger Zeit als sechs Minuten einnahm.--Was
für ein Streit! Was für ein Getümmel von widerwärtigen Bewegungen! Sie
hatte ihn bis auf diesen Augenblick so zärtlich geliebt--und glaubte itzt
zu fühlen, daß sie ihn hasse--Sie fürchtete sich vor seinem Anblick--und
konnte ihn kaum erwarten. Was hätte sie vor einer Stunde gegeben, diesen
Agathon zu sehen, der, auch undankbar, auch ungetreu, über ihre ganze
Seele herrschte; dessen Verlust ihr alle Vorzüge ihres ehmaligen Zustandes,
den Aufenthalt zu Smyrna, ihre Freunde, ihre Reichtümer, unerträglich
gemacht hatte--dessen Bild, mit allen den zauberischen Erinnerungen ihrer
ehmaligen Glückseligkeit, das einzige Gut, das einzige Vergnügen war,
welches sie noch zu empfinden fähig war. Aber nun da sie wußte, daß es in
ihrer Gewalt war, ihn wieder zu sehen, wachte auf einmal ihr ganzer Stolz
auf, und schien etliche Augenblicke sich nicht entschließen zu können ihm
zu vergeben. Und wenn auch einen Augenblick darauf die Liebe wieder die
Oberhand erhielt; so stürzte sie die Furcht, ihn unempfindlich zu finden,
sogleich wieder in die vorige Verlegenheit. Zu allem diesem kam noch eine
andre Betrachtung, welche vielleicht bei der schönen Danae
allzuspitzfündig scheinen könnte, wenn wir nicht zu ihrer Rechtfertigung
sagen müßten, daß die Flucht unsers Helden, die Entdeckung der Ursachen,
welche ihn zu einem so gewaltsamen Entschluß getrieben, der Gedanke daß
ihre eigene Fehltritte sie in den Augen des einzigen Mannes, den sie
jemals geliebt hatte, verächtlich gemacht--eine Veränderung in ihrer
ganzen Denkens-Art hervorgebracht hatte, wozu sie durch den Umgang mit
Agathon und jene Seelen-Mischung, wovon wir bereits im fünften Buche
gesprochen haben, vorbereitet worden war. Danae ließ sich durch die
Vorwürfe, welche sie sich selbst zu machen hatte, und von denen vielleicht
ein guter Teil auf ihre Umstände fiel, nicht von dem edeln Vorsatz
abschrecken, sich in einem Alter, wo dieser Vorsatz noch ein Verdienst in
sich schloß, der Tugend zu widmen. In der Tat hatte eine Art von
verliebter Verzweiflung den größesten Anteil an dem außerordentlichen
Schritt, sich aus einer Welt, worin sie angebetet wurde, freiwillig in
eine Einöde zu verbannen, wo die Freiheit, sich mit ihren Empfindungen zu
unterhalten, das einzige Vergnügen war, welches sie für den Verlust alles
dessen, was sie aufopferte, entschädigen mußte. Aber es gehörte doch eine
große, und zur Tugend gebildete Seele dazu, um in den glänzenden Umständen,
worin sie lebte, einer solchen Verzweiflung fähig zu sein, und in einem
Vorsatz auszuhalten, unter welchem eine jede schwächere Seele gar bald
hätte erliegen müssen. Wäre Danae nur wollüstig gewesen, so würde sie zu
Smyrna, und allenthalben Gelegenheit genug gefunden haben, sich wegen des
Verlusts ihres Liebhabers zu trösten. Aber ihre Liebe war, wie man sich
vielleicht noch erinnern wird, von einer edlern Art, und so nahe mit der
Liebe der Tugend selbst verwandt, daß wir Ursache haben, zu vermuten, daß
in der gänzlichen Abgeschiedenheit, worin unsre Heldin lebte, jene sich
endlich gänzlich in dieser verloren haben würde. Allein eben darum, weil
ihre Liebe zur Tugend aufrichtig war, machte sie sich ein gerechtes
Bedenken, bei dem Bewußtsein der unfreiwilligen Schwachheit ihres Herzens
für den allzuliebenswürdigen Agathon, sich der Gefahr auszusetzen, durch
eine nur allzumögliche Wiederkehr seiner ehmaligen Empfindungen mit dahin
gerissen zu werden; ein Gedanke, der ohne eine übertriebne Meinung von
ihren Reizungen zu haben, in ihr entstehen konnte, und durch das Mißtrauen
in sich selbst, womit die wahre Tugend allezeit begleitet ist, kein
geringes Gewicht erhalten mußte. Solchergestalt kämpften Liebe, Stolz und
Tugend für und wider das Verlangen, den Agathon zu sehen, in ihrem
unschlüssigen Herzen--mit welchem Erfolg läßt sich leicht erraten. Die
Liebe müßte nicht Liebe sein, wenn sie nicht Mittel fände, den Stolz und
die Tugend selbst endlich auf ihre Seite zu bringen. Sie flößte jenem die
Begierde ein, zu sehen wie sich Agathon halten würde, wenn er so plötzlich
und unerwartet der einst so sehr geliebten, und so grausam beleidigten
Danae unter die Augen käme; und munterte diese auf, sich selbst Stärke
genug zu zutrauen, von den Entzückungen, in welche er vielleicht bei
diesem Anblick geraten möchte, nicht zu sehr gerührt zu werden. Kurz;
der Erfolg dieses innerlichen Streites war, daß sie eben im Begriff war,
ihre Vertraute (die einzige Person, welche sie bei ihrer Entfernung von
Smyrna mit sich genommen hatte) hereinzurufen, um ihr die nötige
Verhaltungs-Befehle zu geben; als diese Sklavin selbst hereintrat, und
ihrer Dame sagte, daß die beiden Fremden durch einen von den Sklaven, von
denen sie bedient worden waren, auf eine sehr dringende Art um die
Erlaubnis anhalten ließen, vor die Frau des Hauses gelassen zu
werden--Neue Unentschlossenheit, über welche sich niemand wundern wird,
der das weibliche Herz kennt. In der Tat klopfte der guten Danae das
ihrige in diesem Augenblick so stark, daß sie nötig hatte, sich vorher in
eine ruhigere Verfassung zu setzen, ehe sie es einer so schweren Probe
auszustellen sich getrauen durfte.

Unterdessen, bis diese schöne Dame mit sich selbst einig wird, wozu sie
sich entschließen, und wie sie sich bei einer so erwünschten, und so
gefürchteten Zusammenkunft verhalten wolle, kehren wir einen Augenblick zu
unserm Helden in den Saal zurück. Je mehr Agathon die Gemälde betrachtete,
womit die Wände desselben behänget waren, je lebhafter wurde die
Einbildung, daß er sie in dem Landhause der Danae zu Smyrna gesehen habe.
Allein er konnte sich so wenig vorstellen, wie sie von dem Orte, wo er sie
vor zweien Jahren gesehen hätte, hieher gekommen sein sollten, daß er für
weniger unmöglich hielt, von seiner Einbildung betrogen zu werden. Zudem
konnte ja der nämliche Meister unterschiedliche Kopien von seinen Stücken
gemacht haben. Aber wenn er wieder die Augen auf ein Stück heftete,
welches die Göttin Luna vorstellte, wie sie mit Augen der Liebe den
schlafenden Endymion betrachtet--so glaubte er es so gewiß für das
nämliche zu erkennen, vor welchem er in einem Garten-Saal der Danae zu
Smyrna oft Viertelstunden lang in bewundernder Entzückung gestanden, daß
es ihm unmöglich war, seiner überzeugung zu widerstehen. Die Verwirrung,
in die er dadurch gesetzt wurde, ist unbeschreiblich--Sollte Danae--aber
wie könnte das möglich sein?--Und doch schien alles das Sonderbare, was
ihm Critolaus von der Dame dieses Hauses gesagt hatte, den Gedanken zu
bekräftigen, der in ihm aufstieg, und den er sich kaum auszudenken
getrauete. Die schöne Danae hätte zufrieden sein können, wenn sie gesehen
hätte, was in seinem Herzen vorging. Er hätte nicht erschrockner sein
können, vor das Antlitz einer beleidigten Gottheit zu treten, als er es
vor dem Gedanken war, sich dieser Danae darzustellen, welche er seit
geraumer Zeit gewohnt war, sich wieder so unschuldig vorzustellen, als sie
ihm damals, da er sie verließ, verächtlich und hassenswürdig schien.
Allein das Verlangen sie zu sehen, verschlang endlich alle andre
Empfindungen, von denen sein Herz erschüttert wurde. Seine Unruhe war so
sichtbar, daß Critolaus sie bemerken mußte. Agathon würde besser getan
haben, ihm die Ursache davon zu entdecken; aber er tat es nicht, und
behalf sich mit der allgemeinen Ausflucht, daß ihm nicht wohl sei. Dem
ungeachtet bezeugte er ein so ungeduldiges Verlangen, die Dame des Hauses
zu sehen, daß Critolaus aus allem was er an ihm wahrnahm, zu mutmaßen
anfing, daß irgend ein Geheimnis darunter verborgen sein müsse, dessen
Entwicklung er begierig erwartete. Inzwischen kam der Sklave, den sie
abgeschickt hatten, sie bei seiner Gebieterin zu melden, mit der Antwort
zurück, daß er Befehl habe sie in ihr Zimmer zuführen. Und hier ist es,
wo wir mehr als jemals zu wünschen versucht sind, daß dieses Buch von
niemand gelesen werden möchte, der keine schönen Seelen glaubt. Die
Situation, worin man unsern Helden in wenigen Augenblicken sehen wird, ist
vielleicht eine von den delikatesten, in welche man in seinem Leben kommen
kann. Wäre hier die Rede von solchen phantasierten Charaktern, wie
diejenige, welche aus dem Gehirn der Verfasserin der 'geheimen Geschichte
von Burgund', und der 'Königin von Navarra' hervorgegangen sind, so würden
wir uns kaum in einer kleinern Verlegenheit befinden, als Agathon selbst,
da er mit pochendem Herzen und schweratmender Brust dem Sklaven folgte,
der ihn ins Vorgemach einer Unbekannten führte, von der er fast mit
gleicher Heftigkeit wünschte und fürchtete, daß es Danae sein möchte.
Allein da Agathon und Danae so gut historische Personen sind als Brutus,
Portia, und hundert andre, welche darum nicht weniger existiert haben,
weil sie nicht gerade so dachten, und handelten wie gewöhnliche Leute: So
bekümmern wir uns wenig, wie dieser Agathon und diese Danae, vermöge der
moralischen Begriffe des einen oder andern, der über dieses Buch gut oder
übel urteilen wird, hätten handeln sollen, oder gehandelt haben würden,
wenn sie nicht gewesen wären, was sie waren. Das Recht zu urteilen kann
und soll niemandem streitig gemacht werden; unsre Pflicht ist zu erzählen,
nicht zu dichten; und wir können nichts dafür, wenn Agathon bei dieser
Gelegenheit sich nicht weise und heldenmäßig genug, um die Hochachtung
strenger Sittenrichter zu verdienen, verhalten; oder wenn Danae die Rechte
des weiblichen Stolzes nicht so gut behaupten sollte, als viele andre,
welche dem Himmel danken, daß sie keine Danaen sind, an ihrem Platze getan
haben würden.


Die schöne Danae erwartete, auf ihrem Sopha sitzend, den Besuch, den sie
bekommen sollte, mit so vieler Stärke als eine weibliche Seele nur immer
zu haben fähig sein mag, welche zugleich so zärtlich und lebhaft ist, als
eine solche Seele sein kann -. "Ob es wohl weibliche Seelen gibt?"--"O
mein Herr, ich sagte ihnen ja, daß der letzte Teil dieses Kapitels nicht
für sie geschrieben sei--Sie mögen vielleicht überall in Zweifel ziehen,
ob die Weiber Seelen haben; denn wenn sie Seelen haben, so sind es
weibliche Seelen, der Himmel bewahre uns vor den Penthesileen und
Männinnen, an denen nichts als die Figur weiblich ist!"--Doch darüber
wollen wir itzt nicht streiten. Danae erwartete also den Anblick ihres
Flüchtlings mit ziemlicher Standhaftigkeit; aber was in ihrem Herzen
vorging, mögen unsre zärtlichen Leserinnen, welche fähig sind, sich an
ihre Stelle zu setzen, in ihrem eigenen Herzen lesen. Sie wußte, daß
Agathon einen Gefährten hatte, und dieser Umstand kam ihr zu statten; aber
Agathon befand sich wenig dadurch erleichtert. Die Türe des Vorzimmers
wurde ihnen von der Sklavin eröffnet--er erkannte beim ersten Anblick die
Vertraute seiner Geliebten, und nun konnte er nicht mehr zweifeln, daß die
Dame, die er in einigen Augenblicken sehen würde, Danae sei. Er raffte
seinen ganzen Mut zusammen, indem er zitternd hinter seinem Freunde
Critolaus fortwankte--Er sah sie, wollte auf sie zugehen, konnte nicht,
heftete seine Augen auf sie, und sank, vom übermaß seiner Empfindlichkeit
überwältiget, in die Arme seines Freundes zurück. Auf einmal vergaß die
schöne Danae alle die großen Entschließungen von Gelassenheit und
Zurückhaltung, welche sie mit so vieler Mühe gefaßt hatte. Sie lief in
zärtlicher Bestürzung auf ihn zu, nahm ihn in ihre Arme, ließ dem ganzen
Strom ihrer Empfindung den Lauf, und dachte nicht daran, daß sie einen
Zeugen davon hatte, der über alles was er sah und hörte, erstaunt sein
mußte. Allein die Güte seines Herzens, und diese Sympathie, welche
schöne Seelen in wenigen Augenblicken vertraut mit einander macht, gab ihm
in einer Situation, auf die er sich so wenig hatte gefaßt machen können,
gerade die nämliche Art des Betragens ein, die er hätte haben können, wenn
er schon von Jahren her ihr Vertrauter gewesen wäre. Er trug seinen
Freund auf den Sopha, auf welchen sich Danae neben ihn hinwarf, und da er
nun schon genug wußte, um zu sehen, daß er hier weiter nichts helfen
konnte, so entfernte er sich unvermerkt weit genug, um unsre Liebenden von
dem Zwang einer Zurückhaltung zu entledigen, welche in so sonderbaren
Augenblicken ein größeres übel ist, als die unempfindlichen Leute sich
vorstellen können. Allmählich bekam Agathon, an der Seite der
gefühlvollen Danae, und von einem ihrer schönen Arme umschlungen, das
Vermögen zu atmen wieder; sein Gesicht ruhte an ihrem Busen, und die
Tränen, welche ihn zu benetzen anfingen, waren das erste, was ihr seine
wiederkehrende Empfindung anzeigte. Ihre erste Bewegung war, sich von ihm
zurückzuziehen; aber ihr Herz versagte ihr die Kraft dazu; es sagte ihr,
was in dem seinigen vorging, und sie hatte den Mut nicht, ihm eine
Lindrung zu entziehen, welche er so nötig zu haben schien, und in der Tat
nötig hatte. Allein in wenigen Augenblicken machte er sich selbst den
Vorwurf, daß er einer so großen Gütigkeit unwürdig sei--er raffte sich auf,
warf sich zu ihren Füßen, umfaßte ihre Knie mit einer Empfindung, welche
mit Worten nicht ausgedrückt werden kann, versuchte es sie anzusehen, und
sank, weil er ihren Anblick nicht auszuhalten vermochte, mit Tränen
beschwemmtem Gesicht, auf ihren Schoß nieder. Danae konnte nun nicht
zweifeln, daß sie geliebt werde, und es kostete sie, die Entzückung
zurückzuhalten, worin sie durch diese Gewißheit gesetzt wurde; aber es war
notwendig, dieser allzuzärtlichen Szene ein Ende zu machen. Agathon
konnte noch nicht reden--und was hätte er reden sollen?--"Ich bin
zufrieden, Agathon", sagte sie mit einer Stimme, welche wider ihren Willen
verriet, wie schwer es ihr wurde, ihre Tränen zurückzuhalten--"Ich bin
zufrieden--du findest eine Freundin wieder--und ich hoffe du werdest sie
künftig deiner Hochachtung weniger unwürdig finden, als jemals--Keine
Entschuldigungen mein Freund", (denn Agathon wollte etwas sagen, das einer
Entschuldigung gleich sah, und woraus er sich in der heftigen Bewegung,
worin er war, schwerlich zu seinem Vorteil gezogen hätte) "du wirst keine
Vorwürfe von mir hören--wir wollen uns des Vergangenen nur erinnern, um
das Vergnügen eines so unverhofften Wiedersehens desto vollkommner zu
genießen -" "Großmütige, göttliche Danae!" rief Agathon in einer
Entzückung von Dankbarkeit und Liebe--"Keine Beiwörter, Agathon",
unterbrach ihn Danae, "keine Schwärmerei! Du bist zu sehr gerührt;
beruhige dich--wir werden Zeit genug haben, uns von allem, was seitdem wir
uns zum letzten mal gesehen haben, vorgegangen ist, Rechenschaft zu
geben--Laß mich das Vergnügen dich wieder gefunden zu haben unvermischt
genießen; es ist das erste, das mir seit zweien Jahren zu Teil wird."

Mit diesen Worten (und in der Tat hätte sie die letztern für sich selbst
behalten können, wenn es möglich wäre, immer Meister von seinem Herzen zu
sein) stund sie auf, näherte sich dem Critolaus, und ließ dem mehr als
jemals bezauberten Agathon Zeit, sich in eine ruhigere Gemütsfassung zu
setzen.

Coetera intus agentur--Unsere schönen Leserinnen wissen nun schon genug,
um sich vorstellen zu können, was diese zärtliche Szene für Folgen haben
mußte. Danae und Critolaus wurden gar bald gute Freunde. Dieser junge
Mann gestund, seine Psyche ausgenommen, nichts vollkommners gesehen zu
haben, als Danae; und Danae erfuhr mit vielem Vergnügen, daß Critolaus der
Gemahl der schönen Psyche, und Psyche die wiedergefundene Schwester
Agathons sei. Sie hatte nicht viel Mühe ihre Gäste zu bereden, das
Nachtlager in ihrem Hause anzunehmen; unsre Liebenden hätten also die
Schuld sich selbst beimessen müssen, wenn sie keine Gelegenheit gefunden
hätten, sich umständlich zu besprechen, und gegen einander zu erklären.
Die schöne Danae meldete ihrem Freunde, daß sie die Verräterei des Hippias,
und die Ursache der heimlichen Entweichung Agathons, bei ihrer
Zurückkunft nach Smyrna bald entdeckt habe. Sie verbarg ihm nicht, daß
der Schmerz ihn verloren zu haben, sie zu dem seltsamen Entschluß gebracht,
der Welt zu entsagen, und in irgend einer entlegenen Einöde sich selbst
für die Schwachheiten und Fehltritte ihres vergangenen Lebens zu bestrafen;
jedoch setzte sie hinzu, hoffe sie, daß wenn sie einmal Gelegenheit haben
würde, ihm eine ganz aufrichtige und umständliche Erzählung der Geschichte
ihres Herzens bis auf die Zeit, da sein Umgang und die Begeistrung, worein
sie durch ihn allein zum ersten mal in ihrem Leben gesetzt worden, ihrer
Seele wie ein neues Wesen gegeben, zu machen--er Ursache finden würde sie,
wo nicht immer zu entschuldigen, doch mehr zu bedauren als zu verdammen.
Die Furcht, den Gedanken in ihr zu veranlassen, als ob sie durch das was
ehmals zwischen ihnen vorgegangen war, von seiner Hochachtung verloren
hätte, zwang unsern Helden eine geraume Zeit, die Lebhaftigkeit seiner
Empfindungen in seinem Herzen zu verschließen. Danae wurde indessen mit
der Familie des Archytas bekannt, man mußte sie lieben, sobald man sie sah;
und sie gewann desto mehr dabei, je besser man sie kennen lernte. Es war
überdies eine von ihren Gaben, daß sie sich sehr leicht und mit der besten
Art in alle Personen, Umstände und Lebens-Arten schicken konnte. Wie
konnte es also anders sein, als daß sie in kurzem durch die zärtlichste
Freundschaft mit dieser liebenswürdigen Familie verbunden werden mußte?
Selbst der weise Archytas liebte ihre Gesellschaft, und sie machte sich
ein Vergnügen daraus, einem alten Manne von so seltnen Verdiensten die
Beschwerden des hohen Alters durch die Annehmlichkeiten ihres Umgangs
erleichtern zu helfen. Aber nichts war der Liebe zu vergleichen, welche
Psyche und Danae einander einflößten. Niemalen hat vielleicht unter zwo
Frauenzimmern, welche so geschickt waren, Rivalinnen zu sein, eine so
zärtliche, und vollkommne Freundschaft geherrschet. Man kann sich
einbilden, ob Agathon dabei verlor. Er sah die schöne Danae alle Tage; er
hatte alle Vorrechte eines Bruders bei ihr--aber wie sollte es möglich
gewesen sein, daß er sich immer daran begnügt hätte?--Es gab Augenblicke,
wo er, von den Erinnerungen seiner ehmaligen Glückseligkeit berauscht,
sich die Rechte eines begünstigten Liebhabers herausnehmen wollte. Aber
Danae wurde durch den vertrauten Umgang mit so tugendhaften Personen, als
diejenigen waren, mit denen sie nunmehr lebte, in ihrer neuen Denkungs-Art
so sehr bestärkt, daß die zärtlichsten Verführungen der Liebe nichts über
sie erhielten. In diesem Stücke wollte sie nicht mehr Danae für ihn sein.
"Das ist unwahrscheinlich", werden die Kenner sagen; "unwahrscheinlich",
antworte ich, "aber möglich". Mit einem Worte, Danae bewies durch ihr
Exempel, daß es einer Danae möglich sei; und Agathon erfuhr es so sehr,
daß Psyche endlich selbst Mitleiden mit ihm zu haben anfing. Sie wußte
die geheime Geschichte ihrer Freundin; Danae hatte Tugend genug gehabt,
ihr eine aufrichtige Erzählung davon zu machen. Die Bedenklichkeiten sind
leicht zu erraten, welche der Glückseligkeit dieser Liebenden, welche so
ganz für einander geschaffen zu sein schienen, im Wege stund. Aber waren
sie wichtig genug, um ihrentwillen unglücklich zu sein?--Hatte er nicht
das Beispiel des großen Perikles vor sich? Verdiente Danae nicht in allen
Betrachtungen das Schicksal der Aspasia?--Es wäre uns leicht, unsern
Lesern hierüber aus dem Wunder zu helfen; aber wir überlassen es ihnen zu
erraten, was er tat--oder auszumachen, was er hätte tun sollen.




FÜNFTES KAPITEL

Abdankung


Und nun, nachdem wir in diesem letzten Buche zu Gunsten unsers Helden
alles getan zu haben glauben, was die zärtlichsten Freunde, die er sich
erworben haben kann, (und wir hoffen, daß er einige haben werde,) nur
immer zu seinem Besten wünschen konnten--Nachdem er so glücklich ist, als
es vielleicht noch kein Sterblicher gewesen ist--oder es doch in seiner
Gewalt hat, glücklich zu sein--Nun bleibt uns nichts übrig, als unsern
Lesern und Leserinnen, welche Geduld genug gehabt haben, bis zu diesem
Blatte fortzulesen--dafür zu danken--und sie zu versichern, daß es uns
sehr angenehm sein sollte, wenn sie soviel Geschmack an dieser Geschichte
gefunden hätten, um sie noch einmal zu lesen--und noch angenehmer, wenn
sie weiser oder besser dadurch geworden sein sollten. Indessen ist das
ihre Sache. Der Herausgeber dieser Geschichte schmeichelt sich wenigstens,
(und wer schmeichelt sich nicht?) daß er ihnen viele Gelegenheit zu dem
einen und zu dem andern gegeben habe; und wofern der Erfolg seiner
Erwartung nicht entsprechen sollte, so wird er sich durch das tägliche
Beispiel so vieler tausend Anstalten und Bemühungen, welche ihren Zweck
verfehlen, beruhigen, und mit Horaz, sich in die Tugend seiner Absicht
einwickeln.

Übrigens kann er nicht umhin, seinen Freunden im Vertrauen zu entdecken,
daß ihn das griechische Manuskript, welches er in Handen hat, in den Stand
setzt, noch einige Nachträge oder Zugaben zu der Geschichte des Agathon zu
liefern, welche ihrer Neugier vielleicht nicht unwürdig sein möchten. Es
ist zum Exempel nicht unmöglich, daß sie begierig sein könnten, das System
des weisen Archytas genauer zu kennen; oder zu wissen, wie Agathon in
seinem fünfzigsten Jahre über alles was im Himmel und auf Erden ein
Gegenstand unsers Nachforschens, unsrer Gedanken--Neigungen--Wünsche--oder
Träume zu sein verdient, gedacht habe. Vielleicht möchte es ihnen auch
nicht unangenehm sein, die Geschichte der schönen Danae (so wie sie den
Mut gehabt, sie dem Agathon zu einer Zeit zu erzählen, da er nicht mehr so
enthusiastisch, aber desto billiger dachte) in einer ausführlichen
Erzählung zu lesen?--Mit allem diesem könnten wir dem Verlangen unsrer
Freunde ein Genüge tun--wenn wir erst gewiß davon wären, daß sie ein
solches Verlangen hätten--und wenn wir einige Ursache finden sollten zu
hoffen, daß dem Publico durch diese Nachträge nur ein halb so großer
Dienst geleistet würde, als der französische Verfasser des Traktats von
den Nachtigallen (dessen Helvetius erwähnt) dem menschlichen Geschlechte
durch sein Buch geleistet zu haben glaubte.







 


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