Wilhelm Meisters Lehrjahre--Buch 4
by
Johann Wolfgang von Goethe

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Wilhelm Meisters Lehrjahre--Buch 4

Johann Wolfgang von Goethe






Viertes Buch

Erstes Kapitel

Laertes stand nachdenklich am Fenster und blickte, auf seinen Arm
gestützt, in das Feld hinaus. Philine schlich über den großen Saal
herbei, lehnte sich auf den Freund und verspottete sein ernsthaftes
Ansehen.

"Lache nur nicht", versetzte er, "es ist abscheulich, wie die Zeit
vergeht, wie alles sich verändert und ein Ende nimmt! Sieh nur, hier
stand vor kurzem noch ein schönes Lager, wie lustig sahen die Zelte
aus! wie lebhaft ging es darin zu! wie sorgfältig bewachte man den
ganzen Bezirk! und nun ist alles auf einmal verschwunden. Nur kurze
Zeit werden das zertretene Stroh und die eingegrabenen Kochlöcher noch
eine Spur zeigen; dann wird alles bald umgepflügt sein, und die
Gegenwart so vieler tausend rüstiger Menschen in dieser Gegend wird
nur noch in den Köpfen einiger alten Leute spuken."

Philine fing an zu singen und zog ihren Freund zu einem Tanze in den
Saal. "Laß uns", rief sie, "da wir der Zeit nicht nachlaufen können,
wenn sie vorüber ist, sie wenigstens als eine schöne Göttin, indem sie
bei uns vorbeizieht, fröhlich und zierlich verehren!"

Sie hatten kaum einige Wendungen gemacht, als Madame Melina durch den
Saal ging. Philine war boshaft genug, sie gleichfalls zum Tanze
einzuladen und sie dadurch an die Mißgestalt zu erinnern, in welche
sie durch ihre Schwangerschaft versetzt war.

"Wenn ich nur", sagte Philine hinter ihrem Rücken, "keine Frau mehr
guter Hoffnung sehen sollte!"

"Sie hofft doch", sagte Laertes.

"Aber es kleidet sie so häßlich. Hast du die vordere Wackelfalte des
verkürzten Rocks gesehen, die immer vorausspaziert, wenn sie sich
bewegt? Sie hat gar keine Art noch Geschick, sich nur ein bißchen zu
mustern und ihren Zustand zu verbergen."

"Laß nur", sagte Laertes, "die Zeit wird ihr schon zu Hülfe kommen."

"Es wäre doch immer hübscher", rief Philine, "wenn man die Kinder von
den Bäumen schüttelte."

Der Baron trat herein und sagte ihnen etwas Freundliches im Namen des
Grafen und der Gräfin, die ganz früh abgereist waren, und machte ihnen
einige Geschenke. Er ging darauf zu Wilhelmen, der sich im
Nebenzimmer mit Mignon beschäftigte. Das Kind hatte sich sehr
freundlich und zutätig bezeigt, nach Wilhelms Eltern, Geschwistern und
Verwandten gefragt und ihn dadurch an seine Pflicht erinnert, den
Seinigen von sich einige Nachricht zu geben.

Der Baron brachte ihm nebst einem Abschiedsgruße von den Herrschaften
die Versicherung, wie sehr der Graf mit ihm, seinem Spiele, seinen
poetischen Arbeiten und seinen theatralischen Bemühungen zufrieden
gewesen sei. Er zog darauf zum Beweis dieser Gesinnung einen Beutel
hervor, durch dessen schönes Gewebe die reizende Farbe neuer
Goldstücke durchschimmerte; Wilhelm trat zurück und weigerte sich, ihn
anzunehmen.

"Sehen Sie", fuhr der Baron fort, "diese Gabe als einen Ersatz für
Ihre Zeit, als eine Erkenntlichkeit für Ihre Mühe, nicht als eine
Belohnung Ihres Talents an. Wenn uns dieses einen guten Namen und die
Neigung der Menschen verschafft, so ist billig, daß wir durch Fleiß
und Anstrengung zugleich die Mittel erwerben, unsre Bedürfnisse zu
befriedigen, da wir doch einmal nicht ganz Geist sind. Wären wir in
der Stadt, wo alles zu finden ist, so hätte man diese kleine Summe in
eine Uhr, einen Ring oder sonst etwas verwandelt; nun gebe ich aber
den Zauberstab unmittelbar in Ihre Hände; schaffen Sie sich ein
Kleinod dafür, das Ihnen am liebsten und am dienlichsten ist, und
verwahren Sie es zu unserm Andenken. Dabei halten Sie ja den Beutel
in Ehren. Die Damen haben ihn selbst gestrickt, und ihre Absicht war,
durch das Gefäß dem Inhalt die annehmlichste Form zu geben."

"Vergeben Sie", versetzte Wilhelm, "meiner Verlegenheit und meinen
Zweifeln, dieses Geschenk anzunehmen. Es vernichtet gleichsam das
wenige, was ich getan habe, und hindert das freie Spiel einer
glücklichen Erinnerung. Geld ist eine schöne Sache, wo etwas abgetan
werden soll, und ich wünschte nicht, in dem Andenken Ihres Hauses so
ganz abgetan zu sein."

"Das ist nicht der Fall", versetzte der Baron; "aber indem Sie selbst
zart empfinden, werden Sie nicht verlangen, daß der Graf sich völlig
als Ihren Schuldner denken soll: ein Mann, der seinen größten Ehrgeiz
darein setzt, aufmerksam und gerecht zu sein. Ihm ist nicht entgangen,
welche Mühe Sie sich gegeben und wie Sie seinen Absichten ganz Ihre
Zeit gewidmet haben, ja er weiß, daß Sie, um gewisse Anstalten zu
beschleunigen, Ihr eignes Geld nicht schonten. Wie will ich wieder
vor ihm erscheinen, wenn ich ihn nicht versichern kann, daß seine
Erkenntlichkeit Ihnen Vergnügen gemacht hat."

"Wenn ich nur an mich selbst denken, wenn ich nur meinen eigenen
Empfindungen folgen dürfte", versetzte Wilhelm, "würde ich mich,
ungeachtet aller Gründe, hartnäckig weigern, diese Gabe, so schön und
ehrenvoll sie ist, anzunehmen; aber ich leugne nicht, daß sie mich in
dem Augenblicke, in dem sie mich in Verlegenheit setzt, aus einer
Verlegenheit reißt, in der ich mich bisher gegen die Meinigen befand
und die mir manchen stillen Kummer verursachte. Ich habe sowohl mit
dem Gelde als mit der Zeit, von denen ich Rechenschaft zu geben habe,
nicht zum besten hausgehalten; nun wird es mir durch den Edelmut des
Herrn Grafen möglich, den Meinigen getrost von dem Glücke Nachricht zu
geben, zu dem mich dieser sonderbare Seitenweg geführt hat. Ich opfre
die Delikatesse, die uns wie ein zartes Gewissen bei solchen
Gelegenheiten warnt, einer höhern Pflicht auf, und um meinem Vater
mutig unter die Augen treten zu können, steh ich beschämt vor den
Ihrigen."

"Es ist sonderbar", versetzte der Baron, "welch ein wunderlich
Bedenken man sich macht, Geld von Freunden und Gönnern anzunehmen, von
denen man jede andere Gabe mit Dank und Freude empfangen würde. Die
menschliche Natur hat mehr ähnliche Eigenheiten, solche Skrupel gern
zu erzeugen und sorgfältig zu nähren."

"Ist es nicht das nämliche mit allen Ehrenpunkten?" fragte Wilhelm.

"Ach ja", versetzte der Baron, "und andern Vorurteilen. Wir wollen
sie nicht ausjäten, um nicht vielleicht edle Pflanzen zugleich mit
auszuraufen. Aber mich freut immer, wenn einzelne Personen fühlen,
über was man sich hinaussetzen kann und soll, und ich denke mit
Vergnügen an die Geschichte des geistreichen Dichters, der für ein
Hoftheater einige Stücke verfertigte, welche den ganzen Beifall des
Monarchen erhielten. "Ich muß ihn ansehnlich belohnen", sagte der
großmütige Fürst; "man forsche an ihm, ob ihm irgendein Kleinod
Vergnügen macht oder ob er nicht verschmäht, Geld anzunehmen." Nach
seiner scherzhaften Art antwortete der Dichter dem abgeordneten
Hofmann: "Ich danke lebhaft für die gnädigen Gesinnungen, und da der
Kaiser alle Tage Geld von uns nimmt, so sehe ich nicht ein, warum ich
mich schämen sollte, Geld von ihm anzunehmen.""

Der Baron hatte kaum das Zimmer verlassen, als Wilhelm eifrig die
Barschaft zählte, die ihm so unvermutet und, wie er glaubte, so
unverdient zugekommen war. Es schien, als ob ihm der Wert und die
Würde des Goldes, die uns in spätern Jahren erst fühlbar werden,
ahnungsweise zum erstenmal entgegenblickten, als die schönen,
blinkenden Stücke aus dem zierlichen Beutel hervorrollten. Er machte
seine Rechnung und fand, daß er, besonders da Melina den Vorschuß
sogleich wieder zu bezahlen versprochen hatte, ebensoviel, ja noch
mehr in Kassa habe als an jenem Tage, da Philine ihm den ersten Strauß
abfordern ließ. Mit heimlicher Zufriedenheit blickte er auf sein
Talent, mit einem kleinen Stolze auf das Glück, das ihn geleitet und
begleitet hatte. Er ergriff nunmehr mit Zuversicht die Feder, um
einen Brief zu schreiben, der auf einmal die Familie aus aller
Verlegenheit und sein bisheriges Betragen in das beste Licht setzen
sollte. Er vermied eine eigentliche Erzählung und ließ nur in
bedeutenden und mystischen Ausdrücken dasjenige, was ihm begegnet sein
könnte, erraten. Der gute Zustand seiner Kasse, der Erwerb, den er
seinem Talent schuldig war, die Gunst der Großen, die Neigung der
Frauen, die Bekanntschaft in einem weiten Kreise, die Ausbildung
seiner körperlichen und geistigen Anlagen, die Hoffnung für die
Zukunft bildeten ein solches wunderliches Luftgemälde, daß Fata
Morgagna selbst es nicht seltsamer hätte durcheinanderwirken können.

In dieser glücklichen Exaltation fuhr er fort, nachdem der Brief
geschlossen war, ein langes Selbstgespräch zu unterhalten, in welchem
er den Inhalt des Schreibens rekapitulierte und sich eine tätige und
würdige Zukunft ausmalte. Das Beispiel so vieler edlen Krieger hatte
ihn angefeuert, die Shakespearische Dichtung hatte ihm eine neue Welt
eröffnet, und von den Lippen der schönen Gräfin hatte er ein
unaussprechliches Feuer in sich gesogen. Das alles konnte, das sollte
nicht ohne Wirkung bleiben.

Der Stallmeister kam und fragte, ob sie mit Einpacken fertig seien.
Leider hatte außer Melina noch niemand daran gedacht. Nun sollte man
eilig aufbrechen. Der Graf hatte versprochen, die ganze Gesellschaft
einige Tagereisen weit transportieren zu lassen, die Pferde waren eben
bereit und konnten nicht lange entbehrt werden. Wilhelm fragte nach
seinem Koffer; Madame Melina hatte sich ihn zunutze gemacht; er
verlangte nach seinem Gelde, Herr Melina hatte es ganz unten in den
Koffer mit großer Sorgfalt gepackt. Philine sagte: "Ich habe in dem
meinigen noch Platz", nahm Wilhelms Kleider und befahl Mignon, das
übrige nachzubringen. Wilhelm mußte es, nicht ohne Widerwillen,
geschehen lassen.

Indem man aufpackte und alles zubereitete, sagte Melina: "Es ist mir
verdrießlich, daß wir wie Seiltänzer und Marktschreier reisen; ich
wünschte, daß Mignon Weiberkleider anzöge und daß der Harfenspieler
sich noch geschwinde den Bart scheren ließe." Mignon hielt sich fest
an Wilhelm und sagte mit großer Lebhaftigkeit: "Ich bin ein Knabe: ich
will kein Mädchen sein!" Der Alte schwieg, und Philine machte bei
dieser Gelegenheit über die Eigenheit des Grafen, ihres Beschützers,
einige lustige Anmerkungen. "Wenn der Harfner seinen Bart
abschneidet", sagte sie, "so mag er ihn nur sorgfältig auf Band nähen
und bewahren, daß er ihn gleich wieder vornehmen kann, sobald er dem
Herrn Grafen irgendwo in der Welt begegnet: denn dieser Bart allein
hat ihm die Gnade dieses Herrn verschafft."

Als man in sie drang und eine Erklärung dieser sonderbaren äußerung
verlangte, ließ sie sich folgendergestalt vernehmen: "Der Graf glaubt,
daß es zur Illusion sehr viel beitrage, wenn der Schauspieler auch im
gemeinen Leben seine Rolle fortspielt und seinen Charakter souteniert;
deswegen war er dem Pedanten so günstig, und er fand, es sei recht
gescheit, daß der Harfner seinen falschen Bart nicht allein abends auf
dem Theater, sondern auch beständig bei Tage trage, und freute sich
sehr über das natürliche Aussehen der Maskerade."

Als die andern über diesen Irrtum und über die sonderbaren Meinungen
des Grafen spotteten, ging der Harfner mit Wilhelm beiseite, nahm von
ihm Abschied und bat mit Tränen, ihn ja sogleich zu entlassen.
Wilhelm redete ihm zu und versicherte, daß er ihn gegen jedermann
schützen werde, daß ihm niemand ein Haar krümmen, viel weniger ohne
seinen Willen abschneiden solle.

Der Alte war sehr bewegt, und in seinen Augen glühte ein sonderbares
Feuer. "Nicht dieser Anlaß treibt mich hinweg", rief er aus; "schon
lange mache ich mir stille Vorwürfe, daß ich um Sie bleibe. Ich
sollte nirgends verweilen, denn das Unglück ereilt mich und beschädigt
die, die sich zu mir gesellen. Fürchten Sie alles, wenn Sie mich
nicht entlassen, aber fragen Sie mich nicht, ich gehöre nicht mir zu,
ich kann nicht bleiben."

"Wem gehörst du an? Wer kann eine solche Gewalt über dich ausüben?"

"Mein Herr, lassen Sie mir mein schaudervolles Geheimnis, und geben
Sie mich los! Die Rache, die mich verfolgt, ist nicht des irdischen
Richters; ich gehöre einem unerbittlichen Schicksale; ich kann nicht
bleiben, und ich darf nicht!"

"In diesem Zustande, in dem ich dich sehe, werde ich dich gewiß nicht
lassen."

"Es ist Hochverrat an Ihnen, mein Wohltäter, wenn ich zaudre. Ich bin
sicher bei Ihnen, aber Sie sind in Gefahr. Sie wissen nicht, wen Sie
in Ihrer Nähe hegen. Ich bin schuldig, aber unglücklicher als
schuldig. Meine Gegenwart verscheucht das Glück, und die gute Tat
wird ohnmächtig, wenn ich dazutrete. Flüchtig und unstet sollt ich
sein, daß mein unglücklicher Genius mich nicht einholet, der mich nur
langsam verfolgt und nur dann sich merken läßt, wenn ich mein Haupt
niederlegen und ruhen will. Dankbarer kann ich mich nicht bezeigen,
als wenn ich Sie verlasse."

"Sonderbarer Mensch! du kannst mir das Vertrauen in dich so wenig
nehmen als die Hoffnung, dich glücklich zu sehen. Ich will in die
Geheimnisse deines Aberglaubens nicht eindringen; aber wenn du ja in
Ahnung wunderbarer Verknüpfungen und Vorbedeutungen lebst, so sage ich
dir zu deinem Trost und zu deiner Aufmunterung: geselle dich zu meinem
Glücke, und wir wollen sehen, welcher Genius der stärkste ist, dein
schwarzer oder mein weißer!"

Wilhelm ergriff diese Gelegenheit, um ihm noch mancherlei Tröstliches
zu sagen; denn er hatte schon seit einiger Zeit in seinem wunderbaren
Begleiter einen Menschen zu sehen geglaubt, der durch Zufall oder
Schickung eine große Schuld auf sich geladen hat und nun die
Erinnerung derselben immer mit sich fortschleppt. Noch vor wenigen
Tagen hatte Wilhelm seinen Gesang behorcht und folgende Zeilen wohl
bemerkt:


Ihm färbt der Morgensonne Licht
Den reinen Horizont mit Flammen,
Und über seinem schuld'gen Haupte bricht
Das schöne Bild der ganzen Welt zusammen.



Der Alte mochte nun sagen, was er wollte, so hatte Wilhelm immer ein
stärker Argument, wußte alles zum besten zu kehren und zu wenden,
wußte so brav, so herzlich und tröstlich zu sprechen, daß der Alte
selbst wieder aufzuleben und seinen Grillen zu entsagen schien.




IV. Buch, 2. Kapitel




Zweites Kapitel

Melina hatte Hoffnung, in einer kleinen, aber wohlhabenden Stadt mit
seiner Gesellschaft unterzukommen. Schon befanden sie sich an dem
Orte, wohin sie die Pferde des Grafen gebracht hatten, und sahen sich
nach andern Wagen und Pferden um, mit denen sie weiterzukommen hofften.
Melina hatte den Transport übernommen und zeigte sich nach seiner
Gewohnheit übrigens sehr karg. Dagegen hatte Wilhelm die schönen
Dukaten der Gräfin in der Tasche, auf deren fröhliche Verwendung er
das größte Recht zu haben glaubte, und sehr leicht vergaß er, daß er
sie in der stattlichen Bilanz, die er den Seinigen zuschickte, schon
sehr ruhmredig aufgeführt hatte.

Sein Freund Shakespeare, den er mit großer Freude auch als seinen
Paten anerkannte und sich nur um so lieber Wilhelm nennen ließ, hatte
ihm einen Prinzen bekannt gemacht, der sich unter geringer, ja sogar
schlechter Gesellschaft eine Zeitlang aufhält und ungeachtet seiner
edlen Natur an der Roheit, Unschicklichkeit und Albernheit solcher
ganz sinnlichen Bursche sich ergötzt. Höchst willkommen war ihm das
Ideal, womit er seinen gegenwärtigen Zustand vergleichen konnte, und
der Selbstbetrug, wozu er eine fast unüberwindliche Neigung spürte,
ward ihm dadurch außerordentlich erleichtert.

Er fing nun an, über seine Kleidung nachzudenken. Er fand, daß ein
Westchen, über das man im Notfall einen kurzen Mantel würfe, für einen
Wanderer eine sehr angemessene Tracht sei. Lange, gestrickte
Beinkleider und ein Paar Schnürstiefeln schienen die wahre Tracht
eines Fußgängers. Dann verschaffte er sich eine schöne seidne Schärpe,
die er zuerst unter dem Vorwande, den Leib warm zu halten, umband;
dagegen befreite er seinen Hals von der Knechtschaft einer Binde und
ließ sich einige Streifen Nesseltuch ans Hemde heften, die aber etwas
breit gerieten und das völlige Ansehen eines antiken Kragens erhielten.
Das schöne seidne Halstuch, das gerettete Andenken Marianens, lag
nur locker geknüpft unter der nesseltuchnen Krause. Ein runder Hut
mit einem bunten Bande und einer großen Feder machte die Maskerade
vollkommen.

Die Frauen beteuerten, diese Tracht lasse ihm vorzüglich gut. Philine
stellte sich ganz bezaubert darüber und bat sich seine schönen Haare
aus, die er, um dem natürlichen Ideal nur desto näherzukommen,
unbarmherzig abgeschnitten hatte. Sie empfahl sich dadurch nicht übel,
und unser Freund, der durch seine Freigebigkeit sich das Recht
erworben hatte, auf Prinz Harrys Manier mit den übrigen umzugehen, kam
bald selbst in den Geschmack, einige tolle Streiche anzugeben und zu
befördern. Man focht, man tanzte, man erfand allerlei Spiele, und in
der Fröhlichkeit des Herzens genoß man des leidlichen Weins, den man
angetroffen hatte, in starkem Maße, und Philine lauerte in der
Unordnung dieser Lebensart dem spröden Helden auf, für den sein guter
Genius Sorge tragen möge.

Eine vorzügliche Unterhaltung, mit der sich die Gesellschaft besonders
ergötzte, bestand in einem extemporierten Spiel, in welchem sie ihre
bisherigen Gönner und Wohltäter nachahmten und durchzogen. Einige
unter ihnen hatten sich sehr gut die Eigenheiten des äußern Anstandes
verschiedner vornehmer Personen gemerkt, und die Nachbildung derselben
ward von der übrigen Gesellschaft mit dem größten Beifall aufgenommen,
und als Philine aus dem geheimen Archiv ihrer Erfahrungen einige
besondere Liebeserklärungen, die an sie geschehen waren, vorbrachte,
wußte man sich vor Lachen und Schadenfreude kaum zu lassen.

Wilhelm schalt ihre Undankbarkeit; allein man setzte ihm entgegen, daß
sie das, was sie dort erhalten, genugsam abverdient und daß überhaupt
das Betragen gegen so verdienstvolle Leute, wie sie sich zu sein
rühmten, nicht das beste gewesen sei. Nun beschwerte man sich, mit
wie wenig Achtung man ihnen begegnet, wie sehr man sie zurückgesetzt
habe. Das Spotten, Necken und Nachahmen ging wieder an, und man ward
immer bitterer und ungerechter.

"Ich wünschte", sagte Wilhelm darauf, "daß durch eure äußerungen weder
Neid noch Eigenliebe durchschiene und daß ihr jene Personen und ihre
Verhältnisse aus dem rechten Gesichtspunkte betrachtetet. Es ist eine
eigene Sache, schon durch die Geburt auf einen erhabenen Platz in der
menschlichen Gesellschaft gesetzt zu sein. Wem ererbte Reichtümer
eine vollkommene Leichtigkeit des Daseins verschafft haben, wer sich,
wenn ich mich so ausdrücken darf, von allem Beiwesen der Menschheit
von Jugend auf reichlich umgeben findet, gewöhnt sich meist, diese
Güter als das Erste und Größte zu betrachten, und der Wert einer von
der Natur schön ausgestatteten Menschheit wird ihm nicht so deutlich.
Das Betragen der Vornehmen gegen Geringere und auch untereinander ist
nach äußern Vorzügen abgemessen; sie erlauben jedem, seinen Titel,
seinen Rang, seine Kleider und Equipage, nur nicht seine Verdienste
geltend zu machen."

Diesen Worten gab die Gesellschaft einen unmäßigen Beifall. Man fand
abscheulich, daß der Mann von Verdienst immer zurückstehen müsse und
daß in der großen Welt keine Spur von natürlichem und herzlichem
Umgang zu finden sei. Sie kamen besonders über diesen letzten Punkt
aus dem Hundertsten ins Tausendste.

"Scheltet sie nicht darüber", rief Wilhelm aus, "bedauert sie vielmehr!
Denn von jenem Glück, das wir als das höchste erkennen, das aus dem
innern Reichtum der Natur fließt, haben sie selten eine erhöhte
Empfindung. Nur uns Armen, die wir wenig oder nichts besitzen, ist es
gegönnt, das Glück der Freundschaft in reichem Maße zu genießen. Wir
können unsre Geliebten weder durch Gnade erheben, noch durch Gunst
befördern, noch durch Geschenke beglücken. Wir haben nichts als uns
selbst. Dieses ganze Selbst müssen wir hingeben und, wenn es einigen
Wert haben soll, dem Freunde das Gut auf ewig versichern. Welch ein
Genuß, welch ein Glück für den Geber und Empfänger! In welchen
seligen Zustand versetzt uns die Treue! Sie gibt dem vorübergehenden
Menschenleben eine himmlische Gewißheit; sie macht das Hauptkapital
unsers Reichtums aus."

Mignon hatte sich ihm unter diesen Worten genähert, schlang ihre
zarten Arme um ihn und blieb mit dem Köpfchen an seine Brust gelehnt
stehen. Er legte die Hand auf des Kindes Haupt und fuhr fort: "Wie
leicht wird es einem Großen, die Gemüter zu gewinnen! wie leicht
eignet er sich die Herzen zu! Ein gefälliges, bequemes, nur
einigermaßen menschliches Betragen tut Wunder, und wie viele Mittel
hat er, die einmal erworbenen Geister festzuhalten. Uns kommt alles
seltner, wird alles schwerer, und wie natürlich ist es, daß wir auf
das, was wir erwerben und leisten, einen größern Wert legen. Welche
rührenden Beispiele von treuen Dienern, die sich für ihre Herren
aufopferten! Wie schön hat uns Shakespeare solche geschildert! Die
Treue ist in diesem Falle ein Bestreben einer edlen Seele, einem
Größern gleich zu werden. Durch fortdauernde Anhänglichkeit und Liebe
wird der Diener seinem Herrn gleich, der ihn sonst nur als einen
bezahlten Sklaven anzusehen berechtigt ist. Ja, diese Tugenden sind
nur für den geringen Stand; er kann sie nicht entbehren, und sie
kleiden ihn schön. Wer sich leicht loskaufen kann, wird so leicht
versucht, sich auch der Erkenntlichkeit zu überheben. Ja, in diesem
Sinne glaube ich behaupten zu können, daß ein Großer wohl Freunde
haben, aber nicht Freund sein könne."

Mignon drückte sich immer fester an ihn.

"Nun gut", versetzte einer aus der Gesellschaft. "Wir brauchen ihre
Freundschaft nicht und haben sie niemals verlangt. Nur sollten sie
sich besser auf Künste verstehen, die sie doch beschützen wollen.
Wenn wir am besten gespielt haben, hat uns niemand zugehört: alles war
lauter Parteilichkeit. Wem man günstig war, der gefiel, und man war
dem nicht günstig, der zu gefallen verdiente. Es war nicht erlaubt,
wie oft das Alberne und Abgeschmackte Aufmerksamkeit und Beifall auf
sich zog."

"Wenn ich abrechne", versetzte Wilhelm, "was Schadenfreude und Ironie
gewesen sein mag, so denk ich, es geht in der Kunst wie in der Liebe.
Wie will der Weltmann bei seinem zerstreuten Leben die Innigkeit
erhalten, in der ein Künstler bleiben muß, wenn er etwas Vollkommenes
hervorzubringen denkt, und die selbst demjenigen nicht fremd sein darf,
der einen solchen Anteil am Werke nehmen will, wie der Künstler ihn
wünscht und hofft.

Glaubt mir, meine Freunde, es ist mit den Talenten wie mit der Tugend:
man muß sie um ihrer selbst willen lieben oder sie ganz aufgeben. Und
doch werden sie beide nicht anders erkannt und belohnt, als wenn man
sie gleich einem gefährlichen Geheimnis im verborgnen üben kann."

"Unterdessen, bis ein Kenner uns auffindet, kann man Hungers sterben",
rief einer aus der Ecke.

"Nicht eben sogleich", versetzte Wilhelm. "Ich habe gesehen, solange
einer lebt und sich rührt, findet er immer seine Nahrung, und wenn sie
auch gleich nicht die reichlichste ist. Und worüber habt ihr euch
denn zu beschweren? Sind wir nicht ganz unvermutet, eben da es mit
uns am schlimmsten aussah, gut aufgenommen und bewirtet worden? Und
jetzt, da es uns noch an nichts gebricht, fällt es uns denn ein, etwas
zu unserer übung zu tun und nur einigermaßen weiterzustreben? Wir
treiben fremde Dinge und entfernen, den Schulkindern ähnlich, alles,
was uns nur an unsre Lektion erinnern könnte."

"Wahrhaftig", sagte Philine, "es ist unverantwortlich! Laßt uns ein
Stück wählen; wir wollen es auf der Stelle spielen. Jeder muß sein
möglichstes tun, als wenn er vor dem größten Auditorium stünde."

Man überlegte nicht lange; das Stück ward bestimmt. Es war eines
derer, die damals in Deutschland großen Beifall fanden und nun
verschollen sind. Einige pfiffen eine Symphonie, jeder besann sich
schnell auf seine Rolle, man fing an und spielte mit der größten
Aufmerksamkeit das Stück durch, und wirklich über Erwartung gut. Man
applaudierte sich wechselsweise; man hatte sich selten so wohl
gehalten.

Als sie fertig waren, empfanden sie alle ein ausnehmendes Vergnügen,
teils über ihre wohlzugebrachte Zeit, teils weil jeder besonders mit
sich zufrieden sein konnte. Wilhelm ließ sich weitläufig zu ihrem
Lobe heraus, und ihre Unterhaltung war heiter und fröhlich.

"Ihr solltet sehen", rief unser Freund, "wie weit wir kommen müßten,
wenn wir unsre übungen auf diese Art fortsetzten und nicht bloß auf
Auswendiglernen, Probieren und Spielen uns mechanisch pflicht- und
handwerksmäßig einschränkten. Wieviel mehr Lob verdienen die
Tonkünstler, wie sehr ergötzen sie sich, wie genau sind sie, wenn sie
gemeinschaftlich ihre übungen vornehmem Wie sind sie bemüht, ihre
Instrumente übereinzustimmen, wie genau halten sie Takt, wie zart
wissen sie die Stärke und Schwäche des Tons auszudrücken! Keinem
fällt es ein, sich bei dem Solo eines andern durch ein vorlautes
Akkompagnieren Ehre zu machen. Jeder sucht in dem Geist und Sinne des
Komponisten zu spielen und jeder das, was ihm aufgetragen ist, es mag
viel oder wenig sein, gut auszudrücken. Sollten wir nicht ebenso
genau und ebenso geistreich zu Werke gehen, da wir eine Kunst treiben,
die noch viel zarter als jede Art von Musik ist, da wir die
gewöhnlichsten und seltensten äußerungen der Menschheit geschmackvoll
und ergötzend darzustellen berufen sind? Kann etwas abscheulicher
sein, als in den Proben zu sudeln und sich bei der Vorstellung auf
Laune und gut Glück zu verlassen? Wir sollten unser größtes Glück und
Vergnügen dareinsetzen, miteinander übereinzustimmen, um uns
wechselsweise zu gefallen, und auch nur insofern den Beifall des
Publikums zu schätzen, als wir ihn uns gleichsam untereinander schon
selbst garantiert hätten. Warum ist der Kapellmeister seines
Orchesters gewisser als der Direktor seines Schauspiels? Weil dort
jeder sich seines Mißgriffs, der das äußere Ohr beleidigt, schämen muß;
aber wie selten hab ich einen Schauspieler verzeihliche und
unverzeihliche Mißgriffe, durch die das innere Ohr so schnöde
beleidigt wird, anerkennen und sich ihrer schämen sehen! Ich wünschte
nur, daß das Theater so schmal wäre als der Draht eines Seiltänzers,
damit sich kein Ungeschickter hinaufwagte, anstatt daß jetzo ein jeder
sich Fähigkeit genug fühlt, darauf zu paradieren."

Die Gesellschaft nahm diese Apostrophe gut auf, indem jeder überzeugt
war, daß nicht von ihm die Rede sein könne, da er sich noch vor kurzem
nebst den übrigen so gut gehalten. Man kam vielmehr überein, daß man
in dem Sinne, wie man angefangen, auf dieser Reise und künftig, wenn
man zusammen bliebe, eine gesellige Bearbeitung wolle obwalten lassen.
Man fand nur, daß, weil dieses eine Sache der guten Laune und des
freien Willens sei, so müsse sich eigentlich kein Direktor
dareinmischen. Man nahm als ausgemacht an, daß unter guten Menschen
die republikanische Form die beste sei; man behauptete, das Amt eines
Direktors müsse herumgehen; er müsse von allen gewählt werden und eine
Art von kleinem Senat ihm jederzeit beigesetzt bleiben. Sie waren so
von diesem Gedanken eingenommen, daß sie wünschten, ihn gleich ins
Werk zu richten.

"Ich habe nichts dagegen", sagte Melina, "wenn ihr auf der Reise einen
solchen Versuch machen wollt; ich suspendiere meine Direktorschaft
gern, bis wir wieder an Ort und Stelle kommen." Er hoffte dabei zu
sparen und manche Ausgaben der kleinen Republik oder dem
Interimsdirektor aufzuwälzen. Nun ging man sehr lebhaft zu Rate, wie
man die Form des neuen Staates aufs beste einrichten wolle.

"Es ist ein wanderndes Reich", sagte Laertes; "wir werden wenigstens
keine Grenzstreitigkeiten haben."

Man schritt sogleich zur Sache und erwählte Wilhelmen zum ersten
Direktor. Der Senat ward bestellt, die Frauen erhielten Sitz und
Stimme, man schlug Gesetze vor, man verwarf, man genehmigte. Die Zeit
ging unvermerkt unter diesem Spiele vorüber, und weil man sie angenehm
zubrachte, glaubte man auch wirklich etwas Nützliches getan und durch
die neue Form eine neue Aussicht für die vaterländische Bühne eröffnet
zu haben.




IV. Buch, 3. Kapitel




Drittes Kapitel

Wilhelm hoffte nunmehr, da er die Gesellschaft in so guter Disposition
sah, sich auch mit ihr über das dichterische Verdienst der Stücke
unterhalten zu können. "Es ist nicht genug", sagte er zu ihnen, als
sie des andern Tages wieder zusammenkamen, "daß der Schauspieler ein
Stück nur so obenhin ansehe, dasselbe nach dem ersten Eindruck
beurteile und ohne Prüfung sein Gefallen oder Mißfallen daran zu
erkennen gebe. Dies ist dem Zuschauer wohl erlaubt, der gerührt und
unterhalten sein, aber eigentlich nicht urteilen will. Der
Schauspieler dagegen soll von dem Stücke und von den Ursachen seines
Lobes und Tadels Rechenschaft geben können: und wie will er das, wenn
er nicht in den Sinn seines Autors, wenn er nicht in die Absichten
desselben einzudringen versteht? Ich habe den Fehler, ein Stück aus
einer Rolle zu beurteilen, eine Rolle nur an sich und nicht im
Zusammenhange mit dem Stück zu betrachten, an mir selbst in diesen
Tagen so lebhaft bemerkt, daß ich euch das Beispiel erzählen will,
wenn ihr mir ein geneigtes Gehör gönnen wollt.

Ihr kennt Shakespeares unvergleichlichen "Hamlet" aus einer Vorlesung,
die euch schon auf dem Schlosse das größte Vergnügen machte. Wir
setzten uns vor, das Stück zu spielen, und ich hatte, ohne zu wissen,
was ich tat, die Rolle des Prinzen übernommen; ich glaubte sie zu
studieren, indem ich anfing, die stärksten Stellen, die
Selbstgespräche und jene Auftritte zu memorieren, in denen Kraft der
Seele, Erhebung des Geistes und Lebhaftigkeit freien Spielraum haben,
wo das bewegte Gemüt sich in einem gefühlvollen Ausdrucke zeigen kann.

Auch glaubte ich recht in den Geist der Rolle einzudringen, wenn ich
die Last der tiefen Schwermut gleichsam selbst auf mich nähme und
unter diesem Druck meinem Vorbilde durch das seltsame Labyrinth so
mancher Launen und Sonderbarkeiten zu folgen suchte. So memorierte
ich, und so übte ich mich und glaubte nach und nach mit meinem Helden
zu einer Person zu werden.

Allein je weiter ich kam, desto schwerer ward mir die Vorstellung des
Ganzen, und mir schien zuletzt fast unmöglich, zu einer übersicht zu
gelangen. Nun ging ich das Stück in einer ununterbrochenen Folge
durch, und auch da wollte mir leider manches nicht passen. Bald
schienen sich die Charaktere, bald der Ausdruck zu widersprechen, und
ich verzweifelte fast, einen Ton zu finden, in welchem ich meine ganze
Rolle mit allen Abweichungen und Schattierungen vortragen könnte. In
diesen Irrgängen bemühte ich mich lange vergebens, bis ich mich
endlich auf einem ganz besondern Wege meinem Ziele zu nähern hoffte.

Ich suchte jede Spur auf, die sich von dem Charakter Hamlets in früher
Zeit vor dem Tode seines Vaters zeigte; ich bemerkte, was unabhängig
von dieser traurigen Begebenheit, unabhängig von den nachfolgenden
schrecklichen Ereignissen dieser interessante Jüngling gewesen war und
was er ohne sie vielleicht geworden wäre.

Zart und edel entsprossen, wuchs die königliche Blume unter den
unmittelbaren Einflüssen der Majestät hervor; der Begriff des Rechts
und der fürstlichen Würde, das Gefühl des Guten und Anständigen mit
dem Bewußtsein der Höhe seiner Geburt entwickelten sich zugleich in
ihm. Er war ein Fürst, ein geborner Fürst, und wünschte zu regieren,
nur damit der Gute ungehindert gut sein möchte. Angenehm von Gestalt,
gesittet von Natur, gefällig von Herzen aus, sollte er das Muster der
Jugend sein und die Freude der Welt werden.

Ohne irgendeine hervorstechende Leidenschaft war seine Liebe zu
Ophelien ein stilles Vorgefühl süßer Bedürfnisse; sein Eifer zu
ritterlichen übungen war nicht ganz original; vielmehr mußte diese
Lust durch das Lob, das man dem Dritten beilegte, geschärft und erhöht
werden; rein fühlend, kannte er die Redlichen und wußte die Ruhe zu
schätzen, die ein aufrichtiges Gemüt an dem offnen Busen eines
Freundes genießt. Bis auf einen gewissen Grad hatte er in Künsten und
Wissenschaften das Gute und Schöne erkennen und würdigen gelernt; das
Abgeschmackte war ihm zuwider, und wenn in seiner zarten Seele der Haß
aufkeimen konnte, so war es nur ebenso viel, als nötig ist, um
bewegliche und falsche Höflinge zu verachten und spöttisch mit ihnen
zu spielen. Er war gelassen in seinem Wesen, in seinem Betragen
einfach, weder im Müßiggange behaglich noch allzu begierig nach
Beschäftigung. Ein akademisches Hinschlendern schien er auch bei Hofe
fortzusetzen. Er besaß mehr Fröhlichkeit der Laune als des Herzens,
war ein guter Gesellschafter, nachgiebig, bescheiden, besorgt, und
konnte eine Beleidigung vergeben und vergessen; aber niemals konnte er
sich mit dem vereinigen, der die Grenzen des Rechten, des Guten, des
Anständigen überschritt.

Wenn wir das Stück wieder zusammen lesen werden, könnt ihr beurteilen,
ob ich auf dem rechten Wege bin. Wenigstens hoffe ich meine Meinung
durchaus mit Stellen belegen zu können."

Man gab der Schilderung lauten Beifall; man glaubte vorauszusehen, daß
sich nun die Handelsweise Hamlets gar gut werde erklären lassen; man
freute sich über diese Art, in den Geist des Schriftstellers
einzudringen. Jeder nahm sich vor, auch irgendein Stück auf diese Art
zu studieren und den Sinn des Verfassers zu entwickeln.




IV. Buch, 4. Kapitel




Viertes Kapitel

Nur einige Tage mußte die Gesellschaft an dem Orte liegenbleiben, und
sogleich zeigten sich für verschiedene Glieder derselben nicht
unangenehme Abenteuer, besonders aber ward Laertes von einer Dame
angereizt, die in der Nachbarschaft ein Gut hatte, gegen die er sich
aber äußerst kalt, ja unartig betrug und darüber von Philinen viele
Spöttereien erdulden mußte. Sie ergriff die Gelegenheit, unserm
Freund die unglückliche Liebesgeschichte zu erzählen, über die der
arme Jüngling dem ganzen weiblichen Geschlechte feind geworden war.
"Wer wird ihm übelnehmen", rief sie aus, "daß er ein Geschlecht haßt,
das ihm so übel mitgespielt hat und ihm alle übel, die sonst Männer
von Weibern zu befürchten haben, in einem sehr konzentrierten Tranke
zu verschlucken gab? Stellen Sie sich vor: binnen vierundzwanzig
Stunden war er Liebhaber, Bräutigam, Ehmann, Hahnrei, Patient und
Witwer! Ich wüßte nicht, wie man's einem ärger machen wollte."

Laertes lief halb lachend, halb verdrießlich zur Stube hinaus, und
Philine fing in ihrer allerliebsten Art die Geschichte zu erzählen an,
wie Laertes als ein junger Mensch von achtzehn Jahren, eben als er bei
einer Theatergesellschaft eingetroffen, ein schönes vierzehnjähriges
Mädchen gefunden, die eben mit ihrem Vater, der sich mit dem Direktor
entzweiet, abzureisen willens gewesen. Er habe sich aus dem Stegreife
sterblich verliebt, dem Vater alle möglichen Vorstellungen getan zu
bleiben und endlich versprochen, das Mädchen zu heiraten. Nach
einigen angenehmen Stunden des Brautstandes sei er getraut worden,
habe eine glückliche Nacht als Ehmann zugebracht, darauf habe ihn
seine Frau des andern Morgens, als er in der Probe gewesen, nach
Standesgebühr mit einem Hörnerschmuck beehrt; weil er aber aus
allzugroßer Zärtlichkeit viel zu früh nach Hause geeilt, habe er
leider einen ältern Liebhaber an seiner Stelle gefunden, habe mit
unsinniger Leidenschaft dreingeschlagen, Liebhaber und Vater
herausgefordert und sei mit einer leidlichen Wunde davongekommen.
Vater und Tochter seien darauf noch in der Nacht abgereist, und er sei
leider auf eine doppelte Weise verwundet zurückgeblieben. Sein
Unglück habe ihn zu dem schlechtesten Feldscher von der Welt geführt,
und der Arme sei leider mit schwarzen Zähnen und triefenden Augen aus
diesem Abenteuer geschieden. Er sei zu bedauern, weil er übrigens der
bravste Junge sei, den Gottes Erdboden trüge. "Besonders", sagte sie,
"tut es mir leid, daß der arme Narr nun die Weiber haßt: denn wer die
Weiber haßt, wie kann der leben?"

Melina unterbrach sie mit der Nachricht, daß alles zum Transport
völlig bereit sei und daß sie morgen früh abfahren könnten. Er
überreichte ihnen eine Disposition, wie sie fahren sollten.

"Wenn mich ein guter Freund auf den Schoß nimmt", sagte Philine, "so
bin ich zufrieden, daß wir eng und erbärmlich sitzen; übrigens ist mir
alles einerlei."

"Es tut nichts", sagte Laertes, der auch herbeikam.

"Es ist verdrießlich!" sagte Wilhelm und eilte weg. Er fand für sein
Geld noch einen gar bequemen Wagen, den Melina verleugnet hatte. Eine
andere Einteilung ward gemacht, und man freute sich, bequem abreisen
zu können, als die bedenkliche Nachricht einlief: daß auf dem Wege,
den sie nehmen wollten, sich ein Freikorps sehen lasse, von dem man
nicht viel Gutes erwartete.

An dem Orte selbst war man sehr auf diese Zeitung aufmerksam, wenn sie
gleich nur schwankend und zweideutig war. Nach der Stellung der
Armeen schien es unmöglich, daß ein feindliches Korps sich habe
durchschleichen oder daß ein freundliches so weit habe zurückbleiben
können. Jedermann war eifrig, unsrer Gesellschaft die Gefahr, die auf
sie wartete, recht gefährlich zu beschreiben und ihr einen andern Weg
anzuraten.

Die meisten waren darüber in Unruhe und Furcht gesetzt, und als nach
der neuen republikanischen Form die sämtlichen Glieder des Staats
zusammengerufen wurden, um über diesen außerordentlichen Fall zu
beratschlagen, waren sie fast einstimmig der Meinung, daß man das übel
vermeiden und am Orte bleiben oder ihm ausweichen und einen andern Weg
erwählen müsse.

Nur Wilhelm, von Furcht nicht eingenommen, hielt für schimpflich,
einen Plan, in den man mit so viel überlegung eingegangen war, nunmehr
auf ein bloßes Gerücht aufzugeben. Er sprach ihnen Mut ein, und seine
Gründe waren männlich und überzeugend.

"Noch", sagte er, "ist es nichts als ein Gerücht, und wie viele
dergleichen entstehen im Kriege! Verständige Leute sagen, daß der
Fall höchst unwahrscheinlich, ja beinah unmöglich sei. Sollten wir
uns in einer so wichtigen Sache bloß durch ein so ungewisses Gerede
bestimmen lassen? Die Route, welche uns der Herr Graf angegeben hat,
auf die unser Paß lautet, ist die kürzeste, und wir finden auf
selbiger den besten Weg. Sie führt uns nach der Stadt, wo ihr
Bekanntschaften, Freunde vor euch seht und eine gute Aufnahme zu
hoffen habt. Der Umweg bringt uns auch dahin, aber in welche
schlimmen Wege verwickelt er uns, wie weit führt er uns ab! Können
wir Hoffnung haben, uns in der späten Jahrszeit wieder herauszufinden,
und was für Zeit und Geld werden wir indessen versplittern!" Er sagte
noch viel und trug die Sache von so mancherlei vorteilhaften Seiten
vor, daß ihre Furcht sich verringerte und ihr Mut zunahm. Er wußte
ihnen so viel von der Mannszucht der regelmäßigen Truppen vorzusagen
und ihnen die Marodeurs und das hergelaufene Gesindel so nichtswürdig
zu schildern und selbst die Gefahr so lieblich und lustig darzustellen,
daß alle Gemüter aufgeheitert wurden.

Laertes war vom ersten Moment an auf seiner Seite und versicherte, daß
er nicht wanken noch weichen wolle. Der alte Polterer fand wenigstens
einige übereinstimmende Ausdrücke in seiner Manier, Philine lachte sie
alle zusammen aus, und da Madame Melina, die, ihrer hohen
Schwangerschaft ungeachtet, ihre natürliche Herzhaftigkeit nicht
verloren hatte, den Vorschlag heroisch fand, so konnte Melina, der
denn freilich auf dem nächsten Wege, auf den er akkordiert hatte, viel
zu sparen hoffte, nicht widerstehen, und man willigte in den Vorschlag
von ganzem Herzen.

Nun fing man an, sich auf alle Fälle zur Verteidigung einzurichten.
Man kaufte große Hirschfänger und hing sie an wohlgestickten Riemen
über die Schultern. Wilhelm steckte noch überdies ein Paar Terzerole
in den Gürtel; Laertes hatte ohnedem eine gute Flinte bei sich, und
man machte sich mit einer hohen Freudigkeit auf den Weg.

Den zweiten Tag schlugen die Fuhrleute, die der Gegend wohl kundig
waren, vor: sie wollten auf einem waldigen Bergplatze Mittagsruhe
halten, weil das Dorf weit abgelegen sei und man bei guten Tagen gern
diesen Weg nähme.

Die Witterung war schön, und jedermann stimmte leicht in den Vorschlag
ein. Wilhelm eilte zu Fuß durch das Gebirge voraus, und über seine
sonderbare Gestalt mußte jeder, der ihm begegnete, stutzig werden. Er
eilte mit schnellen und zufriedenen Schritten den Wald hinauf, Laertes
pfiff hinter ihm drein, nur die Frauen ließen sich in den Wagen
fortschleppen. Mignon lief gleichfalls nebenher, stolz auf den
Hirschfänger, den man ihr, als die Gesellschaft sich bewaffnete, nicht
abschlagen konnte. Um ihren Hut hatte sie die Perlenschnur gewunden,
die Wilhelm von Marianens Reliquien übrigbehalten hatte. Friedrich
der Blonde trug die Flinte des Laertes, der Harfner hatte das
friedlichste Ansehen. Sein langes Kleid war in den Gürtel gesteckt,
und so ging er freier. Er stützte sich auf einen knotigen Stab, sein
Instrument war bei den Wagen zurückgeblieben.

Nachdem sie nicht ganz ohne Beschwerlichkeit die Höhe erstiegen,
erkannten sie sogleich den angezeigten Platz an den schönen Buchen,
die ihn umgaben und bedeckten. Eine große, sanft abhängige Waldwiese
lud zum Bleiben ein; eine eingefaßte Quelle bot die lieblichste
Erquickung dar, und es zeigte sich an der andern Seite durch
Schluchten und Waldrücken eine ferne, schöne und hoffnungsvolle
Aussicht. Da lagen Dörfer und Mühlen in den Gründen, Städtchen in der
Ebene, und neue, in der Ferne eintretende Berge machten die Aussicht
noch hoffnungsvoller, indem sie nur wie eine sanfte Beschränkung
hereintraten.

Die ersten Ankommenden nahmen Besitz von der Gegend, ruhten im
Schatten aus, machten ein Feuer an und erwarteten geschäftig, singend
die übrige Gesellschaft, welche nach und nach herbeikam und den Platz,
das schöne Wetter, die unaussprechlich schöne Gegend mit einem Munde
begrüßte.




IV. Buch, 5. Kapitel




Fünftes Kapitel

Hatte man oft zwischen vier Wänden gute und fröhliche Stunden zusammen
genossen, so war man natürlich noch viel aufgeweckter hier, wo die
Freiheit des Himmels und die Schönheit der Gegend jedes Gemüt zu
reinigen schien. Alle fühlten sich einander näher, alle wünschten in
einem so angenehmen Aufenthalt ihr ganzes Leben hinzubringen. Man
beneidete die Jäger, Köhler und Holzhauer, Leute, die ihr Beruf in
diesen glücklichen Wohnplätzen festhält; über alles aber pries man die
reizende Wirtschaft eines Zigeunerhaufens. Man beneidete die
wunderlichen Gesellen, die in seligem Müßiggange alle abenteuerlichen
Reize der Natur zu genießen berechtigt sind; man freute sich, ihnen
einigermaßen ähnlich zu sein.

Indessen hatten die Frauen angefangen, Erdäpfel zu sieden und die
mitgebrachten Speisen auszupacken und zu bereiten. Einige Töpfe
standen beim Feuer, gruppenweise lagerte sich die Gesellschaft unter
den Bäumen und Büschen. Ihre seltsamen Kleidungen und die mancherlei
Waffen gaben ihr ein fremdes Ansehen. Die Pferde wurden beiseite
gefüttert, und wenn man die Kutschen hätte verstecken wollen, so wäre
der Anblick dieser kleinen Horde bis zur Illusion romantisch gewesen.

Wilhelm genoß ein nie gefühltes Vergnügen. Er konnte hier eine
wandernde Kolonie und sich als Anführer derselben denken. In diesem
Sinne unterhielt er sich mit einem jeden und bildete den Wahn des
Moments so poetisch als möglich aus. Die Gefühle der Gesellschaft
erhöhten sich; man aß, trank und jubilierte und bekannte wiederholt,
niemals schönere Augenblicke erlebt zu haben.

Nicht lange hatte das Vergnügen zugenommen, als bei den jungen Leuten
die Tätigkeit erwachte. Wilhelm und Laertes griffen zu den Rapieren
und fingen diesmal in theatralischer Absicht ihre übungen an. Sie
wollten den Zweikampf darstellen, in welchem Hamlet und sein Gegner
ein so tragisches Ende nehmen. Beide Freunde waren überzeugt, daß man
in dieser wichtigen Szene nicht, wie es wohl auf Theatern zu geschehen
pflegt, nur ungeschickt hin und wider stoßen dürfe: sie hofften ein
Muster darzustellen, wie man bei der Aufführung auch dem Kenner der
Fechtkunst ein würdiges Schauspiel zu geben habe. Man schloß einen
Kreis um sie her; beide fochten mit Eifer und Einsicht, das Interesse
der Zuschauer wuchs mit jedem Gange.

Auf einmal aber fiel im nächsten Busche ein Schuß und gleich darauf
noch einer, und die Gesellschaft fuhr erschreckt auseinander. Bald
erblickte man bewaffnete Leute, die auf den Ort zudrangen, wo die
Pferde nicht weit von den bepackten Kutschen ihr Futter einnahmen.

Ein allgemeiner Schrei entfuhr dem weiblichen Geschlechte, unsre
Helden warfen die Rapiere weg, griffen nach den Pistolen, eilten den
Räubern entgegen und forderten unter lebhaften Drohungen Rechenschaft
des Unternehmens.

Als man ihnen lakonisch mit ein paar Musketenschüssen antwortete,
drückte Wilhelm seine Pistole auf einen Krauskopf ab, der den Wagen
erstiegen hatte und die Stricke des Gepäckes auseinanderschnitt.
Wohlgetroffen stürzte er sogleich herunter; Laertes hatte auch nicht
fehlgeschossen, und beide Freunde zogen beherzt ihre Seitengewehre,
als ein Teil der räuberischen Bande mit Fluchen und Gebrüll auf sie
losbrach, einige Schüsse auf sie tat und sich mit blinkenden Säbeln
ihrer Kühnheit entgegensetzte. Unsre jungen Helden hielten sich
tapfer; sie riefen ihren übrigen Gesellen zu und munterten sie zu
einer allgemeinen Verteidigung auf. Bald aber verlor Wilhelm den
Anblick des Lichtes und das Bewußtsein dessen, was vorging. Von einem
Schuß, der ihn zwischen der Brust und dem linken Arm verwundete, von
einem Hiebe, der ihm den Hut spaltete und fast bis auf die Hirnschale
durchdrang, betäubt, fiel er nieder und mußte das unglückliche Ende
des überfalls nur erst in der Folge aus der Erzählung vernehmen.

Als er die Augen wieder aufschlug, befand er sich in der wunderbarsten
Lage. Das erste, was ihm durch die Dämmerung, die noch vor seinen
Augen lag, entgegenblickte, war das Gesicht Philinens, das sich über
das seine herüberneigte. Er fühlte sich schwach, und da er, um sich
emporzurichten, eine Bewegung machte, fand er sich in Philinens Schoß,
in den er auch wieder zurücksank. Sie saß auf dem Rasen, hatte den
Kopf des vor ihr ausgestreckten Jünglings leise an sich gedrückt und
ihm in ihren Armen, soviel sie konnte, ein sanftes Lager bereitet.
Mignon kniete mit zerstreuten, blutigen Haaren an seinen Füßen und
umfaßte sie mit vielen Tränen.

Als Wilhelm seine blutigen Kleider ansah, fragte er mit gebrochener
Stimme, wo er sich befinde, was ihm und den andern begegnet sei.
Philine bat ihn, ruhigzubleiben; die übrigen, sagte sie, seien alle in
Sicherheit und niemand als er und Laertes verwundet. Weiter wollte
sie nichts erzählen und bat ihn inständig, er möchte sich ruhighalten,
weil seine Wunden nur schlecht und in der Eile verbunden seien. Er
reichte Mignon die Hand und erkundigte sich nach der Ursache der
blutigen Locken des Kindes, das er auch verwundet glaubte.

Um ihn zu beruhigen, erzählte Philine: dieses gutherzige Geschöpf, da
es seinen Freund verwundet gesehen, habe sich in der Geschwindigkeit
auf nichts besonnen, um das Blut zu stillen, es habe seine eigenen
Haare, die um den Kopf geflogen, genommen, um die Wunden zu stopfen,
habe aber bald von dem vergeblichen Unternehmen abstehen müssen.
Nachher verband man ihn mit Schwamm und Moos, Philine hatte dazu ihr
Halstuch hergegeben.

Wilhelm bemerkte, daß Philine mit dem Rücken gegen ihren Koffer saß,
der noch ganz wohl verschlossen und unbeschädigt aussah. Er fragte,
ob die andern auch so glücklich gewesen, ihre Habseligkeiten zu retten.
Sie antwortete mit Achselzucken und einem Blick auf die Wiese, wo
zerbrochene Kasten, zerschlagene Koffer, zerschnittene Mantelsäcke und
eine Menge kleiner Gerätschaften zerstreut hin und wieder lagen. Kein
Mensch war auf dem Platze zu sehen, und die wunderliche Gruppe fand
sich in dieser Einsamkeit allein.

Wilhelm erfuhr nun immer mehr, als er wissen wollte: die übrigen
Männer, die allenfalls noch Widerstand hätten tun können, waren gleich
in Schrecken gesetzt und bald überwältigt; ein Teil floh, ein Teil sah
mit Entsetzen dem Unfalle zu. Die Fuhrleute, die sich noch wegen
ihrer Pferde am hartnäckigsten gehalten hatten, wurden niedergeworfen
und gebunden, und in kurzem war alles rein ausgeplündert und
weggeschleppt. Die beängstigten Reisenden fingen, sobald die Sorge
für ihr Leben vorüber war, ihren Verlust zu bejammern an, eilten mit
möglichstes Geschwindigkeit dem benachbarten Dorfe zu, führten den
leicht verwundeten Laertes mit sich und brachten nur wenige Trümmer
ihrer Besitztümer davon. Der Harfner hatte sein beschädigtes
Instrument an einen Baum gelehnt und war mit nach dem Orte geeilt,
einen Wundarzt aufzusuchen und seinem für tot zurückgelassenen
Wohltäter nach Möglichkeit beizuspringen.




IV. Buch, 6. Kapitel




Sechstes Kapitel

Unsre drei verunglückten Abenteurer blieben indes noch eine Zeitlang
in ihrer seltsamen Lage, niemand eilte ihnen zu Hülfe. Der Abend kam
herbei, die Nacht drohte hereinzubrechen; Philinens Gleichgültigkeit
fing an, in Unruhe überzugehen, Mignon lief hin und wider, und die
Ungeduld des Kindes nahm mit jedem Augenblicke zu. Endlich, da ihnen
ihr Wunsch gewährt ward und Menschen sich ihnen näherten, überfiel sie
ein neuer Schrecken. Sie hörten ganz deutlich einen Trupp Pferde in
dem Wege heraufkommen, den auch sie zurückgelegt hatten, und
fürchteten, daß abermals eine Gesellschaft ungebetener Gäste diesen
Waldplatz besuchen möchte, um Nachlese zu halten.

Wie angenehm wurden sie dagegen überrascht, als ihnen aus den Büschen,
auf einem Schimmel reitend, ein Frauenzimmer zu Gesichte kam, die von
einem ältlichen Herrn und einigen Kavalieren begleitet wurde;
Reitknechte, Bedienten und ein Trupp Husaren folgten nach.

Philine, die zu dieser Erscheinung große Augen machte, war eben im
Begriff zu rufen und die schöne Amazone um Hülfe anzuflehen, als diese
schon erstaunt ihre Augen nach der wunderbaren Gruppe wendete,
sogleich ihr Pferd lenkte, herzuritt und stillehielt. Sie erkundigte
sich eifrig nach dem Verwundeten, dessen Lage, in dem Schoße der
leichtfertigen Samariterin, ihr höchst sonderbar vorzukommen schien.

"Ist es Ihr Mann?" fragte sie Philinen. "Es ist nur ein guter Freund",
versetzte diese mit einem Ton, der Wilhelmen höchst zuwider war. Er
hatte seine Augen auf die sanften, hohen, stillen, teilnehmenden
Gesichtszüge der Ankommenden geheftet; er glaubte nie etwas Edleres
noch Liebenswürdigeres gesehen zu haben. Ein weiter Mannsüberrock
verbarg ihm ihre Gestalt; sie hatte ihn, wie es schien, gegen die
Einflüsse der kühlen Abendluft, von einem ihrer Gesellschafter geborgt.


Die Ritter waren indes auch näher gekommen; einige stiegen ab, die
Dame tat ein Gleiches und fragte mit menschenfreundlicher Teilnehmung
nach allen Umständen des Unfalls, der die Reisenden betroffen hatte,
besonders aber nach den Wunden des hingestreckten Jünglings. Darauf
wandte sie sich schnell um und ging mit einem alten Herrn seitwärts
nach den Wagen, welche langsam den Berg heraufkamen und auf dem
Waldplatze stillehielten.

Nachdem die junge Dame eine kurze Zeit am Schlage der einen Kutsche
gestanden und sich mit den Ankommenden unterhalten hatte, stieg ein
Mann von untersetzter Gestalt heraus, den sie zu unserm verwundeten
Helden führte. An dem Kästchen, das er in der Hand hatte, und an der
ledernen Tasche mit Instrumenten erkannte man ihn bald für einen
Wundarzt. Seine Manieren waren mehr rauh als einnehmend, doch seine
Hand leicht und seine Hülfe willkommen.

Er untersuchte genau, erklärte, keine Wunde sei gefährlich, er wolle
sie auf der Stelle verbinden, alsdann könne man den Kranken in das
nächste Dorf bringen.

Die Besorgnisse der jungen Dame schienen sich zu vermehren. "Sehen
Sie nur," sagte sie, nachdem sie einigemal hin und her gegangen war
und den alten Herrn wieder herbeiführte, "sehen Sie, wie man ihn
zugerichtet hat! Und leidet er nicht um unsertwillen?" Wilhelm hörte
diese Worte und verstand sie nicht. Sie ging unruhig hin und wider;
es schien, als könnte sie sich nicht von dem Anblick des Verwundeten
losreißen und als fürchtete sie zugleich den Wohlstand zu verletzen,
wenn sie stehenbliebe zu der Zeit, da man ihn, wiewohl mit Mühe, zu
entkleiden anfing. Der Chirurgus schnitt eben den linken ärmel auf,
als der alte Herr hinzutrat und ihr mit einem ernsthaften Tone die
Notwendigkeit, ihre Reise fortzusetzen, vorstellte. Wilhelm hatte
seine Augen auf sie gerichtet und war von ihren Blicken so eingenommen,
daß er kaum fühlte, was mit ihm vorging.

Philine war indessen aufgestanden, um der gnädigen Dame die Hand zu
küssen. Als sie nebeneinander standen, glaubte unser Freund nie einen
solchen Abstand gesehn zu haben. Philine war ihm noch nie in einem so
ungünstigen Lichte erschienen. Sie sollte, wie es ihm vorkam, sich
jener edlen Natur nicht nahen, noch weniger sie berühren.

Die Dame fragte Philinen Verschiedenes, aber leise. Endlich kehrte
sie sich zu dem alten Herrn, der noch immer trocken dabeistand, und
sagte: "Lieber Oheim, darf ich auf Ihre Kosten freigebig sein?" Sie
zog sogleich den überrock aus, und ihre Absicht, ihn dem Verwundeten
und Unbekleideten hinzugeben, war nicht zu verkennen.

Wilhelm, den der heilsame Blick ihrer Augen bisher festgehalten hatte,
war nun, als der überrock fiel, von ihrer schönen Gestalt überrascht.
Sie trat näher herzu und legte den Rock sanft über ihn. In diesem
Augenblicke, da er den Mund öffnen und einige Worte des Dankes
stammeln wollte, wirkte der lebhafte Eindruck ihrer Gegenwart so
sonderbar auf seine schon angegriffenen Sinne, daß es ihm auf einmal
vorkam, als sei ihr Haupt mit Strahlen umgeben und über ihr ganzes
Bild verbreite sich nach und nach ein glänzendes Licht. Der Chirurgus
berührte ihn eben unsanfter, indem er die Kugel, welche in der Wunde
stak, herauszuziehen Anstalt machte. Die Heilige verschwand vor den
Augen des Hinsinkenden; er verlor alles Bewußtsein, und als er wieder
zu sich kam, waren Reiter und Wagen, die Schöne samt ihren Begleitern
verschwunden.




IV. Buch, 7. Kapitel




Siebentes Kapitel

Nachdem unser Freund verbunden und angekleidet war, eilte der
Chirurgus weg, eben als der Harfenspieler mit einer Anzahl Bauern
heraufkam. Sie bereiteten eilig aus abgehauenen ästen und
eingeflochtenem Reisig eine Trage, luden den Verwundeten darauf und
brachten ihn unter Anführung eines reitenden Jägers, den die
Herrschaft zurückgelassen hatte, sachte den Berg hinunter. Der
Harfner, still und in sich gekehrt, trug sein beschädigtes Instrument,
einige Leute schleppten Philinens Koffer, sie schlenderte mit einem
Bündel nach, Mignon sprang bald voraus, bald zur Seite durch Busch und
Wald und blickte sehnlich nach ihrem kranken Beschützer hinüber.

Dieser lag, in seinen warmen überrock gehüllt, ruhig auf der Bahre.
Eine elektrische Wärme schien aus der feinen Wolle in seinen Körper
überzugehen; genug, er fühlte sich in die behaglichste Empfindung
versetzt. Die schöne Besitzerin des Kleides hatte mächtig auf ihn
gewirkt. Er sah noch den Rock von ihren Schultern fallen, die edelste
Gestalt, von Strahlen umgeben, vor sich stehen, und seine Seele eilte
der Verschwundenen durch Felsen und Wälder auf dem Fuße nach.

Nur mit sinkender Nacht kam der Zug im Dorfe vor dem Wirtshause an, in
welchem sich die übrige Gesellschaft befand und verzweiflungsvoll den
unersetzlichen Verlust beklagte. Die einzige, kleine Stube des Hauses
war von Menschen vollgepfropft: einige lagen auf der Streue, andere
hatten die Bänke eingenommen, einige sich hinter den Ofen gedrückt,
und Frau Melina erwartete in einer benachbarten Kammer ängstlich ihre
Niederkunft. Der Schrecken hatte sie beschleunigt, und unter dem
Beistande der Wirtin, einer jungen, unerfahrnen Frau, konnte man wenig
Gutes erwarten.

Als die neuen Ankömmlinge hereingelassen zu werden verlangten,
entstand ein allgemeines Murren. Man behauptete nun, daß man allein
auf Wilhelms Rat, unter seiner besondern Anführung diesen gefährlichen
Weg unternommen und sich diesem Unfall ausgesetzt habe. Man warf die
Schuld des übeln Ausgangs auf ihn, widersetzte sich an der Türe seinem
Eintritt und behauptete: er müsse anderswo unterzukommen suchen.
Philinen begegnete man noch schnöder; der Harfenspieler und Mignon
mußten auch das Ihrige leiden.

Nicht lange hörte der Jäger, dem die Vorsorge für die Verlassenen von
seiner schönen Herrschaft ernstlich anbefohlen war, dem Streite mit
Geduld zu; er fuhr mit Fluchen und Drohen auf die Gesellschaft los,
gebot ihnen zusammenzurücken und den Ankommenden Platz zu machen. Man
fing an, sich zu bequemen. Er bereitete Wilhelmen einen Platz auf
einem Tische, den er in eine Ecke schob; Philine ließ ihren Koffer
danebenstellen und setzte sich drauf. Jeder drückte sich, so gut er
konnte, und der Jäger begab sich weg, um zu sehen, ob er nicht ein
bequemeres Quartier für das Ehepaar ausmachen könne.

Kaum war er fort, als der Unwille wieder laut zu werden anfing und ein
Vorwurf den andern drängte. Jedermann erzählte und erhöhte seinen
Verlust, man schalt die Verwegenheit, durch die man so vieles
eingebüßt, man verhehlte sogar die Schadenfreude nicht, die man über
die Wunden unseres Freundes empfand, man verhöhnte Philinen und wollte
ihr die Art und Weise, wie sie ihren Koffer gerettet, zum Verbrechen
machen. Aus allerlei Anzüglichkeiten und Stichelreden hätte man
schließen sollen, sie habe sich während der Plünderung und Niederlage
um die Gunst des Anführers der Bande bemüht und habe ihn, wer weiß
durch welche Künste und Gefälligkeiten, vermocht, ihren Koffer
freizugeben. Man wollte sie eine ganze Weile vermißt haben. Sie
antwortete nichts und klapperte nur mit den großen Schlössern ihres
Koffers, um ihre Neider recht von seiner Gegenwart zu überzeugen und
die Verzweiflung des Haufens durch ihr eigenes Glück zu vermehren.




IV. Buch, 8. Kapitel




Achtes Kapitel

Wilhelm, ob er gleich durch den starken Verlust des Blutes schwach und
nach der Erscheinung jenes hülfreichen Engels mild und sanft geworden
war, konnte sich doch zuletzt des Verdrusses über die harten und
ungerechten Reden nicht enthalten, welche bei seinem Stillschweigen
von der unzufriednen Gesellschaft immer erneuert wurden. Endlich
fühlte er sich gestärkt genug, um sich aufzurichten und ihnen die
Unart vorzustellen, mit der sie ihren Freund und Führer beunruhigten.
Er hob sein verbundenes Haupt in die Höhe und fing, indem er sich mit
einiger Mühe stützte und gegen die Wand lehnte, folgendergestalt zu
reden an:

"Ich vergebe dem Schmerze, den jeder über seinen Verlust empfindet,
daß ihr mich in einem Augenblicke beleidigt, wo ihr mich beklagen
solltet, daß ihr mir widersteht und mich von euch stoßt, das erstemal,
da ich Hülfe von euch erwarten könnte. Für die Dienste, die ich euch
erzeigte, für die Gefälligkeiten, die ich euch erwies, habe ich mich
durch euren Dank, durch euer freundschaftliches Betragen bisher
genugsam belohnt gefunden; verleitet mich nicht, zwingt mein Gemüt
nicht, zurückzugehen und zu überdenken, was ich für euch getan habe;
diese Berechnung würde mir nur peinlich werden. Der Zufall hat mich
zu euch geführt, Umstände und eine heimliche Neigung haben mich bei
euch gehalten. Ich nahm an euren Arbeiten, an euren Vergnügungen teil;
meine wenigen Kenntnisse waren zu eurem Dienste. Gebt ihr mir jetzt
auf eine bittre Weise den Unfall schuld, der uns betroffen hat, so
erinnert ihr euch nicht, daß der erste Vorschlag, diesen Weg zu nehmen,
von fremden Leuten kam, von euch allen geprüft und so gut von jedem
als von mir gebilligt worden ist. Wäre unsre Reise glücklich
vollbracht, so würde sich jeder wegen des guten Einfalls loben, daß er
diesen Weg angeraten, daß er ihn vorgezogen; er würde sich unsrer
überlegungen und seines ausgeübten Stimmrechts mit Freuden erinnern;
jetzo macht ihr mich allein verantwortlich, ihr zwingt mir eine Schuld
auf, die ich willig übernehmen wollte, wenn mich das reinste
Bewußtsein nicht freispräche, ja wenn ich mich nicht auf euch selbst
berufen könnte. Habt ihr gegen mich etwas zu sagen, so bringt es
ordentlich vor, und ich werde mich zu verteidigen wissen; habt ihr
nichts Gegründetes anzugeben, so schweigt, und quält mich nicht, jetzt,
da ich der Ruhe so äußerst bedürftig bin."

Statt aller Antwort fingen die Mädchen an, abermals zu weinen und
ihren Verlust umständlich zu erzählen; Melina war ganz außer Fassung:
denn er hatte freilich am meisten, und mehr, als wir denken können,
eingebüßt. Wie ein Rasender stolperte er in dem engen Raume hin und
her, stieß den Kopf wider die Wand, fluchte und schalt auf das
unziemlichste; und da nun gar zu gleicher Zeit die Wirtin aus der
Kammer trat mit der Nachricht, daß seine Frau mit einem toten Kinde
niedergekommen, erlaubte er sich die heftigsten Ausbrüche, und
einstimmig mit ihm heulte, schrie, brummte und lärmte alles
durcheinander.

Wilhelm, der zugleich von mitleidiger Teilnehmung an ihrem Zustande
und von Verdruß über ihre niedrige Gesinnung bis in sein Innerstes
bewegt war, fühlte unerachtet der Schwäche seines Körpers die ganze
Kraft seiner Seele lebendig. "Fast", rief er aus, "muß ich euch
verachten, so beklagenswert ihr auch sein mögt. Kein Unglück
berechtigt uns, einen Unschuldigen mit Vorwürfen zu beladen; habe ich
teil an diesem falschen Schritte, so büße ich auch mein Teil. Ich
liege verwundet hier, und wenn die Gesellschaft verloren hat, so
verliere ich das meiste. Was an Garderobe geraubt worden, was an
Dekorationen zugrunde gegangen, war mein: denn Sie, Herr Melina, haben
mich noch nicht bezahlt, und ich spreche Sie von dieser Forderung
hiemit völlig frei."

"Sie haben gut schenken", rief Melina, "was niemand wiedersehen wird.
Ihr Geld lag in meiner Frau Koffer, und es ist Ihre Schuld, daß es
Ihnen verlorengeht. Aber oh! wenn das alles wäre!" Er fing aufs neue
zu stampfen, zu schimpfen und zu schreien an. Jedermann erinnerte
sich der schönen Kleider aus der Garderobe des Grafen, der Schnallen,
Uhren, Dosen, Hüte, welche Melina von dem Kammerdiener so glücklich
gehandelt hatte. Jedem fielen seine eigenen, obgleich viel geringeren
Schätze dabei wieder ins Gedächtnis; man blickte mit Verdruß auf
Philinens Koffer, man gab Wilhelmen zu verstehen, er habe wahrlich
nicht übelgetan, sich mit dieser Schönen zu assoziieren und durch ihr
Glück auch seine Habseligkeiten zu retten.

"Glaubt ihr denn", rief er endlich aus, "daß ich etwas Eignes haben
werde, solange ihr darbt, und ist es wohl das erste Mal, daß ich in
der Not mit euch redlich teile? Man öffne den Koffer, und was mein
ist, will ich zum öffentlichen Bedürfnis niederlegen."

,Es ist mein Koffer", sagte Philine, "und ich werde ihn nicht eher
aufmachen, bis es mir beliebt. Ihre paar Fittiche, die ich Ihnen
aufgehoben, können wenig betragen, und wenn sie an die redlichsten
Juden verkauft werden. Denken Sie an sich, was Ihre Heilung kosten,
was Ihnen in einem fremden Lande begegnen kann."

"Sie werden mir, Philine", versetzte Wilhelm, "nichts vorenthalten,
was mein ist, und das wenige wird uns aus der ersten Verlegenheit
retten. Allein der Mensch besitzt noch manches, womit er seinen
Freunden beistehen kann, das eben nicht klingende Münze zu sein
braucht. Alles, was in mir ist, soll diesen Unglücklichen gewidmet
sein, die gewiß, wenn sie wieder zu sich selbst kommen, ihr
gegenwärtiges Betragen bereuen werden. Ja", fuhr er fort, "ich fühle,
daß ihr bedürft, und was ich vermag, will ich euch leisten; schenkt
mir euer Vertrauen aufs neue, beruhigt euch für diesen Augenblick,
nehmet an, was ich euch verspreche! Wer will die Zusage im Namen
aller von mir empfangen?"

Hier streckte er seine Hand aus und rief: "Ich verspreche, daß ich
nicht eher von euch weichen, euch nicht eher verlassen will, als bis
ein jeder seinen Verlust doppelt und dreifach ersetzt sieht, bis ihr
den Zustand, in dem ihr euch, durch wessen Schuld es wolle, befindet,
völlig vergessen und mit einem glücklichern vertauscht habt."

Er hielt seine Hand noch immer ausgestreckt, und niemand wollte sie
fassen. "Ich versprach es noch einmal", rief er aus, indem er auf
sein Kissen zurücksank. Alle blieben stille; sie waren beschämt, aber
nicht getröstet, und Philine, auf ihrem Koffer sitzend, knackte Nüsse
auf, die sie in ihrer Tasche gefunden hatte.




IV. Buch, 9. Kapitel




Neuntes Kapitel

Der Jäger kam mit einigen Leuten zurück und machte Anstalt, den
Verwundeten wegzuschaffen. Er hatte den Pfarrer des Orts beredet, das
Ehepaar aufzunehmen; Philinens Koffer ward fortgetragen, und sie
folgte mit natürlichem Anstand. Mignon lief voraus, und da der Kranke
im Pfarrhaus ankam, ward ihm ein weites Ehebette, das schon lange Zeit
als Gast- und Ehrenbette bereitstand, eingegeben. Hier bemerkte man
erst, daß die Wunde aufgegangen war und stark geblutet hatte. Man
mußte für einen neuen Verband sorgen. Der Kranke verfiel in ein
Fieber, Philine wartete ihn treulich, und als die Müdigkeit sie
übermeisterte, löste sie der Harfenspieler ab; Mignon war mit dem
festen Vorsatz zu wachen in einer Ecke eingeschlafen.

Des Morgens, als Wilhelm sich ein wenig erholt hatte, erfuhr er von
dem Jäger, daß die Herrschaft, die ihnen gestern zu Hülfe gekommen sei,
vor kurzem ihre Güter verlassen habe, um den Kriegsbewegungen
auszuweichen und sich bis zum Frieden in einer ruhigern Gegend
aufzuhalten. Er nannte den ältlichen Herrn und seine Nichte, zeigte
den Ort an, wohin sie sich zuerst begeben, erklärte Wilhelmen, wie das
Fräulein ihm eingebunden, für die Verlassenen Sorge zu tragen.

Der hereintretende Wundarzt unterbrach die lebhaften Danksagungen, in
welche sich Wilhelm gegen den Jäger ergoß, machte eine umständliche
Beschreibung der Wunden, versicherte, daß sie leicht heilen würden,
wenn der Patient sich ruhighielte und sich abwartete.

Nachdem der Jäger weggeritten war, erzählte Philine, daß er ihr einen
Beutel mit zwanzig Louisdorn zurückgelassen, daß er dem Geistlichen
ein Douceur für die Wohnung gegeben und die Kurkosten für den
Chirurgus bei ihm niedergelegt habe. Sie gelte durchaus für Wilhelms
Frau, introduziere sich ein für allemal bei ihm in dieser Qualität und
werde nicht zugeben, daß er sich nach einer andern Wartung umsehe.

"Philine", sagte Wilhelm, "ich bin Ihnen bei dem Unfall, der uns
begegnet ist, schon manchen Dank schuldig geworden, und ich wünschte
nicht, meine Verbindlichkeiten gegen Sie vermehrt zu sehen. Ich bin
unruhig, solange Sie um mich sind: denn ich weiß nichts, womit ich
Ihnen die Mühe vergelten kann. Geben Sie mir meine Sachen, die Sie in
Ihrem Koffer gerettet haben, heraus, schließen Sie sich an die übrige
Gesellschaft an, suchen Sie ein ander Quartier, nehmen Sie meinen Dank,
und die goldne Uhr als eine kleine Erkenntlichkeit; nur verlassen Sie
mich; Ihre Gegenwart beunruhigt mich mehr, als Sie glauben."

Sie lachte ihm ins Gesicht, als er geendigt hatte. "Du bist ein Tor",
sagte sie, "du wirst nicht klug werden. Ich weiß besser, was dir gut
ist; ich werde bleiben, ich werde mich nicht von der Stelle rühren.
Auf den Dank der Männer habe ich niemals gerechnet, also auch auf
deinen nicht; und wenn ich dich liebhabe, was geht's dich an?"

Sie blieb und hatte sich bald bei dem Pfarrer und seiner Familie
eingeschmeichelt, indem sie immer lustig war, jedem etwas zu schenken,
jedem nach dem Sinne zu reden wußte und dabei immer tat, was sie
wollte. Wilhelm befand sich nicht übel; der Chirurgus, ein
unwissender, aber nicht ungeschickter Mensch, ließ die Natur walten,
und so war der Patient bald auf dem Wege der Besserung. Sehnlich
wünschte dieser sich wiederhergestellt zu sehen, um seine Plane, seine
Wünsche eifrig verfolgen zu können.

Unaufhörlich rief er sich jene Begebenheit zurück, welche einen
unauslöschlichen Eindruck auf sein Gemüt gemacht hatte. Er sah die
schöne Amazone reitend aus den Büschen hervorkommen, sie näherte sich
ihm, stieg ab, ging hin und wider und bemühte sich um seinetwillen.
Er sah das umhüllende Kleid von ihren Schultern fallen; ihr Gesicht,
ihre Gestalt glänzend verschwinden. Alle seine Jugendträume knüpften
sich an dieses Bild. Er glaubte nunmehr die edle, heldenmütige
Chlorinde mit eignen Augen gesehen zu haben: ihm fiel der kranke
Königssohn wieder ein, an dessen Lager die schöne, teilnehmende
Prinzessin mit stiller Bescheidenheit herantritt.

"Sollten nicht", sagte er manchmal im stillen zu sich selbst, "uns in
der Jugend, wie im Schlafe, sie Bilder zukünftiger Schicksale
umschweben und unserm unbefangenen Auge ahnungsvoll sichtbar werden?
Sollten die Keime dessen, was uns begegnen wird, nicht schon von der
Hand des Schicksals ausgestreut, sollte nicht ein Vorgenuß der Früchte,
die wir einst zu brechen hoffen, möglich sein?"

Sein Krankenlager gab ihm Zeit, jene Szene tausendmal zu wiederholen.
Tausendmal rief er den Klang jener süßen Stimme zurück, und wie
beneidete er Philinen, die jene hülfreiche Hand geküßt hatte. Oft kam
ihm die Geschichte wie ein Traum vor, und er würde sie für ein Märchen
gehalten haben, wenn nicht das Kleid zurückgeblieben wäre, das ihm die
Gewißheit der Erscheinung versicherte.

Mit der größten Sorgfalt für dieses Gewand war das lebhafteste
Verlangen verbunden, sich damit zu bekleiden. Sobald er aufstand,
warf er es über und befürchtete den ganzen Tag, es möchte durch einen
Flecken oder auf sonst eine Weise beschädigt werden.




IV. Buch, 10. Kapitel




Zehntes Kapitel

Laertes besuchte seinen Freund. Er war bei jener lebhaften Szene im
Wirtshause nicht gegenwärtig gewesen, denn er lag in einer obern
Kammer. über seinen Verlust war er sehr getröstet und half sich mit
seinem gewöhnlichen: "Was tut's?" Er erzählte verschiedene
lächerliche Züge von der Gesellschaft, besonders gab er Frau Melina
schuld: sie beweine den Verlust ihrer Tochter nur deswegen, weil sie
nicht das altdeutsche Vergnügen haben könne, eine Mechtilde taufen zu
lassen. Was ihren Mann betreffe, so offenbare sich's nun, daß er viel
Geld bei sich gehabt und auch schon damals des Vorschusses, den er
Wilhelmen abgelockt, keineswegs bedurft habe. Melina wolle nunmehr
mit dem nächsten Postwagen abgehn und werde von Wilhelmen ein
Empfehlungsschreiben an seinen Freund, den Direktor Serlo, verlangen,
bei dessen Gesellschaft er, weil die eigne Unternehmung gescheitert,
nun unterzukommen hoffe.

Mignon war einige Tage sehr still gewesen, und als man in sie drang,
gestand sie endlich, daß ihr rechter Arm verrenkt sei. "Das hast du
deiner Verwegenheit zu danken", sagte Philine und erzählte, wie das
Kind im Gefechte seinen Hirschfänger gezogen und, als es seinen Freund
in Gefahr gesehen, wacker auf die Freibeuter zugehauen habe. Endlich
sei es beim Arme ergriffen und auf die Seite geschleudert worden. Man
schalt auf sie, daß sie das übel nicht eher entdeckt habe, doch merkte
man wohl, daß sie sich vor dem Chirurgus gescheut, der sie bisher
immer für einen Knaben gehalten hatte. Man suchte das übel zu heben,
und sie mußte den Arm in der Binde tragen. Hierüber war sie aufs neue
empfindlich, weil sie den besten Teil der Pflege und Wartung ihres
Freundes Philinen überlassen mußte, und die angenehme Sünderin zeigte
sich nur um desto tätiger und aufmerksamer.

Eines Morgens, als Wilhelm erwachte, fand er sich mit ihr in einer
sonderbaren Nähe. Er war auf seinem weiten Lager in der Unruhe des
Schlafs ganz an die hintere Seite gerutscht. Philine lag quer über
den vordern Teil hingestreckt; sie schien auf dem Bette sitzend und
lesend eingeschlafen zu sein. Ein Buch war ihr aus der Hand gefallen;
sie war zurück und mit dem Kopf nah an seine Brust gesunken, über die
sich ihre blonden, aufgelösten Haare in Wellen ausbreiteten. Die
Unordnung des Schlafs erhöhte mehr als Kunst und Vorsatz ihre Reize;
eine kindische lächelnde Ruhe schwebte über ihrem Gesichte. Er sah
sie eine Zeitlang an und schien sich selbst über das Vergnügen zu
tadeln, womit er sie ansah, und wir wissen nicht, ob er seinen Zustand
segnete oder tadelte, der ihm Ruhe und Mäßigung zur Pflicht machte.
Er hatte sie eine Zeitlang aufmerksam betrachtet, als sie sich zu
regen anfing. Er schloß die Augen sachte zu, doch konnte er nicht
unterlassen zu blinzen und nach ihr zu sehen, als sie sich wieder
zurechtputzte und wegging, nach dem Frühstück zu fragen.

Nach und nach hatten sich nun die sämtlichen Schauspieler bei
Wilhelmen gemeldet, hatten Empfehlungsschreiben und Reisegeld mehr
oder weniger unartig und ungestüm gefordert und immer mit Widerwillen
Philinens erhalten. Vergebens stellte sie ihrem Freunde vor, daß der
Jäger auch diesen Leuten eine ansehnliche Summe zurückgelassen, daß
man ihn nur zum besten habe. Vielmehr kamen sie darüber in einen
lebhaften Zwist, und Wilhelm behauptete nunmehr ein für allemal, daß
sie sich gleichfalls an die übrige Gesellschaft anschließen und ihr
Glück bei Serlo versuchen sollte.

Nur einige Augenblicke verließ sie ihr Gleichmut, dann erholte sie
sich schnell wieder und rief: "Wenn ich nur meinen Blonden wieder
hätte, so wollt ich mich um euch alle nichts kümmern." Sie meinte
Friedrichen, der sich vom Waldplatze verloren und nicht wieder gezeigt
hatte.

Des andern Morgens brachte Mignon die Nachricht ans Bette, daß Philine
in der Nacht abgereist sei; im Nebenzimmer habe sie alles, was ihm
gehöre, sehr ordentlich zusammengelegt. Er empfand ihre Abwesenheit;
er hatte an ihr eine treue Wärterin, eine muntere Gesellschafterin
verloren; er war nicht mehr gewohnt, allein zu sein. Allein Mignon
füllte die Lücke bald wieder aus.

Seitdem jene leichtfertige Schöne in ihren freundlichen Bemühungen den
Verwundeten umgab, hatte sich die Kleine nach und nach zurückgezogen
und war stille für sich geblieben; nun aber, da sie wieder freies Feld
gewann, trat sie mit Aufmerksamkeit und Liebe hervor, war eifrig, ihm
zu dienen, und munter, ihn zu unterhalten.




IV. Buch, 11. Kapitel




Eilftes Kapitel

Mit lebhaften Schritten nahete er sich der Besserung; er hoffte nun,
in wenig Tagen seine Reise antreten zu können. Er wollte nicht etwa
planlos ein schlenderndes Leben fortsetzen, sondern zweckmäßige
Schritte sollten künftig seine Bahn bezeichnen. Zuerst wollte er die
hülfreiche Herrschaft aufsuchen, um seine Dankbarkeit an den Tag zu
legen, alsdann zu seinem Freunde, dem Direktor, eilen, um für die
verunglückte Gesellschaft auf das beste zu sorgen, und zugleich die
Handelsfreunde, an die er mit Adressen versehen war, besuchen und die
ihm aufgetragnen Geschäfte verrichten. Er machte sich Hoffnung, daß
ihm das Glück wie vorher auch künftig beistehen und ihm Gelegenheit
verschaffen werde, durch eine glückliche Spekulation den Verlust zu
ersetzen und die Lücke seiner Kasse wieder auszufüllen.

Das Verlangen, seine Retterin wiederzusehen, wuchs mit jedem Tage. Um
seine Reiseroute zu bestimmen, ging er mit dem Geistlichen zu Rate,
der schöne geographische und statistische Kenntnisse hatte und eine
artige Bücher- und Kartensammlung besaß. Man suchte nach dem Orte,
den die edle Familie während des Kriegs zu ihrem Sitz erwählt hatte,
man suchte Nachrichten von ihr selbst auf; allein der Ort war in
keiner Geographie, auf keiner Karte zu finden, und die genealogischen
Handbücher sagten nichts von einer solchen Familie.

Wilhelm wurde unruhig, und als er seine Bekümmernis laut werden ließ,
entdeckte ihm der Harfenspieler: er habe Ursache zu glauben, daß der
Jäger, es sei aus welcher Ursache es wolle, den wahren Namen
verschwiegen habe.

Wilhelm, der nun einmal sich in der Nähe der Schönen glaubte, hoffte
einige Nachricht von ihr zu erhalten, wenn er den Harfenspieler
abschickte; aber auch diese Hoffnung ward getäuscht. Sosehr der Alte
sich auch erkundigte, konnte er doch auf keine Spur kommen. In jenen
Tagen waren verschiedene lebhafte Bewegungen und unvorhergesehene
Durchmärsche in diesen Gegenden vorgefallen; niemand hatte auf die
reisende Gesellschaft besonders achtgegeben, so daß der ausgesendete
Bote, um nicht für einen jüdischen Spion angesehn zu werden, wieder
zurückgehen und ohne ölblatt vor seinem Herrn und Freund erscheinen
mußte. Er legte strenge Rechenschaft ab, wie er den Auftrag
auszurichten gesucht, und war bemüht, allen Verdacht einer
Nachlässigkeit von sich zu entfernen. Er suchte auf alle Weise
Wilhelms Betrübnis zu lindern, besann sich auf alles, was er von dem
Jäger erfahren hatte, und brachte mancherlei Mutmaßungen vor, wobei
denn endlich ein Umstand vorkam, woraus Wilhelm einige rätselhafte
Worte der schönen Verschwundenen deuten konnte.

Die räuberische Bande nämlich hatte nicht der wandernden Truppe,
sondern jener Herrschaft aufgepaßt, bei der sie mit Recht vieles Geld
und Kostbarkeiten vermutete und von deren Zug sie genaue Nachricht
mußte gehabt haben. Man wußte nicht, ob man die Tat einem Freikorps,
ob man sie Marodeurs oder Räubern zuschreiben sollte. Genug, zum
Glücke der vornehmen und reichen Karawane waren die Geringen und Armen
zuerst auf den Platz gekommen und hatten das Schicksal erduldet, das
jenen zubereitet war. Darauf bezogen sich die Worte der jungen Dame,
deren sich Wilhelm noch gar wohl erinnerte. Wenn er nun vergnügt und
glücklich sein konnte, daß ein vorsichtiger Genius ihn zum Opfer
bestimmt hatte, eine vollkommene Sterbliche zu retten, so war er
dagegen nahe an der Verzweiflung, da ihm, sie wiederzufinden, sie
wiederzusehen wenigstens für den Augenblick alle Hoffnung verschwunden
war.

Was diese sonderbare Bewegung in ihm vermehrte, war die ähnlichkeit,
die er zwischen der Gräfin und der schönen Unbekannten entdeckt zu
haben glaubte. Sie glichen sich, wie sich Schwestern gleichen mögen,
deren keine die jüngere noch die ältere genannt werden darf, denn sie
scheinen Zwillinge zu sein.

Die Erinnerung an die liebenswürdige Gräfin war ihm unendlich süß. Er
rief sich ihr Bild nur allzugern wieder ins Gedächtnis. Aber nun trat
die Gestalt der edlen Amazone gleich dazwischen, eine Erscheinung
verwandelte sich in die andere, ohne daß er imstande gewesen wäre,
diese oder jene festzuhalten.

Wie wunderbar mußte ihm daher die ähnlichkeit ihrer Handschriften sein!
denn er verwahrte ein reizendes Lied von der Hand der Gräfin in
seiner Schreibtafel, und in dem überrock hatte er ein Zettelchen
gefunden, worin man sich mit viel zärtlicher Sorgfalt nach dem
Befinden eines Oheims erkundigte.

Wilhelm war überzeugt, daß seine Retterin dieses Billett geschrieben,
daß es auf der Reise in einem Wirtshause aus einem Zimmer in das
andere geschickt und von dem Oheim in die Tasche gesteckt worden sei.
Er hielt beide Handschriften gegeneinander, und wenn die zierlich
gestellten Buchstaben der Gräfin ihm sonst so sehr gefallen hatten, so
fand er in den ähnlichen, aber freieren Zügen der Unbekannten eine
unaussprechlich fließende Harmonie. Das Billett enthielt nichts, und
schon die Züge schienen ihn, so wie ehemals die Gegenwart der Schönen,
zu erheben.

Er verfiel in eine träumende Sehnsucht, und wie einstimmend mit seinen
Empfindungen war das Lied, das eben in dieser Stunde Mignon und der
Harfner als ein unregelmäßiges Duett mit dem herzlichsten Ausdrucke
sangen:


Nur wer die Sehnsucht kennt,
Weiß, was ich leide!
Allein und abgetrennt
Von aller Freude,
Seh ich ans Firmament
Nach jener Seite.
Ach! der mich liebt und kennt,
Ist in der Weite.
Es schwindelt mir, es brennt
Mein Eingeweide.
Nur wer die Sehnsucht kennt,
Weiß, was ich leide!





IV. Buch, 12. Kapitel




Zwölftes Kapitel

Die sanften Lockungen des lieben Schutzgeistes, anstatt unsern Freund
auf irgendeinen Weg zu führen, nährten und vermehrten die Unruhe, die
er vorher empfunden hatte. Eine heimliche Glut schlich in seinen
Adern; bestimmte und unbestimmte Gegenstände wechselten in seiner
Seele und erregten ein endloses Verlangen. Bald wünschte er sich ein
Roß, bald Flügel, und indem es ihm unmöglich schien, bleiben zu können,
sah er sich erst um, wohin er denn eigentlich begehre.

Der Faden seines Schicksals hatte sich so sonderbar verworren; er
wünschte die seltsamen Knoten aufgelöst oder zerschnitten zu sehen.
Oft, wenn er ein Pferd traben oder einen Wagen rollen hörte, schaute
er eilig zum Fenster hinaus, in der Hoffnung, es würde jemand sein,
der ihn aufsuchte und, wäre es auch nur durch Zufall, ihm Nachricht,
Gewißheit und Freude brächte. Er erzählte sich Geschichten vor, wie
sein Freund Werner in diese Gegend kommen und ihn überraschen könnte,
daß Mariane vielleicht erscheinen dürfte. Der Ton eines jeden
Posthorns setzte ihn in Bewegung. Melina sollte von seinem Schicksale
Nachricht geben, vorzüglich aber sollte der Jäger wiederkommen und ihn
zu jener angebeteten Schönheit einladen.

Von allem diesen geschah leider nichts, und er mußte zuletzt wieder
mit sich allein bleiben, und indem er das Vergangene wieder durchnahm,
ward ihm ein Umstand, je mehr er ihn betrachtete und beleuchtete,
immer widriger und unerträglicher. Es war seine verunglückte
Heerführerschaft, an die er ohne Verdruß nicht denken konnte. Denn ob
er gleich am Abend jenes bösen Tages sich vor der Gesellschaft so
ziemlich herausgeredet hatte, so konnte er sich doch selbst seine
Schuld nicht verleugnen. Er schrieb sich vielmehr in hypochondrischen
Augenblicken den ganzen Vorfall allein zu.

Die Eigenliebe läßt uns sowohl unsre Tugenden als unsre Fehler viel
bedeutender, als sie sind, erscheinen. Er hatte das Vertrauen auf
sich rege gemacht, den Willen der übrigen gelenkt und war, von
Unerfahrenheit und Kühnheit geleitet, vorangegangen; es ergriff sie
eine Gefahr, der sie nicht gewachsen waren. Laute und stille Vorwürfe
verfolgten ihn, und wenn er der irregeführten Gesellschaft nach dem
empfindlichen Verluste zugesagt hatte, sie nicht zu verlassen, bis er
ihnen das Verlorne mit Wucher ersetzt hätte, so hatte er sich über
eine neue Verwegenheit zu schelten, womit er ein allgemein
ausgeteiltes übel auf seine Schultern zu nehmen sich vermaß. Bald
verwies er sich, daß er durch Aufspannung und Drang des Augenblicks
ein solches Versprechen getan hatte; bald fühlte er wieder, daß jenes
gutmütige Hinreichen seiner Hand, die niemand anzunehmen würdigte, nur
eine leichte Förmlichkeit sei gegen das Gelübde, das sein Herz getan
hatte. Er sann auf Mittel, ihnen wohltätig und nützlich zu sein, und
fand alle Ursache, seine Reise zu Serlo zu beschleunigen. Er packte
nunmehr seine Sachen zusammen und eilte, ohne seine völlige Genesung
abzuwarten, ohne auf den Rat des Pastors und Wundarztes zu hören, in
der wunderbaren Gesellschaft Mignons und des Alten, der Untätigkeit zu
entfliehen, in der ihn sein Schicksal abermals nur zu lange gehalten
hatte.




IV. Buch, 13. Kapitel




Dreizehntes Kapitel

Serlo empfing ihn mit offenen Armen und rief ihm entgegen: "Seh ich
Sie? Erkenn ich Sie wieder? Sie haben sich wenig oder nicht geändert.
Ist Ihre Liebe zur edelsten Kunst noch immer so stark und lebendig?
So sehr erfreu ich mich über Ihre Ankunft, daß ich selbst das
Mißtrauen nicht mehr fühle, das Ihre letzten Briefe bei mir erregt
haben."

Wilhelm bat betroffen um eine nähere Erklärung.

"Sie haben sich", versetzte Serlo, "gegen mich nicht wie ein alter
Freund betragen; Sie haben mich wie einen großen Herrn behandelt, dem
man mit gutem Gewissen unbrauchbare Leute empfehlen darf. Unser
Schicksal hängt von der Meinung des Publikums ab, und ich fürchte, daß
Ihr Herr Melina mit den Seinigen schwerlich bei uns wohl aufgenommen
werden dürfte."

Wilhelm wollte etwas zu ihren Gunsten sprechen, aber Serlo fing an,
eine so unbarmherzige Schilderung von ihnen zu machen, daß unser
Freund sehr zufrieden war, als ein Frauenzimmer in das Zimmer trat,
das Gespräch unterbrach und ihm sogleich als Schwester Aurelia von
seinem Freunde vorgestellt ward. Sie empfing ihn auf das
freundschaftlichste, und ihre Unterhaltung war so angenehm, daß er
nicht einmal einen entschiedenen Zug des Kummers gewahr wurde, der
ihrem geistreichen Gesicht noch ein besonderes Interesse gab.

Zum erstenmal seit langer Zeit fand sich Wilhelm wieder in seinem
Elemente. Bei seinen Gesprächen hatte er sonst nur notdürftig
gefällige Zuhörer gefunden, da er gegenwärtig mit Künstlern und
Kennern zu sprechen das Glück hatte, die ihn nicht allein vollkommen
verstanden, sondern die auch sein Gespräch belehrend erwiderten. Mit
welcher Geschwindigkeit ging man die neusten Stücke durch! Mit
welcher Sicherheit beurteilte man sie! Wie wußte man das Urteil des
Publikums zu prüfen und zu schätzen! In welcher Geschwindigkeit
klärte man einander auf!

Nun mußte sich bei Wilhelms Vorliebe für Shakespearen das Gespräch
notwendig auf diesen Schriftsteller lenken. Er zeigte die lebhafteste
Hoffnung auf die Epoche, welche diese vortrefflichen Stücke in
Deutschland machen müßten, und bald brachte er seinen "Hamlet" vor,
der ihn so sehr beschäftigt hatte.

Serlo versicherte, daß er das Stück längst, wenn es nur möglich
gewesen wäre, gegeben hätte, daß er gern die Rolle des Polonius
übernehmen wolle. Dann setzte er mit Lächeln hinzu: "Und Ophelien
finden sich wohl auch, wenn wir nur erst den Prinzen haben."

Wilhelm bemerkte nicht, daß Aurelien dieser Scherz des Bruders zu
mißfallen schien; er ward vielmehr nach seiner Art weitläufig und
lehrreich, in welchem Sinne er den Hamlet gespielt haben wolle. Er
legte ihnen die Resultate umständlich dar, mit welchen wir ihn oben
beschäftigt gesehn, und gab sich alle Mühe, seine Meinung annehmlich
zu machen, soviel Zweifel auch Serlo gegen seine Hypothese erregte.
"Nun gut", sagte dieser zuletzt, "Wir geben Ihnen alles zu; was wollen
Sie weiter daraus erklären?"

"Vieles, alles", versetzte Wilhelm. "Denken Sie sich einen Prinzen,
wie ich ihn geschildert habe, dessen Vater unvermutet stirbt. Ehrgeiz
und Herrschsucht sind nicht die Leidenschaften, die ihn beleben; er
hatte sich's gefallen lassen, Sohn eines Königs zu sein; aber nun ist
er erst genötigt, auf den Abstand aufmerksamer zu werden, der den
König vom Untertanen scheidet. Das Recht zur Krone war nicht erblich,
und doch hätte ein längeres Leben seines Vaters die Ansprüche seines
einzigen Sohnes mehr befestigt und die Hoffnung zur Krone gesichert.
Dagegen sieht er sich nun durch seinen Oheim, ungeachtet scheinbarer
Versprechungen, vielleicht auf immer ausgeschlossen; er fühlt sich nun
so arm an Gnade, an Gütern und fremd in dem, was er von Jugend auf als
sein Eigentum betrachten konnte. Hier nimmt sein Gemüt die erste
traurige Richtung. Er fühlt, daß er nicht mehr, ja nicht soviel ist
als jeder Edelmann; er gibt sich für einen Diener eines jeden, er ist
nicht höflich, nicht herablassend, nein, herabgesunken und bedürftig.

Nach seinem vorigen Zustande blickt er nur wie nach einem
verschwundnen Traume. Vergebens, daß sein Oheim ihn aufmuntern, ihm
seine Lage aus einem andern Gesichtspunkte zeigen will; die Empfindung
seines Nichts verläßt ihn nie.

Der zweite Schlag, der ihn traf, verletzte tiefer, beugte noch mehr.
Es ist die Heirat seiner Mutter. Ihm, einem treuen und zärtlichen
Sohne, blieb, da sein Vater starb, eine Mutter noch übrig; er hoffte,
in Gesellschaft seiner hinterlassenen edlen Mutter die Heldengestalt
jenes großen Abgeschiedenen zu verehren; aber auch seine Mutter
verliert er, und es ist schlimmer, als wenn sie ihm der Tod geraubt
hätte. Das zuverlässige Bild, das sich ein wohlgeratenes Kind so gern
von seinen Eltern macht, verschwindet; bei dem Toten ist keine Hülfe
und an der Lebendigen kein Halt. Sie ist auch ein Weib, und unter dem
allgemeinen Geschlechtsnamen Gebrechlichkeit ist auch sie begriffen.

Nun erst fühlt er sich recht gebeugt, nun erst verwaist, und kein
Glück der Welt kann ihm wieder ersetzen, was er verloren hat. Nicht
traurig, nicht nachdenklich von Natur, wird ihm Trauer und Nachdenken
zur schweren Bürde. So sehen wir ihn auftreten. Ich glaube nicht,
daß ich etwas in das Stück hineinlege oder einen Zug übertreibe."

Serlo sah seine Schwester an und sagte: "Habe ich dir ein falsches
Bild von unserm Freunde gemacht? Er fängt gut an und wird uns noch
manches vorerzählen und viel überreden. Wilhelm schwur hoch und teuer,
daß er nicht überreden, sondern überzeugen wolle, und bat nur noch um
einen Augenblick Geduld.

"Denken Sie sich", rief er aus, "diesen Jüngling, diesen Fürstensohn
recht lebhaft, vergegenwärtigen Sie sich seine Lage, und dann
beobachten Sie ihn, wenn er erfährt, die Gestalt seines Vaters
erscheine; stehen Sie ihm bei in der schrecklichen Nacht, wenn der
ehrwürdige Geist selbst vor ihm auftritt. Ein ungeheures Entsetzen
ergreift ihn; er redet die Wundergestalt an, sieht sie winken, folgt
und hört.--Die schreckliche Anklage wider seinen Oheim ertönt in
seinen Ohren, Aufforderung zur Rache und die dringende, wiederholte
Bitte: "Erinnere dich meiner!"

Und da der Geist verschwunden ist, wen sehen wir vor uns stehen?
Einen jungen Helden, der nach Rache schnaubt? Einen gebornen Fürsten,
der sich glücklich fühlt, gegen den Usurpator seiner Krone
aufgefordert zu werden? Nein! Staunen und Trübsinn überfällt den
Einsamen; er wird bitter gegen die lächelnden Bösewichter, schwört,
den Abgeschiedenen nicht zu vergessen, und schließt mit dem
bedeutenden Seufzer: "Die Zeit ist aus dem Gelenke; wehe mir, daß ich
geboren ward, sie wieder einzurichten."

In diesen Worten, dünkt mich, liegt der Schlüssel zu Hamlets ganzem
Betragen, und mir ist deutlich, daß Shakespeare habe schildern wollen:
eine große Tat auf eine Seele gelegt, die der Tat nicht gewachsen ist.
Und in diesem Sinne find ich das Stück durchgängig gearbeitet. Hier
wird ein Eichbaum in ein köstliches Gefäß gepflanzt, das nur liebliche
Blumen in seinen Schoß hätte aufnehmen sollen; die Wurzeln dehnen aus,
das Gefäß wird zernichtet.

Ein schönes, reines, edles, höchst moralisches Wesen ohne die
sinnliche Stärke, die den Helden macht, geht unter einer Last zugrunde,
die es weder tragen noch abwerfen kann; jede Pflicht ist ihm heilig,
diese zu schwer. Das Unmögliche wird von ihm gefordert, nicht das
Unmögliche an sich, sondern das, was ihm unmöglich ist. Wie er sich
windet, dreht, ängstigt, vor- und zurücktritt, immer erinnert wird,
sich immer erinnert und zuletzt fast seinen Zweck aus dem Sinne
verliert, ohne doch jemals wieder froh zu werden."




IV. Buch, 14. Kapitel




Vierzehntes Kapitel

Verschiedene Personen traten herein, die das Gespräch unterbrachen.
Es waren Virtuosen, die sich bei Serlo gewöhnlich einmal die Woche zu
einem kleinen Konzerte versammelten. Er liebte die Musik sehr und
behauptete, daß ein Schauspieler ohne diese Liebe niemals zu einem
deutlichen Begriff und Gefühl seiner eigenen Kunst gelangen könne. So
wie man viel leichter und anständiger agiere, wenn die Gebärden durch
eine Melodie begleitet und geleitet werden, so müsse der Schauspieler
sich auch seine prosaische Rolle gleichsam im Sinne komponieren, daß
er sie nicht etwa eintönig nach seiner individuellen Art und Weise
hinsudele, sondern sie in gehöriger Abwechselung nach Takt und Maß
behandle.

Aurelie schien an allem, was vorging, wenig Anteil zu nehmen, vielmehr
führte sie zuletzt unsern Freund in ein Seitenzimmer, und indem sie
ans Fenster trat und den gestirnten Himmel anschaute, sagte sie zu ihm:
"Sie sind uns manches über Hamlet schuldig geblieben; ich will zwar
nicht voreilig sein und wünsche, daß mein Bruder auch mit anhören möge,
was Sie uns noch zu sagen haben, doch lassen Sie mich Ihre Gedanken
über Ophelien hören."

"Von ihr läßt sich nicht viel sagen", versetzte Wilhelm, "denn nur mit
wenig Meisterzügen ist ihr Charakter vollendet. Ihr ganzes Wesen
schwebt in reifer, süßer Sinnlichkeit. Ihre Neigung zu dem Prinzen,
auf dessen Hand sie Anspruch machen darf, fließt so aus der Quelle,
das gute Herz überläßt sich so ganz seinem Verlangen, daß Vater und
Bruder beide fürchten, beide geradezu und unbescheiden warnen. Der
Wohlstand, wie der leichte Flor auf ihrem Busen, kann die Bewegung
ihres Herzens nicht verbergen, er wird vielmehr ein Verräter dieser
leisen Bewegung. Ihre Einbildungskraft ist angesteckt, ihre stille
Bescheidenheit atmet eine liebevolle Begierde, und sollte die bequeme
Göttin Gelegenheit das Bäumchen schütteln, so würde die Frucht
sogleich herabfallen."

"Und nun", sagte Aurelie, "wenn sie sich verlassen sieht, verstoßen
und verschmäht, wenn in der Seele ihres wahnsinnigen Geliebten sich
das Höchste zum Tiefsten umwendet und er ihr statt des süßen Bechers
der Liebe den bittern Kelch der Leiden hinreicht--"

"Ihr Herz bricht", rief Wilhelm aus, "das ganze Gerüst ihres Daseins
rückt aus seinen Fugen, der Tod ihres Vaters stürmt herein, und das
schöne Gebäude stürzt völlig zusammen."

Wilhelm hatte nicht bemerkt, mit welchem Ausdruck Aurelie die letzten
Worte aussprach. Nur auf das Kunstwerk, dessen Zusammenhang und
Vollkommenheit gerichtet, ahnete er nicht, daß seine Freundin eine
ganz andere Wirkung empfand; nicht, daß ein eigner tiefer Schmerz
durch diese dramatischen Schattenbilder in ihr lebhaft erregt ward.

Noch immer hatte Aurelie ihr Haupt von ihren Armen unterstützt und
ihre Augen, die sich mit Tränen füllten, gen Himmel gewendet. Endlich
hielt sie nicht länger ihren verborgnen Schmerz zurück; sie faßte des
Freundes beide Hände und rief, indem er erstaunt vor ihr stand:
"Verzeihen Sie, verzeihen Sie einem geängstigten Herzen! Die
Gesellschaft schnürt und preßt mich zusammen; vor meinem
unbarmherzigen Bruder muß ich mich zu verbergen suchen; nun hat Ihre
Gegenwart alle Bande aufgelöst. Mein Freund!" fuhr sie fort, "seit
einem Augenblicke sind wir erst bekannt, und schon werden Sie mein
Vertrauter." Sie konnte die Worte kaum aussprechen und sank an seine
Schulter. "Denken Sie nicht übler von mir", sagte sie schluchzend,
"daß ich mich Ihnen so schnell eröffne, daß Sie mich so schwach sehen.
Sein Sie, bleiben Sie mein Freund, ich verdiene es." Er redete ihr
auf das herzlichste zu; umsonst! ihre Tränen flossen und erstickten
ihre Worte.

In diesem Augenblicke trat Serlo sehr unwillkommen herein und sehr
unerwartet Philine, die er bei der Hand hielt. "Hier ist Ihr Freund",
sagte er zu ihr; "er wird sich freun, Sie zu begrüßen."

"Wie!" rief Wilhelm erstaunt, "muß ich Sie hier sehen?" Mit einem
bescheidnen, gesetzten Wesen ging sie auf ihn los, hieß ihn willkommen,
rühmte Serlos Güte, der sie ohne ihr Verdienst, bloß in Hoffnung, daß
sie sich bilden werde, unter seine treffliche Truppe aufgenommen habe.
Sie tat dabei gegen Wilhelmen freundlich, doch aus einer
ehrerbietigen Entfernung.

Diese Verstellung währte aber nicht länger, als die beiden zugegen
waren. Denn als Aurelie, ihren Schmerz zu verbergen, wegging und
Serlo abgerufen ward, sah Philine erst recht genau nach den Türen, ob
beide auch gewiß fort seien, dann hüpfte sie wie töricht in der Stube
herum, setzte sich an die Erde und wollte vor Kichern und Lachen
ersticken. Dann sprang sie auf, schmeichelte unserm Freunde und
freute sich über alle Maßen, daß sie so klug gewesen sei,
vorauszugehen, das Terrain zu rekognoszieren und sich einzunisten.

"Hier geht es bunt zu", sagte sie, "gerade so, wie mir's recht ist.
Aurelie hat einen unglücklichen Liebeshandel mit einem Edelmanne
gehabt, der ein prächtiger Mensch sein muß und den ich selbst wohl
einmal sehen möchte. Er hat ihr ein Andenken hinterlassen, oder ich
müßte mich sehr irren. Es läuft da ein Knabe herum, ungefähr von drei
Jahren, schön wie die Sonne; der Papa mag allerliebst sein. Ich kann
sonst die Kinder nicht leiden, aber dieser Junge freut mich. Ich habe
ihr nachgerechnet. Der Tod ihres Mannes, die neue Bekanntschaft, das
Alter des Kindes, alles trifft zusammen.

Nun ist der Freund seiner Wege gegangen; seit einem Jahre sieht er sie
nicht mehr. Sie ist darüber außer sich und untröstlich. Die Närrin!
--Der Bruder hat unter der Truppe eine Tänzerin, mit der er schöntut,
ein Aktricchen, mit der er vertraut ist, in der Stadt noch einige
Frauen, denen er aufwartet, und nun steh ich auch auf der Liste. Der
Narr!--Vom übrigen Volke sollst du morgen hören. Und nun noch ein
Wörtchen von Philinen, die du kennst; die Erznärrin ist in dich
verliebt." Sie schwur, daß es wahr sei, und beteuerte, daß es ein
rechter Spaß sei. Sie bat Wilhelmen inständig, er möchte sich in
Aurelien verlieben, dann werde die Hetze erst recht angehen. "Sie
läuft ihrem Ungetreuen, du ihr, ich dir und der Bruder mir nach. Wenn
das nicht eine Lust auf ein halbes Jahr gibt, so will ich an der
ersten Episode sterben, die sich zu diesem vierfach verschlungenen
Romane hinzuwirft." Sie bat ihn, er möchte ihr den Handel nicht
verderben und ihr so viel Achtung bezeigen, als sie durch ihr
öffentliches Betragen verdienen wolle.




IV. Buch, 15. Kapitel




Funfzehntes Kapitel

Den nächsten Morgen gedachte Wilhelm Madame Melina zu besuchen; er
fand sie nicht zu Hause, fragte nach den übrigen Gliedern der
wandernden Gesellschaft und erfuhr, Philine habe sie zum Frühstück
eingeladen. Aus Neugier eilte er hin und traf sie alle sehr
aufgeräumt und getröstet. Das kluge Geschöpf hatte sie versammelt,
sie mit Schokolade bewirtet und ihnen zu verstehen gegeben, noch sei
nicht alle Aussicht versperrt; sie hoffe durch ihren Einfluß den
Direktor zu überzeugen, wie vorteilhaft es ihm sei, so geschickte
Leute in seine Gesellschaft aufzunehmen. Sie hörten ihr aufmerksam zu,
schlürften eine Tasse nach der andern hinunter, fanden das Mädchen
gar nicht übel und nahmen sich vor, das Beste von ihr zu reden.

"Glauben Sie denn", sagte Wilhelm, der mit Philinen allein geblieben
war, "daß Serlo sich noch entschließen werde, unsre Gefährten zu
behalten?"--"Mitnichten", versetzte Philine, "es ist mir auch gar
nichts daran gelegen; ich wollte, sie wären je eher je lieber fort!
Den einzigen Laertes wünscht ich zu behalten; die übrigen wollen wir
schon nach und nach beiseite bringen."

Hierauf gab sie ihrem Freunde zu verstehen, daß sie gewiß überzeugt
sei, er werde nunmehr sein Talent nicht länger vergraben, sondern
unter Direktion eines Serlo aufs Theater gehen. Sie konnte die
Ordnung, den Geschmack, den Geist, der hier herrsche, nicht genug
rühmen; sie sprach so schmeichelnd zu unserm Freunde, so
schmeichelhaft von seinen Talenten, daß sein Herz und seine
Einbildungskraft sich ebensosehr diesem Vorschlage näherten, als sein
Verstand und seine Vernunft sich davon entfernten. Er verbarg seine
Neigung vor sich selbst und vor Philinen und brachte einen unruhigen
Tag zu, an dem er sich nicht entschließen konnte, zu seinen
Handelskorrespondenten zu gehen und die Briefe, die dort für ihn
liegen möchten, abzuholen. Denn ob er sich gleich die Unruhe der
Seinigen diese Zeit über vorstellen konnte, so scheute er sich doch,
ihre Sorgen und Vorwürfe umständlich zu erfahren, um so mehr, da er
sich einen großen und reinen Genuß diesen Abend von der Aufführung
eines neuen Stücks versprach.

Serlo hatte sich geweigert, ihn bei der Probe zuzulassen. "Sie müssen
uns", sagte er, "erst von der besten Seite kennenlernen, eh wir
zugeben, daß Sie uns in die Karte sehen."

Mit der größten Zufriedenheit wohnte aber auch unser Freund den Abend
darauf der Vorstellung bei. Es war das erste Mal, daß er ein Theater
in solcher Vollkommenheit sah. Man traute sämtlichen Schauspielern
fürtreffliche Gaben, glückliche Anlagen und einen hohen und klaren
Begriff von ihrer Kunst zu, und doch waren sie einander nicht gleich;
aber sie hielten und trugen sich wechselsweise, feuerten einander an
und waren in ihrem ganzen Spiele sehr bestimmt und genau. Man fühlte
bald, daß Serlo die Seele des Ganzen war, und er zeichnete sich sehr
zu seinem Vorteil aus. Eine heitere Laune, eine gemäßigte
Lebhaftigkeit, ein bestimmtes Gefühl des Schicklichen bei einer großen
Gabe der Nachahmung mußte man an ihm, wie er aufs Theater trat, wie er
den Mund öffnete, bewundern. Die innere Behaglichkeit seines Daseins
schien sich über alle Zuhörer auszubreiten, und die geistreiche Art,
mit der er die feinsten Schattierungen der Rollen leicht und gefällig
ausdrückte, erweckte um soviel mehr Freude, als er die Kunst zu
verbergen wußte, die er sich durch eine anhaltende übung eigen gemacht
hatte.

Seine Schwester Aurelie blieb nicht hinter ihm und erhielt noch
größeren Beifall, indem sie die Gemüter der Menschen rührte, die er zu
erheitern und zu erfreuen so sehr imstande war.

Nach einigen Tagen, die auf eine angenehme Weise zugebracht wurden,
verlangte Aurelie nach unserm Freund. Er eilte zu ihr und fand sie
auf dem Kanapee liegen; sie schien an Kopfweh zu leiden, und ihr
ganzes Wesen konnte eine fieberhafte Bewegung nicht verbergen. Ihr
Auge erheiterte sich, als sie den Hereintretenden ansah. "Vergeben
Sie!" rief sie ihm entgegen; "das Zutrauen, das Sie mir einflößten,
hat mich schwach gemacht. Bisher konnt ich mich mit meinen Schmerzen
im stillen unterhalten, ja sie gaben mir Stärke und Trost; nun haben
Sie, ich weiß nicht, wie es zugegangen ist, die Bande der
Verschwiegenheit gelöst, und Sie werden nun selbst wider Willen teil
an dem Kampfe nehmen, den ich gegen mich selbst streite."

Wilhelm antwortete ihr freundlich und verbindlich. Er versicherte,
daß ihr Bild und ihre Schmerzen ihm beständig vor der Seele geschwebt,
daß er sie um ihr Vertrauen bitte, daß er sich ihr zum Freund widme.

Indem er so sprach, wurden seine Augen von dem Knaben angezogen, der
vor ihr auf der Erde saß und allerlei Spielwerk durcheinanderwarf. Er
mochte, wie Philine schon angegeben, ungefähr drei Jahre alt sein, und
Wilhelm verstand nun erst, warum das leichtfertige, in ihren
Ausdrücken selten erhabene Mädchen den Knaben der Sonne verglichen.
Denn um die offnen Augen und das volle Gesicht kräuselten sich die
schönsten goldnen Locken, an einer blendendweißen Stirne zeigten sich
zarte, dunkle, sanftgebogene Augenbrauen, und die lebhafte Farbe der
Gesundheit glänzte auf seinen Wangen. "Setzen Sie sich zu mir", sagte
Aurelie; "Sie sehen das glückliche Kind mit Verwunderung an; gewiß,
ich habe es mit Freuden auf meine Arme genommen, ich bewahre es mit
Sorgfalt; nur kann ich auch recht an ihm den Grad meiner Schmerzen
erkennen, denn sie lassen mich den Wert einer solchen Gabe nur selten
empfinden.

Erlauben Sie mir", fuhr sie fort, "daß ich nun auch von mir und meinem
Schicksale rede; denn es ist mir sehr daran gelegen, daß Sie mich
nicht verkennen. Ich glaubte einige gelassene Augenblicke zu haben,
darum ließ ich Sie rufen; Sie sind nun da, und ich habe meinen Faden
verloren.

"Ein verlaßnes Geschöpf mehr in der Welt!" werden Sie sagen. Sie sind
ein Mann und denken: "Wie gebärdet sie sich bei einem notwendigen übel,
das gewisser als der Tod über einem Weibe schwebt, bei der Untreue
eines Mannes, die Törin!"--O mein Freund, wäre mein Schicksal gemein,
ich wollte gern gemeines übel ertragen; aber es ist so außerordentlich;
warum kann ich's Ihnen nicht im Spiegel zeigen, warum nicht jemand
auftragen, es Ihnen zu erzählen! O wäre, wäre ich verführt,
überrascht und dann verlassen, dann würde in der Verzweiflung noch
Trost sein; aber ich bin weit schlimmer daran, ich habe mich selbst
hintergangen, mich selbst wider Wissen betrogen, das ist's, was ich
mir niemals verzeihen kann."

"Bei edlen Gesinnungen, wie die Ihrigen sind", versetzte der Freund,
"können Sie nicht ganz unglücklich sein."

"Und wissen Sie, wem ich meine Gesinnung schuldig bin?" fragte Aurelie,
"der allerschlechtesten Erziehung, durch die jemals ein Mädchen hätte
verderbt werden sollen, dem schlimmsten Beispiele, um Sinne und
Neigung zu verführen.

Nach dem frühzeitigen Tode meiner Mutter bracht ich die schönsten
Jahre der Entwicklung bei einer Tante zu, die sich zum Gesetz machte,
die Gesetze der Ehrbarkeit zu verachten. Blindlings überließ sie sich
einer jeden Neigung, sie mochte über den Gegenstand gebieten oder sein
Sklav' sein, wenn sie nur im wilden Genuß ihrer selbst vergessen
konnte.

Was mußten wir Kinder mit dem reinen und deutlichen Blick der Unschuld
uns für Begriffe von dem männlichen Geschlechte machen? Wie dumpf,
dringend, dreist, ungeschickt war jeder, den sie herbeireizte; wie
satt, übermütig, leer und abgeschmackt dagegen, sobald er seiner
Wünsche Befriedigung gefunden hatte. So hab ich diese Frau jahrelang
unter dem Gebote der schlechtesten Menschen erniedrigt gesehen; was
für Begegnungen mußte sie erdulden, und mit welcher Stirne wußte sie
sich in ihr Schicksal zu finden, ja mit welcher Art diese schändlichen
Fesseln zu tragen!

So lernte ich Ihr Geschlecht kennen, mein Freund, und wie rein haßte
ich's, da ich zu bemerken schien, daß selbst leidliche Männer im
Verhältnis gegen das unsrige jedem guten Gefühl zu entsagen schienen,
zu dem sie die Natur sonst noch mochte fähig gemacht haben.

Leider mußt ich auch bei solchen Gelegenheiten viel traurige
Erfahrungen über mein eigen Geschlecht machen, und wahrhaftig, als
Mädchen von sechzehn Jahren war ich klüger, als ich jetzt bin, jetzt,
da ich mich selbst kaum verstehe. Warum sind wir so klug, wenn wir
jung sind, so klug, um immer törichter zu werden!"

Der Knabe machte Lärm, Aurelie ward ungeduldig und klingelte. Ein
altes Weib kam herein, ihn wegzuholen. "Hast du noch immer Zahnweh?"
sagte Aurelie zu der Alten, die das Gesicht verbunden hatte. "Fast
unleidliches", versetzte diese mit dumpfer Stimme, hob den Knaben auf,
der gerne mitzugehen schien, und brachte ihn weg.

Kaum war das Kind beiseite, als Aurelie bitterlich zu weinen anfing.
"Ich kann nichts als jammern und klagen", rief sie aus, "und ich
schäme mich, wie ein armer Wurm vor Ihnen zu liegen. Meine
Besonnenheit ist schon weg, und ich kann nicht mehr erzählen." Sie


 


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