Wilhelm Meisters Lehrjahre--Buch 8
by
Johann Wolfgang von Goethe

Part 3 out of 3



seiner Wärter durch eine scheinbare Ruhe betrogen, den Verband still
aufgelöst und sich verblutet. Natalie ging mit dem Kinde spazieren,
es war munter wie in seinen glücklichsten Tagen. "Du bist doch gut",
sagte Felix zu ihr, "du zankst nicht, du schlägst mich nicht, ich will
dir's nur sagen, ich habe aus der Flasche getrunken! Mutter Aurelie
schlug mich immer auf die Finger, wenn ich nach der Karaffine griff;
der Vater sah so bös aus, ich dachte, er würde mich schlagen."

Mit beflügelten Schritten eilte Natalie zu dem Schlosse; Wilhelm kam
ihr, noch voller Sorgen, entgegen. "Glücklicher Vater!" rief sie laut,
indem sie das Kind aufhob und es ihm in die Arme warf, "da hast du
deinen Sohn! Er hat aus der Flasche getrunken, seine Unart hat ihn
gerettet."

Man erzählte den glücklichen Ausgang dem Grafen, der aber nur mit
lächelnder, stiller, bescheidner Gewißheit zuhörte, mit der man den
Irrtum guter Menschen ertragen mag. Jarno, aufmerksam auf alles,
konnte diesmal eine solche hohe Selbstgenügsamkeit nicht erklären, bis
er endlich nach manchen Umschweifen erfuhr: der Graf sei überzeugt,
das Kind habe wirklich Gift genommen, er habe es aber durch sein Gebet
und durch das Auflegen seiner Hände wunderbar am Leben erhalten. Nun
beschloß er auch sogleich wegzugehn; gepackt war bei ihm alles wie
gewöhnlich in einem Augenblicke, und beim Abschiede faßte die schöne
Gräfin Wilhelms Hand, ehe sie noch die Hand der Schwester losließ,
drückte alle vier Hände zusammen, kehrte sich schnell um und stieg in
den Wagen.

Soviel schreckliche und wunderbare Begebenheiten, die sich eine über
die andere drängten, zu einer ungewohnten Lebensart nötigten und alles
in Unordnung und Verwirrung setzten, hatten eine Art von fieberhafter
Schwingung in das Haus gebracht. Die Stunden des Schlafens und
Wachens, des Essens, Trinkens und geselligen Zusammenseins waren
verrückt und umgekehrt. Außer Theresen war niemand in seinem Gleise
geblieben; die Männer suchten durch geistige Getränke ihre gute Laune
wiederherzustellen, und indem sie sich eine künstliche Stimmung gaben,
entfernten sie die natürliche, die allein uns wahre Heiterkeit und
Tätigkeit gewährt.

Wilhelm war durch die heftigsten Leidenschaften bewegt und zerrüttet,
die unvermuteten und schreckhaften Anfälle hatten sein Innerstes ganz
aus aller Fassung gebracht, einer Leidenschaft zu widerstehn, die sich
des Herzens so gewaltsam bemächtigt hatte. Felix war ihm
wiedergegeben, und doch schien ihm alles zu fehlen; die Briefe von
Wernern mit den Anweisungen waren da, ihm mangelte nichts zu seiner
Reise als der Mut, sich zu entfernen. Alles drängte ihn zu dieser
Reise. Er konnte vermuten, daß Lothario und Therese nur auf seine
Entfernung warteten, um sich trauen zu lassen. Jarno war wider seine
Gewohnheit still, und man hätte beinahe sagen können, er habe etwas
von seiner gewöhnlichen Heiterkeit verloren. Glücklicherweise half
der Arzt unserm Freunde einigermaßen aus der Verlegenheit, indem er
ihn für krank erklärte und ihm Arznei gab.

Die Gesellschaft kam immer abends zusammen, und Friedrich, der
ausgelassene Mensch, der gewöhnlich mehr Wein als billig trank,
bemächtigte sich des Gesprächs und brachte nach seiner Art mit hundert
Zitaten und eulenspiegelhaften Anspielungen die Gesellschaft zum
Lachen und setzte sie auch nicht selten in Verlegenheit, indem er laut
zu denken sich erlaubte.

An die Krankheit seines Freundes schien er gar nicht zu glauben.
Einst, als sie alle beisammen waren, rief er aus: "Wie nennt Ihr das
übel, Doktor, das unsern Freund angefallen hat? Paßt hier keiner von
den dreitausend Namen, mit denen Ihr Eure Unwissenheit ausputzt? An
ähnlichen Beispielen wenigstens hat es nicht gefehlt. Es kommt", fuhr
er mit einem emphatischen Tone fort, "ein solcher Kasus in der
ägyptischen oder babylonischen Geschichte vor."

Die Gesellschaft sah einander an und lächelte.

"Wie hieß der König?" rief er aus und hielt einen Augenblick inne.
"Wenn ihr mir nicht einhelfen wollt", fuhr er fort, "so werde ich mir
selbst zu helfen wissen." Er riß die Türflügel auf und wies nach dem
großen Bilde im Vorsaal. "Wie heißt der Ziegenbart mit der Krone dort,
der sich am Fuße des Bettes um seinen kranken Sohn abhärmt? Wie
heißt die Schöne, die hereintritt und in ihren sittsamen Schelmenaugen
Gift und Gegengift zugleich führt? Wie heißt der Pfuscher von Arzt,
dem erst in diesem Augenblicke ein Licht aufgeht, der das erste Mal in
seinem Leben Gelegenheit findet, ein vernünftiges Rezept zu verordnen,
eine Arznei zu reichen, die aus dem Grunde kuriert und die ebenso
wohlschmeckend als heilsam ist?"

In diesem Tone fuhr er fort zu schwadronieren. Die Gesellschaft nahm
sich so gut als möglich zusammen und verbarg ihre Verlegenheit hinter
einem gezwungenen Lächeln. Eine leichte Röte überzog Nataliens Wangen
und verriet die Bewegungen ihres Herzens. Glücklicherweise ging sie
mit Jarno auf und nieder; als sie an die Türe kam, schritt sie mit
einer klugen Bewegung hinaus, einigemal in dem Vorsaale hin und wider
und ging sodann auf ihr Zimmer.

Die Gesellschaft war still. Friedrich fing an zu tanzen und zu singen:



Oh, ihr werdet Wunder sehn!
Was geschehn ist, ist geschehn,
Was gesagt ist, ist gesagt.
Eh es tagt,
Sollt ihr Wunder sehn.



Therese war Natalien nachgegangen, Friedrich zog den Arzt vor das
große Gemälde, hielt eine lächerliche Lobrede auf die Medizin und
schlich davon.

Lothario hatte bisher in einer Fenstervertiefung gestanden und sah,
ohne sich zu rühren, in den Garten hinunter. Wilhelm war in der
schrecklichsten Lage. Selbst da er sich nun mit seinem Freunde allein
sah, blieb er eine Zeitlang still; er überlief mit flüchtigem Blick
seine Geschichte und sah zuletzt mit Schaudern auf seinen
gegenwärtigen Zustand; endlich sprang er auf und rief: "Bin ich schuld
an dem, was vorgeht, an dem, was mir und Ihnen begegnet, so strafen
Sie mich! Zu meinen übrigen Leiden entziehen Sie mir Ihre
Freundschaft, und lassen Sie mich ohne Trost in die weite Welt
hinausgehen, in der ich mich lange hätte verlieren sollen. Sehen Sie
aber in mir das Opfer einer grausamen, zufälligen Verwicklung, aus der
ich mich herauszuwinden unfähig war, so geben Sie mir die Versicherung
Ihrer Liebe, Ihrer Freundschaft auf eine Reise mit, die ich nicht
länger verschieben darf. Es wird eine Zeit kommen, wo ich Ihnen werde
sagen können, was diese Tage in mir vorgegangen ist. Vielleicht leide
ich eben jetzt diese Strafe, weil ich mich Ihnen nicht früh genug
entdeckte, weil ich gezaudert habe, mich Ihnen ganz zu zeigen, wie ich
bin; Sie hätten mir beigestanden, Sie hätten mir zur rechten Zeit
losgeholfen. Aber- und abermal gehen mir die Augen über mich selbst
auf, immer zu spät und immer umsonst. Wie sehr verdiente ich die
Strafrede Jarnos! Wie glaubte ich sie gefaßt zu haben, wie hoffte ich
sie zu nutzen, ein neues Leben zu gewinnen! Konnte ich's? Sollte
ich's? Vergebens klagen wir Menschen uns selbst, vergebens das
Schicksal an! Wir sind elend und zum Elend bestimmt, und ist es nicht
völlig einerlei, ob eigene Schuld, höherer Einfluß oder Zufall, Tugend
oder Laster, Weisheit oder Wahnsinn uns ins Verderben stürzen? Leben
Sie wohl! Ich werde keinen Augenblick länger in dem Hause verweilen,
in welchem ich das Gastrecht wider meinen Willen so schrecklich
verletzt habe. Die Indiskretion Ihres Bruders ist unverzeihlich, sie
treibt mein Unglück auf den höchsten Grad, sie macht mich verzweifeln."

"Und wenn nun", versetzte Lothario, indem er ihn bei der Hand nahm,
"Ihre Verbindung mit meiner Schwester die geheime Bedingung wäre,
unter welcher sich Therese entschlossen hat, mir ihre Hand zu geben?
Eine solche Entschädigung hat Ihnen das edle Mädchen zugedacht; sie
schwur, daß dieses doppelte Paar an einem Tage zum Altare gehen sollte.
"Sein Verstand hat mich gewählt", sagte sie, "sein Herz fordert
Natalien, und mein Verstand wird seinem Herzen zu Hülfe kommen." Wir
wurden einig, Natalien und Sie zu beobachten; wir machten den Abbe zu
unserm Vertrauten, dem wir versprechen mußten, keinen Schritt zu
dieser Verbindung zu tun, sondern alles seinen Gang gehen zu lassen.
Wir haben es getan. Die Natur hat gewirkt, und der tolle Bruder hat
nur die reife Frucht abgeschüttelt. Lassen Sie uns, da wir einmal so
wunderbar zusammenkommen, nicht ein gemeines Leben führen; lassen Sie
uns zusammen auf eine würdige Weise tätig sein! Unglaublich ist es,
was ein gebildeter Mensch für sich und andere tun kann, wenn er, ohne
herrschen zu wollen, das Gemüt hat, Vormund von vielen zu sein, sie
leitet, dasjenige zur rechten Zeit zu tun, was sie doch alle gerne tun
möchten, und sie zu ihren Zwecken führt, die sie meist recht gut im
Auge haben und nur die Wege dazu verfehlen. Lassen Sie uns hierauf
einen Bund schließen; es ist keine Schwärmerei, es ist eine Idee, die
recht gut ausführbar ist und die öfters, nur nicht immer mit klarem
Bewußtsein, von guten Menschen ausgeführt wird. Meine Schwester
Natalie ist hiervon ein lebhaftes Beispiel. Unerreichbar wird immer
die Handlungsweise bleiben, welche die Natur dieser schönen Seele
vorgeschrieben hat. Ja sie verdient diesen Ehrennamen vor vielen
andern, mehr, wenn ich sagen darf, als unsre edle Tante selbst, die zu
der Zeit, als unser guter Arzt jenes Manuskript so rubrizierte, die
schönste Natur war, die wir in unserm Kreise kannten. Indes hat
Natalie sich entwickelt, und die Menschheit freut sich einer solchen
Erscheinung."

Er wollte weiterreden, aber Friedrich sprang mit großem Geschrei
herein. "Welch einen Kranz verdien ich?" rief er aus, "und wie werdet
ihr mich belohnen? Myrten, Lorbeer, Efeu, Eichenlaub, das frischeste,
das ihr finden könnt, windet zusammen; so viel Verdienste habt ihr in
mir zu krönen. Natalie ist dein! Ich bin der Zauberer, der diesen
Schatz gehoben hat."

"Er schwärmt", sagte Wilhelm, "und ich gehe."

"Hast du Auftrag?" sagte der Baron, indem er Wilhelmen festhielt.

"Aus eigner Macht und Gewalt", versetzte Friedrich, "auch von Gottes
Gnaden, wenn ihr wollt; so war ich Freiersmann, so bin ich jetzt
Gesandter, ich habe an der Türe gehorcht, sie hat sich ganz dem Abbe
entdeckt."

"Unverschämter!" sagte Lothario, "wer heißt dich horchen!"

"Wer heißt sie sich einschließen!" versetzte Friedrich, "ich hörte
alles ganz genau, Natalie war sehr bewegt. In der Nacht, da das Kind
so krank schien und halb auf ihrem Schoße ruhte, als du trostlos vor
ihr saßest und die geliebte Bürde mit ihr teiltest, tat sie das
Gelübde, wenn das Kind stürbe, dir ihre Liebe zu bekennen und dir
selbst die Hand anzubieten; jetzt, da das Kind lebt, warum soll sie
ihre Gesinnung verändern? Was man einmal so verspricht, hält man
unter jeder Bedingung. Nun wird der Pfaffe kommen und wunder denken,
was er für Neuigkeiten bringt."

Der Abbe trat ins Zimmer. "Wir wissen alles!" rief Friedrich ihm
entgegen, "macht es kurz, denn Ihr kommt bloß um der Formalität willen;
zu weiter nichts werden die Herren verlangt."

"Er hat gehorcht", sagte der Baron. "Wie ungezogene" rief der Abbe.

"Nun geschwind", versetzte Friedrich, "wie sieht's mit den Zeremonien
aus? Die lassen sich an den Fingern herzählen; Ihr müßt reisen, die
Einladung des Marchese kommt Euch herrlich zustatten. Seid Ihr nur
einmal über die Alpen, so findet sich zu Hause alles; die Menschen
wissen's Euch Dank, wenn Ihr etwas Wunderliches unternehmt, Ihr
verschafft ihnen eine Unterhaltung, die sie nicht zu bezahlen brauchen.
Es ist eben, als wenn Ihr eine Freiredoute gäbt; es können alle
Stände daran teilnehmen."

"Ihr habt Euch freilich mit solchen Volksfesten schon sehr ums
Publikum verdient gemacht", versetzte der Abbe, "und ich komme, so
scheint es, heute nicht mehr zum Wort."

"Ist nicht alles, wie ich's sage", versetzte Friedrich, "so belehrt
uns eines Bessern. Kommt herüber, kommt herüber! wir müssen sie sehen
und uns freuen."

Lothario umarmte seinen Freund und führte ihn zu der Schwester; sie
kam mit Theresen ihm entgegen, alles schwieg.

"Nicht gezaudert!" rief Friedrich. "In zwei Tagen könnt ihr
reisefertig sein. Wie meint Ihr, Freund", fuhr er fort, indem er sich
zu Wilhelmen wendete, "als wir Bekanntschaft machten, als ich Euch den
schönen Strauß abforderte, wer konnte denken, daß Ihr jemals eine
solche Blume aus meiner Hand empfangen würdet?"

"Erinnern Sie mich nicht in diesem Augenblicke des höchsten Glücks an
jene Zeiten!"

"Deren Ihr Euch nicht schämen sollet, sowenig man sich seiner Abkunft
zu schämen hat. Die Zeiten waren gut, und ich muß lachen, wenn ich
dich ansehe: du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis', der ausging,
seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand."

"Ich kenne den Wert eines Königreichs nicht", versetzte Wilhelm, "aber
ich weiß, daß ich ein Glück erlangt habe, das ich nicht verdiene und
das ich mit nichts in der Welt vertauschen möchte."







 


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