Wilhelm Meisters Wanderjahre--Buch 2
by
Johann Wolfgang von Goethe

Part 3 out of 4



daß ihm unser Dichter eben darum beschwerlich gefallen, weil beide
Künstler am weitesten auseinander stehen; dagegen wollt' ich wetten,
ein und der andere Maler hat sich gewisse lebendige Züge daraus
angeeignet.

Ein sanftes, gemütliches Lied jedoch möcht' ich unserm Freunde zu
hören geben, eines, das ihr so ernst-lieblich vortragt; es bewegt
sich über das Ganze der Kunst und ist mir selbst, wenn ich es höre,
stets erbaulich."

Nach einer Pause, in der sie einander zuwinkten und sich durch
Zeichen beredeten, erscholl von allen Seiten nachfolgender Herz und
Geist erhebende, würdige Gesang:



"Zu erfinden, zu beschließen,
Bleibe, Künstler, oft allein;
Deines Wirkens zu genießen,
Eile freudig zum Verein!
Hier im Ganzen schau', erfahre
Deinen eignen Lebenslauf,
Und die Taten mancher Jahre
Gehn dir in dem Nachbar auf.


Der Gedanke, das Entwerfen,
Die Gestalten, ihr Bezug,
Eines wird das andre schärfen,
Und am Ende sei's genug!
Wohl erfunden, klug ersonnen,
Schön gebildet, zart vollbracht--
So von jeher hat gewonnen
Künstler kunstreich seine Macht.


Wie Natur im Vielgebilde
Einen Gott nur offenbart,
So im weiten Kunstgefilde
Webt ein Sinn der ew'gen Art;
Dieses ist der Sinn der Wahrheit,
Der sich nur mit Schönem schmückt
Und getrost der höchsten Klarheit
Hellsten Tags entgegenblickt.


Wie beherzt in Reim und Prose
Redner, Dichter sich ergehn,
Soll des Lebens heitre Rose
Frisch auf Malertafel stehn,
Mit Geschwistern reich umgeben,
Mit des Herbstes Frucht umlegt,
Daß sie von geheimem Leben
Offenbaren Sinn erregt.


Tausendfach und schön entfließe
Form aus Formen deiner Hand,
Und im Menschenbild genieße,
Daß ein Gott sich hergewandt.
Welch ein Werkzeug ihr gebrauchet
Stellet euch als Brüder dar;
Und gesangweis flammt und rauchet
Opfersäule vom Altar."




Alles dieses mochte Wilhelm gar wohl gelten lassen, ob es ihm gleich
sehr paradox und, hätte er es nicht mit Augen gesehen, gar unmöglich
scheinen mußte. Da man es ihm nun aber offen und frei, in schöner
Folge vorwies und bekannt machte, so bedurfte es kaum einer Frage, um
das Weitere zu erfahren; doch enthielt er sich nicht, den Führenden
zuletzt folgendermaßen anzureden: "Ich sehe, hier ist gar klüglich
für alles gesorgt, was im Leben wünschenswert sein mag; entdeckt mir
aber auch: welche Region kann eine gleiche Sorgfalt für dramatische
Poesie aufweisen, und wo könnte ich mich darüber belehren? Ich sah
mich unter allen euren Gebäuden um und finde keines, das zu einem
solchen Zweck bestimmt sein könnte."

"Verhehlen dürfen wir nicht auf diese Anfrage, daß in unserer ganzen
Provinz dergleichen nicht anzutreffen sei: denn das Drama setzt eine
müßige Menge, vielleicht gar einen Pöbel voraus, dergleichen sich bei
uns nicht findet; denn solches Gelichter wird, wenn es nicht selbst
sich unwillig entfernt, über die Grenze gebracht. Seid jedoch gewiß,
daß bei unserer allgemein wirkenden Anstalt auch ein so wichtiger
Punkt wohl überlegt worden; keine Region aber wollte sich finden,
überall trat ein bedeutendes Bedenken ein. Wer unter unsern
Zöglingen sollte sich leicht entschließen, mit erlogener Heiterkeit
oder geheucheltem Schmerz ein unwahres, dem Augenblick nicht
angehöriges Gefühl in der Maße zu erregen, um dadurch ein immer
mißliches Gefallen abwechselnd hervorzubringen? Solche Gaukeleien
fanden wir durchaus gefährlich und konnten sie mit unserm ernsten
Zweck nicht vereinen."

"Man sagt aber doch", versetzte Wilhelm, "diese weit um sich
greifende Kunst befördere die übrigen sämtlich."

"Keineswegs", erwiderte man, "sie bedient sich der übrigen, aber
verdirbt sie. Ich verdenke dem Schauspieler nicht, wenn er sich zu
dem Maler gesellt; der Maler jedoch ist in solcher Gesellschaft
verloren.

Gewissenlos wird der Schauspieler, was ihm Kunst und Leben darbietet,
zu seinen flüchtigen Zwecken verbrauchen und mit nicht geringem
Gewinn; der Maler hingegen, der vom Theater auch wieder seinen
Vorteil ziehen möchte, wird sich immer im Nachteil finden und der
Musikus im gleichen Falle sein. Die sämtlichen Künste kommen mir vor
wie Geschwister, deren die meisten zu guter Wirtschaft geneigt wären,
eins aber, leicht gesinnt, Hab und Gut der ganzen Familie sich
zuzueignen und zu verzehren Lust hätte. Das Theater ist in diesem
Falle, es hat einen zweideutigen Ursprung, den es nie ganz, weder als
Kunst noch Handwerk, noch als Liebhaberei verleugnen kann."

Wilhelm sah mit einem tiefen Seufzer vor sich nieder, denn alles auf
einmal vergegenwärtigte sich ihm, was er auf und an den Brettern
genossen und gelitten hatte; er segnete die frommen Männer, welche
ihren Zöglingen solche Pein zu ersparen gewußt und aus überzeugung
und Grundsatz jene Gefahren aus ihrem Kreise gebannt.

Sein Begleiter jedoch ließ ihn nicht lange in diesen Betrachtungen,
sondern fuhr fort: "Da es unser höchster und heiligster Grundsatz ist,
keine Anlage, kein Talent zu mißleiten, so dürfen wir uns nicht
verbergen, daß unter so großer Anzahl sich eine mimische Naturgabe
auch wohl entschieden hervortue; diese zeigt sich aber in
unwiderstehlicher Lust des Nachäffens fremder Charaktere, Gestalten,
Bewegung, Sprache. Dies fördern wir zwar nicht, beobachten aber den
Zögling genau, und bleibt er seiner Natur durchaus getreu, so haben
wir uns mit großen Theatern aller Nationen in Verbindung gesetzt und
senden einen bewährt Fähigen sogleich dorthin, damit er, wie die Ente
auf dem Teiche, so auf den Brettern seinem künftigen Lebensgewackel
und -geschnatter eiligst entgegengeleitet werde."

Wilhelm hörte dies mit Geduld, doch nur mit halber überzeugung,
vielleicht mit einigem Verdruß: denn so wunderlich ist der Mensch
gesinnt, daß er von dem Unwert irgendeines geliebten Gegenstandes
zwar überzeugt sein, sich von ihm abwenden, sogar ihn verwünschen
kann, aber ihn doch nicht von andern auf gleiche Weise behandelt
wissen will; und vielleicht regt sich der Geist des Widerspruchs, der
in allen Menschen wohnt, nie lebendiger und wirksamer als in solchem
Falle.

Mag doch der Redakteur dieser Bogen hier selbst gestehen: daß er mit
einigem Unwillen diese wunderliche Stelle durchgehen läßt. Hat er
nicht auch in vielfachem Sinn mehr Leben und Kräfte als billig dem
Theater zugewendet? und könnte man ihn wohl überzeugen, daß dies ein
unverzeihlicher Irrtum, eine fruchtlose Bemühung gewesen?

Doch wir finden keine Zeit, solchen Erinnerungen und Nachgefühlen
unwillig uns hinzugeben, denn unser Freund sieht sich angenehm
überrascht, da ihm abermals einer von den Dreien, und zwar ein
besonders zusagender, vor die Augen tritt. Entgegenkommende Sanftmut,
den reinsten Seelenfrieden verkündend, teilte sich höchst erquicklich
mit. Vertrauend konnte der Wanderer sich nähern und fühlte sein
Vertrauen erwidert.

Hier vernahm er nun, daß der Obere sich gegenwärtig bei den
Heiligtümern befinde, dort unterweise, lehre, segne, indessen die
Dreie sich verteilt, um sämtliche Regionen heimzusuchen und überall,
nach genommener tiefster Kenntnis und Verabredung mit den
untergeordneten Aufsehern, das Eingeführte weiterzuleiten, das
Neubestimmte zu gründen und dadurch ihre hohe Pflicht treulich zu
erfüllen.

Eben dieser treffliche Mann gab ihm nun eine allgemeinere übersicht
ihrer innern Zustände und äußern Verbindungen sowie Kenntnis von der
Wechselwirkung aller verschiedenen Regionen; nicht weniger ward klar,
wie aus einer in die andere, nach längerer oder kürzerer Zeit, ein
Zögling versetzt werden könne. Genug, mit dem bisher vernommenen
stimmte alles völlig überein. Zugleich machte die Schilderung seines
Sohnes ihm viel Vergnügen, und der Plan, wie man ihn weiterführen
wollte, mußte seinen ganzen Beifall gewinnen.









Neuntes Kapitel

Wilhelm wurde darauf vom Gehülfen und Aufseher zu einem Bergfest
eingeladen, welches zunächst gefeiert werden sollte. Sie erstiegen
mit Schwierigkeit das Gebirg, Wilhelm glaubte sogar zu bemerken, daß
der Führer gegen Abend sich langsamer bewegte, als würde die
Finsternis ihrem Pfad nicht noch mehr Hinderung entgegensetzen. Als
aber eine tiefe Nacht sie umgab, ward ihm dies Rätsel aufgelöst:
kleine Flammen sah er aus vielen Schluchten und Tälern schwankend
hervorschimmern, sich zu Linien verlängern, sich über die
Gebirgshöhen herüberwälzen. Viel freundlicher, als wenn ein Vulkan
sich auftut und sein sprühendes Getös ganze Gegenden mit Untergang
bedroht, zeigte sich diese Erscheinung, und doch glühte sie nach und
nach mächtiger, breiter und gedrängter, funkelte wie ein Strom von
Sternen, zwar sanft und lieblich, aber doch kühn über die ganze
Gegend sich verbreitend.

Nachdem nun der Gefährte sich einige Zeit an der Verwunderung des
Gastes ergötzt, denn ihre Gesichter und Gestalten erschienen durch
das Licht aus der Ferne erhellt, so wie ihr Weg, begann er zu
sprechen: "Ihr seht hier freilich ein wunderliches Schauspiel; diese
Lichter, die bei Tag und bei Nacht im ganzen Jahre unter der Erde
leuchten und wirken und die Fördernis versteckter, kaum erreichbarer
irdischer Schätze begünstigen, diese quellen und wallen gegenwärtig
aus ihren Schlünden hervor und erheitern die offenbare Nacht. Kaum
gewahrte man je eine so erfreuliche Heerschau, wo das nützlichste,
unterirdisch zerstreute, den Augen entzogene Geschäft sich uns in
ganzer Fülle zeigt und eine große geheime Vereinigung sichtbar macht."

Unter solchen Reden und Betrachtungen waren sie an den Ort gelangt,
wo die Feuerbäche zum Flammensee um einen wohlerleuchteten Inselraum
sich ergossen. Der Wanderer stand nunmehr in dem blendenden Kreise,
wo schimmernde Lichter zu Tausenden gegen die zur schwarzen Hinterwand
gereihten Träger einen ahnungsvollen Kontrast bildeten. Sofort
erklang die heiterste Musik zu tüchtigen Gesängen. Hohle Felsmassen
zogen maschinenhaft heran und schlossen bald ein glänzendes Innere
dem Auge des erfreuten Zuschauers auf. Mimische Darstellungen, und
was nur einen solchen Moment der Menge erheitern kann, vereinigte
sich, um eine frohe Aufmerksamkeit zugleich zu spannen und zu
befriedigen.

Aber mit welcher Verwunderung ward unser Freund erfüllt, als er sich
den Hauptleuten vorgestellt sah und unter ihnen, in ernster,
stattlicher Tracht, Freund Jarno erblickte. "Nicht umsonst", rief
dieser aus, "habe ich meinen frühern Namen mit dem bedeutendem Montan
vertauscht; du findest mich hier in Berg und Kluft eingeweiht, und
glücklicher in dieser Beschränkung unter und über der Erde, als sich
denken läßt."--"Da wirst du also", versetzte der Wanderer, "als ein
Hocherfahrner nunmehr freigebiger sein mit Aufklärung und Unterricht,
als du es gegen mich warst auf jenen Berg--und Felsklippen.
"--"Keineswegs!" erwiderte Montan, "die Gebirge sind stumme Meister
und machen schweigsame Schüler."

An vielen Tafeln speiste man nach dieser Feierlichkeit. Alle Gäste,
die geladen oder ungeladen sich eingefunden, waren vom Handwerk,
deswegen denn auch an dem Tische, wo Montan und sein Freund sich
niedergesetzt, sogleich ein ortgemäßes Gespräch entstand; es war von
Gebirgen, Gängen und Lagern, von Gangarten und Metallen der Gegend
ausführlich die Rede. Sodann aber verlor das Gespräch sich gar bald
ins Allgemeine, und da war von nichts Geringerem die Rede als von
Erschaffung und Entstehung der Welt. Hier aber blieb die Unterhaltung
nicht lange friedlich, vielmehr verwickelte sich sogleich ein
lebhafter Streit.

Mehrere wollten unsere Erdgestaltung aus einer nach und nach sich
senkend abnehmenden Wasserbedeckung herleiten; sie führten die
Trümmer organischer Meeresbewohner auf den höchsten Bergen sowie auf
flachen Hügeln zu ihrem Vorteil an. Andere heftiger dagegen ließen
erst glühen und schmelzen, auch durchaus ein Feuer obwalten, das,
nachdem es auf der Oberfläche genugsam gewirkt, zuletzt ins Tiefste
zurückgezogen, sich noch immer durch die ungestüm sowohl im Meer als
auf der Erde wütenden Vulkane betätigte und durch sukzessiven Auswurf
und gleichfalls nach und nach überströmende Laven die höchsten Berge
bildete; wie sie denn überhaupt den anders Denkenden zu Gemüte führten,
daß ja ohne Feuer nichts heiß werden könne, auch ein tätiges Feuer
immer einen Herd voraussetze. So erfahrungsgemäß auch dieses
scheinen mochte, so waren manche doch nicht damit zufrieden; sie
behaupteten: mächtige, in dem Schoß der Erde schon völlig fertig
gewordene Gebilde seien mittelst unwiderstehlich elastischer Gewalten
durch die Erdrinde hindurch in die Höhe getrieben und zugleich in
diesem Tumulte manche Teile derselben weit über Nachbarschaft und
Ferne umhergestreut und zersplittert worden; sie beriefen sich auf
manche Vorkommnisse, welche ohne eine solche Voraussetzung nicht zu
erklären seien.

Eine vierte, wenn auch vielleicht nicht zahlreiche Partie lächelte
über diese vergeblichen Bemühungen und beteuerte: gar manche Zustände
dieser Erdoberfläche würden nie zu erklären sein, wofern man nicht
größere und kleinere Gebirgsstrecken aus der Atmosphäre
herunterfallen und weite, breite Landschaften durch sie überdeckt
werden lasse. Sie beriefen sich auf größere und kleinere Felsmassen,
welche zerstreut in vielen Landen umherliegend gefunden und sogar noch
in unsern Tagen als von oben herabstürzend aufgelesen werden.

Zuletzt wollten zwei oder drei stille Gäste sogar einen Zeitraum
grimmiger Kälte zu Hülfe rufen und aus den höchsten Gebirgszügen auf
weit ins Land hingesenkten Gletschern gleichsam Rutschwege für
schwere Ursteinmassen bereitet und diese auf glatter Bahn fern und
ferner hinausgeschoben im Geiste sehen. Sie sollten sich, bei
eintretender Epoche des Auftauens, niedersenken und für ewig in
fremdem Boden liegenbleiben. Auch sollte sodann durch schwimmendes
Treibeis der Transport ungeheurer Felsblöcke von Norden her möglich
werden. Diese guten Leute konnten jedoch mit ihrer etwas kühlen
Betrachtung nicht durchdringen. Man hielt es ungleich naturgemäßer,
die Erschaffung einer Welt mit kolossalem Krachen und Heben, mit
wildem Toben und feurigem Schleudern vorgehen zu lassen. Da nun
übrigens die Glut des Weines stark mit einwirkte, so hätte das
herrliche Fest beinahe mit tödlichen Händeln abgeschlossen.

Ganz verwirrt und verdüstert ward es unserm Freund zumute, welcher
noch von alters her den Geist, der über den Wassern schwebte, und die
hohe Flut, welche funfzehn Ellen über die höchsten Gebirge gestanden,
im stillen Sinne hegte und dem unter diesen seltsamen Reden die so
wohl geordnete, bewachsene, belebte Welt vor seiner Einbildungskraft
chaotisch zusammenzustürzen schien.

Den andern Morgen unterließ er nicht, den ernsten Montan hierüber zu
befragen, indem er ausrief: "Gestern konnt' ich dich nicht begreifen,
denn unter allen den wunderlichen Dingen und Reden hofft' ich endlich
deine Meinung und deine Entscheidung zu hören, an dessen Statt warst
du bald auf dieser, bald auf jener Seite und suchtest immer die
Meinung desjenigen, der da sprach, zu verstärken. Nun aber sage mir
ernstlich, was du darüber denkst, was du davon weißt." Hierauf
erwiderte Montan: "Ich weiß so viel wie sie und möchte darüber gar
nicht denken."--"Hier aber", versetzte Wilhelm, "sind so viele
widersprechende Meinungen, und man sagt ja, die Wahrheit liege in der
Mitte."--"Keineswegs!" erwiderte Montan: "in der Mitte bleibt das
Problem liegen, unerforschlich vielleicht, vielleicht auch zugänglich,
wenn man es darnach anfängt."

Nachdem nun auf diese Weise noch einiges hin und wider gesprochen
worden, fuhr Montan vertraulich fort: "Du tadelst mich, daß ich einem
jeden in seiner Meinung nachhalf, wie sich denn für alles noch immer
ein ferneres Argument auffinden läßt; ich vermehrte die Verwirrung
dadurch, das ist wahr, eigentlich aber kann ich es mit diesem
Geschlecht nicht mehr ernstlich nehmen. Ich habe mich durchaus
überzeugt, das Liebste, und das sind doch unsre überzeugungen, muß
jeder im tiefsten Ernst bei sich selbst bewahren, jeder weiß nur für
sich, was er weiß, und das muß er geheimhalten; wie er es ausspricht,
sogleich ist der Widerspruch rege, und wie er sich in Streit einläßt,
kommt er in sich selbst aus dem Gleichgewicht, und sein Bestes wird,
wo nicht vernichtet, doch gestört."

Durch einige Gegenrede Wilhelms veranlaßt, erklärte Montan sich
ferner: "Wenn man einmal weiß, worauf alles ankommt, hört man auf,
gesprächig zu sein."-- "Worauf kommt nun aber alles an?" versetzte
Wilhelm hastig.--"Das ist bald gesagt", versetzte jener. "Denken und
Tun, Tun und Denken, das ist die Summe aller Weisheit, von jeher
anerkannt, von jeher geübt, nicht eingesehen von einem jeden. Beides
muß wie Aus--und Einatmen sich im Leben ewig fort hin und wider
bewegen; wie Frage und Antwort sollte eins ohne das andere nicht
stattfinden. Wer sich zum Gesetz macht, was einem jeden Neugebornen
der Genius des Menschenverstandes heimlich ins Ohr flüstert, das Tun
am Denken, das Denken am Tun zu prüfen, der kann nicht irren, und
irrt er, so wird er sich bald auf den rechten Weg zurückfinden."

Montan geleitete seinen Freund nunmehr in dem Bergrevier methodisch
umher, überall begrüßt von einem derben "Glück auf!", welches sie
heiter zurückgaben. "Ich möchte wohl", sagte Montan, "ihnen manchmal
zurufen: "Sinn auf!", denn Sinn ist mehr als Glück; doch die Menge
hat immer Sinn genug, wenn die Obern damit begabt sind. Weil ich nun
hier, wo nicht zu befehlen, doch zu raten habe, bemüht' ich mich, die
Eigenschaft des Gebirgs kennen zu lernen. Man strebt leidenschaftlich
nach den Metallen, die es enthält. Nun habe ich mir auch das
Vorkommen derselben aufzuklären gesucht, und es ist mir gelungen.
Das Glück tut's nicht allein, sondern der Sinn, der das Glück
herbeiruft, um es zu regeln. Wie diese Gebirge hier entstanden sind,
weiß ich nicht, will's auch nicht wissen; aber ich trachte täglich,
ihnen ihre Eigentümlichkeit abzugewinnen. Auf Blei und Silber ist
man erpicht, das sie in ihrem Busen tragen; ich weiß es zu entdecken:
das Wie? behalt' ich für mich und gebe Veranlassung, das Gewünschte
zu finden. Auf mein Wort unternimmt man's versuchsweise, es gelingt,
und man sagt, ich habe Glück. Was ich verstehe, versteh' ich mir,
was mir gelingt, gelingt mir für andere, und niemand denkt, daß es
ihm auf diesem Wege gleichfalls gelingen könne. Sie haben mich in
Verdacht, daß ich eine Wünschelrute besitze, sie merken aber nicht,
daß sie mir widersprechen, wenn ich etwas Vernünftiges vorbringe, und
daß sie dadurch sich den Weg abschneiden zu dem Baum des Erkenntnisses,
wo diese prophetischen Reiser zu brechen sind."

Ermutigt an diesen Gesprächen, überzeugt, daß auch ihm durch sein
bisheriges Tun und Denken geglückt, in einem weit entlegenen Fache,
dem Hauptsinne nach, seines Freundes Forderungen sich gleichzustellen,
gab er nunmehr Rechenschaft von der Anwendung seiner Zeit, seitdem
er die Vergünstigung erlangt, die auferlegte Wanderschaft nicht nach
Tagen und Stunden, sondern dem wahren Zweck einer vollständigen
Ausbildung gemäß einzuteilen und zu benutzen.

Hier nun war zufälligerweise vieles Redens keine Not, denn ein
bedeutendes Ereignis gab unserm Freunde Gelegenheit, sein erworbenes
Talent geschickt und glücklich anzuwenden und sich der menschlichen
Gesellschaft als wahrhaft nützlich zu erweisen.

Welcher Art aber dies gewesen, dürfen wir im Augenblicke noch nicht
offenbaren, obgleich der Leser bald, noch ehe er diesen Band aus den
Händen legt, davon genugsam unterrichtet sein wird.








Zehntes Kapitel



Hersilie an Wilhelm

Die ganze Welt wirft mir seit langen Jahren vor, ich sei ein
launig-wunderliches Mädchen. Mag ich's doch sein, so bin ich's ohne
mein Verschulden. Die Leute mußten Geduld mit mir haben, und nun
brauche ich Geduld mit mir selber, mit meiner Einbildungskraft, die
mir Vater und Sohn, bald zusammen, bald wechselsweise, hin und wieder
vor die Augen führt. Ich komme mir vor wie eine unschuldige Alkmene,
die von zwei Wesen, die einander vorstellen, unablässig heimgesucht
wird.

Ich habe Ihnen viel zu sagen, und doch schreibe ich Ihnen, so
scheint es, nur, wenn ich ein Abenteuer zu erzählen habe; alles
übrige ist auch abenteuerlich zwar, aber kein Abenteuer. Nun also zu
dem heutigen:

Ich sitze unter den hohen Linden und mache soeben ein Brieftäschchen
fertig, ein sehr zierliches, ohne deutlichst zu wissen, wer es haben
soll, Vater oder Sohn, aber gewiß einer von beiden; da kommt ein
junger Tabulettkrämer mit Körbchen und Kästchen auf mich zu, er
legitimiert sich bescheiden durch einen Schein des Beamten, daß ihm
erlaubt sei, auf den Gütern zu hausieren; ich besehe seine Sächelchen
bis in die unendlichen Kleinigkeiten, deren niemand bedarf und die
jedermann kauft aus kindischem Trieb, zu besitzen und zu vergeuden.
Der Knabe scheint mich aufmerksam zu betrachten. Schöne schwarze,
etwas listige Augen, wohlgezeichnete Augenbraunen, reiche Locken,
blendende Zahnreihen, genug, Sie verstehen mich, etwas Orientalisches.


Er tut mancherlei Fragen, auf die Personen der Familie bezüglich,
denen er allenfalls etwas anbieten dürfte; durch allerlei Wendungen
weiß er es einzuleiten, daß ich mich ihm nenne. "Hersilie", spricht
er bescheiden, "wird Hersilie verzeihen, wenn ich eine Botschaft
ausrichte?" Ich sehe ihn verwundert an, er zieht das kleinste
Schiefertäfelchen hervor, in ein weißes Rähmchen gefaßt, wie man sie
im Gebirg für die kindischen Anfänge des Schreibens zubereitet; ich
nehm' es an, sehe es beschrieben und lese die mit scharfem Griffel
sauber eingegrabene Inschrift:

"Felix
liebt
Hersilien.
Der Stallmeister
kommt bald."


Ich bin betroffen, ich gerate in Verwunderung über das, was ich in
der Hand halte, mit Augen sehe, am meisten darüber, daß das Schicksal
sich fast noch wunderlicher beweisen will, als ich selbst bin.--"Was
soll das!" sag' ich zu mir, und der kleine Schalk ist mir
gegenwärtiger als je, ja es ist mir, als ob sein Bild sich mir in die
Augen hineinbohrte.

Nun fang' ich an zu fragen und erhalte wunderliche, unbefriedigende
Antworten; ich examiniere, und erfahre nichts; ich denke nach, und
kann die Gedanken nicht recht zusammenbringen. Zuletzt verknüpf ich
aus Reden und Widerreden so viel, daß der junge Krämer auch die
pädagogische Provinz durchzogen, das Vertrauen meines jungen Verehrers
erworben, welcher auf ein erhandeltes Täfelchen die Inschrift
geschrieben und ihm für ein Wörtchen Antwort die besten Geschenke
versprochen. Er reichte mir sodann ein gleiches Täfelchen, deren er
mehrere in seinem Warenbesteck vorwies, zugleich einen Griffel, wobei
er so freundlich drang und bat, daß ich beides annahm, dachte, wieder
dachte, nichts erdenken konnte und schrieb:

"Hersiliens
Gruß
an Felix.
Der Stallmeister
halte sich gut."


Ich betrachtete das Geschriebene und fühlte Verdruß über den
ungeschickten Ausdruck. Weder Zärtlichkeit, noch Geist, noch Witz,
bloße Verlegenheit, und warum? Vor einem Knaben stand ich, an einen
Knaben schrieb ich; sollte mich das aus der Fassung bringen? Ich
glaube gar, ich seufzte, und war eben im Begriff, das Geschriebene
wegzuwischen; aber jener nahm es mir so zierlich aus der Hand, bat
mich um irgendeine fürsorgliche Einhüllung, und so geschah's, daß ich,
weiß ich doch nicht, wie's geschah, das Täfelchen in das
Brieftäschchen steckte, das Band darumschlang und zugeheftet dem
Knaben hinreichte, der es mit Anmut ergriff, sich tief verneigend
einen Augenblick zauderte, daß ich eben noch Zeit hatte, ihm mein
Beutelchen in die Hand zu drücken, und mich schalt, ihm nicht genug
gegeben zu haben. Er entfernte sich schicklich eilend und war, als
ich ihm nachblickte, schon verschwunden, ich begriff nicht recht wie.

Nun ist es vorüber, ich bin schon wieder auf dem gewöhnlichen,
flachen Tagesboden und glaube kaum an die Erscheinung. Halte ich
nicht das Täfelchen in der Hand? Es ist gar zierlich, die Schrift
gar schön und sorgfältig gezogen; ich glaube, ich hätte es geküßt,
wenn ich die Schrift auszulöschen nicht fürchtete.

Ich habe mir Zeit genommen, nachdem ich Vorstehendes geschrieben;
was ich aber auch darüber denke, will immer nicht fördern.
Allerdings etwas Geheimnisvolles war in der Figur; dergleichen sind
jetzt im Roman nicht zu entbehren, sollten sie uns denn auch im Leben
begegnen? Angenehm, doch verdächtig, fremdartig, doch Vertrauen
erregend; warum schied er auch vor aufgelöster Verwirrung? warum
hatt' ich nicht Gegenwart des Geistes genug, um ihn schicklicherweise
festzuhalten?





Nach einer Pause nehm' ich die Feder abermals zur Hand, meine
Bekenntnisse fortzusetzen. Die entschiedene, fortdauernde Neigung
eines zum Jüngling heranreifenden Knaben wollte mir schmeicheln; da
aber fiel mir ein, daß es nichts Seltenes sei, in diesem Alter nach
älteren Frauen sich umzusehen. Fürwahr, es gibt eine geheimnisvolle
Neigung jüngerer Männer zu älteren Frauen. Sonst, da es mich nicht
selbst betraf, lachte ich darüber und wollte boshafterweise gefunden
haben: es sei eine Erinnerung an die Ammen--und Säuglingszärtlichkeit,
von der sie sich kaum losgerissen haben. Jetzt ärgert's mich, mir
die Sache so zu denken; ich erniedrige den guten Felix zur Kindheit
herab, und mich sehe ich doch auch nicht in einer vorteilhaften
Stellung. Ach welch ein Unterschied ist es, ob man sich oder die
andern beurteilt.









Eilftes Kapitel Wilhelm an Natalien

Schon Tage geh' ich umher und kann die Feder anzusetzen mich nicht
entschließen; es ist so mancherlei zu sagen, mündlich fügte sich wohl
eins ans andere, entwickelte sich auch wohl leicht eins aus dem
andern; laß mich daher, den Entfernten, nur mit dem Allgemeinsten
beginnen, es leitet mich doch zuletzt aufs Wunderliche, was ich
mitzuteilen habe.

Du hast von dem Jüngling gehört, der, am Ufer des Meeres spazierend,
einen Ruderpflock fand; das Interesse, das er daran nahm, bewog ihn,
ein Ruder anzuschaffen, als notwendig dazu gehörend. Dies aber war
nun auch weiter nichts nütze; er trachtete ernstlich nach einem Kahn
und gelangte dazu. Jedoch war Kahn, Ruder und Ruderpflock nicht
sonderlich fördernd, er verschaffte sich Segelstangen und Segel und
so nach und nach, was zur Schnelligkeit und Bequemlichkeit der
Schiffahrt erforderlich ist. Durch zweckmäßiges Bestreben gelangt er
zu größerer Fertigkeit und Geschicklichkeit, das Glück begünstigt ihn,
er sieht sich endlich als Herr und Patron eines größern Fahrzeugs,
und so steigert sich das Gelingen, er gewinnt Wohlhaben, Ansehen und
Namen unter den Seefahrern.--





Indem ich nun dich veranlasse, diese artige Geschichte wieder zu
lesen, muß ich bekennen, daß sie nur im weitesten Sinne hierher
gehört, jedoch mir den Weg bahnt, dasjenige auszudrücken, was ich
vorzutragen habe. Indessen muß ich noch einiges Entferntere
durchgehen.





Die Fähigkeiten, die in dem Menschen liegen, lassen sich einteilen
in allgemeine und besondere, die allgemeinen sind anzusehen als
gleichgültig-ruhende Fähigkeiten, die nach Umständen geweckt und
zufällig zu diesem oder jenem Zweck bestimmt werden. Die
Nachahmungsgabe des Menschen ist allgemein, er will nachmachen,
nachbilden, was er sieht, auch ohne die mindesten innern und äußern
Mittel zum Zwecke. Natürlich ist es daher immer, daß er leisten will,
was er leisten sieht; das Natürlichste jedoch wäre, daß der Sohn des
Vaters Beschäftigung ergriffe. Hier ist alles beisammen: eine
vielleicht im Besondern schon angeborne, in ursprünglicher Richtung
entschiedene Fähigkeit, sodann eine folgerecht stufenweis
fortschreitende übung und ein entwickeltes Talent, das uns nötigte,
auch alsdann auf dem eingeschlagenen Wege fortzuschreiten, wenn andere
Triebe sich in uns entwickeln und uns eine freie Wahl zu einem
Geschäft führen dürfte, zu dem uns die Natur weder Anlage noch
Beharrlichkeit verliehen. Im Durchschnitt sind daher die Menschen am
glücklichsten, die ein angebornes, ein Familientalent im häuslichen
Kreise auszubilden Gelegenheit finden. Wir haben solche
Malerstammbäume gesehen; darunter waren freilich schwache Talente,
indessen lieferten sie doch etwas Brauchbares und vielleicht Besseres,
als sie bei mäßigen Naturkräften aus eigner Wahl in irgendeinem
andern Fache geleistet hätten.





Da dieses aber auch nicht ist, was ich sagen wollte, so muß ich
meinen Mitteilungen von irgendeiner andern Seite näher zu kommen
suchen.





Das ist nun das Traurige der Entfernung von Freunden, daß wir die
Mittelglieder, die Hülfsglieder unserer Gedanken, die sich in der
Gegenwart so flüchtig wie Blitze wechselseitig entwickeln und
durchweben, nicht in augenblicklicher Verknüpfung und Verbindung
vorführen und vortragen können. Hier also zunächst eine der frühsten
Jugendgeschichten.





Wir in einer alten, ernsten Stadt erzogenen Kinder hatten die
Begriffe von Straßen, Plätzen, von Mauern gefaßt, sodann auch von
Wällen, dem Glacis und benachbarten ummauerten Gärten. Uns aber
einmal, oder vielmehr sich selbst ins Freie zu führen, hatten unsere
Eltern längst mit Freunden auf dem Lande eine immerfort verschobene
Partie verabredet. Dringender endlich zum Pfingstfeste ward Einladung
und Vorschlag, denen man nur unter der Bedingung sich fügte: alles so
einzuleiten, daß man zu Nacht wieder zu Hause sein könnte; denn außer
seinem längst gewohnten Bette zu schlafen, schien eine Unmöglichkeit.
Die Freuden des Tags so eng zu konzentrieren, war freilich schwer:
zwei Freunde sollten besucht und ihre Ansprüche auf seltene
Unterhaltung befriedigt werden; indessen hoffte man, mit großer
Pünktlichkeit alles zu erfüllen.

Am dritten Feiertag, mit dem frühsten, standen alle munter und
bereit, der Wagen fuhr zur bestimmten Stunde vor, bald hatten wir
alles Beschränkende der Straßen, Tore, Brücken und Stadtgräben hinter
uns gelassen, eine freie, weitausgebreitete Welt tat sich vor den
Unerfahrnen auf. Das durch einen Nachtregen erst erfrischte Grün der
Fruchtfelder und Wiesen, das mehr oder weniger hellere der eben
aufgebrochenen Strauch--und Baumknospen, das nach allen Seiten hin
blendend sich verbreitende Weiß der Baumblüte, alles gab uns den
Vorschmack glücklicher, paradiesischer Stunden.

Zu rechter Zeit gelangten wir auf der ersten Station bei einem
würdigen Geistlichen an. Freundlichst empfangen, konnten wir bald
gewahr werden, daß die aufgehobene kirchliche Feier den Ruhe und
Freiheit suchenden Gemütern nicht entnommen war. Ich betrachtete den
ländlichen Haushalt zum erstenmal mit freudigem Anteil; Pflug und Egge,
Wagen und Karren deuteten auf unmittelbare Benutzung, selbst der
widrig anzuschauende Unrat schien das Unentbehrlichste im ganzen
Kreise: sorgfältig war er gesammelt und gewissermaßen zierlich
aufbewahrt. Doch dieser auf das Neue und doch Begreifliche gerichtete
frische Blick ward gar bald auf ein Genießbares geheftet:
appetitliche Kuchen, frische Milch und sonst mancher ländliche
Leckerbissen ward von uns begierig in Betracht gezogen. Eilig
beschäftigten sich nunmehr die Kinder, den kleinen Hausgarten und die
wirtliche Laube verlassend, in dem angrenzenden Baumstück ein
Geschäft zu vollbringen, das eine alte, wohlgesinnte Tante ihnen
aufgetragen hatte. Sie sollten nämlich so viel Schlüsselblumen als
möglich sammeln und solche getreulich mit zur Stadt bringen, indem
die haushältische Matrone gar allerlei gesundes Getränk daraus zu
bereiten gewohnt war.

Indem wir nun in dieser Beschäftigung auf Wiesen, an Rändern und
Zäunen hin und wider liefen, gesellten sich mehrere Kinder des Dorfs
zu uns, und der liebliche Duft gesammelter Frühlingsblumen schien
immer erquickender und balsamischer zu werden.

Wir hatten nun schon so eine Masse Stengel und Blüten
zusammengebracht, daß wir nicht wußten, wo mit hin; man fing jetzt an,
die gelblichen Röhrenkronen auszuzupfen, denn um sie war es denn
eigentlich doch nur zu tun; jeder suchte in sein Hütchen, sein
Mützchen möglichst zu sammeln.

Der ältere dieser Knaben jedoch, an Jahren wenig vor mir voraus, der
Sohn des Fischers, den dieses Blumengetändel nicht zu freuen schien,
ein Knabe, der mich bei seinem ersten Auftreten gleich besonders
angezogen hatte, lud mich ein, mit ihm nach dem Fluß zu gehen, der,
schon ansehnlich breit, in weniger Entfernung vorbeifloß. Wir
setzten uns mit ein paar Angelruten an eine schattige Stelle, wo im
tiefen, ruhig klaren Wasser gar manches Fischlein sich hin und her
bewegte. Freundlich wies er mich an, worum es zu tun, wie der Köder
am Angel zu befestigen sei, und es gelang mir einigemal
hintereinander, die kleinsten dieser zarten Geschöpfe wider ihren
Willen in die Luft herauszuschnellen. Als wir nun so zusammen
aneinandergelehnt beruhigt saßen, schien er zu langweilen und machte
mich auf einen flachen Kies aufmerksam, der von unserer Seite sich in
den Strom hinein erstreckte. Da sei die schönste Gelegenheit zu baden.
Er könne, rief er, endlich aufspringend, der Versuchung nicht
widerstehen, und ehe ich mich's versah, war er unten, ausgezogen und
im Wasser.

Da er sehr gut schwamm, verließ er bald die seichte Stelle, übergab
sich dem Strom und kam bis an mich in dem tieferen Wasser heran; mir
war ganz wunderlich zumute geworden. Grashupfer tanzten um mich her,
Ameisen krabbelten heran, bunte Käfer hingen an den Zweigen, und
goldschimmernde Sonnenjungfern, wie er sie genannt hatte, schwebten
und schwankten geisterartig zu meinen Füßen, eben als jener, einen
großen Krebs zwischen Wurzeln hervorholend, ihn lustig aufzeigte, um
ihn gleich wieder an den alten Ort zu bevorstehendem Fange geschickt
zu verbergen. Es war umher so warm und so feucht, man sehnte sich
aus der Sonne in den Schatten, aus der Schattenkühle hinab ins
kühlere Wasser. Da war es denn ihm leicht, mich hinunterzulocken,
eine nicht oft wiederholte Einladung fand ich unwiderstehlich und war,
mit einiger Furcht vor den Eltern, wozu sich die Scheu vor dem
unbekannten Elemente gesellte, in ganz wunderlicher Bewegung. Aber
bald auf dem Kies entkleidet, wagt' ich mich sachte ins Wasser, doch
nicht tiefer, als es der leise abhängige Boden erlaubte; hier ließ er
mich weilen, entfernte sich in dem tragenden Elemente, kam wieder,
und als er sich heraushob, sich aufrichtete, im höheren Sonnenschein
sich abzutrocknen, glaubt' ich meine Augen vor einer dreifachen Sonne
geblendet: so schön war die menschliche Gestalt, von der ich nie einen
Begriff gehabt. Er schien mich mit gleicher Aufmerksamkeit zu
betrachten. Schnell angekleidet standen wir uns noch immer
unverhüllt gegeneinander, unsere Gemüter zogen sich an, und unter den
feurigsten Küssen schwuren wir eine ewige Freundschaft.

Sodann aber eilig eilig gelangten wir nach Hause, gerade zur rechten
Zeit, als die Gesellschaft den angenehmsten Fußweg durch Busch und
Wald etwa anderthalb Stunden nach der Wohnung des Amtmanns antrat.
Mein Freund begleitete mich, wir schienen schon unzertrennlich; als
ich aber hälftewegs um Erlaubnis bat, ihn mit in des Amtmanns Wohnung
zu nehmen, verweigerte es die Pfarrerin, mit stiller Bemerkung des
Unschicklichen, dagegen gab sie ihm den dringenden Auftrag: er solle
seinem rückkehrenden Vater ja sagen, sie müsse bei ihrer
Nachhausekunft notwendig schöne Krebse vorfinden, die sie den Gästen
als eine Seltenheit nach der Stadt mitgeben wolle. Der Knabe schied,
versprach aber mit Hand und Mund, heute abend an dieser Waldecke
meiner zu warten.

Die Gesellschaft gelangte nunmehr zum Amthause, wo wir auch einen
ländlichen Zustand antrafen, doch höherer Art. Ein durch die Schuld
der übertätigen Hausfrau sich verspätendes Mittagessen machte mich
nicht ungeduldig, denn der Spaziergang in einem wohlgehaltenen
Ziergarten, wohin die Tochter, etwas jünger als ich, mir den Weg
begleitend anwies, war mir höchst unterhaltend. Frühlingsblumen
aller Art standen in zierlich gezeichneten Feldern, sie ausfüllend
oder ihre Ränder schmückend. Meine Begleiterin war schön, blond,
sanftmütig, wir gingen vertraulich zusammen, faßten uns bald bei der
Hand und schienen nichts Besseres zu wünschen. So gingen wir an
Tulpenbeeten vorüber, so an gereihten Narzissen und Jonquillen; sie
zeigte mir verschiedene Stellen, wo eben die herrlichsten
Hyazinthenglocken schon abgeblüht hatten. Dagegen war auch für die
folgenden Jahrszeiten gesorgt: schon grünten die Büsche der künftigen
Ranunkeln und Anemonen; die auf zahlreiche Nelkenstöcke verwendete
Sorgfalt versprach den mannigfaltigsten Flor; näher aber knospete
schon die Hoffnung vielblumiger Lilienstengel gar weislich zwischen
Rosen verteilt. Und wie manche Laube versprach nicht zunächst mit
Geißblatt, Jasmin, reben und rankenartigen Gewächsen zu prangen und
zu schatten.





Betracht' ich nach so viel Jahren meinen damaligen Zustand, so
scheint er mir wirklich beneidenswert. Unerwartet, in demselbigen
Augenblick, ergriff mich das Vorgefühl von Freundschaft und Liebe.
Denn als ich ungern Abschied nahm von dem schönen Kinde, tröstete
mich der Gedanke, diese Gefühle meinem jungen Freunde zu eröffnen, zu
vertrauen und seiner Teilnahme zugleich mit diesen frischen
Empfindungen mich zu freuen.





Und wenn ich hier noch eine Betrachtung anknüpfe, so darf ich wohl
bekennen: daß im Laufe des Lebens mir jenes erste Aufblühen der
Außenwelt als die eigentliche Originalnatur vorkam, gegen die alles
übrige, was uns nachher zu den Sinnen kommt, nur Kopien zu sein
scheinen, die bei aller Annäherung an jenes doch des eigentlich
ursprünglichen Geistes und Sinnes ermangeln.





Wie müßten wir verzweifeln, das äußere so kalt, so leblos zu
erblicken, wenn nicht in unserm Innern sich etwas entwickelte, das
auf eine ganz andere Weise die Natur verherrlicht, indem es uns
selbst in ihr zu verschönen eine schöpferische Kraft erweist.





Es dämmerte schon, als wir uns der Waldecke wieder näherten, wo der
junge Freund meiner zu warten versprochen hatte. Ich strengte die
Sehkraft möglichst an, um seine Gegenwart zu erforschen; als es mir
nicht gelingen wollte, lief ich ungeduldig der langsam schreitenden
Gesellschaft voraus, rannte durchs Gebüsche hin und wider. Ich rief,
ich ängstigte mich; er war nicht zu sehen und antwortete nicht; ich
empfand zum erstenmal einen leidenschaftlichen Schmerz, doppelt und
vielfach.

Schon entwickelte sich in mir die unmäßige Forderung vertraulicher
Zuneigung, schon war es ein unwiderstehlich Bedürfnis, meinen Geist
von dem Bilde jener Blondine durch Plaudern zu befreien, mein Herz
von den Gefühlen zu erlösen, die sie in mir aufgeregt hatte. Es war
voll, der Mund lispelte schon, um überzufließen; ich tadelte laut den
guten Knaben wegen verletzter Freundschaft, wegen vernachlässigter
Zusage.





Bald aber sollten mir schwerere Prüfungen zugedacht sein. Aus den
ersten Häusern des Ortes stürzten Weiber schreiend heraus, heulende
Kinder folgten, niemand gab Red' und Antwort. Von der einen Seite her
um das Eckhaus sahen wir einen Trauerzug herumziehen, er bewegte sich
langsam die lange Straße hin; es schien wie ein Leichenzug, aber ein
vielfacher; des Tragens und Schleppens war kein Ende. Das Geschrei
dauerte fort, es vermehrte sich, die Menge lief zusammen. "Sie sind
ertrunken, alle, sämtlich ertrunken! Der! wer? welcher?" Die Mütter,
die ihre Kinder um sich sahen, schienen getröstet. Aber ein ernster
Mann trat heran und sprach zur Pfarrerin: "Unglücklicherweise bin ich
zu lange außen geblieben, ertrunken ist Adolf selbfünfe, er wollte
sein Versprechen halten und meins." Der Mann, der Fischer selbst war
es, ging weiter dem Zuge nach, wir standen erschreckt und erstarrt.
Da trat ein kleiner Knabe heran, reichte einen Sack dar: "Hier die
Krebse, Frau Pfarrerin", und hielt das Zeichen hoch in die Höhe. Man
entsetzte sich davor wie vor dem Schädlichsten, man fragte, man
forschte und erfuhr so viel: dieser letzte Kleine war am Ufer
geblieben, er las die Krebse auf, die sie ihm von unten zuwarfen.
Alsdann aber nach vielem Fragen und Widerfragen erfuhr man: Adolf mit
zwei verständigen Knaben sei unten am und im Wasser hingegangen, zwei
andere, jüngere haben sich ungebeten dazu gesellt, die durch kein
Schelten und Drohen abzuhalten gewesen. Nun waren über eine steinige,
gefährliche Stelle die ersten fast hinaus, die letzten gleiteten,
griffen zu und zerrten immer einer den andern hinunter; so geschah es
zuletzt auch dem Vordersten, und alle stürzten in die Tiefe. Adolf,
als guter Schwimmer, hätte sich gerettet, alles aber hielt in der
Angst sich an ihn, er ward niedergezogen. Dieser Kleine sodann war
schreiend ins Dorf gelaufen, seinen Sack mit Krebsen fest in den
Händen. Mit andern Aufgerufenen eilte der zufällig spät rückkehrende
Fischer dorthin; man hatte sie nach und nach herausgezogen, tot
gefunden, und nun trug man sie herein.

Der Pfarrherr mit dem Vater gingen bedenklich dem Gemeindehause zu;
der volle Mond war aufgegangen und beleuchtete die Pfade des Todes;
ich folgte leidenschaftlich, man wollte mich nicht einlassen; ich war
im schrecklichsten Zustande. Ich umging das Haus und rastete nicht;
endlich ersah ich meinen Vorteil und sprang zum offenen Fenster
hinein.

In dem großen Saale, wo Versammlungen aller Art gehalten werden,
lagen die Unglückseligen auf Stroh, nackt, ausgestreckt,
glänzend-weiße Leiber, auch bei düsterm Lampenschein hervorleuchtend.
Ich warf mich auf den größten, auf meinen Freund; ich wüßte nicht
von meinem Zustand zu sagen, ich weinte bitterlich und überschwemmte
seine breite Brust mit unendlichen Tränen. Ich hatte etwas von Reiben
gehört, das in solchem Falle hilfreich sein sollte, ich rieb meine
Tränen ein und belog mich mit der Wärme, die ich erregte. In der
Verwirrung dacht' ich ihm Atem einzublasen, aber die Perlenreihen
seiner Zähne waren fest verschlossen, die Lippen, auf denen der
Abschiedskuß noch zu ruhen schien, versagten auch das leiseste Zeichen
der Erwiderung. An menschlicher Hülfe verzweifelnd, wandt' ich mich
zum Gebet; ich flehte, ich betete, es war mir, als wenn ich in diesem
Augenblicke Wunder tun müßte, die noch inwohnende Seele hervorzurufen,
die noch in der Nähe schwebende wieder hineinzulocken.

Man riß mich weg; weinend, schluchzend saß ich im Wagen und vernahm
kaum, was die Eltern sagten: unsere Mutter, was ich nachher so oft
wiederholen hörte, hatte sich in den Willen Gottes ergeben. Ich war
indessen eingeschlafen und erwachte verdüstert am späten Morgen in
einem rätselhaften, verwirrten Zustande.

Als ich mich aber zum Frühstück begab, fand ich Mutter, Tante und
Köchin in wichtiger Beratung. Die Krebse sollten nicht gesotten,
nicht auf den Tisch gebracht werden; der Vater wollte eine so
unmittelbare Erinnerung an das nächstvergangene Unglück nicht
erdulden. Die Tante schien sich dieser seltenen Geschöpfe eifrigst
bemächtigen zu wollen, schalt aber nebenher auf mich, daß wir die
Schlüsselblumen mitzubringen versäumt; doch schien sie sich bald
hierüber zu beruhigen, als man jene lebhaft durcheinander kriechenden
Mißgestalten ihr zu beliebiger Verfügung übergab, worauf sie denn
deren weitere Behandlung mit der Köchin verabredete.

Um aber die Bedeutung dieser Szene klar zu machen, muß ich von dem
Charakter und dem Wesen dieser Frau das Nähere vermelden: Die
Eigenschaften, von denen sie beherrscht wurde, konnte man, sittlich
betrachtet, keineswegs rühmen; und doch brachten sie, bürgerlich und
politisch angesehen, manche gute Wirkung hervor. Sie war im
eigentlichen Sinne geldgeizig, denn es dauerte sie jeder bare Pfennig,
den sie aus der Hand geben sollte, und sah sich überall für ihre
Bedürfnisse nach Surrogaten um, welche man umsonst, durch Tausch oder
irgendeine Weise beischaffen konnte. So waren die Schlüsselblumen
zum Tee bestimmt, den sie für gesünder hielt als irgendeinen
chinesischen. Gott habe einem jeden Land das Notwendige verliehen,
es sei nun zur Nahrung, zur Würze, zur Arzenei; man brauche sich
deshalb nicht an fremde Länder zu wenden. So besorgte sie in einem
kleinen Garten alles, was nach ihrem Sinn die Speisen schmackhaft
mache und Kranken zuträglich wäre: sie besuchte keinen fremden Garten,
ohne dergleichen von da mitzubringen.

Diese Gesinnung und was daraus folgte, konnte man ihr sehr gerne
zugeben, da ihre emsig gesammelte Barschaft der Familie doch endlich
zugute kommen sollte; auch wußten Vater und Mutter hierin durchaus
ihr nachzugeben und förderlich zu sein.

Eine andere Leidenschaft jedoch, eine tätige, die sich unermüdet
geschäftig hervortat, war der Stolz, für eine bedeutende,
einflußreiche Person gehalten zu werden. Und sie hatte fürwahr diesen
Ruhm sich verdient und erreicht; denn die sonst unnützen, sogar oft
schädlichen unter Frauen obwaltenden Klatschereien wußte sie zu ihrem
Vorteil anzuwenden. Alles, was in der Stadt vorging, und daher auch
das Innere der Familien, war ihr genau bekannt, und es ereignete sich
nicht leicht ein zweifelhafter Fall, in den sie sich nicht zu mischen
gewußt hätte, welches ihr um desto mehr gelang, als sie immer nur zu
nutzen trachtete, dadurch aber ihren Ruhm und guten Namen zu steigern
wußte. Manche Heirat hatte sie geschlossen, wobei wenigstens der
eine Teil vielleicht zufrieden blieb. Was sie aber am meisten
beschäftigte, war das Fördern und Befördern solcher Personen, die ein
Amt, eine Anstellung suchten, wodurch sie sich denn wirklich eine
große Anzahl Klienten erwarb, deren Einfluß sie dann wieder zu
benutzen wußte.

Als Witwe eines nicht unbedeutenden Beamten, eines rechtlichen,
strengen Mannes, hatte sie denn doch gelernt, wie man diejenigen
durch Kleinigkeiten gewinnt, denen man durch bedeutendes Anerbieten
nicht beikommen kann.

Um aber ohne fernere Weitläufigkeit auf dem betretenen Pfade zu
bleiben, sei zunächst bemerkt, daß sie auf einen Mann, der eine
wichtige Stelle bekleidete, sich großen Einfluß zu verschaffen gewußt.
Er war geizig gleich ihr, und zu seinem Unglück ebenso speiselustig
und genäschig. Ihm also unter irgendeinem Vorwande ein schmackhaftes
Gericht auf die Tafel zu bringen, blieb ihre erste Sorge. Sein
Gewissen war nicht das zarteste, aber auch sein Mut, seine
Verwegenheit mußte in Anspruch genommen werden, wenn er in
bedenklichen Fällen den Widerstand seiner Kollegen überwinden und die
Stimme der Pflicht, die sie ihm entgegensetzten, übertäuben sollte.

Nun war gerade der Fall, daß sie einen Unwürdigen begünstigte; sie
hatte das möglichste getan, ihn einzuschieben; die Angelegenheit
hatte für sie eine günstige Wendung genommen, und nun kamen ihr die
Krebse, dergleichen man freilich selten gesehen, glücklicherweise
zustatten. Sie sollten sorgfältig gefüttert und nach und nach dem
hohen Gönner, der gewöhnlich ganz allein sehr kärglich speiste, auf
die Tafel gebracht werden.

übrigens gab der unglückliche Vorfall zu manchen Gesprächen und
geselligen Bewegungen Anlaß. Mein Vater war jener Zeit einer der
ersten, der seine Betrachtung, seine Sorge über die Familie, über die
Stadt hinaus zu erstrecken durch einen allgemeinen, wohlwollenden
Geist getrieben ward. Die großen Hindernisse, welche der Einimpfung
der Blattern anfangs entgegenstanden, zu beseitigen, war er mit
verständigen ärzten und Polizeiverwandten bemüht. Größere Sorgfalt
in den Hospitälern, menschlichere Behandlung der Gefangenen und was
sich hieran ferner schließen mag, machte das Geschäft wo nicht seines
Lebens, doch seines Lesens und Nachdenkens; wie er denn auch seine
überzeugung überall aussprach und dadurch manches Gute bewirkte.

Er sah die bürgerliche Gesellschaft, welcher Staatsform sie auch
untergeordnet wäre, als einen Naturzustand an, der sein Gutes und
sein Böses habe, seine gewöhnlichen Lebensläufe, abwechselnd reiche
und kümmerliche Jahre, nicht weniger zufällig und unregelmäßig
Hagelschlag, Wasserfluten und Brandschäden; das Gute sei zu ergreifen
und zu nutzen, das Böse abzuwenden oder zu ertragen; nichts aber,
meinte er, sei wünschenswerter als die Verbreitung des allgemeinen
guten Willens, unabhängig von jeder andern Bedingung.

In Gefolg einer solchen Gemütsart mußte er nun bestimmt werden, eine
schon früher angeregte wohltätige Angelegenheit wieder zur Sprache zu
bringen; es war die Wiederbelebung der für tot Gehaltenen, auf welche
Weise sich auch die äußern Zeichen des Lebens möchten verloren haben.
Bei solchen Gesprächen erhorchte ich mir nun, daß man bei jenen
Kindern das Umgekehrte versucht und angewendet, ja sie gewissermaßen
erst ermordet; ferner hielt man dafür, daß durch einen Aderlaß
vielleicht ihnen allen wäre zu helfen gewesen. In meinem
jugendlichen Eifer nahm ich mir daher im stillen vor, ich wollte keine
Gelegenheit versäumen, alles zu lernen, was in solchem Falle nötig
wäre, besonders das Aderlassen und was dergleichen Dinge mehr waren.

Allein wie bald nahm mich der gewöhnliche Tag mit sich fort. Das
Bedürfnis nach Freundschaft und Liebe war aufgeregt, überall schaut'
ich mich um, es zu befriedigen. Indessen ward Sinnlichkeit,
Einbildungskraft und Geist durch das Theater übermäßig beschäftigt;
wie weit ich hier geführt und verführt worden, darf ich nicht
wiederholen.





Wenn ich nun aber nach dieser umständlichen Erzählung zu bekennen
habe, daß ich noch immer nicht ans Ziel meiner Absicht gelangt sei
und daß ich nur durch einen Umweg dahin zu gelangen hoffen darf, was
soll ich da sagen! wie kann ich mich entschuldigen! Allenfalls hätte
ich folgendes vorzubringen: Wenn es dem Humoristen erlaubt ist, das
Hundertste ins Tausendste durcheinanderzuwerfen, wenn er kecklich
seinem Leser überläßt, das, was allenfalls daraus zu nehmen sei, in
halber Bedeutung endlich aufzufinden, sollte es dem Verständigen, dem
Vernünftigen nicht zustehen, auf eine seltsam scheinende Weise
ringsumher nach vielen Punkten hinzuwirken, damit man sie in einem
Brennpunkte zuletzt abgespielt und zusammengefaßt erkenne, einsehen
lerne, wie die verschiedensten Einwirkungen den Menschen umringend zu
einem Entschluß treiben, den er auf keine andere Weise, weder aus
innerm Trieb noch äußerm Anlaß, hätte ergreifen können? Bei dem
Mannigfaltigen, was mir noch zu sagen übrigbleibt, habe ich die Wahl,
was ich zuerst vornehmen will; aber auch dies ist gleichgültig, du
mußt dich eben in Geduld fassen, lesen und weiter lesen, zuletzt wird
denn doch auf einmal hervorspringen und dir ganz natürlich scheinen,
was mit einem Worte ausgesprochen dir höchst seltsam vorgekommen wäre,
und zwar auf einen Grad, daß du nachher diesen Einleitungen in Form
von Erklärungen kaum einen Augenblick hättest schenken mögen.

Um nun aber einigermaßen in die Richte zu kommen, will ich mich
wieder nach jenem Ruderpflock umsehen und eines Gesprächs gedenken,
das ich mit unserem geprüften Freunde Jarno, den ich unter dem Namen
Montan im Gebirge fand, zu ganz besonderer Erweckung eigner Gefühle
zufällig zu führen veranlaßt ward. Die Angelegenheiten unseres Lebens
haben einen geheimnisvollen Gang, der sich nicht berechnen läßt. Du
erinnerst dich gewiß jenes Bestecks, das euer tüchtiger Wundarzt
hervorzog, als du dich mir, wie ich verwundet im Walde hingestreckt
lag, hilfreich nähertest? Es leuchtete mir damals dergestalt in die
Augen und machte einen so tiefen Eindruck, daß ich ganz entzückt war,
als ich nach Jahren es in den Händen eines Jüngeren wiederfand.
Dieser legte keinen besondern Wert darauf; die Instrumente sämtlich
hatten sich in neuerer Zeit verbessert und waren zweckmäßiger
eingerichtet, und ich erlangte jenes um desto eher, als ihm die
Anschaffung eines neuen dadurch erleichtert wurde. Nun führte ich es
immer mit mir, freilich zu keinem Gebrauch, aber desto sicherer zu
tröstlicher Erinnerung: Es war Zeuge des Augenblicks, wo mein Glück
begann, zu dem ich erst durch großen Umweg gelangen sollte.

Zufällig sah es Jarno, als wir bei dem Köhler übernachteten, der es
alsobald erkannte und auf meine Erklärung erwiderte: "Ich habe nichts
dagegen, daß man sich einen solchen Fetisch aufstellt, zur Erinnerung
an manches unerwartete Gute, an bedeutende Folgen eines
gleichgültigen Umstandes; es hebt uns empor als etwas, das auf ein
Unbegreifliches deutet, erquickt uns in Verlegenheiten und ermutigt
unsere Hoffnungen; aber schöner wäre es, wenn du dich durch jene
Werkzeuge hättest anreizen lassen, auch ihren Gebrauch zu verstehen
und dasjenige zu leisten, was sie stumm von dir fordern."

"Laß mich bekennen", versetzte ich darauf, "daß mir dies hundertmal
eingefallen ist; es regte sich in mir eine innere Stimme, die mich
meinen eigentlichen Beruf hieran erkennen ließ." Ich erzählte ihm
hierauf die Geschichte der ertrunkenen Knaben, und wie ich damals
gehört, ihnen wäre zu helfen gewesen, wenn man ihnen zur Ader gelassen
hätte; ich nahm mir vor, es zu lernen, doch jede Stunde löschte den
Vorsatz aus.

"So ergreif ihn jetzt", versetzte jener, "ich sehe dich schon so
lange mit Angelegenheiten beschäftigt, die des Menschen Geist, Gemüt,
Herz, und wie man das alles nennt, betreffen und sich darauf beziehen;
allein was hast du dabei für dich und andere gewonnen? Seelenleiden,
in die wir durch Unglück oder eigne Fehler geraten, sie zu heilen
vermag der Verstand nichts, die Vernunft wenig, die Zeit viel,
entschlossene Tätigkeit hingegen alles. Hier wirke jeder mit und auf
sich selbst, das hast du an dir, hast es an andern erfahren."

Mit heftigen und bittern Worten, wie er gewohnt ist, setzte er mir
zu und sagte manches Harte, das ich nicht wiederholen mag. Es sei
nichts mehr der Mühe wert, schloß er endlich, zu lernen und zu
leisten, als dem Gesunden zu helfen, wenn er durch irgendeinen Zufall
verletzt sei: durch einsichtige Behandlung stelle sich die Natur
leicht wieder her; die Kranken müsse man den ärzten überlassen,
niemand aber bedürfe eines Wundarztes mehr als der Gesunde. In der
Stille des Landlebens, im engsten Kreis der Familie sei er ebenso
willkommen als in und nach dem Getümmel der Schlacht; in den süßesten
Augenblicken wie in den bittersten und gräßlichsten; überall walte
das böse Geschick grimmiger als der Tod, und ebenso rücksichtslos, ja
noch auf eine schmählichere, Lust und Leben verletzende Weise.

Du kennst ihn und denkst ohne Anstrengung, daß er mich so wenig als
die Welt schonte. Am stärksten aber lehnte er sich auf das Argument,
das er im Namen der großen Gesellschaft gegen mich wendete.
"Narrenpossen", sagte er, "sind eure allgemeine Bildung und alle
Anstalten dazu. Daß ein Mensch etwas ganz entschieden verstehe,
vorzüglich leiste, wie nicht leicht ein anderer in der nächsten
Umgebung, darauf kommt es an, und besonders in unserm Verbande
spricht es sich von selbst aus. Du bist gerade in einem Alter, wo man
sich mit Verstande etwas vorsetzt, mit Einsicht das Vorliegende
beurteilt, es von der rechten Seite angreift, seine Fähigkeiten und
Fertigkeiten auf den rechten Zweck hinlenkt."





Was soll ich nun weiter fortfahren auszusprechen, was sich von
selbst versteht! Er machte mir deutlich, daß ich Dispensation von
dem so wunderlich gebotenen unstäten Leben erhalten könne; es werde
jedoch schwer sein, es für mich zu erlangen. "Du bist von der
Menschenart", sprach er, "die sich leicht an einen Ort, nicht leicht
an eine Bestimmung gewöhnen. Allen solchen wird die unstäte
Lebensart vorgeschrieben, damit sie vielleicht zu einer sichern
Lebensweise gelangen. Willst du dich ernstlich dem göttlichsten aller
Geschäfte widmen, ohne Wunder zu heilen und ohne Worte Wunder zu tun,
so verwende ich mich für dich." So sprach er hastig und fügte hinzu,
was seine Beredsamkeit noch alles für gewaltige Gründe vorzubringen
wußte.





Hier nun bin ich geneigt zu enden, zunächst aber sollst du
umständlich erfahren, wie ich die Erlaubnis, an bestimmten Orten mich
länger aufhalten zu dürfen, benutzt habe, wie ich in das Geschäft,
wozu ich immer eine stille Neigung empfunden, mich gar bald zu fügen,
mich darin auszubilden wußte. Genug! bei dem großen Unternehmen, dem
ihr entgegengeht, werd' ich als ein nützliches, als ein nötiges Glied
der Gesellschaft erscheinen und euren Wegen, mit einer gewissen
Sicherheit, mich anschließen; mit einigem Stolze, denn es ist ein
löblicher Stolz, euer wert zu sein.






II. Buch, Betrachtungen im Sinne der Wanderer--1







Betrachtungen im Sinne der Wanderer



Kunst, Ethisches, Natur

Alles Gescheite ist schon gedacht worden, man muß nur versuchen, es
noch einmal zu denken.

Wie kann man sich selbst kennen lernen? Durch Betrachten niemals,
wohl aber durch Handeln. Versuche deine Pflicht zu tun, und du weißt
gleich, was an dir ist.

Was aber ist deine Pflicht? Die Forderung des Tages.

Die vernünftige Weit ist als ein großes unsterbliches Individuum zu
betrachten, das unaufhaltsam das Notwendige bewirkt und dadurch sich
sogar über das Zufällige zum Herrn macht.

Mir wird, je länger ich lebe, immer verdrießlicher, wenn ich den
Menschen sehe, der eigentlich auf seiner höchsten Stelle da ist, um
der Natur zu gebieten, um sich und die Seinigen von der gewalttätigen
Notwendigkeit zu befreien; wenn ich sehe, wie er aus irgendeinem
vorgefaßten falschen Begriff gerade das Gegenteil tut von dem, was er
will, und sich alsdann, weil die Anlage im Ganzen verdorben ist, im
Einzelnen kümmerlich herumpfuschet.

Tüchtiger, tätiger Mann, verdiene dir und erwarte:

von den Großen--Gnade,
von den Mächtigen--Gunst,
von Tätigen und Guten--Förderung,
von der Menge--Neigung,
von dem Einzelnen--Liebe.




Die Dilettanten, wenn sie das Möglichste getan haben, pflegen zu
ihrer Entschuldigung zu sagen, die Arbeit sei noch nicht fertig.
Freilich kann sie nie fertig werden, weil sie nie recht angefangen
ward. Der Meister stellt sein Werk mit wenigen Strichen als fertig
dar, ausgeführt oder nicht, schon ist es vollendet. Der
geschickteste Dilettant tastet im Ungewissen, und wie die Ausführung
wächst, kommt die Unsicherheit der ersten Anlage immer mehr zum
Vorschein. Ganz zuletzt entdeckt sich erst das Verfehlte, das nicht
auszugleichen ist, und so kann das Werk freilich nicht fertig werden.

In der wahren Kunst gibt es keine Vorschule, wohl aber
Vorbereitungen; die beste jedoch ist die Teilnahme des geringsten
Schülers am Geschäft des Meisters. Aus Farbenreibern sind treffliche
Maler hervorgegangen.

Ein anderes ist die Nachäffung, zu welcher die natürliche allgemeine
Tätigkeit des Menschen durch einen bedeutenden Künstler, der das
Schwere mit Leichtigkeit vollbringt, zufällig angeregt wird.

Von der Notwendigkeit: daß der bildende Künstler Studien nach der
Natur mache, und von dem Werte derselben überhaupt sind wir genugsam
überzeugt; allein wir leugnen nicht, daß es uns öfters betrübt, wenn
wir den Mißbrauch eines so löblichen Strebens gewahr werden.

Nach unserer überzeugung sollte der junge Künstler wenig oder gar
keine Studien nach der Natur beginnen, wobei er nicht zugleich dächte,
wie er jedes Blatt zu einem Ganzen abrunden, wie er diese
Einzelnheit, in ein angenehmes Bild verwandelt, in einen Rahmen
eingeschlossen, dem Liebhaber und Kenner gefällig anbieten möge.

Es steht manches Schöne isoliert in der Welt, doch der Geist ist es,
der Verknüpfungen zu entdecken und dadurch Kunstwerke hervorzubringen
hat.--Die Blume gewinnt erst ihren Reiz durch das Insekt, das ihr
anhängt, durch den Tautropfen, der sie befeuchtet, durch das Gefäß,
woraus sie allenfalls ihre letzte Nahrung zieht. Kein Busch, kein
Baum, dem man nicht durch die Nachbarschaft eines Felsens, einer
Quelle Bedeutung geben, durch eine mäßige einfache Ferne größern Reiz
verleihen könnte. So ist es mit menschlichen Figuren und so mit
Tieren aller Art beschaffen.

Der Vorteil, den sich der junge Künstler hiedurch verschafft, ist
gar mannigfaltig. Er lernt denken, das Passende gehörig
zusammenbinden, und wenn er auf diese Weise geistreich komponiert,
wird es ihm zuletzt auch an dem, was man Erfindung nennt, an dem
Entwickeln des Mannigfaltigen aus dem Einzelnen, keineswegs fehlen
können.

Tut er nun hierin der eigentlichen Kunstpädagogik wahrhaft Genüge,
so hat er noch nebenher den großen nicht zu verachtenden Gewinn, daß
er lernt, verkäufliche dem Liebhaber anmutige und liebliche Blätter
hervorzubringen.

Eine solche Arbeit braucht nicht im höchsten Grade ausgeführt und
vollendet zu sein; wenn sie gut gesehen, gedacht und fertig ist, so
ist sie für den Liebhaber oft reizender als ein größeres ausgeführtes
Werk.

Beschaue doch jeder junge Künstler seine Studien im Büchelchen und
im Portefeuille und überlege, wie viele Blätter er davon auf jene
Weise genießbar und wünschenswert hätte machen können.

Es ist nicht die Rede vom Höheren, wovon man wohl auch sprechen
könnte, sondern es soll nur als Warnung gesagt sein, die von einem
Abwege zurückruft und aufs Höhere hindeutet.

Versuche es doch der Künstler nur ein halb Jahr praktisch und setze
weder Kohle noch Pinsel an ohne Intention, einen vorliegenden
Naturgegenstand als Bild abzuschließen. Hat er angebornes Talent, so
wird sich's bald offenbaren, welche Absicht wir bei diesen Andeutungen
im Sinne hegten.

Sage mir, mit wem du umgehst, so sage ich dir, wer du bist; weiß ich,
womit du dich beschäftigst, so weiß ich, was aus dir werden kann.

Jeder Mensch muß nach seiner Weise denken, denn er findet auf seinem
Wege immer ein Wahres, oder eine Art von Wahrem die ihm durchs Leben
hilft; nur darf er sich nicht gehen lassen; er muß sich kontrollieren;
der bloße nackte Instinkt geziemt nicht dem Menschen.

Unbedingte Tätigkeit, von welcher Art sie sei, macht zuletzt
bankerott.

In den Werken des Menschen wie in denen der Natur sind eigentlich
die Absichten vorzüglich der Aufmerksamkeit wert.

Die Menschen werden an sich und andern irre, weil sie die Mittel als
Zweck behandeln, da denn vor lauter Tätigkeit gar nichts geschieht
oder vielleicht gar das Widerwärtige.

Was wir ausdenken, was wir vornehmen, sollte schon vollkommen so
rein und schön sein, daß die Welt nur daran zu verderben hätte; wir
blieben dadurch in dem Vorteil, das Verschobene zurechtzurücken, das
Zerstörte wiederherzustellen.

Ganze, Halb--und Viertelsirrtümer sind gar schwer und mühsam
zurechtzulegen, zu sichten und das Wahre daran dahin zu stellen,
wohin es gehört.

Es ist nicht immer nötig, daß das Wahre sich verkörpere; schon genug,
wenn es geistig umherschwebt und übereinstimmung bewirkt; wenn es
wie Glockenton ernstfreundlich durch die Lüfte wogt.

Wenn ich jüngere deutsche Maler, sogar solche, die sich eine
Zeitlang in Italien aufgehalten, befrage: warum sie doch, besonders
in ihren Landschaften, so widerwärtige grelle Töne dem Auge
darstellen und vor aller Harmonie zu fliehen scheinen? so geben sie
wohl ganz dreist und getrost zur Antwort: sie sähen die Natur genau
auf solche Weise.

Kant hat uns aufmerksam gemacht, daß es eine Kritik der Vernunft
gebe, daß dieses höchste Vermögen, was der Mensch besitzt, Ursache
habe, über sich selbst zu wachen. Wie großen Vorteil uns diese Stimme
gebracht, möge jeder an sich selbst geprüft haben. Ich aber möchte
in eben dem Sinne die Aufgabe stellen, daß eine Kritik der Sinne
nötig sei, wenn die Kunst überhaupt, besonders die deutsche, irgend
wieder sich erholen und in einem erfreulichen Lebensschritt vorwärts
gehen solle.

Der zur Vernunft geborene Mensch bedarf noch großer Bildung, sie mag
sich ihm nun durch Sorgfalt der Eltern und Erzieher, durch
friedliches Beispiel oder durch strenge Erfahrung nach und nach
offenbaren. Ebenso wird zwar der angehende Künstler, aber nicht der
vollendete geboren; sein Auge komme frisch auf die Welt, er habe
glücklichen Blick für Gestalt, Proportion, Bewegung; aber für höhere
Komposition, für Haltung, Licht, Schatten, Farben kann ihm die
natürliche Anlage fehlen, ohne daß er es gewahr wird.

Ist er nun nicht geneigt, von höher ausgebildeten Künstlern der
Vor--und Mitzeit das zu lernen, was ihm fehlt um eigentlicher
Künstler zu sein, so wird er im falschen Begriff von bewahrter
Originalität hinter sich selbst zurückblicken; denn nicht allein das,
was mit uns geboren ist, sondern auch das, was wir erwerben können,
gehört uns an, und wir sind es.

Allgemeine Begriffe und großer Dünkel sind immer auf dem Wege,
entsetzliches Unglück anzurichten.

"Blasen ist nicht flöten, ihr müßt die Finger bewegen."

Die Botaniker haben eine Pflanzenabteilung, die sie Incompletae
nennen; man kann eben auch sagen, daß es inkomplette, unvollständige
Menschen gibt. Es sind diejenigen, deren Sehnsucht und Streben mit
ihrem Tun und Leisten nicht proportioniert ist.

Der geringste Mensch kann komplett sein, wenn er sich innerhalb der
Grenzen seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten bewegt; aber selbst
schöne Vorzüge werden verdunkelt, aufgehoben und vernichtet, wenn
jenes unerläßlich geforderte Ebenmaß abgeht. Dieses Unheil wird sich
in der neuern Zeit noch öfter hervortun; denn wer wird wohl den
Forderungen einer durchaus gesteigerten Gegenwart, und zwar in
schnellster Bewegung genugtun können?

Nur klugtätige Menschen, die ihre Kräfte kennen und sie mit Maß und
Gescheidigkeit benutzen, werden es im Weltwesen weit bringen,

Ein großer Fehler: daß man sich mehr dünkt, als man ist, und sich
weniger schätzt, als man wert ist.

Es begegnet mir von Zeit zu Zeit ein Jüngling, an dem ich nichts
verändert noch gebessert wünschte; nur macht mir bange, daß ich
manchen vollkommen geeignet sehe, im Zeitstrom mit fortzuschwimmen,
und hier ist's, wo ich immerfort aufmerksam machen möchte: daß dem
Menschen in seinem zerbrechlichen Kahn eben deshalb das Ruder in die
Hand gegeben ist, damit er nicht der Willkür der Wellen, sondern dem
Willen seiner Einsicht Folge leiste.

Wie soll nun aber ein junger Mann für sich selbst dahin gelangen,
dasjenige für tadelnswert und schädlich anzusehen, was jedermann
treibt, billigt und fördert? Warum soll er sich nicht und sein
Naturell auch dahin gehen lassen?

Für das größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden läßt,
muß ich halten, daß man im nächsten Augenblick den vorhergehenden
verspeist, den Tag im Tage vertut und so immer aus der Hand in den
Mund lebt, ohne irgend etwas vor sich zu bringen. Haben wir doch
schon Blätter für sämtliche Tageszeiten! ein guter Kopf könnte wohl
noch eins und das andere interkalieren. Dadurch wird alles, was ein
jeder tut, treibt, dichtet, ja was er vorhat, ins öffentliche
geschleppt. Niemand darf sich freuen oder leiden als zum
Zeitvertreib der übrigen; und so springt's von Haus zu Haus, von Stadt
zu Stadt, von Reich zu Reich und zuletzt von Weltteil zu Weltteil,
alles veloziferisch.

So wenig nun die Dampfmaschinen zu dämpfen sind, so wenig ist dies
auch im Sittlichen möglich; die Lebhaftigkeit des Handels, das
Durchrauschen des Papiergelds, das Anschwellen der Schulden, um
Schulden zu bezahlen, das alles sind die ungeheuern Elemente, auf die
gegenwärtig ein junger Mann gesetzt ist. Wohl ihm, wenn er von der
Natur mit mäßigem, ruhigem Sinn begabt ist, um weder
unverhältnismäßige Forderungen an die Welt zu machen noch auch von
ihr sich bestimmen zu lassen.

Aber in einem jeden Kreise bedroht ihn der Tagesgeist; und nichts
ist nötiger, als früh genug ihm die Richtung bemerklich zu machen,
wohin sein Wille zu steuern hat.

Die Bedeutsamkeit der unschuldigsten Reden und Handlungen wächst mit
den Jahren; und wen ich länger um mich sehe, den suche ich immerfort
aufmerksam zu machen, welch ein Unterschied stattfinde zwischen
Aufrichtigkeit, Vertrauen und Indiskretion, ja daß eigentlich kein
Unterschied sei, vielmehr nur ein leiser übergang vom
Unverfänglichsten zum Schädlichsten, welcher bemerkt oder vielmehr
empfunden werden müsse.

Hierauf haben wir unsern Takt zu üben, sonst laufen wir Gefahr, auf
dem Wege, worauf wir uns die Gunst der Menschen erwarben, sie ganz
unversehens wieder zu verscherzen. Das begreift man wohl im Laufe
des Lebens von selbst, aber erst nach bezahltem teurem Lehrgelde, das
man leider seinen Nachkommenden nicht ersparen kann.

Das Verhältnis der Künste und Wissenschaften zum Leben ist nach
Verhältnis der Stufen, worauf sie stehen, nach Beschaffenheit der
Zeiten und tausend andern Zufälligkeiten sehr verschieden; deswegen
auch niemand darüber im ganzen leicht klug werden kann.

Poesie wirkt am meisten im Anfang der Zustände, sie seien nun ganz
roh, halbkultiviert, oder bei Abänderung einer Kultur, beim
Gewahrwerden einer fremden Kultur, daß man also sagen kann, die
Wirkung der Neuheit findet durchaus statt.

Musik im besten Sinne bedarf weniger der Neuheit, ja vielmehr je
älter sie ist, je gewohnter man sie ist, desto mehr wirkt sie.

Die Würde der Kunst erscheint bei der Musik vielleicht am
eminentesten, weil sie keinen Stoff hat, der abgerechnet werden müßte.
Sie ist ganz Form und Gehalt und erhöht und veredelt alles, was sie
ausdrückt.

Die Musik ist heilig oder profan. Das Heilige ist ihrer Würde ganz
gemäß, und hier hat sie die größte Wirkung aufs Leben, welche sich
durch alle Zeiten und Epochen gleich bleibt. Die profane sollte
durchaus heiter sein.

Eine Musik, die den heiligen und profanen Charakter vermischt, ist
gottlos, und eine halbschürige, welche schwache, jammervolle,
erbärmliche Empfindungen auszudrücken Belieben findet, ist
abgeschmackt. Denn sie ist nicht ernst genug, um heilig zu sein, und
es fehlt ihr der Hauptcharakter des Entgegengesetzten: die Heiterkeit.


Die Heiligkeit der Kirchenmusiken, das Heitere und Neckische der
Volksmelodien sind die beiden Angeln, um die sich die wahre Musik
herumdreht. Auf diesen beiden Punkten beweist sie jederzeit eine
unausbleibliche Wirkung: Andacht oder Tanz. Die Vermischung macht
irre, die Verschwächung wird fade, und will die Musik sich an
Lehrgedichte oder beschreibende und dergleichen wenden, so wird sie
kalt.

Plastik wirkt eigentlich nur auf ihrer höchsten Stufe; alles
Mittlere kann wohl aus mehr denn einer Ursache imponieren, aber alle
mittleren Kunstwerke dieser Art machen mehr irre, als daß sie
erfreuen. Die Bildhauerkunst muß sich daher noch ein stoffartiges
Interesse suchen, und das findet sie in den Bildnissen bedeutender
Menschen. Aber auch hier muß sie schon einen hohen Grad erreichen,
wenn sie zugleich wahr und würdig sein will.

Die Malerei ist die läßlichste und bequemste von allen Künsten. Die
läßlichste, weil man ihr um des Stoffes und des Gegenstandes willen,
auch da, wo sie nur Handwerk oder kaum eine Kunst ist, vieles zugute
hält und sich an ihr erfreut; teils weil eine technische obgleich
geistlose Ausführung den Ungebildeten wie den Gebildeten in
Verwunderung setzt, so daß sie sich also nur einigermaßen zur Kunst
zu steigern braucht, um in einem höheren Grade willkommen zu sein.
Wahrheit in Farben, Oberflächen, in Beziehungen der sichtbaren
Gegenstände aufeinander ist schon angenehm; und da das Auge ohnehin
gewohnt ist, alles zu sehen, so ist ihm eine Mißgestalt und also auch
ein Mißbild nicht so zuwider als dem Ohr ein Mißton. Man läßt die
schlechteste Abbildung gelten, weil man noch schlechtere Gegenstände
zu sehen gewohnt ist. Der Maler darf also nur einigermaßen Künstler
sein, so findet er schon ein größeres Publikum als der Musiker, der
auf gleichem Grade stünde; wenigstens kann der geringere Maler immer
für sich operieren, anstatt daß der mindere Musiker sich mit anderen
soziieren muß, um durch gesellige Leistung einigen Effekt zu tun.

Die Frage: ob man bei Betrachtung von Kunstleistungen vergleichen
solle oder nicht, möchten wir folgendermaßen beantworten: Der
ausgebildete Kenner soll vergleichen; denn ihm schwebt die Idee vor,
er hat den Begriff gefaßt, was geleistet werden könne und solle; der
Liebhaber, auf dem Wege zur Bildung begriffen, fördert sich am besten,
wenn er nicht vergleicht, sondern jedes Verdienst einzeln betrachtet;
dadurch bildet sich Gefühl und Sinn für das Allgemeinere nach und
nach aus. Das Vergleichen der Unkenner ist eigentlich nur eine
Bequemlichkeit, die sich gern des Urteils überheben möchte.











II. Buch, Betrachtungen im Sinne der Wanderer--2



Wahrheitsliebe zeigt sich darin, daß man überall das Gute zu finden
und zu schätzen weiß.





Ein historisches Menschengefühl heißt ein dergestalt gebildetes, daß
es bei Schätzung gleichzeitiger Verdienste und Verdienstlichkeiten
auch die Vergangenheit mit in Anschlag bringt.





Das Beste, was wir von der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus,
den sie erregt.





Eigentümlichkeit ruft Eigentümlichkeit hervor.





Man muß bedenken, daß unter den Menschen gar viele sind, die doch
auch etwas Bedeutendes sagen wollen, ohne produktiv zu sein, und da
kommen die wunderlichsten Dinge an den Tag.





Tief und ernstlich denkende Menschen haben gegen das Publikum einen
bösen Stand.





Wenn ich die Meinung eines andern anhören soll, so muß sie positiv
ausgesprochen werden; Problematisches hab' ich in mir selbst genug.





Der Aberglaube gehört zum Wesen des Menschen und flüchtet sich, wenn
man ihn ganz und gar zu verdrängen denkt, in die wunderlichsten Ecken
und Winkel, von wo er auf einmal, wenn er einigermaßen sicher zu sein
glaubt, wieder hervortritt.





Wir würden gar vieles besser kennen, wenn wir es nicht zu genau
erkennen wollten. Wird uns doch ein Gegenstand unter einem Winkel
von fünfundvierzig Graden erst faßlich.





Mikroskope und Fernröhre verwirren eigentlich den reinen
Menschensinn.





Ich schweige zu vielem still, denn ich mag die Menschen nicht
irremachen und bin wohl zufrieden, wenn sie sich freuen da wo ich
mich ärgere.





Alles, was unsern Geist befreit, ohne uns die Herrschaft über uns
selbst zu geben, ist verderblich.





Das _Was_ des Kunstwerks interessiert die Menschen mehr als das
_Wie_; jenes können sie einzeln ergreifen, dieses im ganzen nicht
fassen. Daher kommt das Herausheben von Stellen, wobei zuletzt, wenn
man wohl aufmerkt, die Wirkung der Totalität auch nicht ausbleibt,
aber jedem unbewußt.





Die Frage: _woher hat's der Dichter?_ geht auch nur aufs _Was_, vom
_Wie_ erfährt dabei niemand etwas.





Einbildungskraft wird nur durch Kunst, besonders durch Poesie
geregelt. Es ist nichts fürchterlicher als Einbildungskraft ohne
Geschmack.





Das Manierierte ist ein verfehltes Ideelle, ein subjektiviertes
Ideelle; daher fehlt ihm das Geistreiche nicht leicht.





Der Philolog ist angewiesen auf die Kongruenz des
Geschrieben-überlieferten. Ein Manuskript liegt zum Grunde, es
finden sich in demselben wirkliche Lücken, Schreibfehler, die eine
Lücke im Sinne machen, und was sonst alles an einem Manuskript zu
tadeln sein mag. Nun findet sich eine zweite Abschrift, eine dritte;
die Vergleichung derselben bewirkt immer mehr, das Verständige und
Vernünftige der überlieferung gewahr zu werden. Ja er geht weiter
und verlangt von seinem innern Sinn, daß derselbe ohne äußere
Hülfsmittel die Kongruenz des Abgehandelten immer mehr zu begreifen
und darzustellen wisse. Weil nun hiezu ein besondrer Takt, eine
besondre Vertiefung in seinen abgeschiedenen Autor nötig und ein
gewisser Grad von Erfindungskraft gefordert wird, so kann man dem
Philologen nicht verdenken, wenn er sich auch ein Urteil bei
Geschmackssachen zutraut, welches ihm jedoch nicht immer gelingen wird.






Der Dichter ist angewiesen auf Darstellung. Das Höchste derselben
ist, wenn sie mit der Wirklichkeit wetteifert, d. h. wenn ihre
Schilderungen durch den Geist dergestalt lebendig sind, daß sie als
gegenwärtig für jedermann gelten können. Auf ihrem höchsten Gipfel
scheint die Poesie ganz äußerlich; je mehr sie sich ins Innere
zurückzieht, ist sie auf dem Wege zu sinken. Diejenige, die nur das
Innere darstellt, ohne es durch ein äußeres zu verkörpern, oder ohne
das äußere durch das Innere durchfühlen zu lassen, sind beides die
letzten Stufen, von welchen aus sie ins gemeine Leben hineintritt.





Die Redekunst ist angewiesen auf alle Vorteile der Poesie, auf alle
ihre Rechte; sie bemächtigt sich derselben und mißbraucht sie, um
gewisse äußere, sittliche oder unsittliche, augenblickliche Vorteile
im bürgerlichen Leben zu erreichen.





Literatur ist das Fragment der Fragmente; das wenigste dessen, was
geschah und gesprochen worden, ward geschrieben, vom Geschriebenen
ist das wenigste übriggeblieben.





In natürlicher Wahrheit und Großheit, obgleich wild und unbehaglich
ausgebildetes Talent ist Lord Byron, und deswegen kaum ein anderes
ihm vergleichbar.





Eigentlichster Wert der sogenannten Volkslieder ist der, daß ihre
Motive unmittelbar von der Natur genommen sind. Dieses Vorteils aber
könnte der gebildete Dichter sich auch bedienen, wenn er es verstünde.






Hiebei aber haben jene immer das voraus, daß natürliche Menschen
sich besser auf den Lakonismus verstehen als eigentlich Gebildete.





Shakespear ist für aufkeimende Talente gefährlich zu lesen; er
nötigt sie, ihn zu reproduzieren, und sie bilden sich ein, sich
selbst zu produzieren.





über Geschichte kann niemand urteilen, als wer an sich selbst
Geschichte erlebt hat. So geht es ganzen Nationen. Die Deutschen
können erst über Literatur urteilen, seitdem sie selbst eine
Literatur haben.





Man ist nur eigentlich lebendig, wenn man sich des Wohlwollens
andrer freut.





Frömmigkeit ist kein Zweck, sondern ein Mittel, um durch die reinste
Gemütsruhe zur höchsten Kultur zu gelangen.





Deswegen läßt sich bemerken, daß diejenigen, welche Frömmigkeit als
Zweck und Ziel aufstecken, meistens Heuchler werden.





"Wenn man alt ist, muß man mehr tun, als da man jung war."





Erfüllte Pflicht empfindet sich immer noch als Schuld, weil man sich
nie ganz genug getan.





Die Mängel erkennt nur der Lieblose; deshalb, um sie einzusehen, muß
man auch lieblos werden, aber nicht mehr, als hiezu nötig ist.





Das höchste Glück ist das, welches unsere Mängel verbessert und
unsere Fehler ausgleicht.





Kannst du lesen, so sollst du verstehen; kannst du schreiben, so
mußt du etwas wissen; kannst du glauben, so sollst du begreifen; wenn
du begehrst, wirst du sollen; wenn du forderst, wirst du nicht
erlangen; und wenn du erfahren bist, sollst du nutzen.





Man erkennt niemand an als den, der uns nutzt. Wir erkennen den
Fürsten an, weil wir unter seiner Firma den Besitz gesichert sehen.
Wir gewärtigen uns von ihm Schutz gegen äußere und innere
widerwärtige Verhältnisse.





Der Bach ist dem Müller befreundet, dem er nutzt, und er stürzt gern
über die Räder; was hilft es ihm, gleichgültig durchs Tal
hinzuschleichen.





Wer sich mit reiner Erfahrung begnügt und darnach handelt, der hat
Wahres genug. Das heranwachsende Kind ist weise in diesem Sinne.





Die Theorie an und für sich ist nichts nütze, als insofern sie uns
an den Zusammenhang der Erscheinungen glauben macht.





Alles Abstrakte wird durch Anwendung dem Menschenverstand genähert,
und so gelangt der Menschenverstand durch Handeln und Beobachten zur
Abstraktion.





Wer zuviel verlangt, wer sich am Verwickelten erfreut, der ist den
Verwirrungen ausgesetzt.





Nach Analogien denken ist nicht zu schelten; die Analogie hat den
Vorteil, daß sie nicht abschließt und eigentlich nichts Letztes will;
dagegen die Induktion verderblich ist, die einen vorgesetzten Zweck
im Auge trägt und, auf denselben losarbeitend, Falsches und Wahres
mit sich fortreißt.





Gewöhnliches Anschauen, richtige Ansicht der irdischen Dinge ist ein
Erbteil des allgemeinen Menschenverstandes.--Reines Anschauen des
äußern und Innern ist sehr selten.





Es äußert sich jenes im praktischen Sinn, im unmittelbaren Handeln;
dieses symbolisch, vorzüglich durch Mathematik, in Zahlen und Formeln,
durch Rede, uranfänglich, tropisch, als Poesie des Genies, als
Sprichwörtlichkeit des Menschenverstandes.





Das Abwesende wirkt auf uns durch überlieferung. Die gewöhnliche
ist historisch zu nennen; eine höhere, der Einbildungskraft verwandte
ist mythisch. Sucht man hinter dieser noch etwas Drittes, irgendeine
Bedeutung, so verwandelt sie sich in Mystik. Auch wird sie leicht
sentimental, so daß wir uns nur, was gemütlich ist, aneignen.





Die Wirksamkeiten, auf die wir achten müssen, wenn wir wahrhaft
gefördert sein wollen, sind:

vorbereitende,

begleitende,

mitwirkende,

nachhelfende,

fördernde,

verstärkende,

hindernde,

nachwirkende.





Im Betrachten wie im Handeln ist das Zugängliche von dem
Unzugänglichen zu unterscheiden; ohne dies läßt sich im Leben wie im
Wissen wenig leisten





"Le sens commun est le Génie de l'humanité."





Der Gemeinverstand, der als Genie der Menschheit gelten soll, muß
vorerst in seinen äußerungen betrachtet werden. Forschen wir, wozu
ihn die Menschheit benutzt, so finden wir folgendes: Die Menschheit
ist bedingt durch Bedürfnisse. Sind diese nicht befriedigt, so
erweist sie sich ungeduldig; sind sie befriedigt, so erscheint sie
gleichgültig. Der eigentliche Mensch bewegt sich also zwischen
beiden Zuständen; und seinen Verstand, den sogenannten
Menschenverstand, wird er anwenden, seine Bedürfnisse zu befriedigen;
ist es geschehen, so hat er die Aufgabe, die Räume der
Gleichgültigkeit auszufüllen. Beschränkt sich dieses in die nächsten
und notwendigsten Grenzen, so gelingt es ihm auch. Erheben sich aber
die Bedürfnisse, treten sie aus dem Kreise des Gemeinen heraus, so ist
der Gemeinverstand nicht mehr hinreichend, er ist kein Genius mehr,
die Region des Irrtums ist der Menschheit aufgetan.





Es geschieht nichts Unvernünftiges, das nicht Verstand oder Zufall
wieder in die Richte brächten; nichts Vernünftiges, das Unverstand
und Zufall nicht mißleiten könnten.





Jede große Idee, sobald sie in die Erscheinung tritt, wirkt
tyrannisch; daher die Vorteile, die sie hervorbringt, sich nur
allzubald in Nachteile verwandeln. Man kann deshalb eine jede
Institution verteidigen und rühmen, wenn man an ihre Anfänge erinnert
und darzutun weiß, daß alles, was von ihr im Anfange gegolten, auch
jetzt noch gelte.





Lessing, der mancherlei Beschränkung unwillig fühlte, läßt eine
seiner Personen sagen: Niemand muß müssen. Ein geistreicher
frohgesinnter Mann sagte: Wer will, der muß. Ein dritter, freilich
ein Gebildeter, fügte hinzu: Wer einsieht, der will auch. Und so
glaubte man den ganzen Kreis des Erkennens, Wollens und Müssens
abgeschlossen zu haben. Aber im Durchschnitt bestimmt die Erkenntnis
des Menschen, von welcher Art sie auch sei, sein Tun und Lassen;
deswegen auch nichts schrecklicher ist, als die Unwissenheit handeln
zu sehen.





Es gibt zwei friedliche Gewalten: das Recht und die Schicklichkeit.





Das Recht dringt auf Schuldigkeit, die Polizei aufs Geziemende. Das
Recht ist abwägend und entscheidend, die Polizei überschauend und
gebietend. Das Recht bezieht sich auf den Einzelnen, die Polizei auf
die Gesamtheit.





Die Geschichte der Wissenschaften ist eine große Fuge, in der die
Stimmen der Völker nach und nach zum Vorschein kommen.





Man kann in den Naturwissenschaften über manche Probleme nicht
gehörig sprechen, wenn man die Metaphysik nicht zu Hülfe ruft; aber
nicht jene Schul--und Wortweisheit; es ist dasjenige, was vor, mit
und nach der Physik war, ist und sein wird.





Autorität, daß nämlich etwas schon einmal geschehen, gesagt oder
entschieden worden sei, hat großen Wert; aber nur der Pedant fordert
überall Autorität.





Altes Fundament ehrt man, darf aber das Recht nicht aufgeben,
irgendwo wieder einmal von vorn zu gründen.





Beharre, wo du stehst!--Maxime, notwendiger als je, indem einerseits
die Menschen in große Parteien gerissen werden; sodann aber auch
jeder Einzelne nach individueller Einsicht und Vermögen sich geltend
machen will.





Man tut immer besser, daß man sich grad ausspricht, wie man denkt,
ohne viel beweisen zu wollen: denn alle Beweise, die wir vorbringen,
sind doch nur Variationen unserer Meinungen, und die Widriggesinnten
hören weder auf das eine noch auf das andere.





Da ich mit der Naturwissenschaft, wie sie sich von Tag zu Tage
vorwärts bewegt, immer mehr bekannt und verwandt werde, so dringt
sich mir gar manche Betrachtung auf: über die Vor--und Rückschritte,
die zu gleicher Zeit geschehen. Eines nur sei hier ausgesprochen:
_daß wir sogar anerkannte Irrtümer aus der Wissenschaft nicht
loswerden_. Die Ursache hievon ist ein offenbares Geheimnis.





Einen Irrtum nenn' ich, wenn irgendein Ereignis falsch ausgelegt,
falsch angeknüpft, falsch abgeleitet wird. Nun ereignet sich aber im
Gange des Erfahrens und Denkens, daß eine Erscheinung folgerecht
angeknüpft, richtig abgeleitet wird. Das läßt man sich wohl gefallen,
legt aber keinen besondern Wert darauf und läßt den Irrtum ganz ruhig
daneben liegen; und ich kenne ein kleines Magazin von Irrtümern, die
man sorgfältig aufbewahrt.





Da nun den Menschen eigentlich nichts interessiert als seine Meinung,
so sieht jedermann, der eine Meinung vorträgt, sich rechts und links
nach Hülfsmitteln um, damit er sich und andere bestärken möge. Des
Wahren bedient man sich solange es brauchbar ist; aber
leidenschaftlich-rhetorisch ergreift man das Falsche, sobald man es
für den Augenblick nutzen, damit als einem Halbargumente blenden, als
mit einem Lückenbüßer das Zerstückelte scheinbar vereinigen kann.
Dieses zu erfahren, war mir erst ein ärgernis, dann betrübte ich mich
darüber, und nun macht es mir Schadenfreude. Ich habe mir das Wort
gegeben, ein solches Verfahren niemals wieder aufzudecken.





Jedes Existierende ist ein Analogon alles Existierenden; daher
erscheint uns das Dasein immer zu gleicher Zeit gesondert und
verknüpft. Folgt man der Analogie zu sehr, so fällt alles identisch
zusammen; meidet man sie, so zerstreut sich alles ins Unendliche. In
beiden Fällen stagniert die Betrachtung, einmal als überlebendig, das
andere Mal als getötet.





Die Vernunft ist auf das Werdende, der Verstand auf das Gewordene
angewiesen; jene bekümmert sich nicht: wozu? dieser fragt nicht:
woher?--Sie erfreut sich am Entwickeln; er wünscht alles festzuhalten,
damit er es nutzen könne.



 


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