Römische Geschichte Book 4
by
Theodor Mommsen

Part 2 out of 9

allen Umstaenden eine Torheit, auch abgesehen davon, dass dieser karikierte
Joseph II. persoenlich einem solchen gigantischen Beginnen nichts weniger als
gewachsen war und durch Tempelpluenderung im grossartigsten Massstab und die
tollste Ketzerverfolgung seine Reformen in der uebelsten Weise einleitete. Die
eine Folge hiervon war, dass die Bewohner der Grenzprovinz gegen Aegypten, die
Juden, sonst bis zur Demuetigkeit fuegsame und aeusserst taetige und betriebsame
Leute, durch den systematischen Religionszwang zur offenen Empoerung gedraengt
wurden (um 587 167). Die Sache kam an den Senat, und da derselbe eben damals
teils gegen Demetrios Soter mit gutem Grund erbittert war, teils eine Verbindung
der Attaliden und Seleukiden besorgte, ueberhaupt aber die Herstellung einer
Mittelmacht zwischen Syrien und Aegypten im Interesse Roms lag, so machte er
keine Schwierigkeit, die Freiheit und Autonomie der insurgierten Nation sofort
anzuerkennen (um 593 161). Indes geschah doch von Rom fuer die Juden nur, was
man tun konnte, ohne sich selber zu bemuehen; trotz der Klausel des zwischen den
Roemern und den Juden abgeschlossenen Vertrags, die den Juden, im Fall sie
angegriffen wuerden, den Beistand Roms versprach, und trotz des an die Koenige
von Syrien und Aegypten gerichteten Verbots, ihre Truppen durch das juedische
Land zu fuehren, blieb es natuerlich lediglich jenen selbst ueberlassen, der
syrischen Koenige sich zu erwehren. Mehr als die Briefe ihrer maechtigen
Verbuendeten tat fuer sie die tapfere und umsichtige Leitung des Aufstandes
durch das Heldengeschlecht der Makkabaeer und die innere Zerrissenheit des
Syrischen Reiches: waehrend des Haders zwischen den syrischen Koenigen Tryphon
und Demetrios Nikator ward den Juden die Autonomie und Steuerfreiheit foermlich
zugestanden (612 142) und bald darauf sogar das Haupt des Makkabaeerhauses,
Simon, des Mattathias Sohn, von der Nation wie von dem syrischen Grosskoenig als
Hochpriester und Fuerst Israels foermlich anerkannt ^18 (615 139).
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^18 Von ihm ruehren die Muenzen her mit der Aufschrift "Shekel Israel" und
der Jahreszahl des "heiligen Jerusalem" oder "der Erloesung Sions". Die
aehnlichen mit dem Namen Simons, des Fuersten (Nessi) Israel, gehoeren nicht
ihm, sondern dem Insurgentenfuehrer Bar Kochba unter Hadrian.
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Folgenreicher noch als diese Insurrektion der Israeliten war die
gleichzeitig und wahrscheinlich aus gleicher Ursache entstandene Bewegung in den
oestlichen Landschaften, wo Antiochos Epiphanes die Tempel der persischen
Goetter nicht minder leerte wie den von Jerusalem und dort den Anhaengern des
Ahuramazda und des Mithra es nicht besser gemacht haben wird wie hier denen des
Jehova. Wie in Judaea, nur in weiterem Umfang und in grossartigeren
Verhaeltnissen, war das Ergebnis eine Reaktion der einheimischen Weise und der
einheimischen Religion gegen den Hellenismus und die hellenischen Goetter; die
Traeger dieser Bewegung waren die Parther und aus ihr entsprang das grosse
Partherreich. Die "Parthwa" oder Parther, die als eine der zahllosen in das
grosse Perserreich aufgegangenen Voelkerschaften frueh, zuerst im heutigen
Khorasan suedoestlich vom Kaspischen Meere begegnen, erscheinen schon seit 500
(250) unter dem skythischen, das heisst turanischen Fuerstengeschlecht der
Arsakiden als ein selbstaendiger Staat, der indes erst ein Jahrhundert spaeter
aus seiner Dunkelheit hervortrat. Der sechste Arsakes, Mithradates I. (579? -
618? 175-136), ist der eigentliche Gruender der parthischen Grossmacht. Ihm
erlag das an sich weit maechtigere, aber teils durch die Fehden mit den
skythischen Reiterscharen von Turan und mit den Staaten am Indus, teils durch
innere Wirren bereits in allen Fugen erschuetterte Baktrische Reich. Fast
gleiche Erfolge errang er in den Landschaften westlich von der grossen Wueste.
Das Syrische Reich war eben damals, teils infolge der verfehlten
Hellenisierungsversuche des Antiochos Epiphanes, teils durch die nach dessen
Tode eintretenden Sukzessionswirren, aufs tiefste zerruettet und die inneren
Provinzen im vollen Zuge, sich von Antiocheia und der Kuestenlandschaft
abzuloesen; in Kommagene zum Beispiel, der noerdlichsten Landschaft Syriens an
der kappadokischen Grenze, machte der Satrap Ptolemaeos, auf dem
entgegengesetzten Ufer des Euphrat im noerdlichen Mesopotamien oder der
Landschaft Osrhoene der Fuerst von Edessa, in der wichtigen Provinz Medien der
Satrap Timarchos sich unabhaengig; ja der letztere liess sich vom roemischen
Senat seine Unabhaengigkeit bestaetigen und herrschte, gestuetzt auf das
verbuendete Armenien, bis hinab nach Seleukeia am Tigris. Unordnungen dieser Art
waren im Asiatischen Reiche in Permanenz, sowohl die Provinzen unter ihren halb
oder ganz unabhaengigen Satrapen in ewigem Aufstand als auch die Hauptstadt mit
ihrem gleich dem roemischen und dem alexandrinischen zuchtlosen und
widerspenstigen Poebel. Die gesamte Meute der Nachbarkoenige, Aegypten,
Armenien, Kappadokien, Pergamon, mengte unaufhoerlich sich in die
Angelegenheiten Syriens und naehrte die Erbfolgestreitigkeiten, so dass der
Buergerkrieg und die faktische Teilung der Herrschaft unter zwei oder mehr
Praetendenten fast zur stehenden Landplage ward. Die roemische Schutzmacht, wenn
sie die Nachbarn nicht aufstiftete, sah untaetig zu. Zu allem diesem draengte
von Osten her das neue Partherreich, nicht bloss mit seiner materiellen Macht,
sondern auch mit dem ganzen Uebergewicht seiner nationalen Sprache und Religion,
seiner nationalen Heer- und Staatsverfassung auf die Fremdlinge ein. Es ist hier
noch nicht der Ort dies regenerierte Kyrosreich zu schildern; es genuegt im
allgemeinen, daran zu erinnern, dass, so maechtig auch in ihm noch der
Hellenismus auftritt, dennoch der parthische Staat, verglichen mit dem der
Seleukiden, auf einer nationalen und religioesen Reaktion beruht und die alte
iranische Sprache, der Magierstand und der Mithrasdienst, die orientalische
Lehnsverfassung, die Reiterei der Wueste und Pfeil und Bogen hier zuerst dem
Hellenismus wieder uebermaechtig entgegentraten. Die Lage der Reichskoenige
diesem allem gegenueber war in der Tat beklagenswert. Das Geschlecht der
Seleukiden war keineswegs so entnervt wie zum Beispiel das der Lagiden, und
einzelnen derselben mangelte es nicht an Tapferkeit und Faehigkeit; sie wiesen
auch wohl den einen oder den andern jener zahllosen Rebellen, Praetendenten und
Intervenienten in seine Schranken zurueck; aber es fehlte ihrer Herrschaft so
sehr an einer festen Grundlage, dass sie dennoch der Anarchie nicht auch nur
voruebergehend zu steuern vermochten. Das Ergebnis war denn, was es sein musste.
Die oestlichen Landschaften Syriens unter ihren unbeschuetzten oder gar
aufruehrerischen Satrapen gerieten unter parthische Botmaessigkeit; Persien,
Babylonien, Medien wurden auf immer vom Syrischen Reiche getrennt; der neue
Staat der Parther reichte zu beiden Seiten der grossen Wueste vom Oxus und
Hindukusch bis zum Tigris und zur Arabischen Wueste, wiederum gleich dem
Perserreich und all den aelteren asiatischen Grossstaaten eine reine
Kontinentalmonarchie und wiederum eben gleich dem Perserreich in ewiger Fehde
begriffen einerseits mit den Voelkern von Turan, andererseits mit den
Okzidentalen. Der Syrische Staat umfasste ausser der Kuestenlandschaft
hoechstens noch Mesopotamien und verschwand, mehr noch infolge seiner inneren
Zerruettung als seiner Verkleinerung, auf immer aus der Reihe der Grossstaaten.
Wenn die mehrfach drohende gaenzliche Unterjochung des Landes durch die Parther
unterblieb, so ist dies nicht der Gegenwehr der letzten Seleukiden, noch weniger
dem Einfluss Roms zuzuschreiben, sondern vielmehr den vielfaeltigen inneren
Unruhen im Partherreiche selbst und vor allem den Einfaellen der turanischen
Steppenvoelker in dessen oestliche Landschaften.
Diese Umwandlung der Voelkerverhaeltnisse im inneren Asien ist der
Wendepunkt in der Geschichte des Altertums. Auf die Voelkerflut, die bisher von
Westen nach Osten sich ergossen und in dem grossen Alexander ihren letzten und
hoechsten Ausdruck gefunden hatte, folgt die Ebbe. Seit der Partherstaat
besteht, ist nicht bloss verloren, was in Baktrien und am Indus etwa noch von
hellenischen Elementen sich erhalten haben mochte, sondern auch das westliche
Iran weicht wieder zurueck in das seit Jahrhunderten verlassene, aber noch nicht
verwischte Geleise. Der roemische Senat opfert das erste wesentliche Ergebnis
der Politik Alexanders und leitet damit jene ruecklaeufige Bewegung ein, deren
letzte Auslaeufer im Alhambra von Granada und in der Grossen Moschee von
Konstantinopel endigen. Solange noch das Land von Ragae und Persepolis bis zum
Mittelmeer dem Koenig von Antiochia gehorchte, erstreckte auch Roms Macht sich
bis an die Grenze der grossen Wueste; der Partherstaat, nicht weil er so gar
maechtig war, sondern weil er seinen Schwerpunkt fern von der Kueste, im inneren
Asien fand, konnte niemals eintreten in die Klientel des Mittelmeerreiches. Seit
Alexander hatte die Welt den Okzidentalen allein gehoert und schien der Orient
fuer diese nur zu sein, was spaeter Amerika und Australien fuer die Europaeer
wurden; mit Mithradates I. trat dieser wieder ein in den Kreis der politischen
Bewegung. Die Welt hatte wieder zwei Herren.
Es ist noch uebrig, auf die maritimen Verhaeltnisse dieser Zeit einen Blick
zu werfen, obwohl darueber sich kaum etwas anderes sagen laesst, als dass es
nirgends mehr eine Seemacht gab. Karthago war vernichtet, Syriens Kriegsflotte
vertragsmaessig zugrunde gerichtet, Aegyptens einst so gewaltige Kriegsmarine
unter seinen gegenwaertigen schlaffen Regenten in tiefem Verfall. Die kleineren
Staaten und namentlich die Kaufstaedte hatten wohl einige bewaffnete Fahrzeuge,
aber sie genuegten nicht einmal fuer die im Mittelmeere so schwierige
Unterdrueckung des Seeraubs. Mit Notwendigkeit fiel diese Rom zu als der
fuehrenden Macht im Mittelmeer. Wie ein Jahrhundert zuvor die Roemer eben hierin
mit besonderer und wohltaetiger Entschiedenheit aufgetreten waren und namentlich
im Osten ihre Suprematie zunaechst eingefuehrt hatten durch die zum allgemeinen
Besten energisch gehandhabte Seepolizei, ebenso bestimmt bezeichnet die
vollstaendige Nichtigkeit derselben schon im Beginn dieser Periode den furchtbar
raschen Verfall des aristokratischen Regiments. Eine eigene Flotte besass Rom
nicht mehr; man begnuegte sich, wenn es noetig schien, von den italischen, den
kleinasiatischen und den sonstigen Seestaedten Schiffe einzufordern. Die Folge
war natuerlich, dass das Flibustierwesen sich organisierte und konsolidierte. Zu
dessen Unterdrueckung geschah nun wohl, wenn nicht genug, so doch etwas, soweit
die unmittelbare Macht der Roemer reichte, im Adriatischen und Tyrrhenischen
Meer. Die gegen die dalmatischen und ligurischen Kuesten in dieser Epoche
gerichteten Expeditionen bezweckten namentlich die Unterdrueckung des Seeraubs
in den beiden italischen Meeren; aus gleichem Grunde wurden im Jahre 631 (123)
die Balearischen Inseln besetzt. Dagegen in den mauretanischen und den
griechischen Gewaessern blieb es den Anwohnern und den Schiffern ueberlassen,
mit den Korsaren auf die eine oder die andere Weise sich abzufinden, da die
roemische Politik daran festhielt sich um diese entfernteren Gegenden so wenig
wie irgend moeglich zu kuemmern. Die zerruetteten und bankerotten Gemeinwesen in
den also sich selbst ueberlassenen Kuestenstaaten wurden hierdurch natuerlich zu
Freistaetten der Korsaren; und an solchen fehlte es namentlich in Asien nicht.
Am aergsten sah es in dieser Hinsicht aus auf Kreta, das durch eine glueckliche
Lage und die Schwaeche oder Schlaffheit der Grossstaaten des Westens und Ostens
allein unter allen griechischen Ansiedlungen seine Unabhaengigkeit bewahrt
hatte; die roemischen Kommissionen kamen und gingen freilich auch auf dieser
Insel, aber richteten hier noch weniger aus als selbst in Syrien und Aegypten.
Fast schien es aber, als habe das Schicksal den Kretern die Freiheit nur
gelassen um zu zeigen, was herauskomme bei der hellenischen Unabhaengigkeit. Es
war ein schreckliches Bild. Die alte dorische Strenge der Gemeindeordnungen war
aehnlich wie in Tarent umgeschlagen in eine wueste Demokratie, der ritterliche
Sinn der Bewohner in eine wilde Rauf- und Beutegier; ein achtbarer Hellene
selbst bezeugt es, dass allein auf Kreta nichts fuer schimpflich gelte, was
eintraeglich sei, und noch der Apostel Paulus fuehrt billigend den Spruch eines
kretischen Dichters an: "Luegner sind all, Faulranzen, unsaubere Tiere die
Kreter." Die ewigen Buergerkriege verwandelten trotz der roemischen
Friedensstiftungen auf der alten "Insel der hundert Staedte" eine bluehende
Ortschaft nach der andern in Ruinenhaufen. Ihre Bewohner durchstreiften als
Raeuber die Heimat und die Fremde, die Laender und die Meere; die Insel ward der
Werbeplatz fuer die umliegenden Koenigreiche, seit dieser Unfug im Peloponnes
nicht mehr geduldet ward, und vor allem der rechte Sitz der Piraterie, wie denn
zum Beispiel um diese Zeit die Insel Siphnos durch eine kretische Korsarenflotte
voellig ausgeraubt ward. Rhodos, das ohnehin von dem Verlust seiner Besitzungen
auf dem Festland und den seinem Handel zugefuegten Schlaegen sich nicht zu
erholen vermochte, vergeudete seine letzten Kraefte in den Kriegen, die es zur
Unterdrueckung der Piraterie gegen die Kreter zu fuehren sich genoetigt sah (um
600 150) und in denen die Roemer zwar zu vermitteln suchten, indes ohne Ernst
und, wie es scheint, ohne Erfolg.
Neben Kreta fing bald auch Kilikien an, fuer diese Flibustierwirtschaft
eine zweite Heimat zu werden; und es war nicht bloss die Ohnmacht der syrischen
Herrscher, die ihr hier Vorschub tat: der Usurpator Diodotos Tryphon, der sich
vom Sklaven zum Koenig Syriens aufgeschwungen hatte (608-615 146-139),
foerderte, um durch Korsarenhilfe seinen Thron zu befestigen, in seinem
Hauptsitz, dem Rauhen oder westlichen Kilikien, mit allen Mitteln von oben herab
die Piraterie. Der ungemein gewinnbringende Verkehr mit den Piraten, die
zugleich die hauptsaechlichsten Sklavenfaenger und Sklavenhaendler waren,
verschaffte ihnen bei dem kaufmaennischen Publikum, sogar in Alexandreia, Rhodos
und Delos eine gewisse Duldung, an der selbst die Regierungen wenigstens durch
Passivitaet sich beteiligten. Das Uebel ward so ernsthaft, dass der Senat um 611
(143) seinen besten Mann, Scipio Aemilianus, nach Alexandreia und Syrien sandte,
um an Ort und Stelle zu ermitteln, was sich dabei tun lasse. Allein
diplomatische Vorstellungen der Roemer machten die schwachen Regierungen nicht
stark; es gab keine andere Abhilfe als geradezu eine Flotte in diesen Gewaessern
zu unterhalten, wozu es wieder der roemischen Regierung an Energie und
Konsequenz gebrach. So blieb eben alles beim alten, die Piratenflotte die
einzige ansehnliche Seemacht im Mittelmeere, der Menschenfang das einzige
daselbst bluehende Gewerbe. Die roemische Regierung sah den Dingen zu, die
roemischen Kaufleute aber standen als die besten Kunden auf dem Sklavenmarkt mit
den Piratenkapitaenen als den bedeutendsten Grosshaendlern in diesem Artikel auf
Delos und sonst in regem und freundlichem Geschaeftsverkehr.
Wir haben die Umgestaltung der aeusseren Verhaeltnisse Roms und der
roemisch-hellenischen Welt ueberhaupt in ihren Umrissen von der Schlacht bei
Pydna bis auf die Gracchenzeit, vom Tajo und vom Bagradas zum Nil und zum
Euphrat begleitet. Es war eine grosse und schwierige Aufgabe, die Rom mit dem
Regimente dieser roemisch-hellenischen Welt uebernahm; sie ward nicht voellig
verkannt, aber keineswegs geloest. Die Unhaltbarkeit des Gedankens der
catonischen Zeit, den Staat auf Italien zu beschraenken und ausserhalb Italiens
nur durch Klientel zu herrschen, ward von den leitenden Maennern der folgenden
Generation wohl begriffen und wohl die Notwendigkeit eingesehen, an die Stelle
dieses Klientelregiments eine die Gemeindefreiheiten wahrende, unmittelbare
Herrschaft Roms zu setzen. Allein statt diese neue Ordnung fest, rasch und
gleichmaessig durchzufuehren, wurden einzelne Landschaften eingezogen, wo eben
Gelegenheit, Eigensinn, Nebenvorteil und Zufall dazu fuehrten, wogegen der
groessere Teil des Klientelgebiets entweder in der unertraeglichen Halbheit
seiner bisherigen Stellung verblieb oder gar, wie namentlich Syrien, sich
gaenzlich dem Einfluss Roms entzog. Aber auch das Regiment selbst ging mehr und
mehr auf in einem schwaechlichen und kurzsichtigen Egoismus. Man begnuegte sich
von heute auf morgen zu regieren und nur eben die laufenden Geschaefte
notduerftig zu erledigen. Man war gegen die Schwachen der strenge Herr - als die
Stadt Mylasa in Karien dem Publius Crassus Konsul 623 (131) zur Erbauung eines
Sturmbocks einen andern Balken als den verlangten sandte, ward der Vorstand der
Stadt deswegen ausgepeitscht; und Crassus war kein schlechter Mann und ein
streng rechtlicher Beamter. Dagegen ward die Strenge da vermisst, wo sie an
ihrem Platz gewesen waere, wie gegen die angrenzenden Barbaren und gegen die
Piraten. Indem die Zentralregierung auf jede Oberleitung und jede Uebersicht der
Provinzialverhaeltnisse Verzicht tat, gab sie dem jedesmaligen Vogt nicht bloss
die Interessen der Untertanen, sondern auch die des Staates vollstaendig preis.
Die spanischen Vorgaenge, unbedeutend an sich, sind hierfuer belehrend. Hier, wo
die Regierung weniger als in den uebrigen Provinzen sich auf die blosse
Zuschauerrolle beschraenken konnte, wurde nicht bloss von den roemischen
Statthaltern das Voelkerrecht geradezu mit Fuessen getreten und durch eine Wort-
und Treulosigkeit sondergleichen, durch das frevelhafteste Spiel mit
Kapitulationen und Vertraegen, durch Niedermetzelung untertaeniger Leute und
Mordanstiftung gegen die feindlichen Feldherren die roemische Ehre dauernd im
Kote geschleift, sondern es ward auch gegen den ausgesprochenen Willen der
roemischen Oberbehoerde Krieg gefuehrt und Friede geschlossen und aus
unbedeutenden Vorfaellen; wie zum Beispiel dem Ungehorsam der Numantiner, durch
eine seltene Vereinigung von Verkehrtheit und Verruchtheit eine fuer den Staat
verhaengnisvolle Katastrophe entwickelt. Und das alles geschah, ohne dass in Rom
auch nur eine ernstliche Bestrafung deswegen verfuegt ward. Ueber die Besetzung
der wichtigsten Stellen und die Behandlung der bedeutendsten politischen Fragen
entschieden nicht bloss die Sympathien und Rivalitaeten der verschiedenen
Senatskoterien mit, sondern es fand selbst schon das Gold der auswaertigen
Dynasten Eingang bei den Ratsherren von Rom. Als der erste, der mit Erfolg
versuchte, den roemischen Senat zu bestechen, wird Timarchos genannt, der
Gesandte des Koenigs Antiochos Epiphanes von Syrien (+ 590 164); bald wurde die
Beschenkung einflussreicher Senatoren durch auswaertige Koenige so gewoehnlich,
dass es auffiel, als Scipio Aemilianus die im Lager vor Numantia ihm von dem
Koenig von Syrien zugekommenen Gaben in die Kriegskasse einwarf. Durchaus liess
man den alten Grundsatz fallen, dass der Lohn der Herrschaft einzig die
Herrschaft und die Herrschaft ebensosehr eine Pflicht und eine Last wie ein
Recht und ein Vorteil sei. So kam die neue Staatswirtschaft auf, welche von der
Besteuerung der Buerger absah und dagegen die Untertanenschaft als einen
nutzbaren Besitz der Gemeinde teils von Gemeinde wegen ausbeutete, teils der
Ausbeutung durch die Buerger ueberlieferte; nicht bloss wurde dem
ruecksichtslosen Geldhunger des roemischen Kaufmanns in der Provinzialverwaltung
mit frevelhafter Nachgiebigkeit Spielraum gestattet, sondern es wurden sogar die
ihm missliebigen Handelsrivalen durch die Heere des Staats aus dem Wege geraeumt
und die herrlichsten Staedte der Nachbarlaender nicht der Barbarei der
Herrschsucht, sondern der weit scheusslicheren Barbarei der Spekulation
geopfert. Durch den Ruin der aelteren, der Buergerschaft allerdings schwere
Opfer auferlegenden Kriegsordnung grub der am letzten Ende doch nur auf seinem
militaerischen Uebergewicht ruhende Staat sich selber die Stuetze ab. Die Flotte
liess man ganz eingehen, das Landkriegswesen in der unglaublichsten Weise
verfallen. Die Bewachung der asiatischen und afrikanischen Grenzen wurde auf die
Untertanen abgewaelzt und was man nicht von sich abwaelzen konnte, wie die
italische, makedonische und spanische Grenzverteidigung, in der elendesten Weise
verwaltet. Die besseren Klassen fingen an so sehr aus dem Heere zu verschwinden,
dass es schon schwer hielt, fuer die spanischen Heere die erforderliche Anzahl
von Offizieren aufzutreiben. Die immer steigende Abneigung namentlich gegen den
spanischen Kriegsdienst in Verbindung mit der von den Beamten bei der Aushebung
bewiesenen Parteilichkeit noetigten im Jahre 602 (152) zum Aufgeben der alten
Uebung, die Auswahl der erforderlichen Anzahl Soldaten aus der dienstpflichtigen
Mannschaft dem freien Ermessen der Offiziere zu ueberlassen, und zu deren
Ersetzung durch das Losen der saemtlichen Dienstpflichtigen - sicher nicht zum
Vorteil des militaerischen Gemeingeistes und der Kriegstuechtigkeit der
einzelnen Abteilungen. Die Behoerden, statt mit Strenge durchzugreifen,
erstreckten die leidige Volksschmeichelei auch hierauf mit: wenn einmal ein
Konsul fuer den spanischen Dienst pflichtmaessig strenge Aushebungen
veranstaltete, so machten die Tribune Gebrauch von ihrem verfassungsmaessigen
Recht, ihn zu verhaften (603, 616 151,138); und es ward schon bemerkt, dass
Scipios Ansuchen, ihm fuer den Numantinischen Krieg die Aushebung zu gestatten,
vom Senat geradezu abgeschlagen ward. Schon erinnern denn auch die roemischen
Heere vor Karthago oder Numantia an jene syrischen Armeen, in denen die Zahl der
Baecker, Koeche, Schauspieler und sonstigen Nichtkombattanten die der
sogenannten Soldaten um das Vierfache ueberstieg; schon geben die roemischen
Generale ihren karthagischen Kollegen in der Heerverderbekunst wenig nach und
werden die Kriege in Afrika wie in Spanien, in Makedonien wie in Asien
regelmaessig mit Niederlagen eroeffnet; schon schweigt man still zu der
Ermordung des Gnaeus Octavius, schon ist Viriathus' Meuchelmord ein Meisterwerk
der roemischen Diplomatie, schon die Eroberung von Numantia eine Grosstat. Wie
voellig der Begriff von Volks- und Mannesehre bereits den Roemern abhanden
gekommen war, zeigte mit epigrammatischer Schaerfe die Bildsaeule des
entkleideten und gebundenen Mancinus, welche dieser selbst, stolz auf seine
patriotische Aufopferung, in Rom sich setzen liess. Wohin man den Blick auch
wendet, findet man Roms innere Kraft wie seine aeussere Macht in raschem Sinken.
Der in Riesenkaempfen gewonnene Boden wird in dieser Friedenszeit nicht
erweitert, ja nicht einmal behauptet. Das Weltregiment, schwer zu erringen, ist
schwerer noch zu bewahren; jenes hatte der roemische Senat vermocht, an diesem
ist er gescheitert.
2. Kapitel
Die Reformbewegung und Tiberius Gracchus
Ein volles Menschenalter nach der Schlacht von Pydna erfreute der roemische
Staat sich der tiefsten, kaum hie und da an der Oberflaeche bewegten Ruhe. Das
Gebiet dehnte ueber die drei Weltteile sich aus; der Glanz der roemischen Macht
und der Ruhm des roemischen Namens waren in dauerndem Steigen; aller Augen
ruhten auf Italien, alle Talente, aller Reichtum stroemten dahin: eine goldene
Zeit friedlicher Wohlfahrt und geistigen Lebensgenusses schien dort beginnen zu
muessen. Mit Bewunderung erzaehlten sich die Orientalen dieser Zeit von der
maechtigen Republik des Westens, "die die Koenigreiche bezwang fern und nah, und
wer ihren Namen vernahm, der fuerchtete sich; mit den Freunden und
Schutzbefohlenen aber hielt sie guten Frieden. Solche Herrlichkeit war bei den
Roemern, und doch setzte keiner die Krone sich auf und prahlte keiner im
Purpurgewand; sondern wen sie Jahr um Jahr zu ihrem Herrn machten, auf den
hoerten sie, und war bei ihnen nicht Neid noch Zwietracht."
So schien es in der Ferne; in der Naehe sahen die Dinge anders aus. Das
Regiment der Aristokratie war im vollen Zuge, sein eigenes Werk zu verderben.
Nicht als waeren die Soehne und Enkel der Besiegten von Cannae und der Sieger
von Zama so voellig aus der Art ihrer Vaeter und Grossvaeter geschlagen; es
waren weniger andere Menschen, die jetzt im Senate sassen, als eine andere Zeit.
Wo eine geschlossene Zahl alter Familien festgegruendeten Reichtums und ererbter
staatsmaennischer Bedeutung das Regiment fuehrt, wird sie in den Zeiten der
Gefahr eine ebenso unvergleichlich zaehe Folgerichtigkeit und heldenmuetige
Opferfaehigkeit entwickeln wie in den Zeiten der Ruhe kurzsichtig, eigensuechtig
und schlaff regieren - zu dem einen wie dem andern liegen die Keime im Wesen der
Erblichkeit und der Kollegialitaet. Der Krankheitsstoff war laengst vorhanden,
aber ihn zu entwickeln bedurfte es der Sonne des Glueckes. In Catos Frage, was
aus Rom werden solle, wenn es keinen Staat mehr zu fuerchten haben werde, lag
ein tiefer Sinn. Jetzt war man so weit: jeder Nachbar, den man haette fuerchten
moegen, war politisch vernichtet, und von den Maennern, welche unter der alten
Ordnung der Dinge, in der ernsten Schule des Hannibalischen Krieges erzogen
waren und aus denen der Nachklang jener gewaltigen Zeit bis in ihr spaetestes
Alter noch widerhallte, rief der Tod einen nach dem andern ab, bis endlich auch
die Stimme des letzten von ihnen, des alten Cato, im Rathaus und auf dem
Marktplatz verstummte. Eine juengere Generation kam an das Regiment, und ihre
Politik war eine arge Antwort auf jene Frage des alten Patrioten. Wie das
Untertanenregiment und die aeussere Politik unter ihren Haenden sich
gestalteten, ist bereits dargelegt worden. Womoeglich noch mehr liess man in den
inneren Angelegenheiten das Schiff vor dem Winde treiben; wenn man unter innerem
Regiment mehr versteht als die Erledigung der laufenden Geschaefte, so ward in
dieser Zeit ueberhaupt in Rom nicht regiert. Der einzige leitende Gedanke der
regierenden Korporation war die Erhaltung und womoeglich Steigerung ihrer
usurpierten Privilegien. Nicht der Staat hatte fuer sein hoechstes Amt ein
Anrecht auf den rechten und den besten Mann, sondern jedes Glied der Kamaraderie
ein angeborenes, weder durch unbillige Konkurrenz der Standesgenossen noch durch
Uebergriffe der Ausgeschlossenen zu verkuerzendes Anrecht auf das hoechste
Staatsamt. Darum steckte die Clique zu ihrem wichtigsten politischen Ziel sich
die Beschraenkung der Wiederwahl zum Konsulat und die Ausschliessung der "neuen
Menschen"; es gelang denn auch in der Tat, jene um das Jahr 603 (151) gesetzlich
untersagt zu erhalten ^1 und auszureichen mit einem Regiment adliger
Nullitaeten. Auch die Tatenlosigkeit der Regierung nach aussen hin haengt ohne
Zweifel mit dieser gegen die Buergerlichen ausschliessenden und gegen die
einzelnen Standesglieder misstrauischen Adelspolitik zusammen. Man konnte
gemeine Leute, deren Adelsbrief ihre Taten waren, von den lauteren Kreisen der
Aristokratie nicht sicherer fern halten, als indem man ueberhaupt es keinem
gestattete, Taten zu verrichten; auch wuerde dem bestehenden Regiment der
allgemeinen Mittelmaessigkeit selbst ein adliger Eroberer Syriens oder Aegyptens
schon unbequem gewesen sein. Allerdings fehlte es auch jetzt an einer Opposition
nicht, und sie war sogar bis zu einem gewissen Grade erfolgreich. Man
verbesserte die Rechtspflege. Die Administrativjurisdiktion, wie der Senat sie
entweder selbst oder gelegentlich durch ausserordentliche Kommissionen ueber die
Provinzialbeamten ausuebte, reichte anerkanntermassen nicht aus; es war eine
fuer das ganze oeffentliche Leben der roemischen Gemeinde folgenreiche Neuerung,
dass im Jahre 605 (149) auf Vorschlag des Lucius Calpurnius Piso eine staendige
Senatorenkommission (quaestio ordinaria) niedergesetzt ward, um die Beschwerden
der Provinzialen gegen die vorgesetzten roemischen Beamten wegen Gelderpressung
in gerichtlichen Formen zu pruefen. Man suchte die Komitien von dem
uebermaechtigen Einfluss der Aristokratie zu emanzipieren. Die Panazee auch der
roemischen Demokratie war die geheime Abstimmung in den Versammlungen der
Buergerschaft, welche zuerst fuer die Magistratswahlen durch das Gabinische (615
139), dann fuer die Volksgerichte durch das Cassische (617 137), endlich fuer
die Abstimmung ueber Gesetzvorschlaege durch das Papirische Gesetz (623 131)
eingefuehrt ward. In aehnlicher Weise wurden bald nachher (um 625 129) die
Senatoren durch Volksbeschluss angewiesen, bei dem Eintritt in den Senat ihr
Ritterpferd abzugeben und also auf den bevorzugten Stimmplatz in den achtzehn
Ritterzenturien zu verzichten. In diesen auf die Emanzipation der Waehlerschaft
von dem regierenden Herrenstand gerichteten Massregeln mochte die Partei, die
sie veranlasste, vielleicht den Anfang zu einer Regeneration des Staates
erblicken; in der Tat ward dadurch in der Nichtigkeit und Unfreiheit des
gesetzlich hoechsten Organs der roemischen Gemeinde auch nicht das mindeste
geaendert, ja dieselbe allen, die es anging und nicht anging, nur noch
handgreiflicher dargetan. Ebenso prahlhaftig und ebenso eitel war die foermliche
Anerkennung der Unabhaengigkeit und Souveraenitaet der Buergerschaft, welche ihr
durch die Verlegung ihres Versammlungsplatzes von der alten Dingstatt unter dem
Rathaus auf den Marktplatz zuteil ward (um 609 145).
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^1 Im Jahre 537 (217) wurde das die Wiederwahl zum Konsulat beschraenkende
Gesetz auf die Dauer des Krieges in Italien (also bis 551 203) suspendiert (Liv.
27, 6). Nach Marcellus' Tode 546 (208) aber sind Wiederwahlen zum Konsulat, wenn
die abdizierenden Konsuln von 592 (162) nicht mitgerechnet werden, ueberhaupt
nur vorgekommen in den Jahren 547, 554, 560, 579, 585, 586, 591, 596, 599, 602
(207, 200, 194, 175, 169, 168, 163, 158, 155, 152); also nicht oefter in diesen
sechsundfuenfzig als zum Beispiel in den zehn Jahren 401-410 (353-344). Nur eine
von diesen, und eben die letzte, ist mit Verletzung des zehnjaehrigen Intervalls
erfolgt; und ohne Zweifel ist die seltsame Wahl des Marcus Marcellus, Konsul 588
(166) und 599 (155), zum dritten Konsulat fuer 602 (152), deren naehere
Umstaende wir nicht kennen, die Veranlassung der gesetzlichen Untersagung der
Wiederwahl zum Konsulat ueberhaupt (Liv. ep. 56) geworden; zumal da dieser
Antrag, als von Cato unterstuetzt (p. 55 Jordan), vor 605 (149) eingebracht
worden sein muss.
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Aber diese Fehde der formalen Volkssouveraenitaet gegen die tatsaechlich
bestehende Verfassung war zum guten Teil scheinhafter Art. Die Parteiphrasen
prasselten und klirrten; von den Parteien selbst war in den wirklich und
unmittelbar praktischen Angelegenheiten wenig zu spueren. Das ganze siebente
Jahrhundert hindurch bildeten die jaehrlichen Gemeindewahlen zu den
buergerlichen Aemtern, namentlich zum Konsulat und zur Zensur, die eigentlich
stehende Tagesfrage und den Brennpunkt des politischen Treibens; aber nur in
einzelnen seltenen Faellen waren in den verschiedenen Kandidaturen auch
entgegengesetzte politische Prinzipien verkoerpert; regelmaessig blieben
dieselben rein persoenliche Fragen und war es fuer den Gang der Angelegenheiten
gleichgueltig, ob die Majoritaet der Wahlkoerper dem Caecilier oder dem
Cornelier zufiel. Man entbehrte also dessen, was die Uebelstaende des
Parteilebens alle uebertraegt und verguetet, der freien und gemeinschaftlichen
Bewegung der Massen nach dem als zweckmaessig erkannten Ziel, und duldete sie
dennoch alle lediglich zum Frommen des kleinen Spiels der herrschenden Koterien.
Es war dem roemischen Adligen verhaeltnismaessig leicht, die Aemterlaufbahn
als Quaestor und Volkstribun zu betreten, aber die Erlangung des Konsulats und
der Zensur war auch ihm nur durch grosse und jahrelange Anstrengungen moeglich.
Der Preise waren viele, aber der lohnenden wenige; die Kaempfer liefen, wie ein
roemischer Dichter einmal sagt, wie in einer an den Schranken weiten,
allmaehlich mehr und mehr sich verengenden Bahn. Das war recht, solange das Amt
war, wie es hiess, eine "Ehre", und militaerische, politische, juristische
Kapazitaeten wetteifernd um die seltenen Kraenze warben; jetzt aber hob die
tatsaechliche Geschlossenheit der Nobilitaet den Nutzen der Konkurrenz auf und
liess nur ihre Nachteile uebrig. Mit wenigen Ausnahmen draengten die den
regierenden Familien angehoerenden jungen Maenner sich in die politische
Laufbahn, und der hastige und unreife Ehrgeiz griff bald zu wirksameren Mitteln,
als nuetzliche Taetigkeit fuer das gemeine Beste war. Die erste Bedingung fuer
die oeffentliche Laufbahn wurden maechtige Verbindungen; dieselbe begann also
nicht wie sonst im Lager, sondern in den Vorzimmern der einflussreichen Maenner.
Was sonst nur Schutzbefohlene und Freigelassene getan, dass sie ihrem Herrn am
fruehen Morgen aufzuwarten kamen und oeffentlich in seinem Gefolge erschienen,
das uebertrug sich jetzt auf die neue vornehme Klientel. Aber auch der Poebel
ist ein grosser Herr und will als solcher respektiert sein. Der Janhagel fing
an, es als sein Recht zu fordern, dass der kuenftige Konsul in jedem Lumpen von
der Gasse das souveraene Volk erkenne und ehre und jeder Bewerber bei seinem
"Umgang" (ambitus) jeden einzelnen Stimmgeber bei Namen begruesse und ihm die
Hand druecke. Bereitwillig ging die vornehme Welt ein auf diesen entwuerdigenden
Aemterbettel. Der richtige Kandidat kroch nicht bloss im Palast, sondern auch
auf der Gasse und empfahl sich der Menge durch Liebaeugeleien,
Nachsichtigkeiten, Artigkeiten von feinerer oder groeberer Qualitaet. Der Ruf
nach Reformen und die Demagogie wurden dazu vernutzt, sich bei dem Publikum
bekannt und beliebt zu machen; und sie wirkten um so mehr, je mehr sie nicht die
Sache angriffen, sondern die Person. Es ward Sitte, dass die bartlosen
Juenglinge vornehmer Geburt, um sich glaenzend in das oeffentliche Leben
einzufuehren, mit der unreifen Leidenschaft ihrer knabenhaften Beredsamkeit die
Rolle Catos weiterspielten und aus eigener Machtvollkommenheit sich womoeglich
gegen einen recht hochstehenden und recht unbeliebten Mann zu Anwaelten des
Staats aufwarfen; man liess es geschehen, dass das ernste Institut der
Kriminaljustiz und der politischen Polizei ein Mittel fuer den Aemterbewerb
ward. Die Veranstaltung oder, was noch schlimmer war, die Verheissung
prachtvoller Volkslustbarkeiten war laengst die gleichsam gesetzliche
Vorbedingung zur Erlangung des Konsulats; jetzt begannen auch schon, wie das um
595 (159) dagegen erlassene Verbot bezeugt, die Stimmen der Waehler geradezu mit
Geld erkauft zu werden. Vielleicht die schlimmste Folge des dauernden Buhlens
der regierenden Aristokratie um die Gunst der Menge war die Unvereinbarkeit
dieser Bettler- und Schmeichlerrolle mit derjenigen Stellung, welche der
Regierung den Regierten gegenueber von Rechts wegen zukommt. Das Regiment ward
dadurch aus einem Segen fuer das Volk zum Fluch. Man wagte es nicht mehr, ueber
Gut und Blut der Buerger zum Besten des Vaterlandes nach Beduerfnis zu
verfuegen. Man liess die Buergerschaft sich an den gefaehrlichen Gedanken
gewoehnen, dass sie selbst von der vorschussweisen Entrichtung direkter Abgaben
gesetzlich befreit sei - nach dem Kriege gegen Perseus ist kein Schoss mehr von
der Gemeinde gefordert worden. Man liess lieber das Heerwesen verfallen, als
dass man die Buerger zu dem verhassten ueberseeischen Dienst zwang; wie es den
einzelnen Beamten erging, die die Konskription nach der Strenge des Gesetzes
durchzufuehren versuchten, ist schon gesagt worden.
In verhaengnisvoller Weise verschlingen sich in dem Rom dieser Zeit die
zwiefachen Missstaende einer ausgearteten Oligarchie und einer noch
unentwickelten, aber schon im Keime vom Wurmfrass ergriffenen Demokratie. Ihren
Parteinamen nach, welche zuerst in dieser Periode gehoert werden, wollten die
"Optimaten" den Willen der Besten, die "Popularen" den der Gemeinde zur Geltung
bringen; in der Tat gab es in dem damaligen Rom weder eine wahre Aristokratie
noch eine wahrhaft sich selber bestimmende Gemeinde. Beide Parteien stritten
gleichermassen fuer Schatten und zaehlten in ihren Reihen nur entweder
Schwaermer oder Heuchler. Beide waren von der politischen Faeulnis gleichmaessig
ergriffen und in der Tat beide gleich nichtig. Beide waren mit Notwendigkeit in
den Status quo gebannt, da weder hueben noch drueben ein politischer Gedanke,
geschweige denn ein politischer Plan sich fand, der ueber diesen hinausgegangen
waere, und so vertrugen denn auch beide sich miteinander so vollkommen, dass sie
auf jeden Schritt sich in den Mitteln wie in den Zwecken begegneten und der
Wechsel der Partei mehr ein Wechsel der politischen Taktik als der politischen
Gesinnung war. Das Gemeinwesen haette ohne Zweifel gewonnen, wenn entweder die
Aristokratie statt der Buergerschaftswahlen geradezu einen erblichen Turnus
eingefuehrt oder die Demokratie ein wirkliches Demagogenregiment aus sich
hervorgebracht haette. Aber diese Optimaten und diese Popularen des beginnenden
siebenten Jahrhunderts waren die einen fuer die andern viel zu unentbehrlich, um
sich also auf Tod und Leben zu bekriegen; sie konnten nicht bloss nicht einander
vernichten, sondern, wenn sie es gekonnt haetten, haetten sie es nicht gewollt.
Darueber wich denn freilich politisch wie sittlich das Gemeinwesen immer mehr
aus den Fugen und ging seiner voelligen Aufloesung entgegen.
Es ging denn auch die Krise, durch welche die roemische Revolution
eroeffnet ward, nicht aus diesem duerftigen politischen Konflikt hervor, sondern
aus den oekonomischen und sozialen Verhaeltnissen, welche die roemische
Regierung wie alles andere lediglich gehen liess und welche also Gelegenheit
fanden, den seit langem gaerenden Krankheitsstoff jetzt ungehemmt mit
furchtbarer Raschheit und Gewaltsamkeit zu zeigen. Seit uralter Zeit beruhte die
roemische Oekonomie auf den beiden ewig sich suchenden und ewig hadernden
Faktoren, der baeuerlichen und der Geldwirtschaft. Schon einmal hatte die
letztere im engsten Bunde mit dem grossen Grundbesitz Jahrhunderte lang gegen
den Bauernstand einen Krieg gefuehrt, der mit dem Untergang zuerst der
Bauernschaft und demnaechst des ganzen Gemeinwesens endigen zu muessen schien,
aber ohne eigentliche Entscheidung abgebrochen ward infolge der gluecklichen
Kriege und der hierdurch moeglich gemachten umfaenglichen und grossartigen
Domanialaufteilung. Es ward schon frueher gezeigt, dass in derselben Zeit,
welche den Gegensatz zwischen Patriziern und Plebejern unter veraenderten Namen
erneuerte, das unverhaeltnismaessig anschwellende Kapital einen zweiten Sturm
gegen die baeuerliche Wirtschaft vorbereitete. Zwar der Weg war ein anderer.
Ehemals war der kleine Bauer ruiniert worden durch Vorschuesse, die ihn
tatsaechlich zum Meier seines Glaeubigers herabdrueckten; jetzt ward er
erdrueckt durch die Konkurrenz des ueberseeischen und insonderheit des
Sklavenkorns. Man schritt fort mit der Zeit; das Kapital fuehrte gegen die
Arbeit, das heisst gegen die Freiheit der Person, den Krieg, natuerlich wie
immer in strengster Form Rechtens, aber nicht mehr in der unziemlichen Weise,
dass der freie Mann der Schulden wegen Sklave ward, sondern von Haus aus mit
rechtmaessig gekauften und bezahlten Sklaven; der ehemalige hauptstaedtische
Zinsherr trat auf in zeitgemaesser Gestalt als industrieller Plantagenbesitzer.
Allein das letzte Ergebnis war in beiden Faellen das gleiche: die Entwertung der
italischen Bauernstellen, die Verdraengung der Kleinwirtschaft zuerst in einem
Teil der Provinzen, sodann in Italien durch die Gutswirtschaft; die vorwiegende
Richtung auch dieser in Italien auf Viehzucht und auf Oel- und Weinbau;
schliesslich die Ersetzung der freien Arbeiter in den Provinzen wie in Italien
durch Sklaven. Eben wie die Nobilitaet deshalb gefaehrlicher war als das
Patriziat, weil jene nicht wie dieses durch eine Verfassungsaenderung sich
beseitigen liess, so war auch diese neue Kapitalmacht darum gefaehrlicher als
die des vierten und fuenften Jahrhunderts, weil gegen sie mit Aenderungen des
Landrechts nichts auszurichten war.
Ehe wir es versuchen, den Verlauf dieses zweiten grossen Konflikts von
Arbeit und Kapital zu schildern, wird es notwendig, ueber das Wesen und den
Umfang der Sklavenwirtschaft hier einige Andeutungen einzuschalten. Wir haben es
hier nicht zu tun mit der alten, gewissermassen unschuldigen Feldsklaverei,
wonach der Bauer entweder zugleich mit seinem Knechte ackert oder auch, wenn er
mehr Land besitzt, als er bewirtschaften kann, denselben entweder als Verwalter
oder auch unter Verpflichtung zur Ablieferung eines Teils vom Ertrag
gewissermassen als Paechter ueber einen abgeteilten Meierhof setzt; solche
Verhaeltnisse bestanden zwar zu allen Zeiten - um Comum zum Beispiel waren sie
noch in der Kaiserzeit die Regel -, allein als Ausnahmezustaende bevorzugter
Landschaften und milde verwalteter Gueter. Hier ist die Grosswirtschaft mit
Sklaven gemeint, welche im roemischen Staat wie einst im karthagischen aus der
Uebermacht des Kapitals sich entwickelte. Waehrend fuer den Sklavenbestand der
aelteren Zeit die Kriegsgefangenschaft und die Erblichkeit der Knechtschaft
ausreichten, beruht diese Sklavenwirtschaft, voellig wie die amerikanische, auf
systematisch betriebener Menschenjagd, da bei der auf Leben und Fortpflanzung
der Sklaven wenig Ruecksicht nehmenden Nutzungsweise die Sklavenbevoelkerung
bestaendig zusammenschwand und selbst die stets neue Massen auf den Sklavenmarkt
liefernden Kriege das Defizit zu decken nicht ausreichten. Kein Land, wo dieses
jagdbare Wild sich vorfand, blieb hiervon verschont; selbst in Italien war es
keineswegs unerhoert, dass der arme Freie von seinem Brotherrn unter die Sklaven
eingestellt ward. Das Negerland jener Zeit aber war Vorderasien 2, wo die
kretischen und kilikischen Korsaren, die rechten gewerbsmaessigen Sklavenjaeger
und Sklavenhaendler, die Kuesten Syriens und die griechischen Inseln ausraubten,
wo mit ihnen wetteifernd die roemischen Zollpaechter in den Klientelstaaten
Menschenjagden veranstalteten und die Gefangenen unter ihr Sklavengesinde
untersteckten - es geschah dies in solchem Umfang, dass um 650 (100) der Koenig
von Bithynien sich unfaehig erklaerte, den verlangten Zuzug zu leisten, da aus
seinem Reich alle arbeitsfaehigen Leute von den Zollpaechtern weggeschleppt
seien. Auf dem grossen Sklavenmarkt in Delos, wo die kleinasiatischen
Sklavenhaendler ihre Ware an die italischen Spekulanten absetzten, sollen an
einem Tage bis zu 10000 Sklaven des Morgens ausgeschifft und vor Abend alle
verkauft gewesen sein - ein Beweis zugleich, welche ungeheure Zahl von Sklaven
geliefert ward und wie dennoch die Nachfrage immer noch das Angebot ueberstieg.
Es war kein Wunder. Bereits in der Schilderung der roemischen Oekonomie des
sechsten Jahrhunderts ist es dargelegt worden, dass dieselbe wie ueberhaupt die
gesamte Grosswirtschaft des Altertums auf dem Sklavenbetriebe ruht. Worauf immer
die Spekulation sich warf, ihr Werkzeug war ohne Ausnahme der rechtlich zum Tier
herabgesetzte Mensch. Durch Sklaven wurden grossenteils die Handwerke betrieben,
so dass der Ertrag dem Herrn zufiel. Durch die Sklaven der
Steuerpachtgesellschaft wurde die Erhebung der oeffentlichen Gefaelle in den
untern Graden regelmaessig beschafft. Ihre Haende besorgten den Grubenbau, die
Pechhuetten und was derart sonst vorkommt; schon frueh kam es auf, Sklavenherden
nach den spanischen Bergwerken zu senden, deren Vorsteher sie bereitwillig
annahmen und hoch verzinsten. Die Wein- und Olivenlese wurde in Italien nicht
von den Leuten auf dem Gut bewirkt, sondern einem Sklavenbesitzer in Akkord
gegeben. Die Huetung des Viehs ward allgemein durch Sklaven beschafft; der
bewaffneten, haeufig berittenen Hirtensklaven auf den grossen Weidestrecken
Italiens ist bereits gedacht worden, und dieselbe Art der Weidewirtschaft ward
bald auch in den Provinzen ein beliebter Gegenstand der roemischen Spekulation -
so war zum Beispiel Dalmatien kaum erobert (599 155), als die roemischen
Kapitalisten anfingen, dort in italischer Weise die Viehzucht im grossen zu
betreiben. Aber in jeder Beziehung weit schlimmer noch war der eigentliche
Plantagenbau, die Bestellung der Felder durch eine Herde nicht selten mit dem
Eisen gestempelter Sklaven, welche mit Fussschellen an den Beinen unter
Aufsehern des Tags die Feldarbeiten taten und nachts in dem gemeinschaftlichen,
haeufig unterirdischen Arbeiterzwinger zusammengesperrt wurden. Diese
Plantagenwirtschaft war aus dem Orient nach Karthago gewandert und scheint durch
die Karthager nach Sizilien gelangt zu sein, wo, wahrscheinlich aus diesem
Grunde, die Plantagenwirtschaft frueher und vollstaendiger als in irgendeinem
anderen Gebiet der roemischen Herrschaft durchgebildet auftritt 3. Die
Leontinische Feldmark von etwa 30 000 Jugera urbaren Landes, die als roemische
Domaene von den Zensoren verpachtet wurde, finden wir einige Dezennien nach der
Gracchenzeit geteilt unter nicht mehr als 84 Paechter, von denen also
durchschnittlich auf jeden 360 Jugera kamen und unter denen nur ein einziger
Leontiner, die uebrigen fremde, meistens roemische Spekulanten waren. Man sieht
hieraus, mit welchem Eifer die roemischen Spekulanten hier in die Fussstapfen
ihrer Vorgaenger traten und welche grossartigen Geschaefte mit sizilischem Vieh
und sizilischem Sklavenkorn die roemischen und nichtroemischen Spekulanten
gemacht haben werden, die mit ihren Hutungen und Pflanzungen die schoene Insel
bedeckten. Italien indes blieb von dieser schlimmsten Form der Sklavenwirtschaft
fuer jetzt noch wesentlich verschont. Wenngleich in Etrurien, wo die
Plantagenwirtschaft zuerst in Italien aufgekommen zu sein scheint und wo sie
wenigstens vierzig Jahre spaeter in ausgedehntestem Umfange bestand,
hoechstwahrscheinlich schon jetzt es an Arbeiterzwingern nicht fehlte, so ward
doch die italische Ackerwirtschaft in dieser Zeit noch ueberwiegend durch freie
Leute oder doch durch ungefesselte Knechte, daneben durch Akkordierung
groesserer Arbeiten an Unternehmer betrieben. Recht deutlich zeigt sich der
Unterschied des italischen Sklavenwesens von dem sizilischen darin, dass bei dem
sizilischen Sklavenaufstand 619-622 (135-1 S2) allein die Sklaven der nach
italischer Weise lebenden mamertinischen Gemeinde sich nicht beteiligten.
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2 Auch damals wurde es geltend gemacht, dass die Menschenrasse daselbst
durch besondere Dauerhaftigkeit sich vorzugsweise zum Sklavenstand eigne. Schon
Plautus (Trip. 542) preist "den Syrerschlag, der mehr vertraegt als ein andrer
sonst".
3 Auch die hybrid griechische Benennung des Arbeitshauses (ergastulum von
ergazomai nach Analogie von stabulum, operculum) deutet darauf, dass diese
Wirtschaftsweise aus einer Gegend des griechischen Sprachgebiets und in einer
noch nicht hellenisch durchgebildeten Zeit den Roemern zukam.
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Das Meer von Jammer und Elend, das in diesem elendesten aller Proletariate
sich vor unsern Augen auftut, mag ergruenden, wer den Blick in solche Tiefen
wagt; es ist leicht moeglich, dass mit denen der roemischen Sklavenschaft
verglichen die Summe aller Negerleiden ein Tropfen ist. Hier kommt es weniger
auf den Notstand der Sklavenschaft selbst an als auf die Gefahren, die sie ueber
den roemischen Staat brachte und auf das Verhalten der Regierung denselben
gegenueber. Dass dies Proletariat weder durch die Regierung ins Leben gerufen
war noch geradezu von ihr beseitigt werden konnte, leuchtet ein; es haette dies
nur geschehen koennen durch Heilmittel, die noch schlimmer gewesen waeren als
das Uebel. Der Regierung lag nur ob, teils die unmittelbare Gefahr fuer Eigentum
und Leben, womit das Sklavenproletariat die Staatsangehoerigen bedrohte, durch
eine ernstliche Sicherheitspolizei abzuwenden, teils auf die moeglichste
Beschraenkung des Proletariats durch Hebung der freien Arbeit hinzuwirken. Sehen
wir, wie die roemische Aristokratie diesen beiden Aufgaben nachkam.
Wie die Polizei gehandhabt ward, zeigen die allerorts ausbrechenden
Sklavenverschwoerungen und Sklavenkriege. In Italien schienen die wuesten
Vorgaenge, wie sie in den unmittelbaren Nachwehen des Hannibalischen Krieges
vorgekommen waren, sich jetzt zu erneuern; auf einmal musste man in der
Hauptstadt 150, in Minturnae 450, in Sinuessa gar 4000 Sklaven aufgreifen und
hinrichten lassen (621 133). Noch schlimmer stand es begreiflicherweise in den
Provinzen. Auf dem grossen Sklavenmarkt zu Delos und in den attischen
Silbergruben hatte man um dieselbe Zeit die aufstaendischen Sklaven mit den
Waffen zu Paaren zu treiben. Der Krieg gegen Aristonikos und seine
kleinasiatischen "Sonnenstaedter" war wesentlich ein Krieg der Besitzenden gegen
die empoerten Sklaven. Am aergsten aber stand es natuerlicherweise in dem
gelobten Lande des Plantagensystems, in Sizilien. Die Raeuberwirtschaft war
daselbst, zumal im Binnenlande, laengst ein stehendes Uebel; sie fing an, sich
zur Insurrektion zu steigern. Ein reicher und mit den italischen Herren in
industrieller Exploitierung seines lebendigen Kapitals wetteifernder Pflanzer
von Enna (Castrogiovanni), Damophilos, ward von seinen erbitterten Feldsklaven
ueberfallen und ermordet; worauf die wilde Schar in die Stadt Enna stroemte und
dort derselbe Vorgang in groesserem Massstab sich erneuerte. In Masse erhoben
die Sklaven sich gegen ihre Herren, toeteten oder knechteten sie und riefen an
die Spitze des schon ansehnlichen Insurgentenheeres einen Wundermann aus dem
syrischen Apameia, der Feuer zu speien und zu orakeln verstand, bisher als
Sklave Eunus genannt, jetzt als Haupt der Insurgenten Antiochos der Koenig der
Syrer. Warum auch nicht? Hatte doch wenige Jahre zuvor ein anderer syrischer
Knecht, der nicht einmal ein Prophet war, in Antiocheia selbst das koenigliche
Stirnband der Seleukiden getragen. Der tapfere "Feldherr" des neuen Koenigs, der
griechische Sklave Achaeos, durchstreifte die Insel, und nicht bloss die wilden
Hirten stroemten von nah und fern unter die seltsamen Fahnen - auch die freien
Arbeiter, die den Pflanzern alles Ueble goennten, machten mit den empoerten
Sklaven gemeinschaftliche Sache. In einer anderen Gegend Siziliens folgte ein
kilikischer Sklave, Kleon, einst in seiner Heimat ein dreister Raeuber, dem
gegebenen Beispiel und besetzte Akragas, und da die Haeupter miteinander sich
vertrugen, gelang es ihnen nach manchen geringeren Erfolgen zuletzt, den Praetor
Lucius Hypsaeus selbst mit seiner groesstenteils aus sizilischen Milizen
bestehenden Armee gaenzlich zu schlagen und sein Lager zu erobern. Hierdurch kam
fast die ganze Insel in die Gewalt der Aufstaendischen, deren Zahl nach den
maessigsten Angaben sich auf 70000 Waffenfaehige belaufen haben soll; die Roemer
sahen sich genoetigt, drei Jahre nacheinander (620-622 134-132) Konsuln und
konsularische Heere nach Sizilien abzusenden, bis nach manchen unentschiedenen,
ja zum Teil ungluecklichen Gefechten endlich mit der Einnahme von Tauromenion
und von Enna der Aufstand ueberwaeltigt war. Vor der letzteren Stadt, in die
sich die entschlossenste Mannschaft der Insurgenten geworfen hatte, um sich in
dieser unbezwinglichen Stellung zu verteidigen, wie sich Maenner verteidigen,
die an Rettung wie an Begnadigung verzweifeln, lagerten die Konsuln Lucius
Calpurnius Piso und Publius Rupilius zwei Jahre hindurch und bezwangen sie
endlich mehr durch den Hunger als durch die Waffen 4.
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4 Noch jetzt finden sich vor Castrogiovanni, da, wo der Aufgang am
wenigsten jaeh ist, nicht selten roemische Schleuderkugeln mit dem Namen des
Konsuls von 621 (133): L. Piso L. f. cos.
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Das waren die Ergebnisse der Sicherheitspolizei, wie sie von dem roemischen
Senat und dessen Beamten in Italien und den Provinzen gehandhabt ward. Wenn die
Aufgabe, das Proletariat zu beseitigen, die ganze Macht und Weisheit der
Regierung erfordert und nur zu oft uebersteigt, so ist dagegen die polizeiliche
Niederhaltung desselben fuer jedes groessere Gemeinwesen verhaeltnismaessig
leicht. Es staende wohl um die Staaten, wenn die besitzlosen Massen ihnen keine
andere Gefahr bereiteten, als wie sie auch droht von Baeren und Woelfen; nur der
Aengsterling und wer mit der albernen Angst der Menge Geschaefte macht,
prophezeit den Untergang der buergerlichen Ordnung in Sklavenaufstaenden oder
Proletariatinsurrektionen. Aber selbst dieser leichteren Aufgabe der Baendigung
der gedrueckten Massen ward von der roemischen Regierung trotz des tiefsten
Friedens und der unerschoepflichen Hilfsquellen des Staats keineswegs genuegt.
Es war dies ein Zeichen ihrer Schwaeche; aber nicht ihrer Schwaeche allein. Von
Rechts wegen war der roemische Statthalter verpflichtet, die Landstrassen rein
zu halten und die aufgegriffenen Raeuber, wenn es Sklaven waren, ans Kreuz
schlagen zu lassen; natuerlich, denn Sklavenwirtschaft ist nicht moeglich ohne
Schreckensregiment. Allein in dieser Zeit war in Sizilien wohl auch mitunter,
wenn die Strassen allzu unsicher wurden, von dem Statthalter eine Razzia
veranstaltet, aber um es mit den italischen Pflanzern nicht zu verderben, wurden
die gefangenen Raeuber von der Behoerde in der Regel an ihre Herren zu
gutfindender Bestrafung abgegeben; und diese Herren waren sparsame Leute, welche
ihren Hirtenknechten, wenn sie Kleider begehrten, mit Pruegel antworteten und
mit der Frage, ob denn die Reisenden nackt durch das Land zoegen. Die Folge
solcher Konnivenz war denn, dass nach Ueberwaeltigung des Sklavenaufstandes der
Konsul Publius Rupilius alles, was lebend in seine Haende kam, es heisst ueber
20000 Menschen, ans Kreuz schlagen liess. Es war freilich nicht laenger
moeglich, das Kapital zu schonen.
Unendlich schwerer zu gewinnende, freilich auch unendlich reichere Fruechte
verhiess die Fuersorge der Regierung fuer Hebung der freien Arbeit und
folgeweise fuer Beschraenkung des Sklavenproletariats. Leider geschah in dieser
Beziehung schlechterdings gar nichts. In der ersten sozialen Krise hatte man
gesetzlich dem Gutsherrn vorgeschrieben, eine nach der Zahl seiner
Sklavenarbeiter abgemessene Anzahl freier Arbeiter zu verwenden. Jetzt ward auf
Veranlassung der Regierung eine punische Schrift ueber den Landbau, ohne Zweifel
eine Anweisung zur Plantagenwirtschaft nach karthagischer Art, zu Nutz und
Frommen der italischen Spekulation ins Lateinische uebersetzt -das erste und
einzige Beispiel einer von dem roemischen Senat veranlassten literarischen
Unternehmung! Dieselbe Tendenz offenbart sich in einer wichtigeren Angelegenheit
oder vielmehr in der Lebensfrage fuer Rom, in dem Kolonisierungssystem. Es
bedurfte nicht der Weisheit, nur der Erinnerung an den Verlauf der ersten
sozialen Krise Roms, um zu begreifen, dass gegen ein agrikoles Proletariat die
einzige ernstliche Abhilfe in einem umfassenden und regularisierten
Emigrationssystem bestand, wozu die aeusseren Verhaeltnisse Roms die guenstigste
Gelegenheit darboten. Bis gegen das Ende des sechsten Jahrhunderts hatte man in
der Tat dem fortwaehrenden Zusammenschwinden des italischen Kleinbesitzes durch
fortwaehrende Gruendung neuer Bauernhufen entgegengewirkt. Es war dies zwar
keineswegs in dem Masse geschehen, wie es haette geschehen koennen und sollen;
man hatte nicht bloss das seit alten Zeiten von Privaten okkupierte Domanialland
nicht eingezogen, sondern auch weitere Okkupationen neugewonnenen Landes
gestattet und andere sehr wichtige Erwerbungen, wie namentlich das Gebiet von
Capua, zwar nicht der Okkupation preisgegeben, aber doch auch nicht zur
Verteilung gebracht, sondern als nutzbare Domaene verwertet. Dennoch hatte die
Landanweisung segensreich gewirkt, vielen der Notleidenden Hilfe und allen
Hoffnung gegeben. Allein, nach der Gruendung von Luna (577 177) findet sich,
ausser der vereinzelt stehenden Anlage der picenischen Kolonie Auximum (Osimo)
im Jahre 597 (157), von weiteren Landanweisungen auf lange hinaus keine Spur.
Die Ursache ist einfach. Da seit der Besiegung der Boier und Apuaner ausser den
wenig lockenden ligurischen Taelern neues Gebiet in Italien nicht gewonnen ward,
war daselbst kein anderes Land zu verteilen als das verpachtete oder okkupierte
Domanialland, dessen Antastung der Aristokratie begreiflicherweise jetzt
ebensowenig genehm war wie vor dreihundert Jahren. Das ausserhalb Italien!
gewonnene Gebiet zur Verteilung zu bringen, schien aber aus politischen Gruenden
unzulaessig; Italien sollte das herrschende Land bleiben und die Scheidewand
zwischen italischen Herren und dienenden Provinzialen nicht fallen. Wenn man
nicht die Ruecksichten der hoeheren Politik oder gar die Standesinteressen
beiseite setzen wollte, blieb der Regierung nichts uebrig, als dem Ruin des
italischen Bauernstandes zuzusehen, und also geschah es. Die Kapitalisten fuhren
fort, die kleinen Besitzer auszukaufen, auch wohl, wenn sie eigensinnig blieben,
deren Aecker ohne Kaufbrief einzuziehen, wobei es begreiflich nicht immer
guetlich abging - eine besonders beliebte Weise war es, dem Bauer, waehrend er
im Felde stand, Weib und Kinder vom Hofe zu stossen und ihn mittels der Theorie
der vollendeten Tatsache zur Nachgiebigkeit zu bringen. Die Gutsbesitzer fuhren
fort, statt der freien Arbeiter sich vorwiegend der Sklaven zu bedienen, schon
deshalb, weil diese nicht wie jene zum Kriegsdienst abgerufen werden konnten,
und dadurch das freie Proletariat auf das gleiche Niveau des Elends mit der
Sklavenschaft herabzudruecken. Sie fuhren fort, durch das spottwohlfeile
sizilische Sklavenkorn das italische von dem hauptstaedtischen Markt zu
verdraengen und dasselbe auf der ganzen Halbinsel zu entwerten. In Etrurien
hatte die alte einheimische Aristokratie im Bunde mit den roemischen
Kapitalisten schon im Jahre 520 (184) es so weit gebracht, dass es dort keinen
freien Bauern mehr gab. Es konnte auf dem Markt der Hauptstadt laut gesagt
werden, dass die Tiere ihr Lager haetten, den Buergern aber nichts geblieben sei
als Luft und Sonnenschein und dass die, welche die Herren der Welt hiessen,
keine Scholle mehr ihr eigen nennten. Den Kommentar zu diesen Worten lieferten
die Zaehlungslisten der roemischen Buergerschaft. Vom Ende des Hannibalischen
Krieges bis zum Jahre 595 (159) ist die Buergerzahl in stetigem Steigen, wovon
die Ursache wesentlich zu suchen ist in den fortdauernden und ansehnlichen
Verteilungen von Domanialland; nach 595 (159), wo die Zaehlung 328000
waffenfaehige Buerger ergab, zeigt sich dagegen ein regelmaessiges Sinken, indem
sich die Liste im Jahre 600 (154) auf 324000, im Jahre 607 (147) auf 322000, im
Jahre 623 (131) auf 319000 waffenfaehige Buerger stellt - ein erschreckendes
Ergebnis fuer eine Zeit tiefen inneren und aeusseren Friedens. Wenn das so
fortging, loeste die Buergerschaft sich auf in Pflanzer und Sklaven und konnte
schliesslich der roemische Staat, wie es bei den Parthern geschah, seine
Soldaten auf dem Sklavenmarkt kaufen.
So standen die aeusseren und inneren Verhaeltnisse Roms, als der Staat
eintrat in das siebente Jahrhundert seines Bestandes. Wohin man auch das Auge
wandte, fiel es auf Missbraeuche und Verfall; jedem einsichtigen und
wohlwollenden Mann musste die Erwaegung sich aufdraengen, ob denn hier nicht zu
helfen und zu bessern sei. Es fehlte an solchen in Rom nicht; aber keiner schien
mehr berufen zu dem grossen Werk der politischen und sozialen Reform als der
Lieblingssohn des Aemilius Paullus, der Adoptivenkel des grossen Scipio, der
dessen glorreichen Afrikanernamen nicht bloss kraft Erb-, sondern auch kraft
eigenen Rechtes trug, Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus (570-625
184-129). Gleich seinem Vater war er ein massvoller, durch und durch gesunder
Mann, nie krank am Koerper und nie unsicher ueber den naechsten und notwendigen
Entschluss. Schon in seiner Jugend hatte er sich ferngehalten von dem
gewoehnlichen Treiben der politischen Anfaenger, dem Antichambrieren in den
Zimmern der vornehmen Senatoren und den gerichtlichen Deklamationen. Dagegen
liebte er die Jagd - als Siebzehnjaehriger hatte er, nachdem er den Feldzug
gegen Perseus unter seinem Vater mit Auszeichnung mitgemacht hatte, als
Belohnung dafuer sich freie Pirsch in dem seit vier Jahren unberuehrten Wildhag
der Koenige von Makedonien erbeten - und vor allen Dingen wandte er gern seine
Musse auf wissenschaftlichen und literarischen Genuss. Durch die Fuersorge
seines Vaters war er frueh in diejenige echte griechische Bildung eingefuehrt
worden, welche ueber das geschmacklose Hellenisieren der gemeinen Halbbildung
hinaushob; durch seine ernste und treffende Wuerdigung des Echten und des
Schlechten in dem griechischen Wesen und durch sein adliges Auftreten imponierte
dieser Roemer den Hoefen des Ostens, ja sogar den spottlustigen Alexandrinern.
Seinen Hellenismus erkannte man vor allem in der feinen Ironie seiner Rede und
in seinem klassisch reinen Latein. Obwohl nicht eigentlich Schriftsteller,
zeichnete er doch wie Cato seine politischen Reden auf - sie wurden gleich den
Briefen seiner Adoptivschwester, der Mutter der Gracchen, von den spaeteren
Literatoren als Meisterstuecke mustergueltiger Prosa geschaetzt - und zog mit
Vorliebe die besseren griechischen und roemischen Literaten in seinen Kreis,
welcher plebejische Umgang ihm freilich nicht wenig verdacht ward von denjenigen
Kollegen im Senat, die auf ihre edle Geburt als einzige Auszeichnung angewiesen
waren. Ein sittlich fester und zuverlaessiger Mann, galt sein Wort bei Freund
und Feind; er mied Bauten und Spekulationen und lebte einfach; dafuer handelte
er in Geldangelegenheiten nicht bloss ehrlich und uneigennuetzig, sondern auch
mit einer dem kaufmaennischen Sinn seiner Zeitgenossen seltsam duenkenden
Zartheit und Liberalitaet. Er war ein tuechtiger Soldat und Offizier; aus dem
Afrikanischen Krieg brachte er den Ehrenkranz heim, der wegen Rettung
gefaehrdeter Buerger mit eigener Lebensgefahr erteilt zu werden pflegte, und
beendete den Krieg als Feldherr, den er als Offizier begonnen hatte; an wirklich
schwierigen Aufgaben sein Feldherrngeschick zu erproben, boten die Umstaende ihm
keine Gelegenheit. Scipio war so wenig wie sein Vater eine geniale Natur - davon
zeugt schon seine Vorliebe fuer Xenophon, den nuechternen Militaer und korrekten
Schriftsteller -, aber ein rechter und echter Mann, der vor andern berufen
schien, dem beginnenden Verfall durch organische Reformen zu wehren. Um so
bezeichnender ist es, dass er es nicht versucht hat. Zwar half er, wo und wie er
konnte, Missbraeuche abstellen und verhindern und arbeitete namentlich hin auf
Verbesserung der Rechtspflege. Hauptsaechlich durch seinen Beistand vermochte
Lucius Cassius, ein tuechtiger Mann von altvaeterischer Strenge und
Ehrenhaftigkeit, gegen den heftigsten Widerstand der Optimaten, sein Stimmgesetz
durchzubringen, welches fuer die noch immer den wichtigsten Teil der
Kriminaljurisdiktion umfassenden Volksgerichte die geheime Abstimmung
einfuehrte. Ebenso zog er, der die Knabenanklagen nicht hatte mitmachen moegen,
in seinen reifen Jahren selbst mehrere der schuldigsten Maenner der Aristokratie
vor die Gerichte. In gleichem Geiste hat er als Feldherr vor Karthago und vor
Numantia die Weiber und die Pfaffen zu den Toren des Lagers hinausgejagt und das
Soldatengesindel wieder zurueck gezwungen unter den eisernen Druck der alten
Heereszucht, als Zensor (612 142) unter der vornehmen Welt der glattkinnigen
Manschettentraeger aufgeraeumt und mit ernsten Worten die Buergerschaft ermahnt,
an den rechtschaffenen Sitten der Vaeter treulich zu halten. Aber niemand, und
er selber am wenigsten, konnte es verkennen, dass die Verschaerfung der
Rechtspflege und das vereinzelte Dazwischenfahren nicht einmal Anfaenge waren
zur Heilung der organischen Uebel, an denen der Staat krankte. An diese hat
Scipio nicht geruehrt. Gaius Laelius (Konsul 614 140), Scipios aelterer Freund
und sein politischer Lehrmeister und Vertrauter, hatte den Plan gefasst, die
Einziehung des unvergebenen, aber vorlaeufig okkupierten italischen
Domaniallandes vorzuschlagen und durch dessen Aufteilung der zusehends
verfallenden italischen Bauernschaft Hilfe zu bringen; allein er stand von dem
Vorschlag ab, als er sah, welchen Sturm er zu erregen im Begriff war, und ward
fortan "der Verstaendige" genannt. Auch Scipio dachte also. Er war von der
Groesse des Uebels voellig durchdrungen und griff, wo er nur sich selber wagte,
mit ehrenwertem Mut ohne Ansehen der Person ruecksichtslos an und durch; allein
er hatte sich auch ueberzeugt, dass dem Lande nur zu helfen sei um den Preis
derselben Revolution, die im vierten und fuenften Jahrhundert aus der
Reformfrage sich entsponnen hatte, und ihm schien, mit Recht oder mit Unrecht,
das Heilmittel schlimmer als das Uebel. So stand er mit dem kleinen Kreis seiner
Freunde zwischen den Aristokraten, die ihm seine Befuerwortung des Cassischen
Gesetzes nie verziehen, und den Demokraten, denen er doch auch nicht genuegte
noch genuegen wollte, waehrend seines Lebens einsam, nach seinem Tode gefeiert
von beiden Parteien, bald als Vormann der Aristokratie, bald als Beguenstiger
der Reform. Bis auf seine Zeit hatten die Zensoren bei der Niederlegung ihres
Amtes die Goetter angerufen, dem Staat groessere Macht und Herrlichkeit zu
verleihen; der Zensor Scipio betete, dass sie geneigen moechten, den Staat zu
erhalten. Sein ganzes Glaubensbekenntnis liegt in dem schmerzlichen Ausruf.
Aber wo der Mann verzagte, der zweimal das roemische Heer aus tiefem
Verfall zum Siege gefuehrt hatte, da getraute sich ein tatenloser Juengling, zum
Retter Italiens sich aufzuwerfen. Er hiess Tiberius Sempronius Gracchus (591-621
163-133). Sein gleichnamiger Vater (Konsul 577, 591; Zensor 585 177, 163;169)
war das rechte Musterbild eines roemischen Aristokraten. Die glaenzende, nicht
ohne Bedrueckung der abhaengigen Gemeinden zuwege gebrachte Pracht seiner
aedilizischen Spiele hatte ihm schweren und verdienten Tadel vom Senat
zugezogen, waehrend er durch sein Einschreiten in dem leidigen Prozess gegen die
persoenlich ihm verfeindeten Scipionen sein ritterliches und wohl auch sein
Standesgefuehl, durch sein energisches Auftreten gegen die Freigelassenen in
seiner Zensur seine konservative Gesinnung betaetigte und als Statthalter der
Ebroprovinz durch Tapferkeit und vor allem durch Gerechtigkeit sich um sein
Vaterland ein bleibendes Verdienst und zugleich in den Gemuetern der
unterworfenen Nation ein dauerndes Gedaechtnis in Ehrfurcht und Liebe erwarb.
Seine Mutter Cornelia war die Tochter des Siegers von Zama, welcher
ebenjenes hochherzigen Dazwischentretens wegen den bisherigen Gegner sich zum
Schwiegersohn erkoren hatte, sie selbst eine hochgebildete und bedeutende Frau,
die nach dem Tode ihres viel aelteren Gemahls die Hand des Koenigs von Aegypten
zurueckgewiesen hatte und im Andenken an den Gemahl und den Vater die drei ihr
gebliebenen Kinder erzog. Der aeltere von den beiden Soehnen, Tiberius, war eine
gute und sittliche Natur, sanften Blicks und ruhigen Wesens, wie es schien, zu
allem andern eher bestimmt als zum Agitator der Massen. Mit allen seinen
Beziehungen und Anschauungen gehoerte er dem Scipionischen Kreise an, dessen
feine griechische und nationale Durchbildung er und seine Geschwister teilten.
Scipio Aemilianus war zugleich sein Vetter und seiner Schwester Gemahl; unter
ihm hatte Tiberius als Achtzehnjaehriger die Erstuermung Karthagos mitgemacht
und durch seine Tapferkeit das Lob des strengen Feldherrn und kriegerische
Auszeichnungen erworben. Dass der tuechtige junge Mann die Anschauungen ueber
den Verfall des Staats an Haupt und Gliedern, wie sie in diesem Kreise gangbar
waren, die Gedanken namentlich ueber die Hebung des italischen Bauernstandes mit
aller Lebendigkeit und allem Rigorismus der Jugend in sich aufnahm und
steigerte, ist begreiflich; waren es doch nicht bloss die jungen Leute, denen
das Zurueckweichen des Laelius vor der Durchfuehrung seiner Reformideen nicht
verstaendig erschien, sondern schwach. Appius Claudius, der gewesene Konsul (611
143) und Zensor (618 136), einer der angesehensten Maenner des Senats, tadelte
mit all der gewaltsamen Leidenschaftlichkeit, die in dem Geschlecht der Claudier
erblich war und blieb, dass der Scipionische Kreis den Plan der
Domaenenaufteilung so rasch wieder habe fallen lassen; um so bitterer, wie es
scheint, weil er mit Scipio Aemilianus bei der Bewerbung um die Zensur in
persoenliche Konflikte gekommen war. Ebenso sprach Publius Crassus Mucianus sich
aus, der derzeitige Oberpontifex, als Mensch und Rechtsgelehrter im Senat wie in
der Buergerschaft allgemein verehrt. Sogar dessen Bruder Publius Mucius
Scaevola, der Begruender der wissenschaftlichen Jurisprudenz in Rom, schien dem
Reformplan nicht abgeneigt, und seine Stimme war von um so groesserem Gewicht,
als er gewissermassen ausserhalb der Parteien stand. Aehnlich dachte Quintus
Metellus, der Ueberwinder Makedoniens und der Achaeer, mehr aber noch als seiner
Kriegstaten halber geachtet als ein Muster alter Zucht und Sitte in seinem
haeuslichen wie in seinem oeffentlichen Leben. Tiberius Gracchus stand diesen
Maennern nahe, namentlich dem Appius, dessen Tochter er, und dem Mucianus,
dessen Tochter sein Bruder zum Weib genommen hatte; es war kein Wunder, dass der
Gedanke sich in ihm regte, den Reformplan selber wiederaufzunehmen, sobald er
sich in einer Stellung befinden werde, die ihm verfassungsmaessig die Initiative
gestatte. Persoenliche Motive mochten ihn hierin bestaerken. Der
Friedensvertrag, den Mancinus 617 (147) mit den Numantinern abschloss, war
wesentlich Gracchus' Werk; dass der Senat ihn kassiert hatte, dass der Feldherr
deswegen den Feinden ausgeliefert worden und Gracchus mit den uebrigen hoeheren
Offizieren dem gleichen Schicksal nur durch die groessere Gunst, deren er bei
der Buergerschaft genoss, entgangen war, konnte den jungen rechtschaffenen und
stolzen Mann nicht milder stimmen gegen die herrschende Aristokratie. Die
hellenischen Rhetoren, mit denen er gern philosophierte und politisierte, der
Mytilenaeer Diophanes, der Kymaeer Gaius Blossius, naehrten in seiner Seele die
Ideale, mit denen er sich trug; als seine Absichten in weiteren Kreisen bekannt
wurden, fehlte es nicht an billigenden Stimmen, und mancher oeffentliche
Anschlag forderte den Enkel des Afrikaners auf, des armen Volkes, der Rettung
Italiens zu gedenken.
Am 10. Dezember 620 (134) uebernahm Tiberius Gracchus das Volkstribunat.
Die entsetzlichen Folgen der bisherigen Missregierung, der politische,
militaerische, oekonomische, sittliche Verfall der Buergerschaft lagen eben
damals nackt und bloss jedermann vor Augen. Von den beiden Konsuln dieses Jahres
focht der eine ohne Erfolg in Sizilien gegen die aufstaendischen Sklaven und war
der andere, Scipio Aemilianus, seit Monaten beschaeftigt, eine kleine spanische
Landstadt nicht zu besiegen, sondern zu erdruecken. Wenn es noch einer
besonderen Aufforderung bedurfte, um Gracchus' Entschluss zur Tat werden zu
lassen, sie lag in diesen, jedes Patrioten Gemuet mit unnennbarer Angst
erfuellenden Zustaenden. Sein Schwiegervater versprach Beistand mit Rat und Tat,
man durfte hoffen auf die Unterstuetzung des Juristen Scaevola, der kurz vorher
zum Konsul fuer 621 (133) erwaehlt worden war. So beantragte Gracchus gleich
nach Antritt seines Amtes die Erlassung eines Ackergesetzes, das in gewissem
Sinn nichts war als eine Erneuerung des Licinisch-Sextischen vom Jahre 387 der
Stadt (367). Es sollten danach die saemtlichen okkupierten und von den Inhabern
ohne Entgelt benutzten Staatslaendereien - die verpachteten, wie zum Beispiel
das Gebiet von Capua, beruehrte das Gesetz nicht - von Staats wegen eingezogen
werden, jedoch mit der Beschraenkung, dass der einzelne Okkupant fuer sich 500
und fuer jeden Sohn 250, im ganzen jedoch nicht ueber 1000 Morgen zu bleibendem
und garantiertem Besitz solle behalten oder dafuer Ersatz in Land in Anspruch
nehmen duerfen. Fuer etwaige, von den bisherigen Inhabern vorgenommene
Verbesserungen, wie Gebaeude und Pflanzungen, scheint man Entschaedigung
bewilligt zu haben. Das also eingezogene Domanialland sollte in Lose von 30
Morgen zerschlagen und diese teils an Buerger, teils an italische Bundesgenossen
verteilt werden, nicht als freies Eigentum, sondern als unveraeusserliche
Erbpacht, deren Inhaber das Land zum Feldbau zu benutzen und eine maessige Rente
an die Staatskasse zu zahlen sich verpflichteten. Ein Kollegium von drei
Maennern, die als ordentliche und stehende Beamte der Gemeinde angesehen und
jaehrlich von der Volksversammlung gewaehlt wurden, ward mit dem Einziehungs-
und Aufteilungsgeschaeft beauftragt, wozu spaeter noch der wichtige und
schwierige Auftrag kam, rechtlich festzustellen, was Domanialland und was
Privateigentum sei. Die Aufteilung war demnach angelegt als auf unbestimmte Zeit
fortgehend, bis dass die sehr ausgedehnten und schwer festzustellenden
italischen Domaenen reguliert sein wuerden. Mit dem Licinisch-Sextischen Gesetz
verglichen waren neu in dem Sempronischen Ackergesetz teils die Klausel zu
Gunsten der beerbten Besitzer, teils die fuer die neuen Landstellen beantragte
Erbpachtgutsqualitaet und Unveraeusserlichkeit, teils und vor allem die
regulierte und dauernde Exekutive, deren Fehlen in dem aelteren Gesetz
hauptsaechlich bewirkt hatte, dass dasselbe ohne nachhaltige praktische
Anwendung geblieben war.
Den grossen Grundbesitzern, die jetzt wie vor drei Jahrhunderten ihren
wesentlichen Ausdruck fanden im Senat, war also der Krieg erklaert, und seit
langem zum erstenmal stand wieder einmal ein einzelner Beamter in ernsthafter
Opposition gegen die aristokratische Regierung. Sie nahm den Kampf auf in der
fuer solche Faelle hergebrachten Weise, die Ausschreitungen des Beamtentums
durch dieses selbst zu paralysieren. Ein Kollege des Gracchus, Marcus Octavius,
ein entschlossener und von der Verwerflichkeit des beantragten Domanialgesetzes
ernstlich ueberzeugter Mann, tat Einspruch, als dasselbe zur Abstimmung gebracht
werden sollte; womit verfassungsmaessig der Antrag beseitigt war. Gracchus
sistierte nun seinerseits die Staatsgeschaefte und die Rechtspflege und legte
seine Siegel auf die oeffentlichen Kassen; man nahm es hin - es war unbequem,
aber das Jahr ging ja doch auch zu Ende. Gracchus, ratlos, brachte sein Gesetz
zum zweitenmal zur Abstimmung; natuerlich wiederholte Octavius seinen Einspruch,
und auf die flehentliche Bitte seines Kollegen und bisherigen Freundes, ihm die
Rettung Italiens nicht zu wehren, mochte er erwidern, dass darueber, wie Italien
gerettet werden koenne, eben die Ansichten verschieden, sein
verfassungsmaessiges Recht aber, gegen den Antrag des Kollegen seines Veto sich
zu bedienen, ausser allem Zweifel sei. Der Senat machte jetzt den Versuch,
Gracchus einen leidlichen Rueckzug zu eroeffnen; zwei Konsulare forderten ihn
auf, die Angelegenheit in der Kurie weiterzuverhandeln, und eifrig ging der
Tribun hierauf ein. Er suchte in diesen Antrag hineinzulegen, dass der Senat
damit die Domanialaufteilung im Prinzip zugestanden habe; allein weder lag dies
darin, noch war der Senat irgend geneigt, in der Sache nachzugeben; die
Verhandlungen endigten ohne jedes Resultat. Die verfassungsmaessigen Wege waren
erschoepft. In frueheren Zeiten hatte man unter solchen Verhaeltnissen es sich
nicht verdriessen lassen, den gestellten Antrag fuer dies Jahr zur Ruhe zu
legen, aber in jedem folgenden ihn wiederaufzunehmen, bis der Ernst des Forderns
und der Druck der oeffentlichen Meinung den Widerstand brachen. Jetzt lebte man
rascher. Gracchus schien auf dem Punkte angelangt, wo er entweder auf die Reform
ueberhaupt verzichten oder die Revolution beginnen musste; er tat das letztere,
indem er mit der Erklaerung vor die Buergerschaft trat, dass entweder er oder
Octavius aus dem Kollegium ausscheiden muesse, und diesem ansann, die Buerger
darueber abstimmen zu lassen, welchen von ihnen sie entlassen wollten. Octavius
weigerte sich natuerlich, auf diesen wunderlichen Zweikampf einzugehen; die
Interzession war eben dazu da, solchen Meinungsverschiedenheiten der Kollegen
Raum zu gewaehren. Da brach Gracchus die Verhandlung mit dem Kollegen ab und
wandte sich an die versammelte Menge mit der Frage, ob nicht der Volkstribun,
der dem Volk zuwiderhandle, sein Amt verwirkt habe; und die Versammlung, laengst
gewohnt, zu allen an sie gebrachten Antraegen ja zu sagen und groesstenteils
zusammengesetzt aus dem vom Lande hereingestroemten und bei der Durchfuehrung
des Gesetzes persoenlich interessierten agrikolen Proletariat, bejahte fast
einstimmig die Frage. Marcus Octavius ward auf Gracchus' Befehl durch die
Gerichtsdiener von der Tribunenbank entfernt und hierauf unter allgemeinem Jubel
das Ackergesetz durchgebracht und die ersten Teilungsherren ernannt. Die Stimmen
fielen auf den Urheber des Gesetzes nebst seinem erst zwanzigjaehrigen Bruder
Gaius und seinem Schwiegervater Appius Claudius. Eine solche Familienwahl
steigerte die Erbitterung der Aristokratie. Als die neuen Beamten sich wie
ueblich an den Senat wandten, um ihre Ausstattungs- und Taggelder angewiesen zu
erhalten, wurden jene verweigert und ein Taggeld angewiesen von 24 Assen (10
Groschen). Die Fehde griff immer weiter um sich und ward immer gehaessiger und
persoenlicher. Das schwierige und verwickelte Geschaeft der Abgrenzung,
Einziehung und Aufteilung der Domaenen trug den Hader in jede Buergergemeinde,
ja selbst in die verbuendeten italischen Staedte. Die Aristokratie hatte es kein
Hehl, dass sie das Gesetz vielleicht, weil sie muesse, sich gefallen lassen, der
unberufene Gesetzgeber aber ihrer Rache nimmermehr entgehen werde; und die
Ankuendigung des Quintus Pompeius, dass er den Gracchus an demselben Tage, wo er
das Tribunat niederlege, in Anklagestand versetzen werde, war unter den
Drohungen, die gegen den Tribun fielen, noch bei weitem nicht die schlimmste.
Gracchus glaubte, wahrscheinlich mit Recht, seine persoenliche Sicherheit
bedroht und erschien auf dem Markt nicht mehr ohne eine Gefolge von drei- bis
viertausend Menschen, worueber er selbst von dem der Reform an sich nicht
abgeneigten Metellus im Senat bittere Worte hoeren wusste. Ueberhaupt, wenn er
gemeint hatte, mit Durchbringung seines Ackergesetzes am Ziele zu sein, so hatte
er jetzt zu lernen, dass er erst am Anfang stand. Das "Volk" war ihm zu Dank
verpflichtet; aber er war ein verlorener Mann, wenn er keinen anderen Schirm
mehr hatte als diese Dankbarkeit des Volkes, wenn er demselben nicht
unentbehrlich blieb und durch andere und weitergreifende Vorschlaege neue und
immer neue Interessen und Hoffnungen an sich knuepfte. Ebendamals war durch das
Testament des letzten Koenigs von Pergamon den Roemern Reich und Vermoegen der
Attaliden zugefallen; Gracchus beantragte bei dem Volk, den pergamenischen
Schatz unter die neuen Landbesitzer zur Anschaffung des erforderlichen Beschlags
zu verteilen und vindizierte ueberhaupt, gegen die bestehende Uebung, der
Buergerschaft das Recht, ueber die neue Provinz definitiv zu entscheiden.
Weitere populaere Gesetze, ueber Abkuerzung der Dienstzeit, ueber Ausdehnung des
Provokationsrechts, ueber die Aufhebung des Vorrechts der Senatoren,
ausschliesslich als Zivilgeschworene zu fungieren, sogar ueber die Aufnahme der
italischen Bundesgenossen in den roemischen Buergerverband, soll er vorbereitet
haben; wie weit seine Entwuerfe in der Tat gereicht haben, laesst sich nicht
entscheiden, gewiss ist nur, dass Gracchus seine einzige Rettung darin sah, das
Amt, das ihn schuetzte, von der Buergerschaft auf ein zweites Jahr verliehen zu
erhalten, und dass er, um diese verfassungswidrige Verlaengerung zu bewirken,
weitere Reformen in Aussicht stellte. Hatte er anfangs sich eingesetzt, um das
Gemeinwesen zu retten, so wusste er jetzt schon, um sich zu retten, das
Gemeinwesen aufs Spiel setzen. Die Bezirke traten zusammen zur Wahl der Tribunen
fuer das naechste Jahr, und die ersten Abteilungen gaben ihre Stimmen fuer
Gracchus; aber die Gegenpartei drang mit ihrem Einspruch schliesslich wenigstens
insoweit durch, dass die Versammlung unverrichteter Sache aufgeloest und die
Entscheidung auf den folgenden Tag verschoben ward. Fuer diesen setzte Gracchus
alle Mittel in Bewegung, erlaubte und unerlaubte: er zeigte sich dem Volke im
Trauergewand und empfahl ihm seinen unmuendigen Knaben; fuer den Fall, dass die
Wahl abermals durch Einspruch gestoert werden wuerde, traf er Vorkehrungen, den
Anhang der Aristokratie mit Gewalt von dem Versammlungsplatz vor dem
Kapitolinischen Tempel zu vertreiben. So kam der zweite Wahltag heran; die
Stimmen fielen wie an dem vorhergehenden und wieder erfolgte der Einspruch; der
Auflauf begann. Die Buerger zerstreuten sich; die Wahlversammlung war faktisch
aufgehoben; der Kapitolinische Tempel ward geschlossen; man erzaehlte sich in
der Stadt, bald dass Tiberius die saemtlichen Tribunen abgesetzt habe, bald dass
er ohne Wiederwahl sein Amt fortzufuehren entschlossen sei. Der Senat
versammelte sich im Tempel der Treue, hart bei dem Jupitertempel; die
erbittertsten Gegner des Gracchus fuehrten in der Sitzung das Wort; als Tiberius
die Hand nach der Stirn bewegte, um in dem wilden Getuemmel dem Volke zu
erkennen zu geben, dass sein Leben bedroht sei, hiess es, er fordere schon die
Leute auf, sein Haupt mit der koeniglichen Binde zu schmuecken. Der Konsul
Scaevola ward angegangen, den Hochverraeter sofort toeten zu lassen; als der
gemaessigte, der Reform an sich keineswegs abgeneigte Mann das ebenso unsinnige
wie barbarische Begehren unwillig zurueckwies, rief der Konsular Publius Scipio
Nasica, ein harter und leidenschaftlicher Aristokrat, die Gleichgesinnten auf,
sich zu bewaffnen, wie sie koennten, und ihm zu folgen. Von den Landleuten war
zu den Wahlen fast niemand in die Stadt gekommen; das Stadtvolk wich scheu
auseinander, als es die vornehmen Maenner mit Stuhlbeinen und Knuetteln in den
Haenden zornigen Auges heranstuermen sah; Gracchus versuchte, von wenigen
begleitet, zu entkommen. Aber er stuerzte auf der Flucht am Abhang des Kapitols
und ward von einem der Wuetenden - Publius Satureius und Lucius Rufus stritten
sich spaeter um die Henkerehre - vor den Bildsaeulen der sieben Koenige am
Tempel der Treue durch einen Knuettelschlag auf die Schlaefe getoetet; mit ihm
dreihundert andere Maenner, keiner durch Eisenwaffen. Als es Abend geworden war,
wurden die Koerper in den Tiberfluss gestuerzt; vergebens bat Gaius, ihm die
Leiche seines Bruders zur Bestattung zu vergoennen. Solch einen Tag hatte Rom
noch nicht erlebt. Der mehr als hundertjaehrige Hader der Parteien waehrend der
ersten sozialen Krise hatte zu keiner Katastrophe gefuehrt, wie diejenige war,
mit der die zweite begann. Auch den besseren Teil der Aristokratie mochte
schaudern; indes man konnte nicht mehr zurueck. Man hatte nur die Wahl, eine
grosse Zahl der zuverlaessigsten Parteigenossen der Rache der Menge preiszugeben
oder die Verantwortung der Untat auf die Gesamtheit zu uebernehmen; das letztere
geschah. Man hielt offiziell daran fest, dass Gracchus die Krone habe nehmen
wollen, und rechtfertigte diesen neuesten Frevel mit dem uralten des Ahala; ja
man ueberwies sogar die weitere Untersuchung gegen Gracchus' Mitschuldige einer
besonderen Kommission und liess deren Vormann, den Konsul Publius Popillius,
dafuer sorgen, dass durch Blutsentenzen gegen eine grosse Anzahl geringer Leute
der Bluttat gegen Gracchus nachtraeglich eine Art rechtlichen Gepraeges
aufgedrueckt ward (622 132). Nasica, gegen den vor allen anderen die Menge Rache
schnaubte und der wenigstens den Mut hatte, sich offen vor dem Volke zu seiner
Tat zu bekennen und sie zu vertreten, ward unter ehrenvollen Vorwaenden nach
Asien gesandt und bald darauf (624 130) abwesend mit dem Oberpontifikat
bekleidet. Auch die gemaessigte Partei trennte sich hierin nicht von ihren
Kollegen. Gaius Laelius beteiligte sich bei den Untersuchungen gegen die
Gracchaner; Publius Scaevola, der die Ermordung zu verhindern gesucht hatte,
verteidigte sie spaeter im Senat; als Scipio Aemilianus nach seiner Rueckkehr
aus Spanien (622 132) aufgefordert ward, sich oeffentlich darueber zu erklaeren,
ob er die Toetung seines Schwagers billige oder nicht, gab er die wenigstens
zweideutige Antwort, dass, wofern er nach der Krone getrachtet habe, er mit
Recht getoetet worden sei.
Versuchen wir ueber diese folgenreichen Ereignisse zu einem Urteil zu
gelangen. Die Einrichtung eines Beamtenkollegiums, das dem gefaehrlichen
Zusammenschwinden der Bauernschaft durch umfassende Gruendung neuer Kleinstellen
aus dem gesamten, dem Staat zur Verfuegung stehenden italischen Grundbesitz
entgegenzuwirken hatte, war freilich kein Zeichen eines gesunden
volkswirtschaftlichen Zustandes, aber unter den obwaltenden politischen und
sozialen Verhaeltnissen zweckmaessig. Die Aufteilung der Domaenen ferner war an
sich keine politische Parteifrage; sie konnte bis auf die letzte Scholle
durchgefuehrt werden, ohne dass die bestehende Verfassung geaendert, das
Regiment der Aristokratie irgend erschuettert ward. Ebensowenig konnte hier von
einer Rechtsverletzung die Rede sein. Anerkanntermassen war der Eigentuemer des
okkupierten Landes der Staat; der Inhaber konnte als bloss geduldeter Besitzer
in der Regel nicht einmal den gutglaeubigen Eigentumsbesitz sich zuschreiben,
und wo er ausnahmsweise es konnte, stand ihm entgegen, dass gegen den Staat nach
roemischem Landrecht die Verjaehrung nicht lief. Die Domaenenaufteilung war
keine Aufhebung, sondern eine Ausuebung des Eigentums; ueber die formelle
Rechtsbestaendigkeit derselben waren alle Juristen einig. Allein damit, dass die
Domaenenaufteilung weder der bestehenden Verfassung Eintrag tat noch eine
Rechtsverletzung in sich schloss, war der Versuch, diese Rechtsansprueche des
Staats jetzt durchzufuehren, politisch noch keineswegs gerechtfertigt. Was man
wohl in unsern Tagen erinnert hat, wenn ein grosser Grundherr rechtlich ihm
zustehende, aber tatsaechlich seit langen Jahren nicht erhobene Ansprueche
ploetzlich in ihrem ganzen Umfang geltend zu machen beginnt, konnte mit gleichem
und besserem Rechte auch gegen die Gracchische Rogation eingewendet werden.
Unleugbar hatten diese okkupierten Domaenen zum Teil seit dreihundert Jahren
sich in erblichem Privatbesitz befunden; das Bodeneigentum des Staats, das
seiner Natur nach ueberhaupt leichter als das des Buergers den privatrechtlichen
Charakter verliert, war an diesen Grundstuecken so gut wie verschollen und die
jetzigen Inhaber durchgaengig durch Kauf oder sonstigen laestigen Erwerb zu
diesen Besitzungen gelangt. Der Jurist mochte sagen was er wollte; den
Geschaeftsleuten erschien die Massregel als eine Expropriation der grossen
Grundbesitzer zum Besten des agrikolen Proletariats; und in der Tat konnte auch
kein Staatsmann sie anders bezeichnen. Dass die leitenden Maenner der
catonischen Epoche nicht anders geurteilt hatten, zeigt sehr klar die Behandlung
eines aehnlichen, zu ihrer Zeit vorgekommenen Falles. Das im Jahre 543 (211) zur
Domaene geschlagene Gebiet von Capua und den Nachbarstaedten war in den
folgenden unruhigen Zeiten tatsaechlich groesstenteils in Privatbesitz
uebergegangen. In den letzten Jahren des sechsten Jahrhunderts, wo man
vielfaeltig, besonders durch Catos Einfluss bestimmt, die Zuegel des Regiments
wieder straffer anzog, beschloss die Buergerschaft, das campanische Gebiet
wieder an sich zu nehmen und zum Besten des Staatsschatzes zu verpachten (582
172). Dieser Besitz beruhte auf einer nicht durch vorgaengige Aufforderung,
sondern hoechstens durch Konnivenz der Behoerden gerechtfertigten und nirgends
viel ueber ein Menschenalter hinaus fortgesetzten Okkupation; dennoch wurden die
Inhaber nicht anders als gegen eine im Auftrag des Senats von dem Stadtpraetor
Publius Lentulus ausgeworfene Entschaedigungssumme aus dem Besitz gesetzt (ca.
589 165) 5. Weniger bedenklich vielleicht, aber doch auch nicht unbedenklich war
es, dass fuer die neuen Landlose Erbpachtqualitaet und Unveraeusserlichkeit
festgestellt ward. Die liberalsten Grundsaetze in bezug auf die Verkehrsfreiheit
hatten Rom gross gemacht, und es vertrug sich sehr wenig mit dem Geist der
roemischen Institutionen, dass diese neuen Bauern von oben herab angehalten
wurden, ihr Grundstueck in einer bestimmten Weise zu bewirtschaften, und dass
fuer dasselbe Retraktrechte und alle der Verkehrsbeschraenkung anhaengenden
Einschnuerungsmassregeln festgestellt wurden.
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5 Die bisher nur aus Cicero (leg. agr. 2, 31, 82; vgl. Liv. 42, 2, 19)
teilweise bekannte Tatsache wird jetzt durch die Fragmente des Licinianus (p. 4)
wesentlich vervollstaendigt. Die beiden Berichte sind dahin zu vereinigen, dass
Lentulus die Possessoren gegen eine von ihm festgesetzte Entschaedigungssumme
expropriierte, bei den wirklichen Grundeigentuemern aber nichts ausrichtete, da
er sie zu expropriieren nicht befugt war und sie auf Verkauf sich nicht
einlassen wollten.
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Man wird einraeumen, dass diese Einwuerfe gegen das Sempronische
Ackergesetz nicht leicht wogen. Dennoch entscheiden sie nicht. Jene
tatsaechliche Expropriation der Domaenenbesitzer war sicher ein grosses Uebel;
aber sie war dennoch das einzige Mittel, um einem noch viel groesseren, ja den
Staat geradezu vernichtenden, dem Untergang des italischen Bauernstandes,
wenigstens auf lange hinaus zu steuern. Darum begreift man es wohl, warum die
ausgezeichnetsten und patriotischsten Maenner auch der konservativen Partei, an
ihrer Spitze Gaius Laelius und Scipio Aemilianus, die Domaenenaufteilung an sich
billigten und wuenschten.
Aber wenn der Zweck des Tiberius Gracchus wohl der grossen Majoritaet der
einsichtigen Vaterlandsfreunde gut und heilsam erschienen ist, so hat dagegen
der Weg, den er einschlug, keines einzigen nennenswerten und patriotischen
Mannes Billigung gefunden und finden koennen. Rom wurde um diese Zeit regiert
durch den Senat. Wer gegen die Majoritaet des Senats eine Verwaltungsmassregel
durchsetzte, der machte Revolution. Es war Revolution gegen den Geist der
Verfassung, als Gracchus die Domaenenfrage vor das Volk brachte; Revolution auch
gegen den Buchstaben, als er das Korrektiv der Staatsmaschine, durch welches der
Senat die Eingriffe in sein Regiment verfassungsmaessig beseitigte, die
tribunizische Interzession durch die mit unwuerdiger Sophistik gerechtfertigte
Absetzung seines Kollegen nicht bloss fuer jetzt, sondern fuer alle Folgezeit
zerstoerte. Indes nicht hierin liegt die sittliche und politische Verkehrtheit
von Gracchus' Tun. Fuer die Geschichte gibt es keine Hochverratsparagraphen; wer
eine Macht im Staat zum Kampf aufruft gegen die andere, der ist gewiss ein
Revolutionaer, aber vielleicht zugleich ein einsichtiger und preiswuerdiger
Staatsmann. Der wesentliche Fehler der Gracchischen Revolution liegt in einer
nur zu oft uebersehenen Tatsache: in der Beschaffenheit der damaligen
Buergerversammlungen. Das Ackergesetz des Spurius Cassius und das des Tiberius
Gracchus hatten in der Hauptsache denselben Inhalt und denselben Zweck; dennoch
war das Beginnen beider Maenner nicht weniger verschieden als die ehemalige
roemische Buergerschaft, welche mit den Latinern und Hernikern die Volskerbeute
teilte, und die jetzige, die die Provinzen Asia und Africa einrichten liess.
Jene war eine staedtische Gemeinde, die zusammentreten und zusammen handeln
konnte; diese ein grosser Staat, dessen Angehoerige in einer und derselben
Urversammlung zu vereinigen und diese Versammlung entscheiden zu lassen ein
ebenso klaegliches wie laecherliches Resultat gab. Es raechte sich hier der
Grundfehler der Politie des Altertums, dass sie nie vollstaendig von der
staedtischen zur staatlichen Verfassung oder, was dasselbe ist, von dem System
der Urversammlungen zum parlamentarischen fortgeschritten ist. Die souveraene
Versammlung Roms war, was die souveraene Versammlung in England sein wuerde,
wenn statt der Abgeordneten die saemtlichen Waehler Englands zum Parlament
zusammentreten wollten: eine ungeschlachte, von allen Interessen und allen
Leidenschaften wuest bewegte Masse, in der die Intelligenz spurlos verschwand;
eine Masse, die weder die Verhaeltnisse zu uebersehen noch auch nur einen
eigenen Entschluss zu fassen vermochte; eine Masse vor allem, in welcher, von
seltenen Ausnahmefaellen abgesehen, unter dem Namen der Buergerschaft ein paar
hundert oder tausend von den Gassen der Hauptstadt zufaellig aufgegriffene
Individuen handelten und stimmten. Die Buergerschaft fand sich in den Bezirken
wie in den Hundertschaften durch ihre faktischen Repraesentanten in der Regel
ungefaehr ebenso genuegend vertreten wie in den Kurien durch die daselbst von
Rechts wegen sie repraesentierenden dreissig Gerichtsdiener; und eben wie der
sogenannte Kurienbeschluss nichts war als ein Beschluss desjenigen Magistrats,
der die Gerichtsdiener zusammenrief, so war auch der Tribus- und
Zenturienbeschluss in dieser Zeit wesentlich nichts als ein durch einige
obligate Jaherren legalisierter Beschluss des vorschlagenden Beamten. Wenn aber
in diesen Stimmversammlungen, den Komitien, sowenig man es auch mit der
Qualifikation genau nahm, im ganzen doch nur Buerger erschienen, so war dagegen
in den blossen Volksversammlungen, den Kontionen, platz- und schreiberechtigt,
was nur zwei Beine hatte, Aegypter und Juden, Gassenbuben und Sklaven. In den
Augen des Gesetzes bedeutete allerdings ein solches Meeting nichts; es konnte
nicht abstimmen noch beschliessen. Allein tatsaechlich beherrschte dasselbe die
Gasse und schon war die Gassenmeinung eine Macht in Rom und kam etwas darauf an,
ob diese wueste Masse bei dem, was ihr mitgeteilt ward, schwieg oder schrie, ob
sie klatschte und jubelte oder den Redner auspfiff und anheulte. Nicht viele
hatten den Mut, die Haufen anzuherrschen, wie es Scipio Aemilianus tat, als sie
wegen seiner Aeusserung ueber den Tod seines Schwagers ihn auszischten: Ihr da,
sprach er, denen Italien nicht Mutter ist sondern Stiefmutter, ihr habt zu
schweigen! Und da sie noch lauter tobten: ihr meint doch nicht, dass ich die
losgebunden fuerchten werde, die ich in Ketten auf den Sklavenmarkt geschickt
habe?
Dass man der verrosteten Maschine der Komitien sich fuer die Wahlen und
fuer die Gesetzgebung bediente, war schon uebel genug. Aber wenn man diesen
Massen, zunaechst den Komitien und faktisch auch den Kontionen, Eingriffe in die
Verwaltung gestattete und dem Senat das Werkzeug zur Verhuetung solcher
Eingriffe aus den Haenden wand; wenn man gar diese sogenannte Buergerschaft aus
dem gemeinen Saeckel sich selber Aecker samt Zubehoer dekretieren liess; wenn
man einem jeden, dem die Verhaeltnisse und sein Einfluss beim Proletariat die
Gelegenheit gab, die Gassen auf einige Stunden zu beherrschen, die Moeglichkeit
eroeffnete, seinen Projekten den legalen Stempel des souveraenen Volkswillens
aufzudruecken, so war man nicht am Anfang, sondern am Ende der Volksfreiheit,
nicht bei der Demokratie angelangt, sondern bei der Monarchie. Darum hatten in
der vorigen Periode Cato und seine Gesinnungsgenossen solche Fragen nie an die
Buergerschaft gebracht, sondern lediglich sie im Senat verhandelt. Darum
bezeichnen Gracchus' Zeitgenossen, die Maenner des Scipionischen Kreises, das
Flaminische Ackergesetz von 522 (232), den ersten Schritt auf jener
verhaengnisvollen Bahn, als den Anfang des Verfalles der roemischen Groesse.
Darum liessen dieselben den Urheber der Domanialteilung fallen und erblickten in
seinem schrecklichen Ende gleichsam einen Damm gegen kuenftige aehnliche
Versuche, waehrend sie doch die von ihm durchgesetzte Domanialteilung selbst mit
aller Energie festhielten und nutzten - so jammervoll standen die Dinge in Rom,
dass redliche Patrioten in die grauenvolle Heuchelei hineingedraengt wurden, den
Uebeltaeter preiszugeben und die Frucht der Uebeltat sich anzueignen. Darum
hatten auch die Gegner des Gracchus in gewissem Sinne nicht unrecht, als sie ihn
beschuldigten, nach der Krone zu streben. Es ist fuer ihn viel mehr eine zweite
Anklage als eine Rechtfertigung, dass dieser Gedanke ihm selber wahrscheinlich
fremd war. Das aristokratische Regiment war so durchaus verderblich, dass der
Buerger, der den Senat ab- und sich an dessen Stelle zu setzen vermochte,
vielleicht dem Gemeinwesen mehr noch nuetzte, als er ihm schadete. Allein dieser
kuehne Spieler war Tiberius Gracchus nicht, sondern ein leidlich faehiger,
durchaus wohlmeinender, konservativ patriotischer Mann, der eben nicht wusste,
was er begann, der im besten Glauben, das Volk zu rufen, den Poebel beschwor und
nach der Krone griff, ohne selbst es zu wissen, bis die unerbittliche Konsequenz
der Dinge ihn unaufhaltsam draengte in die demagogisch-tyrannische Bahn, bis mit
der Familienkommission, den Eingriffen in das oeffentliche Kassenwesen, den
durch Not und Verzweiflung erpressten weiteren "Reformen", der Leibwache von der
Gasse und den Strassengefechten der bedauernswerte Usurpator Schritt fuer
Schritt sich und andern klarer hervortrat, bis endlich die entfesselten Geister
der Revolution den unfaehigen Beschwoerer packten und verschlangen. Die ehrlose
Schlaechterei, durch die er endigte, richtet sich selber, wie sie die Adelsrotte
richtet, von der sie ausging; allein die Maertyrerglorie, mit der sie Tiberius
Gracchus' Namen geschmueckt hat, kam hier wie gewoehnlich an den unrechten Mann.
Die besten seiner Zeitgenossen urteilten anders. Als dem Scipio Aemilianus die
Katastrophe gemeldet ward, sprach er die Worte Homers: "Also verderb' ein jeder,
der aehnliche Werke vollfuehrt hat!" Und als des Tiberius juengerer Bruder Miene
machte, in gleicher Weise aufzutreten, schrieb ihm die eigene Mutter: "Wird denn
unser Haus des Wahnsinns kein Ende finden? Wo wird die Grenze sein? Haben wir
noch nicht hinreichend uns zu schaemen, den Staat verwirrt und zerruettet zu
haben?" So sprach nicht die besorgte Mutter, sondern die Tochter des
Ueberwinders der Karthager, die noch ein groesseres Unglueck kannte und erfuhr
als den Tod ihrer Kinder.
3. Kapitel
Die Revolution und Gaius Gracchus
Tiberius Gracchus war tot; indes seine beiden Werke, die Landaufteilung wie
die Revolution, ueberlebten ihren Urheber. Dem verkommenen agrikolen Proletariat
gegenueber konnte der Senat wohl einen Mord wagen, aber nicht diesen Mord zur
Aufhebung des Sempronischen Ackergesetzes benutzen; durch den wahnsinnigen
Ausbruch der Parteiwut war das Gesetz selbst weit mehr befestigt als
erschuettert worden. Die reformistisch gesinnte Partei der Aristokratie, welche
die Domanialteilung offen beguenstigte, an ihrer Spitze Quintus Metellus, eben
um diese Zeit (623 131) Zensor, und Publius Scaevola, gewann in Verbindung mit
der Partei des Scipio Aemilianus, die der Reform wenigstens nicht abgeneigt war,
selbst im Senat fuer jetzt die Oberhand, und ausdruecklich wies ein
Senatsbeschluss die Teilherren an, ihre Arbeiten zu beginnen. Nach dem
Sempronischen Gesetz sollten dieselben jaehrlich von der Gemeinde ernannt
werden, und es ist dies auch wahrscheinlich geschehen; allein bei der
Beschaffenheit ihrer Aufgabe war es natuerlich, dass die Wahl wieder und wieder
auf dieselben Maenner fiel und eigentliche Neuwahlen nur stattfanden, wo ein
Platz durch den Tod sich erledigte. So trat fuer Tiberius Gracchus in dieselbe
ein der Schwiegervater seines Bruders Gaius, Publius Crassus Mucianus; und als
dieser 624 (130) gefallen und auch Appius Claudius gestorben war, leiteten das
Teilungsgeschaeft in Gemeinschaft mit dem jungen Gaius Gracchus zwei der
taetigsten Fuehrer der Bewegungspartei, Marcus Fulvius Flaccus und Gaius
Papirius Carbo. Schon die Namen dieser Maenner buergen dafuer, dass man das
Geschaeft der Einziehung und Aufteilung des okkupierten Domaniallandes mit Eifer
und Nachdruck angriff, und in der Tat fehlt es auch dafuer nicht an Beweisen.
Bereits der Konsul des Jahres 622 (132), Publius Popillius, derselbe, der die
Blutgerichte gegen die Anhaenger des Tiberius Gracchus leitete, verzeichnet auf
einem oeffentlichen Denkmal sich als "den ersten, der auf den Domaenen die
Hirten aus- und dafuer die Bauern eingewiesen habe", und auch sonst ist es
ueberliefert, dass sich die Aufteilung ueber ganz Italien erstreckte und
ueberall in den bisherigen Gemeinden die Zahl der Bauernstellen vermehrt ward -
denn nicht durch Gruendung neuer Gemeinden, sondern durch Verstaerkung der
bestehenden die Bauernschaft zu heben, war die Absicht des Sempronischen
Ackergesetzes. Den Umfang und die tiefgreifende Wirkung dieser Aufteilungen
bezeugen die zahlreichen in der roemischen Feldmesserkunst auf die Gracchischen
Landanweisungen zurueckgehenden Einrichtungen; wie denn zum Beispiel eine
gehoerige und kuenftigen Irrungen vorbeugende Marksteinsetzung zuerst durch die
Gracchischen Grenzgerichte und Landaufteilungen ins Leben gerufen zu sein
scheint. Am deutlichsten aber reden die Zahlen der Buergerliste. Die Schaetzung,
die im Jahre 623 (131) veroeffentlicht ward und tatsaechlich wohl Anfang 622
(132) stattfand, ergab nicht mehr als 319000 waffenfaehige Buerger, wogegen
sechs Jahre spaeter (629 125) statt des bisherigen Sinkens sich die Ziffer auf
395000, also um 76000 hebt - ohne allen Zweifel lediglich infolge dessen, was
die Teilungskommission fuer die roemische Buergerschaft tat. Ob dieselbe auch
bei den Italikern die Bauernstellen in demselben Verhaeltnis vermehrt hat,
laesst sich bezweifeln; auf alle Faelle war das, was sie erreichte, ein grosses
und segensreiches Resultat. Freilich ging es dabei nicht ab ohne vielfache
Verletzung achtbarer Interessen und bestehender Rechte. Das Teilherrenamt,
besetzt mit den entschiedensten Parteimaennern und durchaus Richter in eigener
Sache, ging mit seinen Arbeiten ruecksichtslos und selbst tumultuarisch vor;
oeffentliche Anschlaege forderten jeden, der dazu imstande sei, auf ueber die
Ausdehnung des Domaniallandes Nachweisungen zu geben; unerbittlich wurde
zurueckgegangen auf die alten Erdbuecher und nicht bloss neue und alte
Okkupation ohne Unterschied wieder eingefordert, sondern auch vielfaeltig
wirkliches Privateigentum, ueber das der Inhaber sich nicht genuegend
auszuweisen vermochte, mitkonfisziert. Wie laut und grossenteils begruendet auch
die Klagen waren, der Senat liess die Aufteiler gewaehren: es war einleuchtend,
dass, wenn man einmal die Domanialfrage erledigen wollte, ohne solches
ruecksichtsloses Durchgreifen schlechterdings nicht durchzukommen war. Allein es
hatte dies Gewaehrenlassen doch seine Grenze. Das italische Domanialland war
nicht lediglich in den Haenden roemischer Buerger; grosse Strecken desselben
waren einzelnen bundesgenoessischen Gemeinden durch Volks- oder
Senatsbeschluesse zu ausschliesslicher Benutzung zugewiesen, andere Stuecke von
latinischen Buergern erlaubter- oder unerlaubterweise okkupiert worden. Das
Teilungsamt griff endlich auch diese Besitzungen an. Nach formalem Rechte war
die Einziehung der von Nichtbuergern einfach okkupierten Stuecke unzweifelhaft
zulaessig, nicht minder vermutlich die Einziehung des durch Senatsbeschluesse,
ja selbst des durch Gemeindebeschluesse den italischen Gemeinden ueberwiesenen
Domaniallandes, da der Staat damit keineswegs auf sein Eigentum verzichtete und
allem Anschein nach an Gemeinden eben wie an Private nur auf Widerruf verlieh.
Allein die Beschwerden dieser Bundes- oder Untertanengemeinden, dass Rom die in
Kraft stehenden Abmachungen nicht einhalte, konnten doch nicht, wie die Klagen
der durch das Teilungsamt verletzten roemischen Buerger, einfach beiseite gelegt
werden. Rechtlich mochten jene nicht besser begruendet sein als diese; aber wenn
es in diesem Falle sich um Privatinteressen von Staatsangehoerigen handelte, so
kam in Beziehung auf die latinischen Possessionen in Frage, ob es politisch
richtig sei, die militaerisch so wichtigen und schon durch zahlreiche rechtliche
und faktische Zuruecksetzungen Rom sehr entfremdeten latinischen Gemeinden noch
durch diese empfindliche Verletzung ihrer materiellen Interessen aufs neue zu
verstimmen. Die Entscheidung lag in den Haenden der Mittelpartei; sie war es
gewesen, die nach der Katastrophe des Gracchus im Bunde mit seinen Anhaengern
die Reform gegen die Oligarchie geschuetzt hatte, und sie allein vermochte jetzt
in Vereinigung mit der Oligarchie der Reform eine Schranke zu setzen. Die
Latiner wandten sich persoenlich an den hervorragendsten Mann dieser Partei,
Scipio Aemilianus, mit der Bitte, ihre Rechte zu schuetzen; er sagte es zu, und
wesentlich durch seinen Einfluss ^1 ward im Jahre 625 (129) durch Volksschluss
der Teilkommission die Gerichtsbarkeit entzogen und die Entscheidung, was
Domanial- und was Privatbesitz sei, an die Zensoren und in deren Vertretung an
die Konsuln gewiesen, denen sie nach den allgemeinen Rechtsbestimmungen zukam.
Es war dies nichts anderes als eine Sistierung der weiteren Domanialaufteilung
in milder Form. Der Konsul Tuditanus, keineswegs gracchanisch gesinnt und wenig
geneigt, mit der bedenklichen Bodenregulierung sich zu befassen, nahm die
Gelegenheit wahr, zum illyrischen Heer abzugehen und das ihm aufgetragene
Geschaeft unvollzogen zu lassen; die Teilungskommission bestand zwar fort, aber
da die gerichtliche Regulierung des Domaniallandes stockte, blieb auch sie
notgedrungen untaetig. Die Reformpartei war tief erbittert. Selbst Maenner wie
Publius Mucius und Quintus Metellus missbilligten Scipios Zwischentreten. In
anderen Kreisen begnuegte man sich nicht mit der Missbilligung. Auf einen der
naechsten Tage hatte Scipio einen Vortrag ueber die Verhaeltnisse der Latiner
angekuendigt; am Morgen dieses Tages ward er tot in seinem Bette gefunden. Dass
der sechsundfuenfzigjaehrige in voller Gesundheit und Kraft stehende Mann, der
noch den Tag vorher oeffentlich gesprochen und dann am Abend, um seine Rede fuer
den naechsten Tag zu entwerfen, sich frueher als gewoehnlich in sein
Schlafgemach zurueckgezogen hatte, das Opfer eines politischen Mordes geworden
ist, kann nicht bezweifelt werden; er selbst hatte kurz vorher der gegen ihn
gerichteten Mordanschlaege oeffentlich erwaehnt. Welche meuchelnde Hand den
ersten Staatsmann und den ersten Feldherrn seiner Zeit bei naechtlicher Weile
erwuergt hat, ist nie an den Tag gekommen, und es ziemt der Geschichte weder die
aus dem gleichzeitigen Stadtklatsch ueberlieferten Geruechte zu wiederholen noch
den kindischen Versuch anzustellen, aus solchen Akten die Wahrheit zu ermitteln.
Nur dass der Anstifter der Tat der Gracchenpartei angehoert haben muss, ist
einleuchtend: Scipios Ermordung war die demokratische Antwort auf die
aristokratische Blutszene am Tempel der Treue. Die Gerichte schritten nicht ein.
Die Volkspartei, mit Recht fuerchtend, dass ihre Fuehrer, Gaius Gracchus,
Flaccus, Carbo, schuldig oder nicht, in den Prozess moechten verwickelt werden,
widersetzte sich mit allen Kraeften der Einleitung einer Untersuchung; und auch
die Aristokratie, die an Scipio ebensosehr einen Gegner wie einen Verbuendeten
verlor, liess nicht ungern die Sache ruhen. Die Menge und die gemaessigten
Maenner standen entsetzt; keiner mehr als Quintus Metellus, der Scipios
Einschreiten gegen die Reform gemissbilligt hatte, aber von solchen
Bundesgenossen schaudernd sich abwandte und seinen vier Soehnen befahl, die
Bahre des grossen Gegners zur Feuerstaette zu tragen. Die Leichenbestattung ward
beschleunigt; verhuellten Hauptes ward der Letzte aus dem Geschlecht des Siegers
von Zama hinausgetragen, ohne dass jemand zuvor des Toten Antlitz haette sehen
duerfen, und die Flammen des Scheiterhaufens verzehrten mit der Huelle des hohen
Mannes zugleich die Spuren des Verbrechens.
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^1 Hierher gehoert ein Rede contra legem iudiciariam Ti. Gracchi, womit
nicht, wie man gesagt hat, ein Gesetz ueber Quaestionengerichte gemeint ist,
sondern das Supplementargesetz zu seiner Ackerrogation: ut triumviri iudicarent,
qua publicus ager, qua privatus esset (Liv. ep. 28; oben S. 95).
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Die Geschichte Roms kennt manchen genialeren Mann als Scipio Aemilianus,
aber keinen, der an sittlicher Reinheit, an voelliger Abwesenheit des
politischen Egoismus, an edelster Vaterlandsliebe ihm gleich kommt; vielleicht
auch keinen, dem das Geschick eine tragischere Rolle zugewiesen hat. Des besten
Willens und nicht gemeiner Faehigkeiten sich bewusst, war er dazu verurteilt,
den Ruin seines Vaterlandes vor seinen Augen sich vollziehen zu sehen und jeden
ernstlichen Versuch einer Rettung, in der klaren Einsicht, nur uebel damit
aerger zu machen, in sich niederzukaempfen; dazu verurteilt, Untaten wie die des
Nasica gutheissen und zugleich das Werk des Ermordeten gegen seine Moerder
verteidigen zu muessen. Dennoch durfte er sich sagen, nicht umsonst gelebt zu
haben. Er war es, wenigstens ebensosehr wie der Urheber des Sempronischen
Gesetzes, dem die roemische Buergerschaft einen Zuwachs von gegen 80000 neuen
Bauernhufen verdankte; er war es auch, der diese Domanialteilung hemmte, als sie
genuetzt hatte, was sie nuetzen konnte. Dass es an der Zeit war, damit
abzubrechen, ward zwar damals auch von wohlmeinenden Maennern bestritten; aber
die Tatsache, dass auch Gaius Gracchus auf diese nach dem Gesetz seines Bruders
zu verteilenden und unverteilt gebliebenen Besitzungen nicht ernstlich
zurueckkam, spricht gar sehr dafuer, dass Scipio im wesentlichen den richtigen
Moment traf. Beide Massregeln wurden den Parteien abgezwungen, die erste der
Aristokratie, die zweite den Reformfreunden; beide bezahlte ihr Urheber mit
seinem Leben. Es war Scipio beschieden, auf manchem Schlachtfeld fuer sein
Vaterland zu fechten und unverletzt heimzukehren, um dort den Tod von
Moerderhand zu finden; aber er ist in seiner stillen Kammer nicht minder fuer
Rom gestorben, als wenn er vor Karthagos Mauern gefallen waere.
Die Landaufteilung war zu Ende; die Revolution ging an. Die revolutionaere
Partei, die in dem Teilungsamt gleichsam eine konstituierte Vorstandschaft
besass, hatte schon bei Scipios Lebzeiten hier und dort mit dem bestehenden
Regiment geplaenkelt; namentlich Carbo, eines der ausgezeichnetsten
Rednertalente dieser Zeit, hatte als Volkstribun 623 (131) dem Senat nicht wenig
zu schaffen gemacht, die geheime Abstimmung in den Buergerschaftsversammlungen
durchgesetzt, soweit es nicht bereits frueher geschehen war, und sogar den
bezeichnenden Antrag gestellt, den Volkstribunen die Wiederbewerbung um dasselbe
Amt fuer das unmittelbar folgende Jahr freizugeben, also das Hindernis, an dem
Tiberius Gracchus zunaechst gescheitert war, gesetzlich zu beseitigen. Der Plan
war damals durch den Widerstand Scipios vereitelt worden; einige Jahre spaeter,
wie es scheint nach dessen Tode, wurde das Gesetz, wenn auch mit beschraenkenden
Klauseln, wieder ein- und durchgebracht 2. Die hauptsaechliche Absicht der
Partei ging indes auf Reaktivierung des faktisch ausser Taetigkeit gesetzten
Teilungsamts: unter den Fuehrern ward der Plan ernstlich besprochen, die
Hindernisse, die die italischen Bundesgenossen derselben entgegenstellten, durch
Erteilung des Buergerrechts an dieselben zu beseitigen, und die Agitation nahm
vorwiegend diese Richtung. Um ihr zu begegnen, liess der Senat 628 (126) durch
den Volkstribun Marcus Iunius Pennus die Ausweisung saemtlicher Nichtbuerger aus
der Hauptstadt beantragen und trotz des Widerstandes der Demokraten, namentlich
des Gaius Gracchus, und der durch diese gehaessige Massregel hervorgerufenen
Gaerung in den latinischen Gemeinden ging der Vorschlag durch. Marcus Fulvius
Flaccus antwortete im folgenden Jahr (629 125) als Konsul mit dem Antrag, den
Buergern der Bundesgemeinden die Gewinnung der roemischen Buergerrechte zu
erleichtern und auch denen, die sie nicht gewonnen, gegen Straferkenntnisse die
Provokation an die roemischen Komitien einzuraeumen; allein er stand fast allein
- Carbo hatte inzwischen die Farbe gewechselt und war jetzt eifriger Aristokrat,
Gaius Gracchus abwesend als Quaestor in Sardinien - und scheiterte an dem
Widerstand nicht bloss des Senats, sondern auch der Buergerschaft, die der
Ausdehnung ihrer Privilegien auf noch weitere Kreise sehr wenig geneigt war.
Flaccus verliess Rom, um den Oberbefehl gegen die Kelten zu uebernehmen; auch so
durch seine transalpinischen Eroberungen den grossen Plaenen der Demokratie
vorarbeitend, zog er zugleich sich damit aus der ueblen Lage heraus, gegen die
von ihm selber aufgestifteten Bundesgenossen die Waffen tragen zu muessen.
Fregellae, an der Grenze von Latium und Kampanien am Hauptuebergang ueber den
Liris inmitten eines grossen und fruchtbaren Gebiets gelegen, damals vielleicht
die zweite Stadt Italiens und in den Verhandlungen mit Rom der gewoehnliche
Wortfuehrer fuer die saemtlichen latinischen Kolonien, begann infolge der
Zurueckweisung des von Flaccus eingebrachten Antrags den Krieg gegen Rom - seit
hundertfuenfzig Jahren der erste Fall einer ernstlichen, nicht durch auswaertige
Maechte herbeigefuehrten Schilderhebung Italiens gegen die roemische Hegemonie.
Indes gelang es diesmal noch, den Brand, ehe er andere bundesgenoessische
Gemeinden ergriff, im Keime zu ersticken; nicht durch die Ueberlegenheit der
roemischen Waffen, sondern durch den Verrat eines Fregellaners, des Quintus
Numitorius Pullus, ward der Praetor Lucius Opimius rasch Meister ueber die
empoerte Stadt, die ihr Stadtrecht und ihre Mauern verlor und gleich Capua ein
Dorf ward. Auf einem Teil ihres Gebietes ward 630 (124) die Kolonie Fabrateria
gegruendet; der Rest und die ehemalige Stadt selbst wurden unter die umliegenden
Gemeinden verteilt. Das schnelle und furchtbare Strafgericht schreckte die
Bundesgenossenschaft, und endlose Hochverratsprozesse verfolgten nicht bloss die
Fregellaner, sondern auch die Fuehrer der Volkspartei in Rom, die
begreiflicherweise der Aristokratie als an dieser Insurrektion mitschuldig
galten. Inzwischen erschien Gaius Gracchus wieder in Rom. Die Aristokratie hatte
den gefuerchteten Mann zuerst in Sardinien festzuhalten gesucht, indem sie die
uebliche Abloesung unterliess und sodann, da er ohne hieran sich zu kehren
dennoch zurueckkam, ihn als einen der Urheber des Fregellanischen Aufstandes vor
Gericht gezogen (629-630 125-124). Allein die Buergerschaft sprach ihn frei, und
nun hob auch er den Handschuh auf, bewarb sich um das Volkstribunat und ward in
einer ungewoehnlich zahlreich besuchten Wahlversammlung zum Volkstribun auf das
Jahr 631 (123) ernannt. Der Krieg war also erklaert. Die demokratische Partei,
immer arm an leitenden Kapazitaeten, hatte neun Jahre hindurch notgedrungen so
gut wie gefeiert; jetzt war der Waffenstillstand zu Ende und es stand diesmal an
ihrer Spitze ein Mann, der redlicher als Carbo und talentvoller als Flaccus in
jeder Beziehung zur Fuehrerschaft berufen war.
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2 Die Restriktion, dass die Kontinuierung nur statthaft sein solle, wenn es
an anderen geeigneten Bewerbern fehle (App. civ. 1, 21), war nicht schwer zu
umgehen. Das Gesetz selbst scheint nicht den aelteren Ordnungen anzugehoeren
(Roemisches Staatsrecht, Bd. 1, 3. Aufl., S. 473), sondern erst von den
Gracchanern eingebracht zu sein.
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Gaius Gracchus (601-633 153-121) war sehr verschieden von seinem um neun
Jahre aelteren Bruder. Wie dieser war er gemeiner Lust und gemeinem Treiben
abgewandt, ein durchgebildeter Mann und ein tapferer Soldat; er hatte vor
Numantia unter seinem Schwager und spaeter in Sardinien mit Auszeichnung
gefochten. Allein an Talent, Charakter und vor allem an Leidenschaft war er dem
Tiberius entschieden ueberlegen. An der Klarheit und Sicherheit, mit welcher der
junge Mann sich spaeter in dem Drang der verschiedenartigsten, zur praktischen
Durchfuehrung seiner zahlreichen Gesetze erforderlichen Geschaefte zu bewegen
wusste, erkannte man die echte staatsmaennische Begabung, wie an der
leidenschaftlichen bis zum Tode getreuen Hingebung, mit der seine naeheren
Freunde an ihm hingen, die Liebefaehigkeit dieses adligen Gemuetes. Der Energie
seines Wollens und Handelns war die durchgemachte Leidensschule, die
notgedrungene Zurueckhaltung waehrend der letzten neun Jahre zugute gekommen;
nicht mit geminderter, nur mit verdichteter Glut flammte in ihm die tief in die
innerste Brust zurueckgedraengte Erbitterung gegen die Partei, die das Vaterland
zerruettet und ihm den Bruder ermordet hatte. Durch diese furchtbare
Leidenschaft seines Gemuetes ist er der erste Redner geworden, den Rom jemals
gehabt hat; ohne sie wuerden wir ihn wahrscheinlich den ersten Staatsmaennern
aller Zeiten beizaehlen duerfen. Noch unter den wenigen Truemmern seiner
aufgezeichneten Reden sind manche selbst in diesem Zustande von
herzerschuetternder Maechtigkeit 3, und wohl begreift man, dass, wer sie hoerte
oder auch nur las, fortgerissen ward von dem brausenden Sturm seiner Worte.
Dennoch, sosehr er der Rede Meister war, bemeisterte nicht selten ihn selber der
Zorn, so dass dem glaenzenden Sprecher die Rede truebe oder stockend floss. Es
ist das treue Abbild seines politischen Tuns und Leidens. In Gaius' Wesen ist
keine Ader von der Art seines Bruders, von jener etwas sentimentalen und gar
sehr kurzsichtigen und unklaren Gutmuetigkeit, die den politischen Gegner mit
Bitten und Traenen umstimmen moechte; mit voller Sicherheit betrat er den Weg
der Revolution und strebte er nach dem Ziel der Rache. "Auch mir", schrieb ihm
seine Mutter, "scheint nichts schoener und herrlicher, als dem Feinde zu
vergelten, wofern dies geschehen kann, ohne dass das Vaterland zugrunde geht.
Ist aber dies nicht moeglich, da moegen unsere Feinde bestehen und bleiben, was.
sie sind, tausendmal lieber, als dass das Vaterland verderbe." Cornelia kannte
ihren Sohn; sein Glaubensbekenntnis war eben das Gegenteil. Rache wollte er
nehmen an der elenden Regierung, Rache um jeden Preis, mochte auch er selbst, ja
das Gemeinwesen darueber zugrunde gehen - die Ahnung, dass das Verhaengnis ihn
so sicher ereilen werde wie den Bruder, trieb ihn nur sich zu hasten, gleich dem
toedlich Verwundeten, der sich auf den Feind wirft. Die Mutter dachte edler;
aber auch den Sohn, diese tiefgereizte, leidenschaftlich erregte, durchaus
italienische Natur hat die Nachwelt mehr noch beklagt als getadelt, und sie hat
recht daran getan.
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3 So die bei der Ankuendigung seiner Gesetzvorschlaege gesprochenen Worte:
"Wenn ich zu euch redete und von euch begehrte, da ich von edler Herkunft bin
und meinen Bruder um euretwillen eingebuesst habe und nun niemand weiter uebrig
ist von des Publius Africanus und des Tiberius Gracchus Nachkommen als nur ich
und ein Knabe, mich fuer jetzt feiern zu lassen, damit nicht unser Stamm mit der
Wurzel ausgerottet werde und ein Sproessling dieses Geschlechts uebrig bleibe:
so moechte wohl solches mir von euch bereitwillig zugestanden werden."
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Tiberius Gracchus war mit einer einzelnen Administrativreform vor die
Buergerschaft getreten. Was Gaius in einer Reihe gesonderter Vorschlaege
einbrachte, war nichts anderes als eine vollstaendig neue Verfassung, als deren
erster Grundstein die schon frueher durchgesetzte Neuerung erscheint, dass es
dem Volkstribun freistehen solle, sich fuer das folgende Jahr wiederwaehlen
zulassen. Wenn hiermit fuer das Volkshaupt die Moeglichkeit einer dauernden und
den Inhaber schuetzenden Stellung gewonnen war, so galt es weiter, demselben die
materielle Macht zu sichern, das heisst die hauptstaedtische Menge - denn dass
auf das nur von Zeit zu Zeit nach der Stadt kommende Landvolk kein Verlass war,
hatte sich sattsam gezeigt - mit ihren Interessen fest an den Fuehrer zu
knuepfen. Hierzu diente zuvoerderst die Einfuehrung der hauptstaedtischen
Getreideverteilung. Schon frueher war das dem Staat aus den Provinzialzehnten
zukommende Getreide oftmals zu Schleuderpreisen an die Buergerschaft abgegeben
worden. Gracchus verfuegte, dass fortan jedem persoenlich in der Hauptstadt sich
meldenden Buerger monatlich eine bestimmte Quantitaet - es scheint 5 Modii (5/6
preuss. Scheffel) -aus den oeffentlichen Magazinen verabfolgt werden solle, der
Modius zu 6 1/3 As (2« Groschen) oder noch nicht die Haelfte eines niedrigen
Durchschnittspreises; zu welchem Ende durch Anlage der neuen Sempronischen
Speicher die oeffentlichen Kornmagazine erweitert wurden. Diese Verteilung,
welche folgeweise die ausserhalb der Hauptstadt lebenden Buerger ausschloss und
notwendig die ganze Masse des Buergerproletariats nach Rom ziehen musste, sollte
das hauptstaedtische Buergerproletariat, das bisher wesentlich von der
Aristokratie abgehangen hatte, in die Klientel der Fuehrer der Bewegungspartei
bringen und damit dem neuen Herrn des Staats zugleich eine Leibwache und eine
feste Majoritaet in den Komitien gewaehren. Zu mehrerer Sicherheit hinsichtlich
dieser wurde ferner die in den Zenturiatkomitien noch bestehende Stimmordnung,
wonach die fuenf Vermoegensklassen in jedem Bezirk nacheinander ihre Stimmen
abgaben, abgeschafft; statt dessen sollten in Zukunft saemtliche Zenturien
durcheinander in einer jedesmal durch das Los festzustellenden Reihenfolge
stimmen. Wenn diese Bestimmungen wesentlich darauf hinzielten, durch das
hauptstaedtische Proletariat dem neuen Staatsoberhaupt die vollstaendige
Herrschaft ueber die Hauptstadt und damit ueber den Staat, die freieste
Disposition ueber die Maschine der Komitien und die Moeglichkeit zu verschaffen,
den Senat und die Beamten noetigenfalls zu terrorisieren, so fasste doch der
Gesetzgeber daneben allerdings auch die Heilung der bestehenden sozialen
Schaeden mit Ernst und Nachdruck an. Zwar die italische Domaenenfrage war in
gewissem Sinne abgetan. Das Ackergesetz des Tiberius und selbst das Teilungsamt
bestanden rechtlich noch fort; das von Gaius durchgebrachte Ackergesetz kann
nichts neu festgesetzt haben als die Zurueckgabe der verlorenen Gerichtsbarkeit
an die Teilherren. Dass hiermit nur das Prinzip gerettet werden sollte und die
Ackerverteilung wenn ueberhaupt, doch nur in sehr beschraenktem Umfang
wiederaufgenommen ward, zeigt die Buergerliste, die fuer die Jahre 629 (125) und
639 (115) genau dieselbe Kopfzahl ergibt. Unzweifelhaft ging Gaius hier deshalb
nicht weiter, weil das von roemischen Buergern in Besitz genommene Domanialland
wesentlich bereits verteilt war, die Frage aber wegen der von den Latinern
benutzten Domaenen nur in Verbindung mit der sehr schwierigen ueber die
Ausdehnung des Buergerrechts wiederaufgenommen werden durfte. Dagegen tat er
einen wichtigen Schritt hinaus ueber das Ackergesetz des Tiberius, indem er die
Gruendung von Kolonien in Italien, namentlich in Tarent und vor allem in Capua,
beantragte, also auch das von Gemeinde wegen verpachtete, bisher von der
Aufteilung ausgeschlossene Domanialland zur Verteilung mitheranzog, und zwar
nicht zur Verteilung nach dem bisherigen, die Gruendung neuer Gemeinden
ausschliessenden Verfahren, sondern nach dem Kolonialsystem. Ohne Zweifel
sollten auch diese Kolonien die Revolution, der sie ihre Existenz verdankten,
dauernd verteidigen helfen. Bedeutender und folgenreicher noch war es, dass
Gaius Gracchus zuerst dazu schritt, das italische Proletariat in den
ueberseeischen Gebieten des Staats zu versorgen, indem er an die Staette, wo
Karthago gestanden, 6000 vielleicht nicht bloss aus den roemischen Buergern,
sondern auch aus den italischen Bundesgenossen erwaehlte Kolonisten sendete und
der neuen Stadt Iunonia das Recht einer roemischen Buergerkolonie verlieh. Die
Anlage war wichtig, aber wichtiger noch das damit hingestellte Prinzip der
ueberseeischen Emigration, womit fuer das italische Proletariat ein bleibender
Abzugskanal und in der Tat eine mehr als provisorische Hilfe eroeffnet, freilich
aber auch der Grundsatz des bisherigen Staatsrechts aufgegeben ward, Italien als
das ausschliesslich regierende, das Provinzialgebiet als das ausschliesslich
regierte Land zu betrachten.
Zu diesen auf die grosse Frage hinsichtlich des Proletariats unmittelbar
bezueglichen Massregeln kam eine Reihe von Verfuegungen, die hervorgingen aus
der allgemeinen Tendenz, gegenueber der altvaeterischen Strenge der bestehenden
Verfassung gelindere und zeitgemaessere Grundsaetze zur Geltung zu bringen.
Hierher gehoeren die Milderungen im Militaerwesen. Hinsichtlich der Laenge der
Dienstzeit bestand nach altem Recht keine andere Grenze, als dass kein Buerger
vor vollendetem siebzehnten und nach vollendetem sechsundvierzigsten Jahre zum
ordentlichen Felddienst pflichtig war. Als sodann infolge der Besetzung Spaniens
der Dienst anfing stehend zu werden, scheint zuerst gesetzlich verfuegt zu sein,
dass, wer sechs Jahre hintereinander im Felde gestanden, dadurch zunaechst ein
Recht erhalte auf den Abschied, wenngleich dieser vor der Wiedereinberufung den
Pflichtigen nicht schuetzte; spaeter, vielleicht um den Anfang dieses
Jahrhunderts, kam der Satz auf, dass zwanzigjaehriger Dienst zu Fuss oder
zehnjaehriger zu Ross ueberhaupt vom weiteren Kriegsdienst befreie 4. Gracchus
erneuerte die vermutlich oefter gewaltsam verletzte Vorschrift, keinen Buerger
vor dem begonnenen achtzehnten Jahr in das Heer einzustellen, und beschraenkte
auch, wie es scheint, die zur vollen Befreiung von der Militaerpflicht
erforderliche Zahl von Feldzuegen; ueberdies wurde den Soldaten die Kleidung,
deren Betrag ihnen bisher am Solde gekuerzt worden war, fortan vom Staat
unentgeltlich geliefert.
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4 So moechte die Angabe Appians (Hisp. 78), dass sechsjaehriger Dienst
berechtige, den Abschied zu fordern, auszugleichen sein mit der bekannteren des
Polybios (6, 19), ueber welche Marquardt (Handbuch, Bd. 6, S. 381) richtig
urteilt. Die Zeit, wo beide Neuerungen aufkamen, laesst sich nicht weiter
bestimmen, als dass die erste wahrscheinlich schon im Jahre 603 (K. W. Nitzsch,
Die Gracchen, S. 231), die zweite sicher schon zu Polybios' Zeit bestand. Dass
Gracchus die Zahl der gesetzlichen Dienstjahre herabsetzte, scheint aus Asconius
(Corn. p. 68) zu folgen; vgl. Plut. Tib. Gracch. 16; Dio fr. 83; 7 Bekker.
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Hierher gehoert ferner die mehrfach in der Gracchischen Gesetzgebung
hervortretende Tendenz, die Todesstrafe wo nicht abzuschaffen, doch noch mehr,
als es schon geschehen war, zu beschraenken, die zum Teil selbst in der
Militaergerichtsbarkeit sich geltend macht. Schon seit Einfuehrung der Republik
hatte der Beamte das Recht verloren, ueber den Buerger die Todesstrafe ohne
Befragung der Gemeinde zu verhaengen ausser nach Kriegsrecht; wenn dies
Provokationsrecht des Buergers bald nach der Gracchenzeit auch im Lager
anwendbar und das Recht des Feldherrn, Todesstrafen zu vollstrecken, auf
Bundesgenossen und Untertanen beschraenkt erscheint, so ist wahrscheinlich die
Quelle hiervon zu suchen in dem Provokationsgesetz des Gaius Gracchus. Aber auch
das Recht der Gemeinde, die Todesstrafe zu verhaengen oder vielmehr zu
bestaetigen, ward mittelbar, aber wesentlich dadurch beschraenkt, dass Gracchus
diejenigen gemeinen Verbrechen, die am haeufigsten zu Todesurteilen Veranlassung
gaben, Giftmischerei und ueberhaupt Mord, der Buergerschaft entzog und an
staendige Kommissionsgerichte ueberwies, welche nicht wie die Volksgerichte
durch Einschreiten eines Tribuns gesprengt werden konnten und von denen nicht
bloss keine Appellation an die Gemeinde ging, sondern deren Wahrsprueche auch so
wenig wie die der althergebrachten Zivilgeschworenen der Kassation durch die
Gemeinde unterlagen. Bei den Buergerschaftsgerichten war es, namentlich bei den
eigentlich politischen Prozessen, zwar auch laengst Regel, dass der Angeklagte
auf freiem Fuss prozessiert und ihm gestattet ward, durch Aufgebung seines
Buergerrechts wenigstens Leben und Freiheit zu retten; denn die Vermoegensstrafe
so wie die Zivilverurteilung konnten auch den Exilierten noch treffen. Allein
vorgaengige Verhaftung und vollstaendige Exekution blieben hier wenigstens
rechtlich moeglich und wurden selbst gegen Vornehme noch zuweilen vollzogen, wie
zum Beispiel Lucius Hostilius Tubulus, Praetor 612 (142), der wegen eines
schweren Verbrechens auf den Tod angeklagt war, unter Verweigerung des
Exilrechts festgenommen und hingerichtet ward. Dagegen die aus dem Zivilprozess
hervorgegangenen Kommissionsgerichte konnten wahrscheinlich von Haus aus
Freiheit und Leben des Buergers nicht antasten und hoechstens auf Verbannung
erkennen - diese, bisher eine dem schuldig befundenen Mann gestattete
Strafmilderung, ward nun zuerst zur foermlichen Strafe. Auch dieses
unfreiwillige Exil liess gleich dem freiwilligen dem Verbannten das Vermoegen,
soweit es nicht zur Befriedigung der Ersatzforderungen und in Geldbussen
daraufging.
Im Schuldwesen endlich hat Gaius Gracchus zwar nichts geneuert; doch
behaupten sehr achtbare Zeugen, dass er den verschuldeten Leuten auf Minderung
oder Erlass der Forderungen Hoffnung gemacht habe, was, wenn es richtig ist,
gleichfalls diesen radikal populaeren Massregeln beizuzaehlen ist.
Waehrend Gracchus also sich lehnte auf die Menge, die von ihm eine
materielle Verbesserung ihrer Lage teils erwartete, teils empfing, arbeitete er
mit gleicher Energie an dem Ruin der Aristokratie. Wohl erkennend, wie unsicher
jede bloss auf das Proletariat gebaute Herrschaft des Staatsoberhauptes ist, war
er vor allem darauf bedacht, die Aristokratie zu spalten und einen Teil
derselben in sein Interesse zu ziehen. Die Elemente einer solchen Spaltung waren
vorhanden. Die Aristokratie der Reichen, die sich wie ein Mann gegen Tiberius
Gracchus erhoben hatte, bestand in der Tat aus zwei wesentlich ungleichen
Massen, die man einigermassen der Lords- und der Cityaristokratie Englands
vergleichen kann. Die eine umfasste den tatsaechlich geschlossenen Kreis der
regierenden senatorischen Familien, die der unmittelbaren Spekulation sich
fernhielten und ihre ungeheuren Kapitalien teils in Grundbesitz anlegten, teils
als stille Gesellschafter bei den grossen Assoziationen verwerteten. Den Kern
der zweiten Klasse bildeten die Spekulanten, welche als Geschaeftsfuehrer dieser
Gesellschaften oder auf eigene Hand die Gross- und Geldgeschaefte im ganzen
Umfang der roemischen Hegemonie betrieben. Es ist schon dargestellt worden, wie
die letztere Klasse namentlich im Laufe des sechsten Jahrhunderts allmaehlich
der senatorischen Aristokratie an die Seite trat und, wie die gesetzliche
Ausschliessung der Senatoren von dem kaufmaennischen Betrieb durch den von dem
Vorlaeufer der Gracchen Gaius Flaminius veranlassten Claudischen Volksschluss,
eine aeussere Scheidewand zwischen den Senatoren und den Kauf- und Geldleuten
zog. In der gegenwaertigen Epoche beginnt die kaufmaennische Aristokratie unter
dem Namen der "Ritterschaft" einen entscheidenden Einfluss auch in politischen
Angelegenheiten zu ueben. Diese Bezeichnung, die urspruenglich nur der
diensttuenden Buergerreiterei zukam, uebertrug sich allmaehlich, wenigstens im
gewoehnlichen Sprachgebrauch, auf alle diejenigen, die als Besitzer eines
Vermoegens von mindestens 400000 Sesterzen zum Rossdienst im allgemeinen
pflichtig waren, und begriff also die gesamte senatorische und nichtsenatorische
vornehme roemische Gesellschaft. Nachdem indes nicht lange vor Gaius Gracchus
die Inkompatibilitaet des Sitzes in der Kurie und des Reiterdienstes gesetzlich
festgestellt und die Senatoren also aus den Ritterfaehigen ausgeschieden waren,
konnte der Ritterstand, im grossen und ganzen genommen, betrachtet werden als im
Gegensatz zum Senat die Spekulantenaristokratie vertretend, obwohl die nicht in
den Senat eingetretenen, namentlich also die juengeren Glieder der senatorischen
Familien nicht aufhoerten, als Ritter zu dienen und also zu heissen, ja die
eigentliche Buergerreiterei, das heisst die achtzehn Ritterzenturien, infolge
ihrer Zusammensetzung durch die Zensoren, fortfuhren, vorwiegend aus der jungen
senatorischen Aristokratie sich zu ergaenzen.
Dieser Stand der Ritter, das heisst wesentlich der vermoegenden Kaufleute,
beruehrte vielfaeltig sich unsanft mit dem regierenden Senat. Es war eine
natuerliche Antipathie zwischen den vornehmen Adligen und den Maennern, denen
mit dem Gelde der Rang gekommen war. Die regierenden Herren, vor allem die
besseren von ihnen, standen der Spekulation ebenso fern, wie die politischen
Fragen und Koteriefehden den Maennern der materiellen Interessen gleichgueltig
waren. Jene und diese waren namentlich in den Provinzen schon oefter hart
zusammengestossen; denn wenn auch im allgemeinen die Provinzialen weit mehr
Grund hatten, sich ueber die Parteilichkeit der roemischen Beamten zu beschweren
als die roemischen Kapitalisten, so liessen doch die regierenden Herren vom
Senat sich nicht dazu herbei, den Begehrlichkeiten und Unrechtfertigkeiten der
Geldmaenner auf Kosten der Untertanen so durchaus und unbedingt die Hand zu
leihen, wie es von jenen begehrt ward. Trotz der Eintracht gegen einen
gemeinschaftlichen Feind, wie Tiberius Gracchus gewesen war, klaffte zwischen
der Adels- und Geldaristokratie ein tief gehender Riss; und geschickter als sein
Bruder erweiterte ihn Gaius, bis das Buendnis gesprengt war und die
Kaufmannschaft auf seiner Seite stand. Dass die aeusseren Vorrechte, durch die
spaeterhin die Maenner von Ritterzensus von der uebrigen Menge sich
unterschieden - der goldene Fingerreif statt des gewoehnlichen eisernen oder
kupfernen und der abgesonderte und bessere Platz bei den Buergerfesten -, der
Ritterschaft zuerst von Gaius Gracchus verliehen worden sind, ist nicht gewiss,
aber nicht unwahrscheinlich. Denn aufgekommen sind sie auf jeden Fall um diese
Zeit, und wie die Erstreckung dieser bisher im wesentlichen senatorischen
Privilegien auf den von ihm emporgehobenen Ritterstand ganz in Gracchus' Art
ist, so war es auch recht eigentlich sein Zweck, der Ritterschaft den Stempel
eines zwischen der senatorischen Aristokratie und der gemeinen Menge in der
Mitte stehenden, ebenfalls geschlossenen und privilegierten Standes
aufzudruecken; und ebendies haben jene Standesabzeichen, wie gering sie an sich
auch waren und wie viele Ritterfaehige auch ihrer sich nicht bedienen mochten,
mehr gefoerdert als manche an sich weit wichtigere Verordnung. Indes die Partei
der materiellen. Interessen, wenn sie dergleichen Ehren auch keineswegs
verschmaeht, ist doch dafuer allein nicht zu haben. Gracchus erkannte es wohl,
dass sie zwar dem Meistbietenden von Rechts wegen zufaellt, aber es auch eines
hohen und reellen Gebotes bedurfte; und so bot er ihr die asiatischen Gefaelle
und die Geschworenengerichte.
Das System der roemischen Finanzverwaltung, sowohl die indirekten Steuern
wie auch die Domanialgefaelle durch Mittelsmaenner zu erheben, gewaehrte an sich
schon dem roemischen Kapitalistenstand auf Kosten der Steuerpflichtigen die
ausgedehntesten Vorteile. Die direkten Abgaben indes bestanden entweder, wie in
den meisten Aemtern, in festen, von den Gemeinden zu entrichtenden Geldsummen,
was die Dazwischenkunft roemischer Kapitalisten von selber ausschloss, oder, wie
in Sizilien und Sardinien, in einem Bodenzehnten, dessen Erhebung fuer jede
einzelne Gemeinde in den Provinzen selbst verpachtet ward und wobei also
regelmaessig die vermoegenden Provinzialen, und sehr haeufig die
zehntpflichtigen Gemeinden selbst, den Zehnten ihrer Distrikte pachteten und
dadurch die gefaehrlichen roemischen Mittelsmaenner von sich abwehrten. Als
sechs Jahre zuvor die Provinz Asia an die Roemer gefallen war, hatte der Senat
sie im wesentlichen nach dem ersten System einrichten lassen. Gaius Gracchus 5
stiess diese Verfuegung durch einen Volksschluss um und belastete nicht bloss
die bis dahin fast steuerfreie Provinz mit den ausgedehntesten indirekten und
direkten Abgaben, namentlich dem Bodenzehnten, sondern er verfuegte auch, dass
diese Hebungen fuer die gesamte Provinz und in Rom verpachtet werden sollten -
eine Bestimmung, die die Beteiligung der Provinzialen tatsaechlich ausschloss
und die in der Mittelsmaennerschaft fuer Zehnten, Hutgeld und Zoelle der Provinz
Asia eine Kapitalistenassoziation von kolossaler Ausdehnung ins Leben rief.
Charakteristisch fuer Gracchus' Bestreben, den Kapitalistenstand vom Senat
unabhaengig zu machen, ist dabei noch die Bestimmung, dass der voellige oder
teilweise Erlass der Pachtsumme nicht mehr, wie bisher, vom Senat nach Ermessen
bewilligt werden, sondern unter bestimmten Voraussetzungen gesetzlich eintreten
solle. Wenn hier dem Kaufmannsstand eine Goldgrube eroeffnet und in den
Mitgliedern der neuen Gesellschaft ein selbst der Regierung imponierender Kern
der hohen Finanz, ein "Senat der Kaufmannschaft" konstituiert ward, so ward
denselben zugleich in den Geschworenengerichten eine bestimmte oeffentliche
Taetigkeit zugewiesen. Das Gebiet des Kriminalprozesses, der von Rechts wegen
vor die Buergerschaft gehoerte, war bei den Roemern von Haus aus sehr eng und
ward, wie bemerkt, durch Gracchus noch weiter verengt; die meisten Prozesse,
sowohl die wegen gemeiner Verbrechen als auch die Zivilsachen, wurden entweder
von Einzelgeschworenen oder von teils stehenden, teils ausserordentlichen
Kommissionen entschieden. Bisher waren jene und diese ausschliesslich aus dem
Senat genommen worden; Gracchus ueberwies sowohl in den eigentlichen
Zivilprozessen wie bei den staendigen und nichtstaendigen Kommissionen die
Geschworenenfunktionen an den Ritterstand, indem er die Geschworenenlisten nach
Analogie der Ritterzenturien aus den saemtlichen ritterfaehigen Individuen
jaehrlich neu formieren liess und die Senatoren geradezu, die jungen Maenner der
senatorischen Familien durch Festsetzung einer gewissen Altersgrenze von den
Gerichten ausschloss 6. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Geschworenenwahl
vorwiegend auf dieselben Maenner gelenkt ward, die in den grossen
kaufmaennischen Assoziationen namentlich der asiatischen und sonstigen
Steuerpaechter die erste Rolle spielten, eben weil diese ein sehr nahes eigenes
Interesse daran hatten, in den Gerichten zu sitzen; und fielen also die
Geschworenenliste und die Publikanensozietaeten in ihren Spitzen zusammen, so
begreift man um so mehr die Bedeutung des also konstituierten Gegensenats. Die
wesentliche Folge hiervon war, dass, waehrend bisher es nur zwei Gewalten im
Staate gegeben hatte, die Regierung als verwaltende und kontrollierende, die
Buergerschaft als legislative Behoerde, die Gerichte aber zwischen beiden
geteilt waren, jetzt die Geldaristokratie nicht bloss auf der soliden Basis der
materiellen Interessen als festgeschlossene und privilegierte Klasse sich
zusammenfand, sondern auch als richtende und kontrollierende Gewalt in den Staat
eintrat und der regierenden Aristokratie sich fast ebenbuertig zur Seite
stellte. All die alten Antipathien der Kaufleute gegen den Adel mussten fortan
in den Wahrspruechen der Geschworenen einen nur zu praktischen Ausdruck finden;
vor allen Dingen in den Rechenschaftsgerichten der Provinzialstatthalter hatte
der Senator nicht mehr wie bisher von seinesgleichen, sondern von Grosshaendlern
und Bankiers die Entscheidung zu erwarten ueber seine buergerliche Existenz. Die
Fehden zwischen den roemischen Kapitalisten und den roemischen Statthaltern
verpflanzten sich aus der Provinzialverwaltung auf den bedenklichen Boden der
Rechenschaftsprozesse. Die Aristokratie der Reichen war nicht bloss gespalten,
sondern es war auch dafuer gesorgt, dass der Zwist immer neue Nahrung und
leichten Ausdruck fand.
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5 Dass er und nicht Tiberius der Urheber dieses Gesetzes ist, zeigt jetzt
Fronto in den Briefen an Verus z.A. Vgl. Gracchus bei Gell. 11, 10; Cic. rep. 3,
29 und Verr. 3, 6, 12; Vell. 2. 6.
6 Die zunaechst durch diese Veraenderung des Richterpersonals veranlasste
neue Gerichtsordnung fuer die staendige Kommission wegen Erpressungen besitzen
wir noch zum grossen Teil: sie ist bekannt unter dem Namen des Servilischen oder
vielmehr Acilischen Repetundengesetzes.
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Mit den also bereiteten Waffen, dem Proletariat und dem Kaufmannsstand,
ging Gracchus an sein Hauptwerk, an den Sturz der regierenden Aristokratie. Den
Senat stuerzen hiess einerseits durch gesetzliche Neuerungen eine wesentliche
Kompetenz ihm entziehen, andererseits durch Massregeln mehr persoenlicher und
transitorischer Art die bestehende Aristokratie zugrunde richten. Gracchus hat
beides getan. Vor allem die Verwaltung hatte bisher dem Senat ausschliesslich
zugestanden; Gracchus nahm sie ihm ab, indem er teils die wichtigsten
Administrativfragen durch Komitialgesetze, das heisst tatsaechlich durch
tribunizische Machtsprueche entschied, teils in den laufenden Angelegenheiten
den Senat moeglichst beschraenkte, teils selbst in der umfassendsten Weise die
Geschaefte an sich zog. Die Massregeln der ersten Gattung sind schon erwaehnt:
der neue Herr des Staats disponierte, ohne den Senat zu fragen, ueber die
Staatskasse, indem er durch die Getreideverteilung den oeffentlichen Finanzen
eine dauernde und drueckende Last aufbuerdete, ueber die Domaenen, indem er
Kolonien nicht wie bisher nach Senats- und Volks-, sondern allein nach
Volksschluss aussandte, ueber die Provinzialverwaltung, indem er die vom Senat
der Provinz Asia gegebene Steuerverfassung durch ein Volksgesetz umstiess und
eine durchaus andere an deren Stelle setzte. Eines der wichtigsten unter den
laufenden Geschaeften des Senats, die willkuerliche Feststellung der
jedesmaligen Kompetenz der beiden Konsuln, wurde ihm zwar nicht entzogen, aber
der bisher dabei geuebte indirekte Druck auf die hoechsten Beamten dadurch
beschraenkt, dass der Senat angewiesen ward, diese Kompetenzen festzustellen,
bevor die betreffenden Konsuln gewaehlt seien. Mit beispielloser Taetigkeit
endlich konzentrierte Gaius die verschiedenartigsten und verwickeltsten
Regierungsgeschaefte in seiner Person: Er selbst ueberwachte die
Getreideverteilung, erlas die Geschworenen, gruendete trotz des gesetzlich an
die Stadt ihn fesselnden Amtes persoenlich die Kolonien, regulierte das
Wegewesen und schloss die Bauvertraege ab, leitete die Senatsverhandlungen,
bestimmte die Konsulwahlen - kurz er gewoehnte das Volk daran, dass in allen
Dingen ein Mann der erste sei, und verdunkelte die schlaffe und lahme Verwaltung
des senatorischen Kollegiums durch sein kraeftiges und gewandtes persoenliches
Regiment.
Noch energischer als in die Verwaltung griff Gracchus ein in die
senatorische Gerichtsallmacht. Dass er die Senatoren als Geschworene beseitigte,
ward schon gesagt; dasselbe geschah mit der Jurisdiktion, die der Senat als
oberste Verwaltungsbehoerde sich in Ausnahmefaellen gestattete. Bei scharfer
Strafe untersagte er, wie es scheint in dem erneuerten Provokationsgesetz 7, die
Niedersetzung ausserordentlicher Hochverratskommissionen durch Senatsbeschluss,
wie diejenige gewesen war, welche nach seines Bruders Ermordung ueber dessen
Anhaenger zu Gericht gesessen hatte. Die Summe dieser Massregeln ist, dass der
Senat die Kontrolle ganz verlor und von der Verwaltung nur behielt, was das
Staatshaupt ihm zu lassen fuer gut befand. Indes diese konstitutiven Massregeln
genuegten nicht; auch der gegenwaertig regierenden Aristokratie wurde
unmittelbar zu Leibe gegangen. Ein blosser Akt der Rache war es, dass dem
zuletzt erwaehnten Gesetz rueckwirkende Kraft beigelegt und dadurch derjenige
Aristokrat, den nach Nasicas inzwischen erfolgtem Tode der Hass der Demokraten
hauptsaechlich traf, Publius Popillius, genoetigt ward, das Land zu meiden.
Merkwuerdigerweise ging dieser Antrag nur mit achtzehn gegen siebzehn Stimmen in
der Bezirksversammlung durch - ein Zeichen, was wenigstens in Fragen
persoenlichen Interesses noch der Einfluss der Aristokratie bei der Menge
vermochte. Ein aehnliches, aber weit minder zu rechtfertigendes Dekret, den
gegen Marcus Octavius gerichteten Antrag, dass, wer durch Volksschluss sein Amt
verloren habe, auf immer unfaehig sein solle, einen oeffentlichen Posten zu
bekleiden, nahm Gaius zurueck auf Bitten seiner Mutter und ersparte sich damit
die Schande, durch die Legalisierung einer notorischen Verfassungsverletzung das
Recht offen zu verhoehnen und an einem Ehrenmann, der kein bitteres Wort gegen
Tiberius gesprochen und nur der Verfassung und seiner Pflicht, wie er sie
verstand, gemaess gehandelt hatte, niedrige Rache zu nehmen. Aber von ganz
anderer Wichtigkeit als diese Massregeln war Gaius' freilich wohl schwerlich zur
Ausfuehrung gelangter Plan, den Senat durch 300 neue Mitglieder, das heisst
ungefaehr ebenso viele als er bisher hatte, zu verstaerken und diese aus dem
Ritterstand durch Komitien waehlen zu lassen - eine Pairskreierung im
umfassendsten Stil, die den Senat in die vollstaendigste Abhaengigkeit von dem
Staatsoberhaupt gebracht haben wuerde.
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7 Dies und das Gesetz ne quis iudicio circumveniatur duerften identisch
sein.
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Dies ist die Staatsverfassung, welche Gaius Gracchus entworfen und waehrend
der beiden Jahre seines Volkstribunats (631, 632 123, 122) in ihren
wesentlichsten Punkten durchgefuehrt hat, soweit wir sehen, ohne auf irgendeinen
nennenswerten Widerstand zu stossen und ohne zur Erreichung seiner Zwecke Gewalt
anwenden zu muessen. Die Reihenfolge, in der die Massregeln durchgebracht sind,
laesst in der zerruetteten Ueberlieferung sich nicht mehr erkennen, und auf
manche naheliegende Frage muessen wir die Antwort schuldig bleiben; es scheint
indes nicht, dass uns mit dem Fehlenden sehr wesentliche Momente entgangen sind,
da ueber die Hauptsachen vollkommen sichere Kunde vorliegt und Gaius keineswegs
wie sein Bruder durch den Strom der Ereignisse weiter und weiter gedraengt ward,
sondern offenbar einen wohl ueberlegten, umfassenden Plan in einer Reihe von
Spezialgesetzen im wesentlichen vollstaendig realisierte.
Dass nun Gaius Gracchus keineswegs, wie viele gutmuetige Leute in alter und
neuer Zeit gemeint haben, die roemische Republik auf neue demokratische Basen
stellen, sondern vielmehr sie abschaffen und in der Form eines durch stehende
Wiederwahl lebenslaenglich und durch unbedingte Beherrschung der formell
souveraenen Komitien absolut gemachten Amtes, eines unumschraenkten
Volkstribunats auf Lebenszeit, anstatt der Republik die Tyrannis, das heisst
nach heutigem Sprachgebrauch die nicht feudalistische und nicht theokratische,
die napoleonisch absolute Monarchie einfuehren wollte, das offenbart die
Sempronische Verfassung selbst mit voller Deutlichkeit einem jeden, der Augen
hat und haben will. In der Tat, wenn Gracchus, wie seine Worte deutlich und
deutlicher seine Werke es sagen, den Sturz des Senatsregiments bezweckte, was
blieb in einem Gemeinwesen, das ueber die Urversammlungen hinaus und fuer das
der Parlamentarismus nicht vorhanden war, nach dem Sturz des aristokratischen
Regiments fuer eine andere politische Ordnung moeglich als die Tyrannis?
Traeumer, wie sein Vorgaenger einer war, und Schwindler, wie sie die Folgezeit
herauffuehrte, mochten dies in Abrede stellen; Gaius Gracchus aber war ein
Staatsmann, und wenn auch die Formulierung, die der grosse Mann fuer sein
grosses Werk bei sich selber aufstellte, uns nicht ueberliefert und in sehr
verschiedener Weise denkbar ist, so wusste er doch unzweifelhaft, was er tat.
Sowenig die beabsichtigte Usurpation der monarchischen Gewalt sich verkennen
laesst, so wenig wird, wer die Verhaeltnisse uebersieht, den Gracchus deswegen
tadeln. Eine absolute Monarchie ist ein grosses Unglueck fuer die Nation, aber
ein minderes als eine absolute Oligarchie; und wer der Nation statt des
groesseren das kleinere Leiden auferlegt, den darf die Geschichte nicht
schelten, am wenigsten eine so leidenschaftlich ernste und allem Gemeinen so
fernstehende Natur wie Gaius Gracchus. Allein nichtsdestoweniger darf sie es
nicht verschweigen, dass durch die ganze Gesetzgebung desselben eine
Zwiespaeltigkeit verderblichster Art geht, indem sie einerseits das gemeine
Beste bezweckt, andererseits den persoenlichen Zwecken, ja der persoenlichen
Rache des Herrschers dient. Gracchus war ernstlich bemueht, fuer die sozialen
Schaeden eine Abhilfe zu finden und dem einreissenden Pauperismus zu steuern;
dennoch zog er zugleich durch seine Getreideverteilungen, die fuer alles
arbeitsscheue hungernde Buergergesindel eine Praemie werden sollten und wurden,
ein hauptstaedtisches Gassenproletariat der schlimmsten Art absichtlich gross.
Gracchus tadelte mit den bittersten Worten die Feilheit des Senats und deckte
namentlich den skandaloesen Schacher, den Manius Aquillius mit den
kleinasiatischen Provinzen getrieben, mit schonungsloser und gerechter Strenge
auf 8. Aber es war desselben Mannes Werk, dass der souveraene Poebel der
Hauptstadt fuer seine Regierungssorgen sich on der Untertanenschaft alimentieren
liess. Gracchus missbilligte lebhaft die schaendliche Auspluenderung der
Provinzen und veranlasste nicht bloss, dass in einzelnen Faellen mit heilsamer
Strenge eingeschritten ward, sondern auch die Abschaffung der durchaus
unzureichenden senatorischen Gerichte, vor denen selbst Scipio Aemilianus, um
die entschiedensten Frevler zur Strafe zu ziehen, sein ganzes Ansehen vergeblich
eingesetzt hatte. Dennoch ueberlieferte er zugleich durch die Einfuehrung der
Kaufmannsgerichte die Provinzialen mit gebundenen Haenden der Partei der
materiellen Interessen und damit einer noch ruecksichtsloseren Despotie, als die
aristokratische gewesen war, und fuehrte in Asia eine Besteuerung ein, gegen
welche selbst die nach karthagischem Muster in Sizilien geltende
Steuerverfassung gelind und menschlich heissen konnte - beides, weil er teils
der Partei der Geldmaenner, teils fuer seine Getreideverteilungen und die
sonstigen den Finanzen neu aufgebuerdeten Lasten neuer und umfassender
Hilfsquellen bedurfte. Gracchus wollte ohne Zweifel eine feste Verwaltung und
eine geordnete Rechtspflege, wie zahlreiche durchaus zweckmaessige Anordnungen
bezeugen; dennoch beruht sein neues Verwaltungssystem auf einer fortlaufenden
Reihe einzelner, nur formell legalisierter Usurpationen; dennoch zog er das
Gerichtswesen, das jeder geordnete Staat, soweit irgend moeglich, zwar nicht
ueber die politischen Parteien, aber doch ausserhalb derselben zu stellen
bemueht sein wird, absichtlich mitten in den Strudel der Revolution. Allerdings
faellt die Schuld dieser Zwiespaeltigkeit in Gaius Gracchus' Tendenzen zu einem
sehr grossen Teil mehr auf die Stellung als auf die Person. Gleich hier an der
Schwelle der Tyrannis entwickelt sich das verhaengnisvolle sittlich-politische
Dilemma, dass derselbe Mann zugleich, man moechte sagen, als Raeuberhauptmann
sich behaupten und als der erste Buerger den Staat leiten soll; ein Dilemma, dem
auch Perikles, Caesar, Napoleon bedenkliche Opfer haben bringen muessen. Indes
ganz laesst sich Gaius Gracchus' Verfahren aus dieser Notwendigkeit nicht
erklaeren; es wirkt daneben in ihm die verzehrende Leidenschaft, die gluehende
Rache, die, den eigenen Untergang voraussehend, den Feuerbrand schleudert in das
Haus des Feindes. Er selber hat es ausgesprochen, wie er ueber seine
Geschworenenordnung und aehnliche auf die Spaltung der Aristokratie abzweckende


 


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