Wilhelm Meisters Lehrjahre--Buch 4
by
Johann Wolfgang von Goethe

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stockte und schwieg. Ihr Freund, der nichts Allgemeines sagen wollte
und nichts Besonderes zu sagen wußte, drückte ihre Hand und sah sie
eine Zeitlang an. Endlich nahm er in der Verlegenheit ein Buch auf,
das er vor sich auf dem Tischchen liegen fand; es waren Shakespeares
Werke und "Hamlet" aufgeschlagen.

Serlo, der eben zur Tür hereinkam, nach dem Befinden seiner Schwester
fragte, schaute in das Buch, das unser Freund in der Hand hielt, und
rief aus: "Find ich Sie wieder über Ihrem "Hamlet"? Eben recht! Es
sind mir gar manche Zweifel aufgestoßen, die das kanonische Ansehn,
das Sie dem Stücke so gerne geben möchten, sehr zu vermindern scheinen.
Haben doch die Engländer selbst bekannt, daß das Hauptinteresse sich
mit dem dritten Akt schlösse, daß die zwei letzten Akte nur kümmerlich
das Ganze zusammenhielten; und es ist doch wahr, das Stück will gegen
das Ende weder gehen noch rücken."

"Es ist sehr möglich", sagte Wilhelm, "daß einige Glieder einer Nation,
die so viel Meisterstücke aufzuweisen hat, durch Vorurteile und
Beschränktheit auf falsche Urteile geleitet werden; aber das kann uns
nicht hindern, mit eignen Augen zu sehen und gerecht zu sein. Ich bin
weit entfernt, den Plan dieses Stücks zu tadeln, ich glaube vielmehr,
daß kein größerer ersonnen worden sei; ja, er ist nicht ersonnen, es
ist so."

"Wie wollen Sie das auslegen?" fragte Serlo.

"Ich will nichts auslegen", versetzte Wilhelm, "ich will Ihnen nur
vorstellen, was ich mir denke."

Aurelie hob sich von ihrem Kissen auf, stützte sich auf ihre Hand und
sah unsern Freund an, der mit der größten Versicherung, daß er recht
habe, also zu reden fortfuhr: "Es gefällt uns so wohl, es schmeichelt
so sehr, wenn wir einen Helden sehen, der durch sich selbst handelt,
der liebt und haßt, wenn es ihm sein Herz gebietet, der unternimmt und
ausführt, alle Hindernisse abwendet und zu einem großen Zwecke gelangt.
Geschichtschreiber und Dichter möchten uns gerne überreden, daß ein
so stolzes Los dem Menschen fallen könne. Hier werden wir anders
belehrt; der Held hat keinen Plan, aber das Stück ist planvoll. Hier
wird nicht etwa nach einer starr und eigensinnig durchgeführten Idee
von Rache ein Bösewicht bestraft, nein, es geschieht eine ungeheure
Tat, sie wälzt sich in ihren Folgen fort, reißt Unschuldige mit; der
Verbrecher scheint dem Abgrunde, der ihm bestimmt ist, ausweichen zu
wollen und stürzt hinein, eben da, wo er seinen Weg glücklich
auszulaufen gedenkt. Denn das ist die Eigenschaft der Greueltat, daß
sie auch Böses über den Unschuldigen, wie der guten Handlung, daß sie
viele Vorteile auch über den Unverdienten ausbreitet, ohne daß der
Urheber von beiden oft weder bestraft noch belohnt wird. Hier in
unserm Stücke wie wunderbar! Das Fegefeuer sendet seinen Geist und
fordert Rache, aber vergebens. Alle Umstände kommen zusammen und
treiben die Rache, vergebens! Weder Irdischen noch Unterirdischen
kann gelingen, was dem Schicksal allein vorbehalten ist. Die
Gerichtsstunde kommt. Der Böse fällt mit dem Guten. Ein Geschlecht
wird weggemäht, und das andere sproßt auf."

Nach einer Pause, in der sie einander ansahen, nahm Serlo das Wort:
"Sie machen der Vorsehung kein sonderlich Kompliment, indem Sie den
Dichter erheben, und dann scheinen Sie mir wieder zu Ehren Ihres
Dichters, wie andere zu Ehren der Vorsehung, ihm Endzweck und Plane
unterzuschieben, an die er nicht gedacht hat."




IV. Buch, 16. Kapitel




Sechzehntes Kapitel

"Lassen Sie mich", sagte Aurelie, "nun auch eine Frage tun. Ich habe
Opheliens Rolle wieder angesehen, ich bin zufrieden damit und getraue
mir, sie unter gewissen Umständen zu spielen. Aber sagen Sie mir,
hätte der Dichter seiner Wahnsinnigen nicht andere Liedchen unterlegen
sollen? Könnte man nicht Fragmente aus melancholischen Balladen
wählen? Was sollen Zweideutigkeiten und lüsterne Albernheiten in dem
Munde dieses edlen Mädchens?"

"Beste Freundin", versetzte Wilhelm, "ich kann auch hier nicht ein
Jota nachgeben, Auch in diesen Sonderbarkeiten, auch in dieser
anscheinenden Unschicklichkeit liegt ein großer Sinn. Wissen wir doch
gleich zu Anfange des Stücks, womit das Gemüt des guten Kindes
beschäftigt ist. Stille lebte sie vor sich hin, aber kaum verbarg sie
ihre Sehnsucht, ihre Wünsche. Heimlich klangen die Töne der
Lüsternheit in ihrer Seele, und wie oft mag sie versucht haben, gleich
einer unvorsichtigen Wärterin, ihre Sinnlichkeit zur Ruhe zu singen
mit Liedchen, die sie nur mehr wachhalten mußten. Zuletzt, da ihr
jede Gewalt über sich selbst entrissen ist, da ihr Herz auf der Zunge
schwebt, wird diese Zunge ihre Verräterin, und in der Unschuld des
Wahnsinns ergötzt sie sich vor König und Königin an dem Nachklange
ihrer geliebten losen Lieder: vom Mädchen, das gewonnen ward; vom
Mädchen, das zum Knaben schleicht, und so weiter."

Er hatte noch nicht ausgeredet, als auf einmal eine wunderbare Szene
vor seinen Augen entstand, die er sich auf keine Weise erklären konnte.


Serlo war einigemal in der Stube auf und ab gegangen, ohne daß er
irgendeine Absicht merken ließ. Auf einmal trat er an Aureliens
Putztisch, griff schnell nach etwas, das darauf lag, und eilte mit
seiner Beute der Türe zu. Aurelie bemerkte kaum seine Handlung, als
sie auffuhr, sich ihm in den Weg warf, ihn mit unglaublicher
Leidenschaft angriff und geschickt genug war, ein Ende des geraubten
Gegenstandes zu fassen. Sie rangen und balgten sich sehr hartnäckig,
drehten und wanden sich sehr lebhaft miteinander herum; er lachte, sie
ereiferte sich, und als Wilhelm hinzueilte, sie auseinanderzubringen
und zu besänftigen, sah er auf einmal Aurelien mit einem bloßen Dolch
in der Hand auf die Seite springen, indem Serlo die Scheide, die ihm
zurückgeblieben war, verdrießlich auf den Boden warf. Wilhelm trat
erstaunt zurück, und seine stumme Verwunderung schien nach der Ursache
zu fragen, warum ein so sonderbarer Streit über einen so wunderbaren
Hausrat habe unter ihnen entstehen können.

"Sie sollen", sprach Serlo, "Schiedsrichter zwischen uns beiden sein.
Was hat sie mit dem scharfen Stahle zu tun? Lassen Sie sich ihn
zeigen. Dieser Dolch ziemt keiner Schauspielerin; spitz und scharf
wie Nadel und Messer! Zu was die Posse? Heftig, wie sie ist, tut sie
sich noch einmal von ungefähr ein Leides. Ich habe einen innerlichen
Haß gegen solche Sonderbarkeiten: ein ernstlicher Gedanke dieser Art
ist toll, und ein so gefährliches Spielwerk ist abgeschmackt."

"Ich habe ihn wieder!" rief Aurelie, indem sie die blanke Klinge in
die Höhe hielt; "ich will meinen treuen Freund nun besser verwahren.
Verzeih mir", rief sie aus, indem sie den Stahl küßte, "daß ich dich
so vernachlässigt habe!"

Serlo schien im Ernste böse zu werden. "Nimm es, wie du willst,
Bruder", fuhr sie fort; "kannst du denn wissen, ob mir nicht etwa
unter dieser Form ein köstlicher Talisman beschert ist; ob ich nicht
Hülfe und Rat zur schlimmsten Zeit bei ihm finde; muß denn alles
schädlich sein, was gefährlich aussieht?"

"Dergleichen Reden, in denen kein Sinn ist, können mich toll machen!"
sagte Serlo und verließ mit heimlichem Grimme das Zimmer. Aurelie
verwahrte den Dolch sorgfältig in der Scheide und steckte ihn zu sich.
"Lassen Sie uns das Gespräch fortsetzen, das der unglückliche Bruder
gestört hat", fiel sie ein, als Wilhelm einige Fragen über den
sonderbaren Streit vorbrachte.

"Ich muß Ihre Schilderung Opheliens wohl gelten lassen", fuhr sie fort,
"ich will die Absicht des Dichters nicht verkennen; nur kann ich sie
mehr bedauern als mit ihr empfinden, Nun aber erlauben Sie mir eine
Betrachtung, zu der Sie mir in der kurzen Zeit oft Gelegenheit gegeben
haben. Mit Bewunderung bemerke ich an Ihnen den tiefen und richtigen
Blick, mit dem Sie Dichtung und besonders dramatische Dichtung
beurteilen; die tiefsten Abgründe der Erfindung sind Ihnen nicht
verborgen, und die feinsten Züge der Ausführung sind Ihnen bemerkbar.
Ohne die Gegenstände jemals in der Natur erblickt zu haben, erkennen
Sie die Wahrheit im Bilde; es scheint eine Vorempfindung der ganzen
Welt in Ihnen zu liegen, welche durch die harmonische Berührung der
Dichtkunst erregt und entwickelt wird. Denn wahrhaftig", fuhr sie
fort, "von außen kommt nichts in Sie hinein; ich habe nicht leicht
jemanden gesehen, der die Menschen, mit denen er lebt, so wenig kennt,
so von Grund aus verkennt wie Sie. Erlauben Sie mir, es zu sagen:
wenn man Sie Ihren Shakespeare erklären hört, glaubt man, Sie kämen
eben aus dem Rate der Götter und hätten zugehört, wie man sich
daselbst beredet, Menschen zu bilden; wenn Sie dagegen mit Leuten
umgehen, seh ich in Ihnen gleichsam das erste, groß geborne Kind der
Schöpfung, das mit sonderlicher Verwunderung und erbaulicher
Gutmütigkeit Löwen und Affen, Schafe und Elefanten anstaunt und sie
treuherzig als seinesgleichen anspricht, weil sie eben auch da sind
und sich bewegen."

"Die Ahnung meines schülerhaften Wesens, werte Freundin", versetzte er,
"ist mir öfters lästig, und ich werde Ihnen danken, wenn Sie mir über
die Welt zu mehrerer Klarheit verhelfen wollen. Ich habe von Jugend
auf die Augen meines Geistes mehr nach innen als nach außen gerichtet,
und da ist es sehr natürlich, daß ich den Menschen bis auf einen
gewissen Grad habe kennenlernen, ohne die Menschen im mindesten zu
verstehen und zu begreifen."

"Gewiß", sagte Aurelie,.ich hatte Sie anfangs in Verdacht, als wollten
Sie uns zum besten haben, da Sie von den Leuten, die Sie meinem Bruder
zugeschickt haben, so manches Gute sagten, wenn ich Ihre Briefe mit
den Verdiensten dieser Menschen zusammenhielt."

Die Bemerkung Aureliens, so wahr sie sein mochte und so gern ihr
Freund diesen Mangel bei sich gestand, führte doch etwas Drückendes,
ja sogar Beleidigendes mit sich, daß er still ward und sich
zusammennahm, teils um keine Empfindlichkeit merken zu lassen, teils
in seinem Busen nach der Wahrheit dieses Vorwurfs zu forschen.

"Sie dürfen nicht darüber betreten sein", fuhr Aurelie fort, "zum
Lichte des Verstandes können wir immer gelangen; aber die Fülle des
Herzens kann uns niemand geben. Sind Sie zum Künstler bestimmt, so
können Sie diese Dunkelheit und Unschuld nicht lange genug bewahren;
sie ist die schöne Hülle über der jungen Knospe; Unglücks genug, wenn
wir zu früh herausgetrieben werden. Gewiß, es ist gut, wenn wir die
nicht immer kennen, für die wir arbeiten.

Oh! ich war auch einmal in diesem glücklichen Zustande, als ich mit
dem höchsten Begriff von mir selbst und meiner Nation die Bühne betrat.
Was waren die Deutschen nicht in meiner Einbildung, was konnten sie
nicht sein! Zu dieser Nation sprach ich, über die mich ein kleines
Gerüst erhob, von welcher mich eine Reihe Lampen trennte, deren Glanz
und Dampf mich hinderte, die Gegenstände vor mir genau zu
unterscheiden. Wie willkommen war mir der Klang des Beifalls, der aus
der Menge herauftönte; wie dankbar nahm ich das Geschenk an, das mir
einstimmig von so vielen Händen dargebracht wurde! Lange wiegte ich
mich so hin; wie ich wirkte, wirkte die Menge wieder auf mich zurück;
ich war mit meinem Publikum in dem besten Vernehmen; ich glaubte eine
vollkommene Harmonie zu fühlen und jederzeit die Edelsten und Besten
der Nation vor mir zu sehen.

Unglücklicherweise war es nicht die Schauspielerin allein, deren
Naturell und Kunst die Theaterfreunde interessierte, sie machten auch
Ansprüche an das junge, lebhafte Mädchen. Sie gaben mir nicht
undeutlich zu verstehen, daß meine Pflicht sei, die Empfindungen, die
ich in ihnen rege gemacht, auch persönlich mit ihnen zu teilen.
Leider war das nicht meine Sache; ich wünschte ihre Gemüter zu erheben,
aber an das, was sie ihr Herz nannten, hatte ich nicht den mindesten
Anspruch; und nun wurden mir alle Stände, Alter und Charaktere einer
um den andern zur Last, und nichts war mir verdrießlicher, als daß ich
mich nicht wie ein anderes ehrliches Mädchen in mein Zimmer
verschließen und so mir manche Mühe ersparen konnte.

Die Männer zeigten sich meist, wie ich sie bei meiner Tante zu sehen
gewohnt war, und sie würden mir auch diesmal nur wieder Abscheu erregt
haben, wenn mich nicht ihre Eigenheiten und Albernheiten unterhalten
hätten. Da ich nicht vermeiden konnte, sie bald auf dem Theater, bald
an öffentlichen Orten, bald zu Hause zu sehen, nahm ich mir vor, sie
alle auszulauern, und mein Bruder half mir wacker dazu. Und wenn Sie
denken, daß vom beweglichen Ladendiener und dem eingebildeten
Kaufmannssohn bis zum gewandten, abwiegenden Weltmann, dem kühnen
Soldaten und dem raschen Prinzen alle nach und nach bei mir
vorbeigegangen sind und jeder nach seiner Art seinen Roman anzuknüpfen
gedachte, so werden Sie mir verzeihen, wenn ich mir einbildete, mit
meiner Nation ziemlich bekannt zu sein.

Den phantastisch aufgestutzten Studenten, den demütig-stolz verlegenen
Gelehrten, den schwankfüßigen, genügsamen Domherrn, den steifen,
aufmerksamen Geschäftsmann, den derben Landbaron, den freundlich
glatt-platten Hofmann, den jungen, aus der Bahn schreitenden
Geistlichen, den gelassenen sowie den schnellen und tätig
spekulierenden Kaufmann, alle habe ich in Bewegung gesehen, und beim
Himmel! wenige fanden sich darunter, die mir nur ein gemeines
Interesse einzuflößen imstande gewesen wären; vielmehr war es mir
äußerst verdrießlich, den Beifall der Toren im einzelnen mit
Beschwerlichkeit und Langerweile einzukassieren, der mir im ganzen so
wohl behagt hatte, den ich mir im großen so gerne zueignete.

Wenn ich über mein Spiel ein vernünftiges Kompliment erwartete, wenn
ich hoffte, sie sollten einen Autor loben, den ich hochschätzte, so
machten sie eine alberne Anmerkung über die andere und nannten ein
abgeschmacktes Stück, in welchem sie wünschten mich spielen zu sehen.
Wenn ich in der Gesellschaft herumhorchte, ob nicht etwa ein edler,
geistreicher, witziger Zug nachklänge und zur rechten Zeit wieder zum
Vorschein käme, konnte ich selten eine Spur vernehmen. Ein Fehler,
der vorgekommen war, wenn ein Schauspieler sich versprach oder
irgendeinen Provinzialism hören ließ, das waren die wichtigen Punkte,
an denen sie sich festhielten, von denen sie nicht loskommen konnten.
Ich wußte zuletzt nicht, wohin ich mich wenden sollte; sie dünkten
sich zu klug, sich unterhalten zu lassen, und sie glaubten mich
wundersam zu unterhalten, wenn sie an mir herumtätschelten. Ich fing
an, sie alle von Herzen zu verachten, und es war mir eben, als wenn
die ganze Nation sich recht vorsätzlich bei mir durch ihre Abgesandten
habe prostituieren wollen. Sie kam mir im ganzen so linkisch vor, so
übel erzogen, so schlecht unterrichtet, so leer von gefälligem Wesen,
so geschmacklos. Oft rief ich aus: "Es kann doch kein Deutscher einen
Schuh zuschnallen, der es nicht von einer fremden Nation gelernt hat!"

Sie sehen, wie verblendet, wie hypochondrisch ungerecht ich war, und
je länger es währte, desto mehr nahm meine Krankheit zu. Ich hätte
mich umbringen können; allein ich verfiel auf ein ander Extrem: ich
verheiratete mich, oder vielmehr ich ließ mich verheiraten. Mein
Bruder, der das Theater übernommen hatte, wünschte sehr, einen
Gehülfen zu haben. Seine Wahl fiel auf einen jungen Mann, der mir
nicht zuwider war, dem alles mangelte, was mein Bruder besaß: Genie,
Leben, Geist und rasches Wesen; an dem sich aber auch alles fand, was
jenem abging: Liebe zur Ordnung, Fleiß, eine köstliche Gabe,
hauszuhalten und mit Gelde umzugehen.

Er ist mein Mann geworden, ohne daß ich weiß, wie; wir haben zusammen
gelebt, ohne daß ich recht weiß, warum. Genug, unsre Sachen gingen
gut. Wir nahmen viel ein, davon war die Tätigkeit meines Bruders
Ursache; wir kamen gut aus, und das war das Verdienst meines Mannes.
Ich dachte nicht mehr an Welt und Nation. Mit der Welt hatte ich
nichts zu teilen, und den Begriff von Nation hatte ich verloren. Wenn
ich auftrat, tat ich's, um zu leben; ich öffnete den Mund nur, weil
ich nicht schweigen durfte, weil ich doch herausgekommen war, um zu
reden.

Doch, daß ich es nicht zu arg mache, eigentlich hatte ich mich ganz in
die Absicht meines Bruders ergeben; ihm war um Beifall und Geld zu tun:
denn, unter uns, er hört sich gerne loben und braucht viel. Ich
spielte nun nicht mehr nach meinem Gefühl, nach meiner überzeugung,
sondern wie er mich anwies, und wenn ich es ihm zu Danke gemacht hatte,
war ich zufrieden. Er richtete sich nach allen Schwächen des
Publikums; es ging Geld ein, er konnte nach seiner Willkür leben, und
wir hatten gute Tage mit ihm.

Ich war indessen in einen handwerksmäßigen Schlendrian gefallen. Ich
zog meine Tage ohne Freude und Anteil hin, meine Ehe war kinderlos und
dauerte nur kurze Zeit. Mein Mann ward krank, seine Kräfte nahmen
sichtbar ab, die Sorge für ihn unterbrach meine allgemeine
Gleichgültigkeit. In diesen Tagen machte ich eine Bekanntschaft, mit
der ein neues Leben für mich anfing, ein neues und schnelleres, denn
es wird bald zu Ende sein."

Sie schwieg eine Zeitlang stille, dann fuhr sie fort: "Auf einmal
stockt meine geschwätzige Laune, und ich getraue mir den Mund nicht
weiter aufzutun. Lassen Sie mich ein wenig ausruhen; Sie sollen nicht
weggehen, ohne ausführlich all mein Unglück zu wissen. Rufen Sie doch
indessen Mignon herein und hören, was sie will."

Das Kind war während Aureliens Erzählung einigemal im Zimmer gewesen.
Da man bei seinem Eintritt leiser sprach, war es wieder weggeschlichen,
saß auf dem Saale still und wartete. Als man sie wieder hereinkommen
hieß, brachte sie ein Buch mit, das man bald an Form und Einband für
einen kleinen geographischen Atlas erkannte. Sie hatte bei dem
Pfarrer unterwegs mit großer Verwunderung die ersten Landkarten
gesehen, ihn viel darüber gefragt und sich, soweit es gehen wollte,
unterrichtet. Ihr Verlangen, etwas zu lernen, schien durch diese neue
Kenntnis noch viel lebhafter zu werden. Sie bat Wilhelmen inständig,
ihr das Buch zu kaufen. Sie habe dem Bildermann ihre großen silbernen
Schnallen dafür eingesetzt und wolle sie, weil es heute abend so spät
geworden, morgen früh wieder einlösen. Es ward ihr bewilligt, und sie
fing nun an, dasjenige, was sie wußte, teils herzusagen, teils nach
ihrer Art die wunderlichsten Fragen zu tun. Man konnte auch hier
wieder bemerken, daß bei einer großen Anstrengung sie nur schwer und
mühsam begriff. So war auch ihre Handschrift, mit der sie sich viele
Mühe gab. Sie sprach noch immer sehr gebrochen Deutsch, und nur wenn
sie den Mund zum Singen auftat, wenn sie die Zither rührte, schien sie
sich des einzigen Organs zu bedienen, wodurch sie ihr Innerstes
aufschließen und mitteilen konnte.

Wir müssen, da wir gegenwärtig von ihr sprechen, auch der Verlegenheit
gedenken, in die sie seit einiger Zeit unsern Freund öfters versetzte.
Wenn sie kam oder ging, guten Morgen oder gute Nacht sagte, schloß
sie ihn so fest in ihre Arme und küßte ihn mit solcher Inbrunst, daß
ihm die Heftigkeit dieser aufkeimenden Natur oft angst und bange
machte. Die zuckende Lebhaftigkeit schien sich in ihrem Betragen
täglich zu vermehren, und ihr ganzes Wesen bewegte sich in einer
rastlosen Stille. Sie konnte nicht sein, ohne einen Bindfaden in den
Händen zu drehen, ein Tuch zu kneten, Papier oder Hölzchen zu kauen.
Jedes ihrer Spiele schien nur eine innere heftige Erschütterung
abzuleiten. Das einzige, was ihr einige Heiterkeit zu geben schien,
war die Nähe des kleinen Felix, mit dem sie sich sehr artig abzugeben
wußte.

Aurelie, die nach einiger Ruhe gestimmt war, sich mit ihrem Freunde
über einen Gegenstand, der ihr so sehr am Herzen lag, endlich zu
erklären, ward über die Beharrlichkeit der Kleinen diesmal ungeduldig
und gab ihr zu verstehen, daß sie sich wegbegeben sollte, und man
mußte sie endlich, da alles nicht helfen wollte, ausdrücklich und
wider ihren Willen fortschicken.

"Jetzt oder niemals", sagte Aurelie, "muß ich Ihnen den Rest meiner
Geschichte erzählen. Wäre mein zärtlich geliebter, ungerechter Freund
nur wenige Meilen von hier, ich würde sagen: "Setzen Sie sich zu
Pferde, suchen Sie auf irgendeine Weise Bekanntschaft mit ihm, und
wenn Sie zurückkehren, so haben Sie mit gewiß verziehen und bedauern
mich von Herzen." Jetzt kann ich Ihnen nur mit Worten sagen, wie
liebenswürdig er war und wie sehr ich ihn liebte.

Eben zu der kritischen Zeit, da ich für die Tage meines Mannes besorgt
sein mußte, lernt ich ihn kennen. Er war eben aus Amerika
zurückgekommen, wo er in Gesellschaft einiger Franzosen mit vieler
Distinktion unter den Fahnen der Vereinigten Staaten gedient hatte.

Er begegnete mir mit einem gelaßnen Anstande, mit einer offnen
Gutmütigkeit, sprach über mich selbst, meine Lage, mein Spiel wie ein
alter Bekannter, so teilnehmend und so deutlich, daß ich mich zum
erstenmal freuen konnte, meine Existenz in einem andern Wesen so klar
wiederzuerkennen. Seine Urteile waren richtig, ohne absprechend,
treffend, ohne lieblos zu sein. Er zeigte keine Härte, und sein
Mutwille war zugleich gefällig. Er schien des guten Glücks bei Frauen
gewohnt zu sein, das machte mich aufmerksam; er war keinesweges
schmeichelnd und andringend, das machte mich sorglos.

In der Stadt ging er mit wenigen um, war meist zu Pferde, besuchte
seine vielen Bekannten in der Gegend und besorgte die Geschäfte seines
Hauses. Kam er zurück, so stieg er bei mir ab, behandelte meinen
immer kränkern Mann mit warmer Sorge, schaffte dem Leidenden durch
einen geschickten Arzt Linderung, und wie er an allem, was mich betraf,
teilnahm, ließ er mich auch an seinem Schicksale teilnehmen. Er
erzählte mir die Geschichte seiner Kampagne, seiner unüberwindlichen
Neigung zum Soldatenstande, seine Familienverhältnisse; er vertraute
mir seine gegenwärtigen Beschäftigungen. Genug, er hatte nichts
Geheimes vor mir; er entwickelte mir sein Innerstes, ließ mich in die
verborgensten Winkel seiner Seele sehen; ich lernte seine Fähigkeiten,
seine Leidenschaften kennen. Es war das erste Mal in meinem Leben,
daß ich eines herzlichen, geistreichen Umgangs genoß. Ich war von ihm
angezogen, von ihm hingerissen, eh ich über mich selbst Betrachtungen
anstellen konnte.

Inzwischen verlor ich meinen Mann, ungefähr wie ich ihn genommen hatte.
Die Last der theatralischen Geschäfte fiel nun ganz auf mich. Mein
Bruder, unverbesserlich auf dem Theater, war in der Haushaltung
niemals nütze; ich besorgte alles und studierte dabei meine Rollen
fleißiger als jemals. Ich spielte wieder wie vor alters, ja mit ganz
anderer Kraft und neuem Leben, zwar durch ihn und um seinetwillen,
doch nicht immer gelang es mir zum besten, wenn ich meinen edlen
Freund im Schauspiel wußte; aber einigemal behorchte er mich, und wie
angenehm mich sein unvermuteter Beifall überraschte, können Sie denken.


Gewiß, ich bin ein seltsames Geschöpf. Bei jeder Rolle, die ich
spielte, war es mir eigentlich nur immer zumute, als wenn ich ihn
lobte und zu seinen Ehren spräche; denn das war die Stimmung meines
Herzens, die Worte mochten übrigens sein, wie sie wollten. Wußt ich
ihn unter den Zuhörern, so getraute ich mich nicht, mit der ganzen
Gewalt zu sprechen, eben als wenn ich ihm meine Liebe, mein Lob nicht
geradezu ins Gesicht aufdringen wollte; war er abwesend, dann hatte
ich freies Spiel, ich tat mein Bestes mit einer gewissen Ruhe, mit
einer unbeschreiblichen Zufriedenheit. Der Beifall freute mich wieder,
und wenn ich dem Publikum Vergnügen machte, hätte ich immer zugleich
hinunterrufen mögen: "Das seid ihr ihm schuldig!"

Ja, mir war wie durch ein Wunder das Verhältnis zum Publikum, zur
ganzen Nation verändert. Sie erschien mir auf einmal wieder in dem
vorteilhaftesten Lichte, und ich erstaunte recht über meine bisherige
Verblendung.

"Wie unverständig", sagt ich oft zu mir selbst, "war es, als du
ehemals auf eine Nation schaltest, eben weil es eine Nation ist.
Müssen denn, können denn einzelne Menschen so interessant sein?
Keinesweges! Es fragt sich, ob unter der großen Masse eine Menge von
Anlagen, Kräften und Fähigkeiten verteilt sei, die durch günstige
Umstände entwickelt, durch vorzügliche Menschen zu einem gemeinsamen
Endzwecke geleitet werden können." Ich freute mich nun, so wenig
hervorstechende Originalität unter meinen Landsleuten zu finden; ich
freute mich, daß sie eine Richtung von außen anzunehmen nicht
verschmähten; ich freute mich, einen Anführer gefunden zu haben.

Lothar--lassen Sie mich meinen Freund mit seinem geliebten Vornamen
nennen--hatte mir immer die Deutschen von der Seite der Tapferkeit
vorgestellt und mir gezeigt, daß keine bravere Nation in der Welt sei,
wenn sie recht geführt werde, und ich schämte mich, an die erste
Eigenschaft eines Volks niemals gedacht zu haben. Ihm war die
Geschichte bekannt, und mit den meisten verdienstvollen Männern seines
Zeitalters stand er in Verhältnissen. So jung er war, hatte er ein
Auge auf die hervorkeimende hoffnungsvolle Jugend seines Vaterlandes,
auf die stillen Arbeiten in so vielen Fächern beschäftigter und
tätiger Männer. Er ließ mich einen überblick über Deutschland tun,
was es sei und was es sein könne, und ich schämte mich, eine Nation
nach der verworrenen Menge beurteilt zu haben, die sich in eine
Theatergarderobe drängen mag. Er machte mir's zur Pflicht, auch in
meinem Fache wahr, geistreich und belebend zu sein. Nun schien ich
mir selbst inspiriert, sooft ich auf das Theater trat. Mittelmäßige
Stellen wurden zu Gold in meinem Munde, und hätte mir damals ein
Dichter zweckmäßig beigestanden, ich hätte die wunderbarsten Wirkungen
hervorgebracht.

So lebte die junge Witwe monatelang fort. Er konnte mich nicht
entbehren, und ich war höchst unglücklich, wenn er außenblieb. Er
zeigte mir die Briefe seiner Verwandten, seiner vortrefflichen
Schwester. Er nahm an den kleinsten Umständen meiner Verhältnisse
teil; inniger, vollkommener ist keine Einigkeit zu denken. Der Name
der Liebe ward nicht genannt. Er ging und kam, kam und ging--und nun,
mein Freund, ist es hohe Zeit, daß Sie auch gehen."




IV. Buch, 17. Kapitel




Siebzehntes Kapitel

Wilhelm konnte nun nicht länger den Besuch bei seinen Handelsfreunden
aufschieben. Er ging nicht ohne Verlegenheit dahin; denn er wußte,
daß er Briefe von den Seinigen daselbst antreffen werde. Er fürchtete
sich vor den Vorwürfen, die sie enthalten mußten; wahrscheinlich hatte
man auch dem Handelshause Nachricht von der Verlegenheit gegeben, in
der man sich seinetwegen befand. Er scheute sich nach so vielen
ritterlichen Abenteuern vor dem schülerhaften Ansehen, in dem er
erscheinen würde, und nahm sich vor, recht trotzig zu tun und auf
diese Weise seine Verlegenheit zu verbergen.

Allein zu seiner großen Verwunderung und Zufriedenheit ging alles sehr
gut und leidlich ab. In dem großen, lebhaften und beschäftigten
Comptoir hatte man kaum Zeit, seine Briefe aufzusuchen; seines längern
Außenbleibens ward nur im Vorbeigehn gedacht. Und als er die Briefe
seines Vaters und seines Freundes Werner eröffnete, fand er sie
sämtlich sehr leidlichen Inhalts. Der Alte, in Hoffnung eines
weitläufigen Journals, dessen Führung er dem Sohne beim Abschiede
sorgfältig empfohlen und wozu er ihm ein tabellarisches Schema
mitgegeben, schien über das Stillschweigen der ersten Zeit ziemlich
beruhigt, so wie er sich nur über das Rätselhafte des ersten und
einzigen, vom Schlosse des Grafen noch abgesandten Briefes beschwerte.
Werner scherzte nur auf seine Art, erzählte lustige Stadtgeschichten
und bat sich Nachricht von Freunden und Bekannten aus, die Wilhelm
nunmehr in der großen Handelsstadt häufig würde kennenlernen. Unser
Freund, der außerordentlich erfreut war, um einen so wohlfeilen Preis
loszukommen, antwortete sogleich in einigen sehr muntern Briefen und
versprach dem Vater ein ausführliches Reisejournal mit allen
verlangten geographischen, statistischen und merkantilischen
Bemerkungen. Er hatte vieles auf der Reise gesehen und hoffte, daraus
ein leidliches Heft zusammenschreiben zu können. Er merkte nicht, daß
er beinah in ebendem Falle war, in dem er sich befand, als er, um ein
Schauspiel, das weder geschrieben, noch weniger memoriert war,
aufzuführen, Lichter angezündet und Zuschauer herbeigerufen hatte.
Als er daher wirklich anfing, an seine Komposition zu gehen, ward er
leider gewahr, daß er von Empfindungen und Gedanken, von manchen
Erfahrungen des Herzens und Geistes sprechen und erzählen konnte, nur
nicht von äußern Gegenständen, denen er, wie er nun merkte, nicht die
mindeste Aufmerksamkeit geschenkt hatte.

In dieser Verlegenheit kamen die Kenntnisse seines Freundes Laertes
ihm gut zustatten. Die Gewohnheit hatte beide jungen Leute, so
unähnlich sie sich waren, zusammen verbunden, und jener war, bei allen
seinen Fehlern, mit seinen Sonderbarkeiten wirklich ein interessanter
Mensch. Mit einer heitern, glücklichen Sinnlichkeit begabt, hätte er
alt werden können, ohne über seinen Zustand irgend nachzudenken. Nun
hatte ihm aber sein Unglück und seine Krankheit das reine Gefühl der
Jugend geraubt und ihm dagegen einen Blick auf die Vergänglichkeit,
auf das Zerstückelte unsers Daseins eröffnet. Daraus war eine
launichte, rhapsodische Art, über die Gegenstände zu denken oder
vielmehr ihre unmittelbaren Eindrücke zu äußern, entstanden. Er war
nicht gern allein, trieb sich auf allen Kaffeehäusern, an allen
Wirtstischen herum, und wenn er ja zu Hause blieb, waren
Reisebeschreibungen seine liebste, ja seine einzige Lektüre. Diese
konnte er nun, da er eine große Leihbibliothek fand, nach Wunsch
befriedigen, und bald spukte die halbe Welt in seinem guten
Gedächtnisse.

Wie leicht konnte er daher seinem Freunde Mut einsprechen, als dieser
ihm den völligen Mangel an Vorrat zu der von ihm so feierlich
versprochenen Relation entdeckte. "Da wollen wir ein Kunststück
machen", sagte jener, "das seinesgleichen nicht haben soll.

Ist nicht Deutschland von einem Ende zum andern durchreist,
durchkreuzt, durchzogen, durchkrochen und durchflogen? Und hat nicht
jeder deutsche Reisende den herrlichen Vorteil, sich seine großen oder
kleinen Ausgaben vom Publikum wiedererstatten zu lassen? Gib mir nur
deine Reiseroute, ehe du zu uns kamst: das andere weiß ich. Die
Quellen und Hülfsmittel zu deinem Werke will ich dir aufsuchen; an
Quadratmeilen, die nicht gemessen sind, und an Volksmenge, die nicht
gezählt ist, müssen wir's nicht fehlen lassen. Die Einkünfte der
Länder nehmen wir aus Taschenbüchern und Tabellen, die, wie bekannt,
die zuverlässigsten Dokumente sind. Darauf gründen wir unsre
politischen Raisonnements; an Seitenblicken auf die Regierungen soll's
nicht fehlen. Ein paar Fürsten beschreiben wir als wahre Väter des
Vaterlandes, damit man uns desto eher glaubt, wenn wir einigen andern
etwas anhängen; und wenn wir nicht geradezu durch den Wohnort einiger
berühmten Leute durchreisen, so begegnen wir ihnen in einem Wirtshause,
lassen sie uns im Vertrauen das albernste Zeug sagen. Besonders
vergessen wir nicht, eine Liebesgeschichte mit irgendeinem naiven
Mädchen auf das anmutigste einzuflechten, und es soll ein Werk geben,
das nicht allein Vater und Mutter mit Entzücken erfüllen soll, sondern
das dir auch jeder Buchhändler mit Vergnügen bezahlt."

Man schritt zum Werke, und beide Freunde hatten viel Lust an ihrer
Arbeit, indes Wilhelm abends im Schauspiel und in dem Umgange mit
Serlo und Aurelien die größte Zufriedenheit fand und seine Ideen, die
nur zu lange sich in einem engen Kreise herumgedreht hatten, täglich
weiter ausbreitete.




IV. Buch, 18. Kapitel




Achtzehntes Kapitel

Nicht ohne das größte Interesse vernahm er stückweise den Lebenslauf
Serlos: denn es war nicht die Art dieses seltnen Mannes, vertraulich
zu sein und über irgend etwas im Zusammenhange zu sprechen. Er war,
man darf sagen, auf dem Theater geboren und gesäugt. Schon als
stummes Kind mußte er durch seine bloße Gegenwart die Zuschauer rühren,
weil auch schon damals die Verfasser diese natürlichen und
unschuldigen Hülfsmittel kannten, und sein erstes "Vater" und "Mutter"
brachte in beliebten Stücken ihm schon den größten Beifall zuwege, ehe
er wußte, was das Händeklatschen bedeute. Als Amor kam er zitternd
mehr als einmal im Flugwerke herunter, entwickelte sich als Harlekin
aus dem Ei und machte als kleiner Essenkehrer schon früh die artigsten
Streiche.

Leider mußte er den Beifall, den er an glänzenden Abenden erhielt, in
den Zwischenzeiten sehr teuer bezahlen. Sein Vater, überzeugt, daß
nur durch Schläge die Aufmerksamkeit der Kinder erregt und
festgehalten werden könne, prügelte ihn beim Einstudieren einer jeden
Rolle zu abgemessenen Zeiten; nicht, weil das Kind ungeschickt war,
sondern damit es sich desto gewisser und anhaltender geschickt zeigen
möge. So gab man ehemals, indem ein Grenzstein gesetzt wurde, den
umstehenden Kindern tüchtige Ohrfeigen, und die ältesten Leute
erinnern sich noch genau des Ortes und der Stelle. Er wuchs heran und
zeigte außerordentliche Fähigkeiten des Geistes und Fertigkeiten des
Körpers und dabei eine große Biegsamkeit sowohl in seiner
Vorstellungsart als in Handlungen und Gebärden. Seine Nachahmungsgabe
überstieg allen Glauben. Schon als Knabe ahmte er Personen nach, so
daß man sie zu sehen glaubte, ob sie ihm schon an Gestalt, Alter und
Wesen völlig unähnlich und untereinander verschieden waren. Dabei
fehlte es ihm nicht an der Gabe, sich in die Welt zu schicken, und
sobald er sich einigermaßen seiner Kräfte bewußt war, fand er nichts
natürlicher, als seinem Vater zu entfliehen, der, wie die Vernunft des
Knaben zunahm und seine Geschicklichkeit sich vermehrte, ihnen noch
durch harte Begegnung nachzuhelfen für nötig fand.

Wie glücklich fühlte sich der lose Knabe nun in der freien Welt, da
ihm seine Eulenspiegelspossen überall eine gute Aufnahme verschafften.
Sein guter Stern führte ihn zuerst in der Fastnachtszeit in ein
Kloster, wo er, weil eben der Pater, der die Umgänge zu besorgen und
durch geistliche Maskeraden die christliche Gemeinde zu ergötzen hatte,
gestorben war, als ein hülfreicher Schutzengel auftrat. Auch
übernahm er sogleich die Rolle Gabriels in der Verkündigung und
mißfiel dem hübschen Mädchen nicht, die als Maria seinen obligeanten
Gruß mit äußerlicher Demut und innerlichem Stolze sehr zierlich
aufnahm. Er spielte darauf sukzessive in den Mysterien die
wichtigsten Rollen und wußte sich nicht wenig, da er endlich gar als
Heiland der Welt verspottet, geschlagen und ans Kreuz geheftet wurde.

Einige Kriegsknechte mochten bei dieser Gelegenheit ihre Rollen gar zu
natürlich spielen; daher er sie, um sich auf die schicklichste Weise
an ihnen zu rächen, bei Gelegenheit des jüngsten Gerichts in die
prächtigsten Kleider von Kaisern und Königen steckte und ihnen in dem
Augenblicke, da sie, mit ihren Rollen sehr wohl zufrieden, auch in dem
Himmel allen andern vorauszugehen den Schritt nahmen, unvermutet in
Teufelsgestalt begegnete und sie mit der Ofengabel, zur herzlichsten
Erbauung sämtlicher Zuschauer und Bettler, weidlich durchdrosch und
unbarmherzig zurück in die Grube stürzte, wo sie sich von einem
hervordringenden Feuer aufs übelste empfangen sahen.

Er war klug genug, einzusehen, daß die gekrönten Häupter sein freches
Unternehmen nicht wohl vermerken und selbst vor seinem privilegierten
Ankläger- und Schergenamte keinen Respekt haben würden; er machte sich
daher, noch ehe das Tausendjährige Reich anging, in aller Stille davon
und ward in einer benachbarten Stadt von einer Gesellschaft, die man
damals "Kinder der Freude" nannte, mit offnen Armen aufgenommen. Es
waren verständige, geistreiche, lebhafte Menschen, die wohl einsahen,
daß die Summe unsrer Existenz, durch Vernunft dividiert, niemals rein
aufgehe, sondern daß immer ein wunderlicher Bruch übrigbleibe. Diesen
hinderlichen und, wenn er sich in die ganze Masse verteilt,
gefährlichen Bruch suchten sie zu bestimmten Zeiten vorsätzlich
loszuwerden. Sie waren einen Tag der Woche recht ausführlich Narren
und straften an demselben wechselseitig durch allegorische
Vorstellungen, was sie während der übrigen Tage an sich und andern
Närrisches bemerkt hatten. War diese Art gleich roher als eine Folge
von Ausbildung, in welcher der sittliche Mensch sich täglich zu
bemerken, zu warnen und zu strafen pflegt, so war sie doch lustiger
und sicherer: denn indem man einen gewissen Schoßnarren nicht
verleugnete, so traktierte man ihn auch nur für das, was er war,
anstatt daß er auf dem andern Wege, durch Hülfe des Selbstbetrugs, oft
im Hause zur Herrschaft gelangt und die Vernunft zur heimlichen
Knechtschaft zwingt, die sich einbildet, ihn lange verjagt zu haben.
Die Narrenmaske ging in der Gesellschaft herum, und jedem war erlaubt,
sie an seinem Tage mit eigenen oder fremden Attributen
charakteristisch auszuzieren. In der Karnavalszeit nahm man sich die
größte Freiheit und wetteiferte mit der Bemühung der Geistlichen, das
Volk zu unterhalten und anzuziehen. Die feierlichen und allegorischen
Aufzüge von Tugenden und Lastern, Künsten und Wissenschaften,
Weltteilen und Jahrszeiten versinnlichten dem Volke eine Menge
Begriffe und gaben ihm Ideen entfernter Gegenstände, und so waren
diese Scherze nicht ohne Nutzen, da von einer andern Seite die
geistlichen Mummereien nur einen abgeschmackten Aberglauben noch mehr
befestigten.

Der junge Serlo war auch hier wieder ganz in seinem Elemente;
eigentliche Erfindungskraft hatte er nicht, dagegen aber das größte
Geschick, was er vor sich fand zu nutzen, zurechtzustellen und
scheinbar zu machen. Seine Einfälle, seine Nachahmungsgabe, ja sein
beißender Witz, den er wenigstens einen Tag in der Woche völlig frei,
selbst gegen seine Wohltäter, üben durfte, machte ihn der ganzen
Gesellschaft wert, ja unentbehrlich.

Doch trieb ihn seine Unruhe bald aus dieser vorteilhaften Lage in
andere Gegenden seines Vaterlandes, wo er wieder eine neue Schule
durchzugehen hatte. Er kam in den gebildeten, aber auch bildlosen
Teil von Deutschland, wo es zur Verehrung des Guten und Schönen zwar
nicht an Wahrheit, aber oft an Geist gebricht; er konnte mit seinen
Masken nichts mehr ausrichten; er mußte suchen, auf Herz und Gemüt zu
wirken. Nur kurze Zeit hielt er sich bei kleinen und großen
Gesellschaften auf und merkte bei dieser Gelegenheit sämtlichen
Stücken und Schauspielern ihre Eigenheiten ab. Die Monotonie, die
damals auf dem deutschen Theater herrschte, den albernen Fall und
Klang der Alexandriner, den geschraubt-platten Dialog, die Trockenheit
und Gemeinheit der unmittelbaren Sittenprediger hatte er bald gefaßt
und zugleich bemerkt, was rührte und gefiel.

Nicht eine Rolle der gangbaren Stücke, sondern die ganzen Stücke
blieben leicht in seinem Gedächtnis und zugleich der eigentümliche Ton
des Schauspielers, der sie mit Beifall vorgetragen hatte. Nun kam er
zufälligerweise auf seinen Streifereien, da ihm das Geld völlig
ausgegangen war, zu dem Einfall, allein ganze Stücke besonders auf
Edelhöfen und in Dörfern vorzustellen und sich dadurch überall
sogleich Unterhalt und Nachtquartier zu verschaffen. In jeder Schenke,
jedem Zimmer und Garten war sein Theater gleich aufgeschlagen; mit
einem schelmischen Ernst und anscheinenden Enthusiasmus wußte er die
Einbildungskraft seiner Zuschauer zu gewinnen, ihre Sinne zu täuschen
und vor ihren offenen Augen einen alten Schrank zu einer Burg und
einen Fächer zum Dolche umzuschaffen. Seine Jugendwärme ersetzte den
Mangel eines tiefen Gefühls; seine Heftigkeit schien Stärke und seine
Schmeichelei Zärtlichkeit. Diejenigen, die das Theater schon kannten,
erinnerte er an alles, was sie gesehen und gehört hatten, und in den
übrigen erregte er eine Ahnung von etwas Wunderbarem und den Wunsch,
näher damit bekannt zu werden. Was an einem Orte Wirkung tat,
verfehlte er nicht am andern zu wiederholen und hatte die herzlichste
Schadenfreude, wenn er alle Menschen auf gleiche Weise aus dem
Stegreife zum besten haben konnte.

Bei seinem lebhaften, freien und durch nichts gehinderten Geist
verbesserte er sich, indem er Rollen und Stücke oft wiederholte, sehr
geschwind. Bald rezitierte und spielte er dem Sinne gemäßer als die
Muster, die er anfangs nur nachgeahmt hatte. Auf diesem Wege kam er
nach und nach dazu, natürlich zu spielen und doch immer verstellt zu
sein. Er schien hingerissen und lauerte auf den Effekt, und sein
größter Stolz war, die Menschen stufenweise in Bewegung zu setzen.
Selbst das tolle Handwerk, das er trieb, nötigte ihn bald, mit einer
gewissen Mäßigung zu verfahren, und so lernte er, teils gezwungen,
teils aus Instinkt, das, wovon so wenig Schauspieler einen Begriff zu
haben scheinen: mit Organ und Gebärden ökonomisch zu sein.

So wußte er selbst rohe und unfreundliche Menschen zu bändigen und für
sich zu interessieren. Da er überall mit Nahrung und Obdach zufrieden
war, jedes Geschenk dankbar annahm, das man ihm reichte, ja manchmal
gar das Geld, wenn er dessen nach seiner Meinung genug hatte,
ausschlug, so schickte man ihn mit Empfehlungsschreiben einander zu,
und so wanderte er eine ganze Zeit von einem Edelhofe zum andern, wo
er manches Vergnügen erregte, manches genoß und nicht ohne die
angenehmsten und artigsten Abenteuer blieb.

Bei der innerlichen Kälte seines Gemütes liebte er eigentlich niemand;
bei der Klarheit seines Blicks konnte er niemand achten, denn er sah
nur immer die äußern Eigenheiten der Menschen und trug sie in seine
mimische Sammlung ein. Dabei aber war seine Selbstigkeit äußerst
beleidigt, wenn er nicht jedem gefiel und wenn er nicht überall
Beifall erregte. Wie dieser zu erlangen sei, darauf hatte er nach und
nach so genau achtgegeben und hatte seinen Sinn so geschärft, daß er
nicht allein bei seinen Darstellungen, sondern auch im gemeinen Leben
nicht mehr anders als schmeicheln konnte. Und so arbeitete seine
Gemütsart, sein Talent und seine Lebensart dergestalt wechselsweise
gegeneinander, daß er sich unvermerkt zu einem vollkommnen
Schauspieler ausgebildet sah. Ja, durch eine seltsam scheinende, aber
ganz natürliche Wirkung und Gegenwirkung stieg durch Einsicht und
übung seine Rezitation, Deklamation und sein Gebärdenspiel zu einer
hohen Stufe von Wahrheit, Freiheit und Offenheit, indem er im Leben
und Umgang immer heimlicher, künstlicher, ja verstellt und ängstlich
zu werden schien.

Von seinen Schicksalen und Abenteuern sprechen wir vielleicht an einem
andern Orte und bemerken hier nur soviel: daß er in spätern Zeiten, da
er schon ein gemachter Mann, im Besitz von entschiedenem Namen und in
einer sehr guten, obgleich nicht festen Lage war, sich angewöhnt hatte,
im Gespräch auf eine feine Weise teils ironisch, teils spöttisch den
Sophisten zu machen und dadurch fast jede ernsthafte Unterhaltung zu
zerstören. Besonders gebrauchte er diese Manier gegen Wilhelm, sobald
dieser, wie es ihm oft begegnete, ein allgemeines theoretisches
Gespräch anzuknüpfen Lust hatte. Dessenungeachtet waren sie sehr gern
beisammen, indem durch ihre beiderseitige Denkart die Unterhaltung
lebhaft werden mußte. Wilhelm wünschte alles aus den Begriffen, die
er gefaßt hatte, zu entwickeln und wollte die Kunst in einem
Zusammenhange behandelt haben. Er wollte ausgesprochene Regeln
festsetzen, bestimmen, was recht, schön und gut sei und was Beifall
verdiene; genug, er behandelte alles auf das ernstlichste. Serlo
hingegen nahm die Sache sehr leicht, und indem er niemals direkt auf
eine Frage antwortete, wußte er durch eine Geschichte oder einen
Schwank die artigste und vergnüglichste Erläuterung beizubringen und
die Gesellschaft zu unterrichten, indem er sie erheiterte.




IV. Buch, 19. Kapitel




Neunzehntes Kapitel

Indem nun Wilhelm auf diese Weise sehr angenehme Stunden zubrachte,
befanden sich Melina und die übrigen in einer desto verdrießlichern
Lage. Sie erschienen unserm Freunde manchmal wie böse Geister und
machten ihm nicht bloß durch ihre Gegenwart, sondern auch oft durch
flämische Gesichter und bittre Reden einen verdrießlichen Augenblick.
Serlo hatte sie nicht einmal zu Gastrollen gelassen, geschweige daß er
ihnen Hoffnung zum Engagement gemacht hätte, und hatte
dessenungeachtet nach und nach ihre sämtlichen Fähigkeiten
kennengelernt. Sooft sich Schauspieler bei ihm gesellig versammelten,
hatte er die Gewohnheit, lesen zu lassen und manchmal selbst
mitzulesen. Er nahm Stücke vor, die noch gegeben werden sollten, die
lange nicht gegeben waren, und zwar meistens nur teilweise. So ließ
er auch nach einer ersten Aufführung Stellen, bei denen er etwas zu
erinnern hatte, wiederholen, vermehrte dadurch die Einsicht der
Schauspieler und verstärkte ihre Sicherheit, den rechten Punkt zu
treffen. Und wie ein geringer aber richtiger Verstand mehr als ein
verworrenes und ungeläutertes Genie zur Zufriedenheit anderer wirken
kann, so erhub er mittelmäßige Talente durch die deutliche Einsicht,
die er ihnen unmerklich verschaffte, zu einer bewundernswürdigen
Fähigkeit. Nicht wenig trug dazu bei, daß er auch Gedichte lesen ließ
und in ihnen das Gefühl jenes Reizes erhielt, den ein
wohlvorgetragener Rhythmus in unsrer Seele erregt, anstatt daß man bei
andern Gesellschaften schon anfing, nur diejenige Prosa vorzutragen,
wozu einem jeden der Schnabel gewachsen war.

Bei solchen Gelegenheiten hatte er auch die sämtlichen angekommenen
Schauspieler kennenlernen, das, was sie waren und was sie werden
konnten, beurteilt und sich in der Stille vorgenommen, von ihren
Talenten bei einer Revolution, die seiner Gesellschaft drohete,
sogleich Vorteil zu ziehen. Er ließ die Sache eine Weile auf sich
beruhen, lehnte alle Interzessionen Wilhelms für sie mit Achselzucken
ab, bis er seine Zeit ersah und seinem jungen Freunde ganz unerwartet
den Vorschlag tat: er solle doch selbst bei ihm aufs Theater gehen,
und unter dieser Bedingung wolle er auch die übrigen engagieren.

"Die Leute müssen also doch so unbrauchbar nicht sein, wie Sie mir
solche bisher geschildert haben", versetzte ihm Wilhelm, "wenn sie
jetzt auf einmal zusammen angenommen werden können, und ich dächte,
ihre Talente müßten auch ohne mich dieselbigen bleiben."

Serlo eröffnete ihm darauf unter dem Siegel der Verschwiegenheit seine
Lage: wie sein erster Liebhaber Miene mache, ihn bei der Erneuerung
des Kontrakts zu steigern, und wie er nicht gesinnt sei, ihm
nachzugeben, besonders da die Gunst des Publikums gegen ihn so groß
nicht mehr sei. Ließe er diesen gehen, so würde sein ganzer Anhang
ihm folgen, wodurch denn die Gesellschaft einige gute, aber auch
einige mittelmäßige Glieder verlöre. Hierauf zeigte er Wilhelmen, was
er dagegen an ihm, an Laertes, dem alten Polterer und selbst an Frau
Melina zu gewinnen hoffe. Ja, er versprach, dem armen Pedanten als
Juden, Minister und überhaupt als Bösewicht einen entschiedenen
Beifall zu verschaffen.

Wilhelm stutzte und vernahm den Vortrag nicht ohne Unruhe, und nur, um
etwas zu sagen, versetzte er, nachdem er tief Atem geholt hatte: "Sie
sprechen auf eine sehr freundliche Weise nur von dem Guten, was Sie an
uns finden und von uns hoffen; wie sieht es denn aber mit den
schwachen Seiten aus, die Ihrem Scharfsinne gewiß nicht entgangen
sind?"

"Die wollen wir bald durch Fleiß, übung und Nachdenken zu starken
Seiten machen", versetzte Serlo. "Es ist unter euch allen, die ihr
denn doch nur Naturalisten und Pfuscher seid, keiner, der nicht mehr
oder weniger Hoffnung von sich gäbe; denn soviel ich alle beurteilen
kann, so ist kein einziger Stock darunter, und Stöcke allein sind die
Unverbesserlichen, sie mögen nun aus Eigendünkel, Dummheit oder
Hypochondrie ungelenk und unbiegsam sein."

Serlo legte darauf mit wenigen Worten die Bedingungen dar, die er
machen könne und wolle, bat Wilhelmen um schleunige Entscheidung und
verließ ihn in nicht geringer Unruhe.

Bei der wunderlichen und gleichsam nur zum Scherz unternommenen Arbeit
jener fingierten Reisebeschreibung, die er mit Laertes zusammensetzte,
war er auf die Zustände und das tägliche Leben der wirklichen Welt
aufmerksamer geworden, als er sonst gewesen war. Er begriff jetzt
selbst erst die Absicht des Vaters, als er ihm die Führung des
Journals so lebhaft empfohlen. Er fühlte zum ersten Male, wie
angenehm und nützlich es sein könne, sich zur Mittelsperson so vieler
Gewerbe und Bedürfnisse zu machen und bis in die tiefsten Gebirge und
Wälder des festen Landes Leben und Tätigkeit verbreiten zu helfen.
Die lebhafte Handelsstadt, in der er sich befand, gab ihm bei der
Unruhe des Laertes, der ihn überall mit herumschleppte, den
anschaulichsten Begriff eines großen Mittelpunktes, woher alles
ausfließt und wohin alles zurückkehrt, und es war das erste Mal, daß
sein Geist im Anschauen dieser Art von Tätigkeit sich wirklich
ergötzte. In diesem Zustande hatte ihm Serlo den Antrag getan und
seine Wünsche, seine Neigung, sein Zutrauen auf ein angebornes Talent
und seine Verpflichtung gegen die hülflose Gesellschaft wieder rege
gemacht.

"Da steh ich nun", sagte er zu sich selbst, "abermals am Scheidewege
zwischen den beiden Frauen, die mir in meiner Jugend erschienen. Die
eine sieht nicht mehr so kümmerlich aus wie damals, und die andere
nicht so prächtig. Der einen wie der andern zu folgen, fühlst du eine
Art von innerm Beruf, und von beiden Seiten sind die äußern Anlässe
stark genug; es scheint dir unmöglich, dich zu entscheiden; du
wünschest, daß irgendein übergewicht von außen deine Wahl bestimmen
möge, und doch, wenn du dich recht untersuchst, so sind es nur äußere
Umstände, die dir eine Neigung zu Gewerb, Erwerb und Besitz einflößen,
aber dein innerstes Bedürfnis erzeugt und nährt den Wunsch, die
Anlagen, die in dir zum Guten und Schönen ruhen mögen, sie seien
körperlich oder geistig, immer mehr zu entwickeln und auszubilden.
Und muß ich nicht das Schicksal verehren, das mich ohne mein Zutun
hierher an das Ziel aller meiner Wünsche führt? Geschieht nicht alles,
was ich mir ehemals ausgedacht und vorgesetzt, nun zufällig, ohne
mein Mitwirken? Sonderbar genug! Der Mensch scheint mit nichts
vertrauter zu sein als mit seinen Hoffnungen und Wünschen, die er
lange im Herzen nährt und bewahrt, und doch, wenn sie ihm nun begegnen,
wenn sie sich ihm gleichsam aufdringen, erkennt er sie nicht und
weicht vor ihnen zurück. Alles, was ich mir vor jener unglücklichen
Nacht, die mich von Marianen entfernte, nur träumen ließ, steht vor
mir und bietet sich mir selbst an. Hierher wollte ich flüchten und
bin sachte hergeleitet worden; bei Serlo wollte ich unterzukommen
suchen, er sucht nun mich und bietet mir Bedingungen an, die ich als
Anfänger nie erwarten konnte. War es denn bloß Liebe zu Marianen, die
mich ans Theater fesselte? oder war es Liebe zur Kunst, die mich an
das Mädchen festknüpfte? War jene Aussicht, jener Ausweg nach der
Bühne bloß einem unordentlichen, unruhigen Menschen willkommen, der
ein Leben fortzusetzen wünschte, das ihm die Verhältnisse der
bürgerlichen Welt nicht gestatteten, oder war es alles anders, reiner,
würdiger? Und was sollte dich bewegen können, deine damaligen
Gesinnungen zu ändern? Hast du nicht vielmehr bisher selbst unwissend
deinen Plan verfolgt? Ist nicht jetzt der letzte Schritt noch mehr zu
billigen, da keine Nebenabsichten dabei im Spiele sind und da du
zugleich ein feierlich gegebenes Wort halten und dich auf eine edle
Weise von einer schweren Schuld befreien kannst?"

Alles, was in seinem Herzen und seiner Einbildungskraft sich bewegte,
wechselte nun auf das lebhafteste gegeneinander ab. Daß er seine
Mignon behalten könne, daß er den Harfner nicht zu verstoßen brauche,
war kein kleines Gewicht auf der Waagschale, und doch schwankte sie
noch hin und wider, als er seine Freundin Aurelie gewohnterweise zu
besuchen ging.




IV. Buch, 20. Kapitel




Zwanzigstes Kapitel

Er fand sie auf ihrem Ruhebette; sie schien stille. "Glauben Sie noch,
morgen spielen zu können?" fragte er. "O ja", versetzte sie lebhaft;
"Sie wissen, daran hindert mich nichts.--Wenn ich nur ein Mittel wüßte,
den Beifall unsers Parterres von mir abzulehnen; sie meinen es gut
und werden mich noch umbringen. Vorgestern dacht ich, das Herz müßte
mir reißen! Sonst konnt ich es wohl leiden, wenn ich mir selbst
gefiel; wenn ich lange studiert und mich vorbereitet hatte, dann
freute ich mich, wenn das willkommene Zeichen, nun sei es gelungen,
von allen Enden widertönte. Jetzo sag ich nicht, was ich will, nicht,
wie ich's will; ich werde hingerissen; ich verwirre mich, und mein
Spiel macht einen weit größern Eindruck. Der Beifall wird lauter, und
ich denke: Wüßtet ihr, was euch entzückt! Die dunkeln, heftigen,
unbestimmten Anklänge rühren euch, zwingen euch Bewundrung ab, und ihr
fühlt nicht, daß es die Schmerzenstöne der Unglücklichen sind, der ihr
euer Wohlwollen geschenkt habt.

Heute früh hab ich gelernt, jetzt wiederholt und versucht. Ich bin
müde, zerbrochen, und morgen geht es wieder von vorn an. Morgen abend
soll gespielt werden. So schlepp ich mich hin und her; es ist mir
langweilig aufzustehen und verdrießlich, zu Bette zu gehen. Alles
macht einen ewigen Zirkel in mir. Dann treten die leidigen Tröstungen
vor mir auf, dann werf ich sie weg und verwünsche sie. Ich will mich
nicht ergeben, nicht der Notwendigkeit ergeben--warum soll das
notwendig sein, was mich zugrunde richtet? Könnte es nicht auch
anders sein? Ich muß es eben bezahlen, daß ich eine Deutsche bin; es
ist der Charakter der Deutschen, daß sie über allem schwer werden, daß
alles über ihnen schwer wird."

"O meine Freundin", fiel Wilhelm ein, "könnten Sie doch aufhören,
selbst den Dolch zu schärfen, mit dem Sie sich unablässig verwunden!
Bleibt Ihnen denn nichts? Ist denn Ihre Jugend, Ihre Gestalt, Ihre
Gesundheit, sind Ihre Talente nichts? Wenn Sie ein Gut ohne Ihr
Verschulden verloren haben, müssen Sie denn alles übrige
hinterdreinwerfen? Ist das auch notwendig?"

Sie schwieg einige Augenblicke, dann fuhr sie auf: "Ich weiß es wohl,
daß es Zeitverderb ist, nichts als Zeitverderb ist die Liebe! Was
hätte ich nicht tun können! tun sollen! Nun ist alles rein zu nichts
geworden. Ich bin ein armes verliebtes Geschöpf, nichts als verliebt!
Haben Sie Mitleiden mit mir, bei Gott, ich bin ein armes Geschöpf!"

Sie versank in sich, und nach einer kurzen Pause rief sie heftig aus:
"Ihr seid gewohnt, daß sich euch alles an den Hals wirft. Nein, ihr
könnt es nicht fühlen, kein Mann ist imstande, den Wert eines Weibes
zu fühlen, das sich zu ehren weiß! Bei allen heiligen Engeln, bei
allen Bildern der Seligkeit, die sich ein reines, gutmütiges Herz
erschafft, es ist nichts Himmlischeres als ein weibliches Wesen, das
sich dem geliebten Manne hingibt! Wir sind kalt, stolz, hoch, klar,
klug, wenn wir verdienen, Weiber zu heißen, und alle diese Vorzüge
legen wir euch zu Füßen, sobald wir lieben, sobald wir hoffen,
Gegenliebe zu erwerben. O wie hab ich mein ganzes Dasein so mit
Wissen und Willen weggeworfen! Aber nun will ich auch verzweifeln,
absichtlich verzweifeln. Es soll kein Blutstropfen in mir sein, der
nicht gestraft wird, keine Faser, die ich nicht peinigen will.
Lächeln Sie nur, lachen Sie nur über den theatralischen Aufwand von
Leidenschaft!"

Fern war von unserm Freunde jede Anwandlung des Lachens. Der
entsetzliche, halb natürliche, halb erzwungene Zustand seiner Freundin
peinigte ihn nur zu sehr. Er empfand die Foltern der unglücklichen
Anspannung mit: sein Gehirn zerrüttete sich, und sein Blut war in
einer fieberhaften Bewegung.

Sie war aufgestanden und ging in der Stube hin und wider. "Ich sage
mir alles vor", rief sie aus, "warum ich ihn nicht lieben sollte. Ich
weiß auch, daß er es nicht wert ist; ich wende mein Gemüt ab, dahin
und dorthin, beschäftige mich, wie es nur gehen will. Bald nehm ich
eine Rolle vor, wenn ich sie auch nicht zu spielen habe; ich übe die
alten, die ich durch und durch kenne, fleißiger und fleißiger ins
einzelne und übe und übe--mein Freund, mein Vertrauter, welche
entsetzliche Arbeit ist es, sich mit Gewalt von sich selbst zu
entfernen! Mein Verstand leidet, mein Gehirn ist so angespannt; um
mich vom Wahnsinne zu retten, überlaß ich mich wieder dem Gefühle, daß
ich ihn liebe.--Ja, ich liebe ihn, ich liebe ihn!" rief sie unter
tausend Tränen, "ich liebe ihn, und so will ich sterben."

Er faßte sie bei der Hand und bat sie auf das anständigste, sich nicht
selbst aufzureiben. "Oh", sagte er, "Wie sonderbar ist es, daß dem
Menschen nicht allein so manches Unmögliche, sondern auch so manches
Mögliche versagt ist. Sie waren nicht bestimmt, ein treues Herz zu
finden, das Ihre ganze Glückseligkeit würde gemacht haben. Ich war
dazu bestimmt, das ganze Heil meines Lebens an eine Unglückliche
festzuknüpfen, die ich durch die Schwere meiner Treue wie ein Rohr zu
Boden zog, ja vielleicht gar zerbrach."

Er hatte Aurelien seine Geschichte mit Marianen vertraut und konnte
sich also jetzt darauf beziehen. Sie sah ihm starr in die Augen und
fragte: "Können Sie sagen, daß Sie noch niemals ein Weib betrogen, daß
Sie keiner mit leichtsinniger Galanterie, mit frevelhafter Beteurung,
mit herzlockenden Schwüren ihre Gunst abzuschmeicheln gesucht?"

"Das kann ich", versetzte Wilhelm, "und zwar ohne Ruhmredigkeit: denn
mein Leben war sehr einfach, und ich bin selten in die Versuchung
geraten zu versuchen. Und welche Warnung, meine schöne, meine edle
Freundin, ist mir der traurige Zustand, in den ich Sie versetzt sehe!
Nehmen Sie ein Gelübde von mir, das meinem Herzen ganz angemessen ist,
das durch die Rührung, die Sie mir einflößten, sich bei mir zur
Sprache und Form bestimmt und durch diesen Augenblick geheiligt wird:
jeder flüchtigen Neigung will ich widerstehen und selbst die
ernstlichsten in meinem Busen bewahren; kein weibliches Geschöpf soll
ein Bekenntnis der Liebe von meinen Lippen vernehmen, dem ich nicht
mein ganzes Leben widmen kann!"

Sie sah ihn mit einer wilden Gleichgültigkeit an und entfernte sich,
als er ihr die Hand reichte, um einige Schritte. "Es ist nichts daran
gelegen!" rief sie, "so viel Weibertränen mehr oder weniger, die See
wird darum doch nicht wachsen. Doch", fuhr sie fort, "unter Tausenden
eine gerettet, das ist doch etwas, unter Tausenden einen Redlichen
gefunden, das ist anzunehmen! Wissen Sie auch, was Sie versprechen?"

"Ich weiß es", versetzte Wilhelm lächelnd und hielt seine Hand hin.

"Ich nehm es an", versetzte sie und machte eine Bewegung mit ihrer
Rechten, so daß er glaubte, sie würde die seine fassen; aber schnell
fuhr sie in die Tasche, riß den Dolch blitzgeschwind heraus und fuhr
mit Spitze und Schneide ihm rasch über die Hand weg. Er zog sie
schnell zurück, aber schon lief das Blut herunter.

"Man muß euch Männer scharf zeichnen, wenn ihr merken sollt!" rief sie
mit einer wilden Heiterkeit aus, die bald in eine hastige
Geschäftigkeit überging. Sie nahm ihr Schnupftuch und umwickelte
seine Hand damit, um das erste hervordringende Blut zu stillen.
"Verzeihen Sie einer Halbwahnsinnigen", rief sie aus, "und lassen Sie
sich diese Tropfen Bluts nicht reuen. Ich bin versöhnt, ich bin
wieder bei mir selber. Auf meinen Knien will ich Abbitte tun, lassen
Sie mir den Trost, Sie zu heilen."

Sie eilte nach ihrem Schranke, holte Leinwand und einiges Gerät,
stillte das Blut und besah die Wunde sorgfältig. Der Schnitt ging
durch den Ballen gerade unter dem Daumen, teilte die Lebenslinie und
lief gegen den kleinen Finger aus. Sie verband ihn still und mit
einer nachdenklichen Bedeutsamkeit in sich gekehrt. Er fragte
einigemal: "Beste, wie konnten Sie Ihren Freund verletzen?"

"Still", erwiderte sie, indem sie den Finger auf den Mund legte,
"still!"







 


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