Wilhelm Meisters Wanderjahre--Buch 2
by
Johann Wolfgang von Goethe

Part 2 out of 4



einer wahren Befriedigung gleichsah.

Den heutigen Tag war jedoch diese Erleuchtung recht am Platze; denn
wir sehen in einem der Zimmer eine Art von Christbescherung
aufgestellt, in die Augen fallend und glänzend. Das kluge
Kammermädchen hatte den Kammerdiener dahin vermocht, die Erleuchtung
zu steigern, und dabei alles zusammengelegt und ausgebreitet, was zur
Ausstattung Hilariens bisher vorgearbeitet worden, eigentlich in der
listigen Absicht, mehr das Fehlende zur Sprache zu bringen als
dasjenige zu erheben, was schon geleistet war. Alles Notwendige fand
sich, und zwar aus den feinsten Stoffen und von der zierlichsten
Arbeit; auch an Willkürlichem war kein Mangel, und doch wußte
Ananette überall da noch eine Lücke anschaulich zu machen, wo man
ebensogut den schönsten Zusammenhang hätte finden können. Wenn nun
alles Weißzeug, stattlich ausgekramt, die Augen blendete, Leinwand,
Mousselin und alle die zarteren Stoffe der Art, wie sie auch Namen
haben mögen, genugsames Licht umherwarfen, so fehlte doch alles bunte
Seidene, mit dessen Ankauf man weislich zögerte, weil man bei sehr
veränderlicher Mode das Allerneueste als Gipfel und Abschluß
hinzufügen wollte.

Nach diesem heitersten Anschauen schritten sie wieder zu ihrer
gewöhnlichen, obgleich mannigfaltigen Abendunterhaltung. Die Baronin,
die recht gut erkannte, was ein junges Frauenzimmer, wohin das
Schicksal sie auch führen mochte, bei einem glücklichen äußern auch
von innen heraus anmutig und ihre Gegenwart wünschenswert macht, hatte
in diesem ländlichen Zustande so viele abwechselnde und bildende
Unterhaltungen einzuleiten gewußt, daß Hilarie bei ihrer großen
Jugend schon überall zu Hause schien, bei keinem Gespräch sich fremd
erwies und doch dabei ihren Jahren völlig gemäß sich erzeigte. Wie
dies geleistet werden konnte, zu entwickeln, würde zu weitläufig sein;
genug, dieser Abend war auch ein Musterbild des bisherigen Lebens.
Ein geistreiches Lesen, ein anmutiges Pianospiel, ein lieblicher
Gesang zog sich durch die Stunden durch, zwar wie sonst gefällig und
regelmäßig, aber doch mit mehr Bedeutung; man hatte einen Dritten im
Sinne, einen geliebten, verehrten Mann, dem man dieses und so manches
andere zum freundlichsten Empfang vorübte. Es war ein bräutliches
Gefühl, das nicht nur Hilarien mit den süßesten Empfindungen belebte;
die Mutter mit feinem Sinne nahm ihren reinen Teil daran, und selbst
Ananette, sonst nur klug und tätig, mußte sich gewissen entfernten
Hoffnungen hingeben, die ihr einen abwesenden Freund als
zurückkehrend, als gegenwärtig vorspiegelten. Auf diese Weise hatten
sich die Empfindungen aller drei in ihrer Art liebenswürdigen Frauen
mit der sie umgebenden Klarheit, mit einer wohltätigen Wärme, mit dem
behaglichsten Zustande ins gleiche gestellt.









Fünftes Kapitel

Heftiges Pochen und Rufen an dem äußersten Tor, Wortwechsel
drohender und fordernder Stimmen, Licht--und Fackelschein im Hofe
unterbrachen den zarten Gesang. Aber gedämpft war der Lärm, ehe man
dessen Ursache erfahren hatte; doch ruhig ward es nicht, auf der
Treppe Geräusch und lebhaftes Hin--und Hersprechen heraufkommender
Männer. Die Türe sprang auf ohne Meldung, die Frauen entsetzten sich.
Flavio stürzte herein in schauderhafter Gestalt, verworrenen
Hauptes, auf dem die Haare teils borstig starrten, teils vom Regen
durchnäßt niederhingen; zerfetzten Kleides, wie eines, der durch Dorn
und Dickicht durchgestürmt, greulich beschmutzt, als durch Schlamm
und Sumpf herangewadet.

"Mein Vater!" rief er aus, "wo ist mein Vater?" Die Frauen standen
bestürzt; der alte Jäger, sein frühster Diener und liebevollster
Pfleger, mit ihm eintretend, rief ihm zu: "Der Vater ist nicht hier,
besänftigen Sie sich; hier ist Tante, hier ist Nichte, sehen Sie hin!
"--"Nicht hier, nun so laßt mich weg, ihn zu suchen; er allein soll's
hören, dann will ich sterben. Laßt mich von den Lichtern weg, von
dem Tag, er blendet mich, er vernichtet mich."

Der Hausarzt trat ein, ergriff seine Hand, vorsichtig den Puls
fühlend, mehrere Bediente standen ängstlich umher.--"Was soll ich auf
diesen Teppichen, ich verderbe sie, ich zerstöre sie; mein Unglück
träuft auf sie herunter, mein verworfenes Geschick besudelt sie."--Er
drängte sich gegen die Türe, man benutzte das Bestreben, um ihn
wegzuführen und in das entfernte Gastzimmer zu bringen, das der Vater
zu bewohnen pflegte. Mutter und Tochter standen erstarrt, sie hatten
Orest gesehen, von Furien verfolgt, nicht durch Kunst veredelt, in
greulicher, widerwärtiger Wirklichkeit, die im Kontrast mit einer
behaglichen Glanzwohnung im klarsten Kerzenschimmer nur desto
fürchterlicher schien. Erstarrt sahen die Frauen sich an, und jede
glaubte in den Augen der andern das Schreckbild zu sehen, das sich so
tief in die ihrigen eingeprägt hatte.

Mit halber Besonnenheit sendete darauf die Baronin Bedienten auf
Bedienten, sich zu erkundigen. Sie erfuhren zu einiger Beruhigung,
daß man ihn auskleide, trockne, besorge; halb gegenwärtig, halb
unbewußt lasse er alles geschehen. Wiederholtes Anfragen wurde zur
Geduld verwiesen.

Endlich vernahmen die beängstigten Frauen, man habe ihn zur Ader
gelassen und sonst alles Besänftigende möglichst angewendet; er sei
zur Ruhe gebracht, man hoffe Schlaf.

Mitternacht kam heran, die Baronin verlangte, wenn er schlafe, ihn
zu sehen; der Arzt widerstand, der Arzt gab nach; Hilarie drängte
sich mit der Mutter herein. Das Zimmer war dunkel, nur eine Kerze
dämmerte hinter dem grünen Schirm, man sah wenig, man hörte nichts;
die Mutter näherte sich dem Bette, Hilarie, sehnsuchtsvoll, ergriff
das Licht und beleuchtete den Schlafenden. So lag er abgewendet,
aber ein höchst zierliches Ohr, eine volle Wange, jetzt bläßlich,
schienen unter den schon wieder sich krausenden Locken auf das
anmutigste hervor, eine ruhende Hand und ihre ländlichen
zartkräftigen Finger zogen den unsteten Blick an. Hilarie, leise
atmend, glaubte selbst einen leisen Atem zu vernehmen, sie näherte
die Kerze, wie Psyche in Gefahr, die heilsamste Ruhe zu stören. Der
Arzt nahm die Kerze weg und leuchtete den Frauen nach ihren Zimmern.

Wie diese guten, alles Anteils würdigen Personen ihre nächtlichen
Stunden zugebracht, ist uns ein Geheimnis geblieben; den andern
Morgen aber von früh an zeigten sich beide höchst ungeduldig. Des
Anfragens war kein Ende, der Wunsch, den Leidenden zu sehen,
bescheiden, doch dringend; nur gegen Mittag erlaubte der Arzt einen
kurzen Besuch.

Die Baronin trat hinzu, Flavio reichte die Hand hin--"Verzeihung,
liebste Tante, einige Geduld, vielleicht nicht lange"--Hilarie trat
hervor, auch ihr gab er die Rechte-- "Gegrüßt liebe Schwester"--das
fuhr ihr durchs Herz, er ließ nicht los, sie sahen einander an, das
herrlichste Paar, kontrastierend im schönsten Sinne. Des Jünglings
schwarze, funkelnde Augen stimmten zu den düstern, verwirrten Locken;
dagegen stand sie scheinbar himmlisch in Ruhe, doch zu dem
erschütternden Begebnis gesellte sich nun die ahnungsvolle Gegenwart.
Die Benennung "Schwester"--ihr Allerinnerstes war aufgeregt. Die
Baronin sprach: "Wie geht es, lieber Neffe?"--"Ganz leidlich, aber
man behandelt mich übel."--"Wieso?"--"Da haben sie mir Blut gelassen,
das ist grausam; sie haben es weggeschafft, das ist frech; es gehört
ja nicht mein, es gehört alles, alles ihre." Mit diesen Worten schien
sich seine Gestalt zu verwandeln, doch mit heißen Tränen verbarg er
sein Antlitz ins Kissen.

Hilariens Miene zeigte der Mutter einen furchtbaren Ausdruck, es war,
als wenn das liebe Kind die Pforten der Hölle vor sich eröffnet sähe,
zum erstenmal ein Ungeheures erblickte und für ewig. Rasch,
leidenschaftlich eilte sie durch den Saal, warf sich im letzten
Kabinett auf den Sofa, die Mutter folgte und fragte, was sie leider
schon begriff. Hilarie, wundersam aufblickend, rief: "Das Blut, das
Blut, es gehört alles ihre, alles ihre, und sie ist es nicht wert.
Der Unglückselige! der Arme!" Mit diesen Worten erleichterte der
bitterste Tränenstrom das bedrängte Herz.





Wer unternähme es wohl, die aus dem Vorhergehenden sich
entwickelnden Zustände zu enthüllen, an den Tag zu bringen das innere,
aus dieser ersten Zusammenkunft den Frauen erwachsende Unheil? Auch
dem Leidenden war sie höchst schädlich, so behauptete wenigstens der
Arzt, der zwar oft genug zu berichten und zu trösten kam, aber sich
doch verpflichtet fühlte, alles weitere Annähern zu verbieten. Dabei
fand er auch eine willige Nachgiebigkeit, die Tochter wagte nicht zu
verlangen, was die Mutter nicht zugegeben hätte, und so gehorchte man
dem Gebot des verständigen Mannes. Dagegen brachte er aber die
beruhigende Nachricht, Flavio habe Schreibzeug verlangt, auch einiges
aufgezeichnet, es aber sogleich neben sich im Bette versteckt. Nun
gesellte sich Neugierde zu der übrigen Unruhe und Ungeduld, es waren
peinliche Stunden. Nach einiger Zeit brachte er jedoch ein Blättchen
von schöner, freier Hand, obgleich mit Hast geschrieben, es enthielt
folgende Zeilen:



"Ein Wunder ist der arme Mensch geboren,
In Wundern ist der irre Mensch verloren,
Nach welcher dunklen, schwer entdeckten Schwelle
Durchtappen pfadlos ungewisse Schritte?
Dann in lebendigem Himmelsglanz und Mitte
Gewahr', empfind' ich Nacht und Tod und Hölle."




Hier konnte die edle Dichtkunst abermals ihre heilenden Kräfte
erweisen. Innig verschmolzen mit Musik, heilt sie alle Seelenleiden
aus dem Grunde, indem sie solche gewaltig anregt, hervorruft und in
auflösenden Schmerzen verflüchtigt. Der Arzt hatte sich überzeugt,
daß der Jüngling bald wieder herzustellen sei; körperlich gesund,
werde er schnell sich wieder froh fühlen, wenn die auf seinem Geist
lastende Leidenschaft zu heben oder zu lindern wäre. Hilarie sann
auf Erwiderung; sie saß am Flügel und versuchte die Zeilen des
Leidenden mit Melodie zu begleiten. Es gelang ihr nicht, in ihrer
Seele klang nichts zu so tiefen Schmerzen; doch bei diesem Versuch
schmeichelten Rhythmus und Reim sich dergestalt an ihre Gesinnungen
an, daß sie jenem Gedicht mit lindernder Heiterkeit entgegnete, indem
sie sich Zeit nahm, folgende Strophe auszubilden und abzurunden:



"Bist noch so tief in Schmerz und Qual verloren,
So bleibst du doch zum Jugendglück geboren;
Ermanne dich zu rasch gesundem Schritte,
Komm in der Freundschaft Himmelsglanz und Helle,
Empfinde dich in treuer Guten Mitte,
Da sprieße dir des Lebens heitre Quelle."




Der ärztliche Hausfreund übernahm die Botschaft, sie gelang, schon
erwiderte der Jüngling gemäßigt; Hilarie fuhr mildernd fort, und so
schien man nach und nach wieder einen heitern Tag, einen freien Boden
zu gewinnen, und vielleicht ist es uns vergönnt, den ganzen Verlauf
dieser holden Kur gelegentlich mitzuteilen. Genug, einige Zeit
verstrich in solcher Beschäftigung höchst angenehm; ein ruhiges
Wiedersehen bereitete sich vor, das der Arzt nicht länger als nötig
zu verspäten gedachte.

Indessen hatte die Baronin mit Ordnen und Zurechtlegen alter Papiere
sich beschäftigt, und diese dem gegenwärtigen Zustande ganz
angemessene Unterhaltung wirkte gar wundersam auf den erregten Geist.
Sie sah manche Jahre ihres Lebens zurück, schwere drohende Leiden
waren vorübergegangen, deren Betrachtung den Mut für den Moment
kräftigte; besonders rührte sie die Erinnerung an ein schönes
Verhältnis zu Makarien, und zwar in bedenklichen Zuständen. Die
Herrlichkeit jener einzigen Frau ward ihr wieder vor die Seele
gebracht und sogleich der Entschluß gefaßt, sich auch diesmal an sie
zu wenden: denn zu wem sonst hätte sie ihre gegenwärtigen Gefühle
richten, wem sonst Furcht und Hoffnung offen bekennen sollen?

Bei dem Aufräumen fand sie aber auch unter andern des Bruders
Miniaturporträt und mußte über die ähnlichkeit mit dem Sohne lächelnd
seufzen. Hilarie überraschte sie in diesem Augenblick, bemächtigte
sich des Bildes, und auch sie ward von jener ähnlichkeit wundersam
betroffen.

So verging einige Zeit; endlich mit Vergünstigung des Arztes und in
seinem Geleite trat Flavio angemeldet zum Frühstück herein. Die
Frauen hatten sich vor dieser ersten Erscheinung gefürchtet. Wie
aber gar oft in bedeutenden, ja schrecklichen Momenten etwas Heiteres,
ja Lächerliches sich zu ereignen pflegt, so glückte es auch hier.
Der Sohn kam völlig in des Vaters Kleidern; denn da von seinem Anzug
nichts zu brauchen war, so hatte man sich der Feld--und Hausgarderobe
des Majors bedient, die er, zu bequemem Jagd--und Familienleben, bei
der Schwester in Verwahrung ließ. Die Baronin lächelte und nahm sich
zusammen; Hilarie war, sie wußte nicht wie, betroffen genug, sie
wendete das Gesicht weg, und dem jungen Manne wollte in diesem
Augenblick weder ein herzliches Wort von den Lippen noch eine Phrase
glücken. Um nun sämtlicher Gesellschaft aus der Verlegenheit zu
helfen, begann der Arzt eine Vergleichung beider Gestalten. Der
Vater sei etwas größer, hieß es, und deshalb der Rock etwas zu lang;
dieser sei etwas breiter, deshalb der Rock über die Schultern zu eng.
Beide Mißverständnisse gaben dieser Maskerade ein komisches Ansehen.

Durch diese Einzelheiten jedoch kam man über das Bedenkliche des
Augenblicks hinaus. Für Hilarien freilich blieb die ähnlichkeit des
jugendlichen Vaterbildes mit der frischen Lebensgegenwart des Sohnes
unheimlich, ja bedrängend.

Nun aber wünschten wir wohl den nächsten Zeitverlauf von einer
zarten Frauenhand umständlich geschildert zu sehen, da wir nach
eigener Art und Weise uns nur mit dem Allgemeinsten befassen dürfen.
Hier muß denn nun von dem Einfluß der Dichtkunst abermals die Rede
sein.

Ein gewisses Talent konnte man unserm Flavio nicht absprechen, es
bedurfte jedoch nur zu sehr eines leidenschaftlich-sinnlichen
Anlasses, wenn etwas Vorzügliches gelingen sollte; deswegen denn auch
fast alle Gedichte, jener unwiderstehlichen Frau gewidmet, höchst
eindringend und lobenswert erschienen und nun, einer gegenwärtigen,
höchst liebenswürdigen Schönen mit enthusiastischem Ausdruck
vorgelesen, nicht geringe Wirkung hervorbringen mußten.

Ein Frauenzimmer, das eine andere leidenschaftlich geliebt sieht,
bequemt sich gern zu der Rolle einer Vertrauten; sie hegt ein
heimlich, kaum bewußtes Gefühl, daß es nicht unangenehm sein müßte,
sich an die Stelle der Angebeteten leise gehoben zu sehen. Auch ging
die Unterhaltung immer mehr und mehr ins Bedeutende. Wechselgedichte,
wie sie der Liebende gern verfaßt, weil er sich von seiner Schönen,
wenn auch nur bescheiden, halb und halb kann erwidern lassen, was er
wünscht und was er aus ihrem schönen Munde zu hören kaum erwarten
dürfte. Dergleichen wurden mit Hilarien auch wechselsweise gelesen,
und zwar, da es nur aus der einen Handschrift geschah, in welche man
beiderseits, um zu rechter Zeit einzufallen, hineinschauen und zu
diesem Zweck jedes das Bändchen anfassen mußte, so fand sich, daß man,
nahe sitzend, nach und nach Person an Person, Hand an Hand immer
näher rückte und die Gelenke sich ganz natürlich zuletzt im verborgnen
berührten.

Aber bei diesen schönen Verhältnissen, unter solchen daraus
entspringenden allerliebsten Annehmlichkeiten fühlte Flavio eine
schmerzliche Sorge, die er schlecht verbarg und, immerfort nach der
Ankunft seines Vaters sich sehnend, zu bemerken gab, daß er diesem das
Wichtigste zu vertrauen habe. Dieses Geheimnis indes wäre, bei
einigem Nachdenken, nicht schwer zu erraten gewesen. Jene reizende
Frau mochte in einem bewegten, von dem zudringlichen Jüngling
hervorgerufnen Momente den Unglücklichen entschieden abgewiesen und
die bisher hartnäckig behauptete Hoffnung aufgehoben und zerstört
haben. Eine Szene, wie dies zugegangen, wagten wir nicht zu
schildern, aus Furcht, hier möchte uns die jugendliche Glut ermangeln.
Genug, er war so wenig bei sich selbst, daß er sich eiligst aus der
Garnison ohne Urlaub entfernte und, um seinen Vater aufzusuchen,
durch Nacht, Sturm und Regen nach dem Landgut seiner Tante
verzweifelnd zu gelangen trachtete, wie wir ihn auch vor kurzem haben
ankommen sehen. Die Folgen eines solchen Schrittes fielen ihm nun
bei Rückkehr nüchterner Gedanken lebhaft auf, und er wußte, da der
Vater immer länger ausblieb und er die einzige mögliche Vermittlung
entbehren sollte, sich weder zu fassen noch zu retten.

Wie erstaunt und betroffen war er deshalb, als ihm ein Brief seines
Obristen eingehändigt wurde, dessen bekanntes Siegel er mit Zaudern
und Bangigkeit auflöste, der aber nach den freundlichsten Worten
damit endigte, daß der ihm erteilte Urlaub noch um einen Monat sollte
verlängert werden.

So unerklärlich nun auch diese Gunst schien, so ward er doch dadurch
von einer Last befreit, die sein Gemüt fast ängstlicher als die
verschmähte Liebe selbst zu drücken begann. Er fühlte nun ganz das
Glück, bei seinen liebenswürdigen Verwandten so wohl aufgehoben zu
sein; er durfte sich der Gegenwart Hilariens erfreuen und war nach
kurzem in allen seinen angenehm-geselligen Eigenschaften
wiederhergestellt, die ihn der schönen Witwe selbst sowohl als ihrer
Umgebung auf eine Zeitlang notwendig gemacht hatten und nur durch eine
peremtorische Forderung ihrer Hand für immer verfinstert worden.

In solcher Stimmung konnte man die Ankunft des Vaters gar wohl
erwarten, auch wurden sie durch eintretende Naturereignisse zu einer
tätigen Lebensweise aufgeregt. Das anhaltende Regenwetter, das sie
bisher in dem Schloß zusammenhielt, hatte überall, in großen
Wassermassen niedergehend, Fluß um Fluß angeschwellt; es waren Dämme
gebrochen, und die Gegend unter dem Schlosse lag als ein blanker See,
aus welchem die Dorfschaften, Meierhöfe, größere und kleinere
Besitztümer, zwar auf Hügeln gelegen, doch immer nur inselartig
hervorschauten.

Auf solche zwar seltene, aber denkbare Fälle war man eingerichtet;
die Hausfrau befahl, und die Diener führten aus. Nach der ersten
allgemeinsten Beihülfe ward Brot gebacken, Stiere wurden geschlachtet,
Fischerkähne fuhren hin und her, Hülfe und Vorsorge nach allen Enden
hin verbreitend. Alles fügte sich schön und gut, das freundlich
Gegebene ward freudig und dankbar aufgenommen, nur an einem Orte
wollte man den austeilenden Gemeindevorstehern nicht trauen; Flavio
übernahm das Geschäft und fuhr mit einem wohlbeladenen Kahn eilig und
glücklich zur Stelle. Das einfache Geschäft, einfach behandelt,
gelang zum besten; auch entledigte sich, weiterfahrend, unser
Jüngling eines Auftrags, den ihm Hilarie beim Scheiden gegeben.
Gerade in den Zeitpunkt dieser Unglückstage war die Niederkunft einer
Frau gefallen, für die sich das schöne Kind besonders interessierte.
Flavio fand die Wöchnerin und brachte allgemeinen und diesen
besondern Dank mit nach Hause. Dabei konnte es nun an mancherlei
Erzählungen nicht fehlen. War auch niemand umgekommen, so hatte man
von wunderbaren Rettungen, von seltsamen, scherzhaften, ja
lächerlichen Ereignissen viel zu sprechen; manche notgedrungene
Zustände wurden interessant beschrieben. Genug, Hilarie empfand auf
einmal ein unwiderstehliches Verlangen, gleichfalls eine Fahrt zu
unternehmen, die Wöchnerin zu begrüßen, zu beschenken und einige
heitere Stunden zu verleben.

Nach einigem Widerstand der guten Mutter siegte endlich der freudige
Wille Hilariens, dieses Abenteuer zu bestehen, und wir wollen gern
bekennen, in dem Laufe, wie diese Begebenheit uns bekannt geworden,
einigermaßen besorgt gewesen zu sein, es möge hier einige Gefahr
obschweben, ein Stranden, ein Umschlagen des Kahns, Lebensgefahr der
Schönen, kühne Rettung von seiten des Jünglings, um das lose
geknüpfte Band noch fester zu ziehen. Aber von allem diesem war
nicht die Rede, die Fahrt lief glücklich ab, die Wöchnerin ward
besucht und beschenkt; die Gesellschaft des Arztes blieb nicht ohne
gute Wirkung, und wenn hier und da ein kleiner Anstoß sich hervortat,
wenn der Anschein eines gefährlichen Moments die Fortrudernden zu
beunruhigen schien, so endete solches nur mit neckendem Scherz, daß
eins dem andern eine ängstliche Miene, eine größere Verlegenheit,
eine furchtsam Gebärde wollte abgemerkt haben. Indessen war das
wechselseitige Vertrauen bedeutend gewachsen; die Gewohnheit, sich zu
sehen und unter allen Umständen zusammen zu sein, hatte sich
verstärkt, und die gefährliche Stellung, wo Verwandtschaft und Neigung
zum wechselseitigen Annähern und Festhalten sich berechtigt glauben,
ward immer bedenklicher.

Anmutig sollten sie jedoch auf solchen Liebeswegen immer weiter und
weiter verlockt werden. Der Himmel klärte sich auf, eine gewaltige
Kälte, der Jahreszeit gemäß, trat ein, die Wasser gefroren, ehe sie
verlaufen konnten. Da veränderte sich das Schauspiel der Welt vor
allen Augen auf einmal; was durch Fluten erst getrennt war, hing
nunmehr durch befestigten Boden zusammen, und alsbald tat sich als
erwünschte Vermittlerin die schöne Kunst hervor, welche, die ersten
raschen Wintertage zu verherrlichen und neues Leben in das Erstarrte
zu bringen, im hohen Norden erfunden worden. Die Rüstkammer öffnete
sich, jedermann suchte nach seinen gezeichneten Stahlschuhen,
begierig, die reine, glatte Fläche, selbst mit einiger Gefahr, als
der erste zu beschreiten. Unter den Hausgenossen fanden sich viele zu
höchster Leichtigkeit Geübte; denn dieses Vergnügen ward ihnen fast
jedes Jahr auf benachbarten Seen und verbindenden Kanälen, diesmal
aber in der fernhin erweiterten Fläche.

Flavio fühlte sich nun erst durch und durch gesund, und Hilarie,
seit ihren frühsten Jahren von dem Oheim angeleitet, bewies sich so
lieblich als kräftig auf dem neu erschaffenen Boden; man bewegte sich
lustig und lustiger, bald zusammen, bald einzeln, bald getrennt, bald
vereint. Scheiden und Meiden, was sonst so schwer aufs Herz fällt,
ward hier zum kleinen, scherzhaften Frevel, man floh sich, um sich
einander augenblicks wieder zu finden.

Aber innerhalb dieser Lust und Freudigkeit bewegte sich auch eine
Welt des Bedürfnisses; immer waren bisher noch einige Ortschaften nur
halb versorgt geblieben, eilig flogen nunmehr auf tüchtig bespannten
Schlitten die nötigsten Waren hin und wider, und was der Gegend noch
mehr zugute kam, war, daß man aus manchen der vorübergehenden
Hauptstraße allzu fernen Orten nunmehr schnell die Erzeugnisse des
Feldbaues und der Landwirtschaft in die nächsten Magazine der kleinen
Städte und Flecken bringen und von dorther aller Art Waren
zurückführen konnte. Nun war auf einmal eine bedrängte, den
bittersten Mangel empfindende Gegend wieder befreit, wieder versorgt,
durch eine glatte, dem Geschickten, dem Kühnen geöffnete Fläche
verbunden.

Auch das junge Paar unterließ nicht, bei vorwaltendem Vergnügen
mancher Pflichten einer liebevollen Anhänglichkeit zu gedenken. Man
besuchte jene Wöchnerin, begabte sie mit allem Notwendigen; auch
andere wurden heimgesucht: Alte, für deren Gesundheit man besorgt
gewesen; Geistliche, mit denen man erbauliche Unterhaltung sittlich zu
pflegen gewohnt war und sie jetzt in dieser Prüfung noch
achtenswerter fand; kleinere Gutsbesitzer, die kühn genug vor Zeiten
sich in gefährliche Niederungen angebaut, diesmal aber, durch
wohlangelegte Dämme geschützt, unbeschädigt geblieben--und nach
grenzenloser Angst sich ihres Daseins doppelt erfreuten. Jeder Hof,
jedes Haus, jede Familie, jeder einzelne hatte seine Geschichte, er
war sich und auch wohl andern eine bedeutende Person geworden,
deswegen fiel auch einer dem andern Erzählenden leicht in die Rede.
Eilig war jeder im Sprechen und Handeln, Kommen und Gehen, denn es
blieb immer die Gefahr, ein plötzliches Tauwetter möchte den ganzen
schönen Kreis glücklichen Wechselwirkens zerstören, die Wirte bedrohen
und die Gäste vom Hause abschneiden.

War man den Tag in so rascher Bewegung und dem lebhaftesten
Interesse beschäftigt, so verlieh der Abend auf ganz andere Weise die
angenehmsten Stunden; denn das hat die Eislust vor allen andern
körperlichen Bewegungen voraus, daß die Anstrengung nicht erhitzt und
die Dauer nicht ermüdet. Sämtliche Glieder scheinen gelenker zu
werden und jedes Verwenden der Kraft neue Kräfte zu erzeugen, so daß
zuletzt eine selig bewegte Ruhe über uns kommt, in der wir uns zu
wiegen immerfort gelockt sind.

Heute nun konnte sich unser junges Paar von dem glatten Boden nicht
loslösen, jeder Lauf gegen das erleuchtete Schloß, wo sich schon
viele Gesellschaft versammelte, ward plötzlich umgewendet und eine
Rückkehr ins Weite beliebt; man mochte sich nicht voneinander
entfernen, aus Furcht, sich zu verlieren, man faßte sich bei der Hand,
um der Gegenwart ganz gewiß zu sein. Am allersüßesten aber schien
die Bewegung, wenn über den Schultern die Arme verschränkt ruhten und
die zierlichen Finger unbewußt in beiderseitigen Locken spielten.

Der volle Mond stieg zu dem glühenden Sternenhimmel herauf und
vollendete das Magische der Umgebung. Sie sahen sich wieder deutlich
und suchten wechselseitig in den beschatteten Augen Erwiderung wie
sonst, aber sie schien anders zu sein. Aus ihren Abgründen schien ein
Licht hervorzublicken und anzudeuten, was der Mund weislich
verschwieg, sie fühlten sich beide in einem festlich behaglichen
Zustande.

Alle hochstämmigen Weiden und Erlen an den Gräben, alles niedrige
Gebüsch auf Höhen und Hügeln war deutlich geworden; die Sterne
flammten, die Kälte war gewachsen, sie fühlten nichts davon und
fuhren dem lang daherglitzernden Widerschein des Mondes, unmittelbar
dem himmlischen Gestirn selbst entgegen. Da blickten sie auf und
sahen im Geflimmer des Widerscheins die Gestalt eines Mannes hin und
her schweben, der seinen Schatten zu verfolgen schien und selbst
dunkel, vom Lichtglanz umgeben, auf sie zuschritt; unwillkürlich
wendeten sie sich ab, jemanden zu begegnen wäre widerwärtig gewesen.
Sie vermieden die immerfort sich herbewegende Gestalt, die Gestalt
schien sie nicht bemerkt zu haben und verfolgte ihren geraden Weg
nach dem Schlosse. Doch verließ sie auf einmal diese Richtung und
umkreiste mehrmals das fast beängstigte Paar. Mit einiger
Besonnenheit suchten sie für sich die Schattenseite zu gewinnen, im
vollen Mondglanz fuhr jener auf sie zu, er stand nah vor ihnen, es
war unmöglich, den Vater zu verkennen.

Hilarie, den Schritt anhaltend, verlor in überraschung das
Gleichgewicht und stürzte zu Boden, Flavio lag zu gleicher Zeit auf
einem Knie und faßte ihr Haupt in seinen Schoß auf, sie verbarg ihr
Angesicht, sie wußte nicht, wie ihr geworden war.--"Ich hole einen
Schlitten, dort unten fährt noch einer vorüber, ich hoffe, sie hat
sich nicht beschädigt; hier, bei diesen hohen drei Erlen find' ich
euch wieder!" so sprach der Vater und war schon weit hinweg. Hilarie
raffte sich an dem Jüngling empor.-- "Laß uns fliehen", rief sie,
"das ertrag' ich nicht."--Sie bewegte sich nach der Gegenseite des
Schlosses heftig, daß Flavio sie nur mit einiger Anstrengung
erreichte, er gab ihr die freundlichsten Worte.

Auszumalen ist nicht die innere Gestalt der drei nunmehr nächtlich
auf der glatten Fläche im Mondschein Verirrten, Verwirrten. Genug,
sie gelangten spät nach dem Schlosse, das junge Paar einzeln, sich
nicht zu berühren, sich nicht zu nähern wagend, der Vater mit dem
leeren Schlitten, den er vergebens ins Weite und Breite hilfreich
herumgeführt hatte. Musik und Tanz waren schon im Gange, Hilarie,
unter dem Vorwand schmerzlicher Folgen eines schlimmen Falles,
verbarg sich in ihr Zimmer, Flavio überließ Vortanz und Anordnung sehr
gern einigen jungen Gesellen, die sich deren bei seinem Außenbleiben
schon bemächtigt hatten. Der Major kam nicht zum Vorschein und fand
es wunderlich, obgleich nicht unerwartet, sein Zimmer wie bewohnt
anzutreffen, die eignen Kleider, Wäsche und Gerätschaften, nur nicht
so ordentlich, wie er's gewohnt war, umherliegend. Die Hausfrau
versah mit anständigem Zwang ihre Pflichten, und wie froh war sie,
als alle Gäste, schicklich untergebracht, ihr endlich Raum ließen,
mit dem Bruder sich zu erklären. Es war bald getan, doch brauchte es
Zeit, sich von der überraschung zu erholen, das Unerwartete zu
begreifen, die Zweifel zu heben, die Sorge zu beschwichtigen; an
Lösung des Knotens, an Befreiung des Geistes war nicht sogleich zu
denken.

Unsere Leser überzeugen sich wohl, daß von diesem Punkte an wir beim
Vortrag unserer Geschichte nicht mehr darstellend, sondern erzählend
und betrachtend verfahren müssen, wenn wir in die Gemütszustände, auf
welche jetzt alles ankommt, eindringen und sie uns vergegenwärtigen
wollen.

Wir berichten also zuerst, daß der Major, seitdem wir ihn aus den
Augen verloren, seine Zeit fortwährend jenem Familiengeschäft
gewidmet, dabei aber, so schön und einfach es auch vorlag, doch in
manchem Einzelnen auf unerwartete Hindernisse traf. Wie es denn
überhaupt so leicht nicht ist, einen alten verworrenen Zustand zu
entwickeln und die vielen verschränkten Fäden auf einen Knaul zu
winden. Da er nun deshalb den Ort öfters verändern mußte, um bei
verschiedenen Stellen und Personen die Angelegenheit zu betreiben, so
gelangten die Briefe der Schwester nur langsam und unordentlich zu ihm.
Die Verirrung des Sohnes und dessen Krankheit erfuhr er zuerst;
dann hörte er von einem Urlaub, den er nicht begriff. Daß Hilariens
Neigung im Umwenden begriffen sei, blieb ihm verborgen, denn wie
hätte die Schwester ihn davon unterrichten mögen!

Auf die Nachricht der überschwemmung beschleunigte er seine Reise,
kam jedoch erst nach eingefallenem Frost in die Nähe der Eisfelder,
schaffte sich Schrittschuhe, sendete Knechte und Pferde durch einen
Umweg nach dem Schlosse, und sich mit raschem Lauf dorthin bewegend,
gelangte er, die erleuchteten Fenster schon von ferne schauend, in
einer tagklaren Nacht zum unerfreulichsten Anschauen und war mit sich
selbst in die unangenehmste Verwirrung geraten.

Der übergang von innerer Wahrheit zum äußern Wirklichen ist im
Kontrast immer schmerzlich; und sollte Lieben und Bleiben nicht eben
die Rechte haben wie Scheiden und Meiden? Und doch, wenn sich eins
vom andern losreißt, entsteht in der Seele eine ungeheure Kluft, in
der schon manches Herz zugrunde ging. Ja der Wahn hat, solange er
dauert, eine unüberwindliche Wahrheit, und nur männliche, tüchtige
Geister werden durch Erkennen eines Irrtums erhöht und gestärkt.
Eine solche Entdeckung hebt sie über sich selbst, sie stehen über
sich erhoben und blicken, indem der alte Weg versperrt ist, schnell
umher nach einem neuen, um ihn alsofort frisch und mutig anzutreten.

Unzählig sind die Verlegenheiten, in welche sich der Mensch in
solchen Augenblicken versetzt sieht; unzählig die Mittel, welche eine
erfinderische Natur innerhalb ihrer eignen Kräfte zu entdecken,
sodann aber auch, wenn diese nicht auslangen, außerhalb ihres Bereichs
freundlich anzudeuten weiß.

Zu gutem Glück jedoch war der Major durch ein halbes Bewußtsein,
ohne sein Wollen und Trachten, schon auf einen solchen Fall im
tiefsten vorbereitet. Seitdem er den kosmetischen Kammerdiener
verabschiedet, sich seinem natürlichen Lebensgange wieder überlassen,
auf den Schein Ansprüche zu machen aufgehört hatte, empfand er sich
am eigentlichen körperlichen Behagen einigermaßen verkürzt. Er
empfand das Unangenehme eines überganges vom ersten Liebhaber zum
zärtlichen Vater; und doch wollte diese Rolle immer mehr und mehr
sich ihm aufdringen. Die Sorgfalt für das Schicksal Hilariens und der
Seinigen trat immer zuerst in seinen Gedanken hervor, bis das Gefühl
von Liebe, von Hang, von Verlangen annähernder Gegenwart sich erst
später entfaltete. Und wenn er sich Hilarien in seinen Armen dachte,
so war es ihr Glück, was er beherzigte, das er ihr zu schaffen
wünschte, mehr als die Wonne, sie zu besitzen. Ja er mußte sich,
wenn er ihres Andenkens rein genießen wollte, zuerst ihre himmlisch
ausgesprochene Neigung, er mußte jenen Augenblick denken, wo sie sich
ihm so unverhofft gewidmet hatte.

Nun aber, da er in klarster Nacht ein vereintes junges Paar vor sich
gesehen, die Liebenswürdigste zusammenstürzend, in dem Schoße des
Jünglings, beide seiner verheißenen hülfreichen Wiederkunft nicht
achtend, ihn an dem genau bezeichneten Orte nicht erwartend,
verschwunden in die Nacht, und er sich selbst im düstersten Zustande
überlassen: wer fühlte das mit und verzweifelte nicht in seine Seele?

Die an Vereinigung gewöhnte, auf nähere Vereinigung hoffende Familie
hielt sich bestürzt auseinander; Hilarie blieb hartnäckig auf ihrem
Zimmer, der Major nahm sich zusammen, von seinem Sohne den früheren
Hergang zu erfahren. Das Unheil war durch einen weiblichen Frevel
der schönen Witwe verursacht. Um ihren bisher leidenschaftlichen
Verehrer Flavio einer andern Liebenswürdigen, welche Absicht auf ihn
verriet, nicht zu überlassen, wendet sie mehr scheinbare Gunst, als
billig ist, an ihn. Er, dadurch aufgeregt und ermutigt, sucht seine
Zwecke heftig bis ins Ungehörige zu verfolgen, worüber denn erst
Widerwärtigkeit und Zwist, darauf ein entschiedener Bruch dem ganzen
Verhältnis unwiederbringlich ein Ende macht.

Väterlicher Milde bleibt nichts übrig, als die Fehler der Kinder,
wenn sie traurige Folgen haben, zu bedauern und, wo möglich,
herzustellen; gehen sie läßlicher, als zu hoffen war, vorüber, sie zu
verzeihen und zu vergessen. Nach wenigem Bedenken und Bereden ging
Flavio sodann, um an der Stelle seines Vaters manches zu besorgen, auf
die übernommenen Güter und sollte dort bis zum Ablauf seines Urlaubs
verweilen, dann sich wieder ans Regiment anschließen, welches
indessen in eine andere Garnison verlegt worden.

Eine Beschäftigung mehrerer Tage war es für den Major, Briefe und
Pakete zu eröffnen, welche sich während seines längeren Ausbleibens
bei der Schwester gehäuft hatten. Unter andern fand er ein Schreiben
jenes kosmetischen Freundes, des wohlkonservierten Schauspielers.
Dieser, durch den verabschiedeten Kammerdiener benachrichtigt von dem
Zustande des Majors und von dem Vorsatze, sich zu verheiraten, trug
mit der besten Laune die Bedenklichkeiten vor, die man bei einem
solchen Unternehmen vor Augen haben sollte; er behandelte die
Angelegenheit auf seine Weise und gab zu bedenken, daß für einen Mann
in gewissen Jahren das sicherste kosmetische Mittel sei, sich des
schönen Geschlechts zu enthalten und einer löblichen, bequemen
Freiheit zu genießen. Nun zeigte der Major lächelnd das Blatt seiner
Schwester, zwar scherzend, aber doch ernstlich genug auf die
Wichtigkeit des Inhaltes hindeutend. Auch war ihm indessen ein
Gedicht eingefallen, dessen rhythmische Ausführung uns nicht gleich
beigeht, dessen Inhalt jedoch durch zierliche Gleichnisse und anmutige
Wendung sich auszeichnete:

"Der späte Mond, der zur Nacht noch anständig leuchtet, verblaßt vor
der aufgehenden Sonne; der Liebeswahn des Alters verschwindet in
Gegenwart leidenschaftlicher Jugend; die Fichte, die im Winter frisch
und kräftig erscheint, sieht im Frühling verbräunt und mißfärbig aus,
neben hell aufgrünender Birke."

Wir wollen jedoch weder Philosophie noch Poesie als die
entscheidenden Helferinnen zu einer endlichen Entschließung hier
vorzüglich preisen; denn wie ein kleines Ereignis die wichtigsten
Folgen haben kann, so entscheidet es auch oft, wo schwankende
Gesinnungen obwalten, die Waage dieser oder jener Seite zuneigend.
Dem Major war vor kurzem ein Vorderzahn ausgefallen, und er fürchtete,
den zweiten zu verlieren. An eine künstlich scheinbare
Wiederherstellung war bei seinen Gesinnungen nicht zu denken, und mit
diesem Mangel um eine junge Geliebte zu werben, fing an, ihm ganz
erniedrigend zu scheinen, besonders jetzt, da er sich mit ihr unter
einem Dach befand. Früher oder später hätte vielleicht ein solches
Ereignis wenig gewirkt, gerade in diesem Augenblicke aber trat ein
solcher Moment ein, der einem jeden an eine gesunde Vollständigkeit
gewöhnten Menschen höchst widerwärtig begegnen muß. Es ist ihm, als
wenn der Schlußstein seines organischen Wesens entfremdet wäre und das
übrige Gewölbe nun auch nach und nach zusammenzustürzen drohte.

Wie dem auch sei, der Major unterhielt sich mit seiner Schwester gar
bald einsichtig und verständig über die so verwirrt scheinende
Angelegenheit; sie mußten beide bekennen, daß sie eigentlich nur
durch einen Umweg ans Ziel gelangt seien, ganz nahe daran, von dem
sie sich zufällig, durch äußern Anlaß durch Irrtum eines unerfahrnen
Kindes verleitet, unbedachtsam entfernt; sie fanden nichts natürlicher,
als auf diesem Wege zu verharren, eine Verbindung beider Kinder
einzuleiten und ihnen sodann jede elterliche Sorgfalt, wozu sie sich
die Mittel zu verschaffen gewußt, treu und unablässig zu widmen.
Völlig in übereinstimmung mit dem Bruder, ging die Baronin zu Hilarien
ins Zimmer. Diese saß am Flügel, zu eigner Begleitung singend und
die eintretende Begrüßende mit heiterem Blick und Beugung zum Anhören
gleichsam einladend. Es war ein angenehmes, beruhigendes Lied, das
eine Stimmung der Sängerin aussprach, die nicht besser wäre zu
wünschen gewesen. Nachdem sie geendigt hatte, stand sie auf, und ehe
die ältere Bedächtige ihren Vortrag beginnen konnte, fing sie zu
sprechen an: "Beste Mutter! es war schön, daß wir über die wichtigste
Angelegenheit so lange geschwiegen; ich danke Ihnen, daß Sie bis
jetzt diese Saite nicht berührten, nun aber ist es wohl Zeit, sich zu
erklären, wenn es Ihnen gefällig ist. Wie denken Sie sich die Sache?"

Die Baronin, höchst erfreut über die Ruhe und Milde, zu der sie ihre
Tochter gestimmt fand, begann sogleich ein verständiges Darlegen der
frühern Zeit, der Persönlichkeit ihres Bruders und seiner Verdienste;
sie gab den Eindruck zu, den der einzige Mann von Wert, der einem
jungen Mädchen so nahe bekannt geworden, auf ein freies Herz notwendig
machen müsse, und wie sich daraus, statt kindlicher Ehrfurcht und
Vertrauen, gar wohl eine Neigung, die als Liebe, als Leidenschaft
sich zeige, entwickeln könne. Hilarie hörte aufmerksam zu und gab
durch bejahende Mienen und Zeichen ihre völlige Einstimmung zu
erkennen; die Mutter ging auf den Sohn über, und jene ließ ihre
langen Augenwimpern fallen; und wenn die Rednerin nicht so rühmliche
Argumente für den Jüngeren fand, als sie für den Vater anzuführen
gewußt hatte, so hielt sie sich hauptsächlich an die ähnlichkeit
beider, an den Vorzug, den diesem die Jugend gebe, der zugleich, als
vollkommen gattlicher Lebensgefährte gewählt, die völlige
Verwirklichung des väterlichen Daseins von der Zeit wie billig
verspreche. Auch hierin schien Hilarie gleichstimmig zu denken,
obschon ein etwas ernsterer Blick und ein manchmal niederschauendes
Auge eine gewisse in diesem Fall höchst natürliche innere Bewegung
verrieten. Auf die äußeren glücklichen, gewissermaßen gebietenden
Umstände lenkte sich hierauf der Vortrag. Der abgeschlossene
Vergleich, der schöne Gewinn für die Gegenwart, die nach manchen
Seiten hin sich erweiternden Aussichten, alles ward völlig der
Wahrheit gemäß vor Augen gestellt, da es zuletzt auch an Winken nicht
fehlen konnte, wie Hilarie selbst erinnerlich sein müsse, daß sie
früher dem mit ihr heranwachsenden Vetter, und wenn auch nur wie im
Scherze, sei verlobt gewesen. Aus alle dem Vorgesagten zog nun die
Mutter den sich selbst ergebenden Schluß, daß nun mit ihrer und des
Oheims Einwilligung die Verbindung der jungen Leute ungesäumt
stattfinden könne.

Hilarie, ruhig blickend und sprechend, erwiderte darauf, sie könne
diese Folgerung nicht sogleich gelten lassen, und führte gar schön
und anmutig dagegen an, was ein zartes Gemüt gewiß mit ihr gleich
empfinden wird, und das wir mit Worten auszuführen nicht unternehmen.

Vernünftige Menschen, wenn sie etwas Verständiges ausgesonnen, wie
diese oder jene Verlegenheit zu beseitigen wäre, dieser oder jener
Zweck zu erreichen sein möchte, und dafür sich alle denklichen
Argumente verdeutlicht und geordnet, fühlen sich höchst unangenehm
betroffen, wenn diejenigen, die zu eignem Glück mitwirken sollten,
völlig andern Sinnes gefunden werden und aus Gründen, die tief im
Herzen ruhen, sich demjenigen widersetzen, was so löblich als nötig
ist. Man wechselte Reden, ohne sich zu überzeugen; das Verständige
wollte nicht in das Gefühl eindringen, das Gefühlte wollte sich dem
Nützlichen, dem Notwendigen nicht fügen; das Gespräch erhitzte sich,
die Schärfe des Verstandes traf das schon verwundete Herz, das nun
nicht mehr mäßig, sondern leidenschaftlich seinen Zustand an den Tag
gab, so daß zuletzt die Mutter selbst vor der Hoheit und Würde des
jungen Mädchens erstaunt zurücktrat, als sie mit Energie und Wahrheit
das Unschickliche, ja Verbrecherische einer solchen Verbindung
hervorhob.

In welcher Verwirrung die Baronin zu dem Bruder zurückkehrte, läßt
sich denken, vielleicht auch, wenngleich nicht vollkommen,
nachempfinden, wie der Major, der, von dieser entschiedenen Weigerung
im Innersten geschmeichelt, zwar hoffnungslos, aber getröstet vor der
Schwester stand, sich von jener Beschämung entwunden und so dieses
Ereignis, das ihm zur zartesten Ehrensache geworden war, in seinem
Innern ausgeglichen fühlte. Er verbarg diesen Zustand augenblicklich
seiner Schwester und versteckte seine schmerzliche Zufriedenheit
hinter eine in diesem Falle ganz natürliche äußerung: man müsse
nichts übereilen, sondern dem guten Kinde Zeit lassen, den eröffneten
Weg, der sich nunmehr gewissermaßen selbst verstünde, freiwillig
einzuschlagen.

Nun aber können wir kaum unsern Lesern zumuten, aus diesen
ergreifenden inneren Zuständen in das äußere überzugehen, worauf doch
jetzt so viel ankam. Indes die Baronin ihrer Tochter alle Freiheit
ließ, mit Musik und Gesang, mit Zeichnen und Sticken ihre Tage
angenehm zu verbringen, auch mit Lesen und Vorlesen sich und die
Mutter zu unterhalten, so beschäftigte sich der Major bei
eintretendem Frühjahr, die Familienangelegenheiten in Ordnung zu
bringen; der Sohn, der sich in der Folge als einen reichen Besitzer
und, wie er gar nicht zweifeln konnte, als glücklichen Gatten
Hilariens erblickte, fühlte nun erst ein militärisches Bestreben nach
Ruhm und Rang, wenn der androhende Krieg hereinbrechen sollte. Und so
glaubte man in augenblicklicher Beruhigung als gewiß vorauszusehen,
daß dieses Rätsel, welches nur noch an eine Grille geknüpft schien,
sich bald aufhellen und auseinanderlegen würde.

Leider aber war in dieser anscheinenden Ruhe keine Beruhigung zu
finden. Die Baronin wartete tagtäglich, aber vergebens, auf die
Sinnesänderung ihrer Tochter, die zwar mit Bescheidenheit und selten,
aber doch, bei entscheidendem Anlaß, mit Sicherheit zu erkennen gab,
sie bleibe so fest bei ihrer überzeugung, als nur einer sein kann, dem
etwas innerlich wahr geworden, es möge nun mit der ihn umgebenden
Welt in Einklang stehen oder nicht. Der Major empfand sich
zwiespältig; er würde sich immer verletzt fühlen, wenn Hilarie sich
wirklich für den Sohn entschiede; entschiede sie sich aber für ihn
selbst, so war er ebenso überzeugt, daß er ihre Hand ausschlagen
müsse.

Bedauern wir den guten Mann, dem diese Sorgen, diese Qualen wie ein
beweglicher Nebel unablässig vorschwebten, bald als Hintergrund, auf
welchem sich die Wirklichkeiten und Beschäftigungen des dringenden
Tages hervorhoben, bald herantretend und alles Gegenwärtige bedeckend.
Ein solches Wanken und Schweben bewegte sich vor den Augen seines
Geistes; und wenn ihn der fordernde Tag zu rascher, wirksamer
Tätigkeit aufbot, so war es bei nächtlichem Erwachen, wo alles
Widerwärtige, gestaltet und immer umgestaltet, im unerfreulichsten
Kreis sich in seinem Innern umwälzte. Dies ewig wiederkehrende
Unabweisbare brachte ihn in einen Zustand, den wir fast Verzweiflung
nennen dürften, weil Handeln und Schaffen, die sich sonst als
Heilmittel für solche Lagen am sichersten bewährten, hier kaum
lindernd, geschweige denn befriedigend wirken wollten.

In solcher Lage erhielt unser Freund von unbekannter Hand ein
Schreiben mit Einladung in das Posthaus des nahe gelegenen Städtchens,
wo ein eilig Durchreisender ihn dringend zu sprechen wünschte. Er,
bei seinen vielfachen Geschäfts--und Weltverhältnissen an dergleichen
gewöhnt, säumte um so weniger, als ihm die freie, flüchtige Hand
einigermaßen erinnerlich schien. Ruhig und gefaßt nach seiner Art
begab er sich an den bezeichneten Ort, als in der bekannten, fast
bäuerischen Oberstube die schöne Witwe ihm entgegentrat, schöner und
anmutiger, als er sie verlassen hatte. War es, daß unsere
Einbildungskraft nicht fähig ist, das Vorzüglichste festzuhalten und
völlig wieder zu vergegenwärtigen, oder hatte wirklich ein bewegterer
Zustand ihr mehreren Reiz gegeben, genug, es bedurfte doppelter
Fassung, sein Erstaunen, seine Verwirrung unter dem Schein
allgemeinster Höflichkeit zu verbergen; er grüßte sie verbindlich mit
verlegener Kälte.

"Nicht so, mein Bester!" rief sie aus, "keineswegs hab' ich Sie dazu
zwischen diese geweihten Wände, in diese höchst unedle Umgebung
berufen; ein so schlechter Hausrat fordert nicht auf, sich höfisch zu
unterhalten. Ich befreie meine Brust von einer schweren Last, indem
ich sage, bekenne: in Ihrem Hause hab' ich viel Unheil angerichtet.
"--Der Major trat stutzend zurück.--"Ich weiß alles", fuhr sie fort,
"wir brauchen uns nicht zu erklären; Sie und Hilarien, Hilarien und
Flavio, Ihre gute Schwester, Sie alle bedaure ich." Die Sprache
schien ihr zu stocken, die herrlichsten Augenwimpern konnten
hervorquellende Tränen nicht zurückhalten, ihre Wange rötete sich,
sie war schöner als jemals. In äußerster Verwirrung stand der edle
Mann vor ihr, ihn durchdrang eine unbekannte Rührung. "Setzen wir
uns", sagte, die Augen trocknend, das allerliebste Wesen. "Verzeihen
Sie mir, bedauern Sie mich, Sie sehen, wie ich bestraft bin." Sie
hielt ihr gesticktes Tuch abermals vor die Augen und verbarg, wie
bitterlich sie weinte.

"Klären Sie mich auf, meine Gnädige", sprach er mit Hast.-- "Nichts
von gnädig!" entgegnete sie himmlisch lächelnd, "nennen Sie mich Ihre
Freundin, Sie haben keine treuere. Und also, mein Freund, ich weiß
alles, ich kenne die Lage der ganzen Familie genau, aller Gesinnungen
und Leiden bin ich vertraut."-- "Was konnte Sie bis auf diesen Grad
unterrichten?"--"Selbstbekenntnisse. Diese Hand wird Ihnen nicht
fremd sein." Sie wies ihm einige entfaltete Briefe hin.-- "Die Hand
meiner Schwester, Briefe, mehrere, der nachlässigen Schrift nach
vertraute! Haben Sie je mit ihr in Verhältnis gestanden?"
"Unmittelbar nicht, mittelbar seit einiger Zeit; hier die Aufschrift:
"An ***.""--"Ein neues Rätsel: An Makarien, die schweigsamste aller
Frauen."--"Deshalb aber auch die Vertraute, der Beichtiger aller
bedrängten Seelen, aller derer, die sich selbst verloren haben, sich
wiederzufinden wünschten und nicht wissen wo."--"Gott sei Dank!" rief
er aus, "daß sich eine solche Vermittlung gefunden hat, mir wollt' es
nicht ziemen, sie anzuflehen, ich segne meine Schwester, daß sie es
tat; denn auch mir sind Beispiele bekannt, daß jene Treffliche, im
Vorhalten eines sittlich-magischen Spiegels, durch die äußere
verworrene Gestalt irgendeinem Unglücklichen sein rein schönes Innere
gewiesen und ihn auf einmal erst mit sich selbst befriedigt und zu
einem neuen Leben aufgefordert hat."

"Diese Wohltat erzeigte sie auch mir", versetzte die Schöne; und in
diesem Augenblick fühlte unser Freund, wenn es ihm auch nicht klar
wurde, dennoch entschieden, daß aus dieser sonst in ihrer Eigenheit
abgeschlossenen merkwürdigen Person sich ein sittlich-schönes,
teilnehmendes und teilgebendes Wesen hervortat.--"Ich war nicht
unglücklich, aber unruhig", fuhr sie fort, "ich gehörte mir selbst
nicht recht mehr an, und das heißt denn doch am Ende nicht glücklich
sein. Ich gefiel mir selbst nicht mehr, ich mochte mich vor dem
Spiegel zurechtrücken, wie ich wollte, es schien mir immer, als wenn
ich mich zu einem Maskenball herausputzte; aber seitdem sie mir ihren
Spiegel vorhielt, seit ich gewahr wurde, wie man sich von innen
selbst schmücken könne, komm' ich mir wieder recht schön vor." Sie
sagte das zwischen Lächeln und Weinen und war, man mußte es zugeben,
mehr als liebenswürdig. Sie erschien achtungswert und wert einer
ewigen treuen Anhänglichkeit.

"Und nun, mein Freund, fassen wir uns kurz: hier sind die Briefe!
sie zu lesen und wieder zu lesen, sich zu bedenken, sich zu bereiten,
bedürften Sie allenfalls einer Stunde, mehr, wenn Sie wollen; alsdann
werden mit wenigen Worten unsere Zustände sich entscheiden lassen."

Sie verließ ihn, um in dem Garten auf und ab zu gehen; er entfaltete
nun einen Briefwechsel der Baronin mit Makarien, dessen Inhalt wir
summarisch andeuten. Jene beklagt sich über die schöne Witwe. Wie
eine Frau die andere ansieht und scharf beurteilt, geht hervor.
Eigentlich ist nur vom äußern und von äußerungen die Rede, nach dem
Innern wird nicht gefragt.

Hierauf von seiten Makariens eine mildere Beurteilung. Schilderung
eines solchen Wesens von innen heraus. Das äußere erscheint als
Folge von Zufälligkeiten, kaum zu tadeln, vielleicht zu entschuldigen.
Nun berichtet die Baronin von der Raserei und Tollheit des Sohns,
der wachsenden Neigung des jungen Paars, von der Ankunft des Vaters,
der entschiedenen Weigerung Hilariens. überall finden sich
Erwiderungen Makariens von reiner Billigkeit, die aus der gründlichen
überzeugung stammt, daß hieraus eine sittliche Besserung entstehen
müsse. Sie übersendet zuletzt den ganzen Briefwechsel der schönen
Frau, deren himmelschönes Innere nun hervortritt und das äußere zu
verherrlichen beginnt. Das Ganze schließt mit einer dankbaren
Erwiderung an Makarien.









Sechstes Kapitel



Wilhelm an Lenardo

Endlich, teuerster Freund, kann ich sagen, sie ist gefunden, und zu
Ihrer Beruhigung darf ich hinzusetzen, in einer Lage, wo für das gute
Wesen nichts weiter zu wünschen übrigbleibt. Lassen Sie mich im
allgemeinen reden; ich schreibe noch hier an Ort und Stelle, wo ich
alles vor Augen habe, wovon ich Rechenschaft geben soll.

Häuslicher Zustand, auf Frömmigkeit gegründet, durch Fleiß und
Ordnung belebt und erhalten, nicht zu eng, nicht zu weit, im
glücklichsten Verhältnis der Pflichten zu den Fähigkeiten und Kräften.
Um sie her bewegt sich ein Kreislauf von Handarbeitenden im
reinsten, anfänglichsten Sinne; hier ist Beschränktheit und Wirkung in
die Ferne, Umsicht und Mäßigung, Unschuld und Tätigkeit. Nicht
leicht habe ich mich in einer angenehmeren Gegenwart gesehen, über
welche eine heitere Aussicht auf die nächste Zeit und die Zukunft
waltet. Dieses, zusammen betrachtet, möchte wohl hinreichend sein,
einen jeden Teilnehmenden zu beruhigen.

Ich darf daher in Erinnerung alles dessen, was unter uns besprochen
worden, auf das dringendste bitten: der Freund möge es bei dieser
allgemeinen Schilderung belassen, solche allenfalls in Gedanken
ausmalen, dagegen aber aller weitern Nachforschung entsagen, und sich
dem großen Lebensgeschäfte, in das er nun wahrscheinlich vollkommen
eingeweiht sein wird, auf die lebhafteste Weise widmen.

Ein Duplikat dieses Briefes sende an Hersilien, das andere an den
Abbé, der, wie ich vermute, am sichersten weiß, wo Sie zu finden sind.
An diesen geprüften, im Geheimen und Offenbaren immer gleich
zuverlässigen Freund schreibe noch einiges, welches er mitteilen wird;
besonders bitte, was mich selbst betrifft, mit Anteil zu betrachten
und mit frommen, treuen Wünschen mein Vorhaben zu fördern. Wilhelm
an den Abbé

Wenn mich nicht alles triegt, so ist Lenardo, der höchst
wertzuschätzende, gegenwärtig in eurer Mitte, und ich sende deshalb
das Duplikat eines Schreibens, damit es ihm sicher zugestellt werde.
Möge dieser vorzügliche junge Mann in euren Kreis zu ununterbrochenem
bedeutendem Wirken verschlungen werden, da, wie ich hoffe, sein
Inneres beruhigt ist.

Was mich betrifft, so kann ich, nach fortdauernder tätiger
Selbstprüfung, mein durch Montan vorlängst angebrachtes Gesuch
nunmehr nur noch ernstlicher wiederholen; der Wunsch, meine
Wanderjahre mit mehr Fassung und Stetigkeit zu vollenden, wird immer
dringender. In sicherer Hoffnung, man würde meinen Vorstellungen
Raum geben, habe ich mich durchaus vorbereitet und meine Einrichtung
getroffen. Nach Vollendung des Geschäfts zugunsten meines edlen
Freundes werde ich nun wohl meinen fernern Lebensgang unter den schon
ausgesprochenen Bedingungen getrost antreten dürfen. Sobald ich auch
noch eine fromme Wallfahrt zurückgelegt, gedenke ich in ***
einzutreffen. An diesem Ort hoff ich eure Briefe zu finden und meinem
innern Triebe gemäß von neuem zu beginnen.









Siebentes Kapitel

Nachdem unser Freund vorstehende Briefe abgelassen, schritt er,
durch manchen benachbarten Gebirgszug fortwandernd, immer weiter, bis
die herrliche Talgegend sich ihm eröffnete, wo er, vor Beginn eines
neuen Lebensganges, so manches abzuschließen gedachte. Unerwartet
traf er hier auf einen jungen, lebhaften Reisegefährten, durch
welchen seinem Bestreben und seinem Genuß manches zu Gunsten
gereichen sollte. Er findet sich mit einem Maler zusammen, welcher,
wie dergleichen viele in der offnen Welt, mehrere noch in Romanen und
Dramen umherwandeln und spuken, sich diesmal als ein ausgezeichneter
Künstler darstellte. Beide schicken sich gar bald ineinander,
vertrauen sich wechselseitig Neigungen, Absichten, Vorsätze, und nun
wird offenbar, daß der treffliche Künstler, der aquarellierte
Landschaften mit geistreicher, wohl gezeichneter und ausgeführter
Staffage zu schmücken weiß, leidenschaftlich eingenommen sei von
Mignons Schicksalen, Gestalt und Wesen. Er hatte sie gar oft schon
vorgestellt und begab sich nun auf die Reise, die Umgebungen, worin
sie gelebt, der Natur nachzubilden; hier das liebliche Kind in
glücklichen und unglücklichen Umgebungen und Augenblicken
darzustellen und so ihr Bild, das in allen zarten Herzen lebt, auch
dem Sinne des Auges hervorzurufen.

Die Freunde gelangen bald zum großen See, Wilhelm trachtet, die
angedeuteten Stellen nach und nach aufzufinden. Ländliche
Prachthäuser, weitläufige Klöster, überfahrten und Buchten, Erdzungen
und Landungsplätze wurden gesucht und die Wohnungen kühner und
gutmütiger Fischer so wenig als die heiter gebauten Städtchen am Ufer
und Schlößchen auf benachbarten Höhen vergessen. Dies alles weiß der
Künstler zu ergreifen, durch Beleuchten und Färben der jedesmal
geschichtlich erregten Stimmung anzueignen, so daß Wilhelm seine Tage
und Stunden in durchgreifender Rührung zubrachte.

Auf mehreren Blättern war Mignon im Vordergrunde, wie sie leibte und
lebte, vorgestellt, indem Wilhelm der glücklichen Einbildungskraft
des Freundes durch genaue Beschreibung nachzuhelfen und das
allgemeiner Gedachte ins Engere der Persönlichkeit einzufassen wußte.

Und so sah man denn das Knaben-Mädchen in mannigfaltiger Stellung
und Bedeutung aufgeführt. Unter dem hohen Säulenportale des
herrlichen Landhauses stand sie, nachdenklich die Statuen der
Vorhalle betrachtend. Hier schaukelte sie sich plätschernd auf dem
angebundenen Kahn, dort erkletterte sie den Mast und erzeigte sich als
ein kühner Matrose.

Ein Bild aber tat sich vor allen hervor, welches der Künstler auf
der Herreise, noch eh' er Wilhelmen begegnet, mit allen
Charakterzügen sich angeeignet hatte. Mitten im rauhen Gebirge
glänzt der anmutige Scheinknabe, von Sturzfelsen umgeben, von
Wasserfällen besprüht, mitten in einer schwer zu beschreibenden Horde.
Vielleicht ist eine grauerliche, steile Urgebirg-Schlucht nie
anmutiger und bedeutender staffiert worden. Die bunte, zigeunerhafte
Gesellschaft, roh zugleich und phantastisch, seltsam und gemein, zu
locker, um Furcht einzuflößen, zu wunderlich, um Vertrauen zu
erwecken. Kräftige Saumrosse schleppen, bald über Knüppelwege, bald
eingehauene Stufen hinab, ein buntverworrenes Gepäck, an welchem
herum die sämtlichen Instrumente einer betäubenden Musik, schlotternd
aufgehängt, das Ohr mit rauhen Tönen von Zeit zu Zeit belästigen.
Zwischen allem dem das liebenswürdige Kind, in sich gekehrt ohne
Trutz, unwillig ohne Widerstreben, geführt, aber nicht geschleppt.
Wer hätte sich nicht des merkwürdigen, ausgeführten Bildes gefreut?
Kräftig charakterisiert war die grimmige Enge dieser Felsmassen; die
alles durchschneidenden schwarzen Schluchten, zusammengetürmt, allen
Ausgang zu hindern drohend, hätte nicht eine kühne Brücke auf die
Möglichkeit, mit der übrigen Welt in Verbindung zu gelangen,
hingedeutet. Auch ließ der Künstler mit klugdichtendem
Wahrheitssinne eine Höhle merklich werden, die man als Naturwerkstatt
mächtiger Kristalle oder als Aufenthalt einer fabelhaft-furchtbaren
Drachenbrut ansprechen konnte.

Nicht ohne heilige Scheu besuchten die Freunde den Palast des
Marchese; der Greis war von seiner Reise noch nicht zurück; sie
wurden aber auch in diesem Bezirk, weil sie sich mit geistlichen und
weltlichen Behörden wohl zu benehmen wußten, freundlich empfangen und
behandelt.

Die Abwesenheit des Hausherrn jedoch empfand Wilhelm sehr angenehm;
denn ob er gleich den würdigen Mann gerne wieder gesehen und herzlich
begrüßt hätte, so fürchtete er sich doch vor dessen dankbarer
Freigebigkeit und vor irgendeiner aufgedrungenen Belohnung jenes
treuen, liebevollen Handelns, wofür er schon den zartesten Lohn
dahingenommen hatte.

Und so schwammen die Freunde auf zierlichem Nachen von Ufer zu Ufer,
den See in jeder Richtung durchkreuzend. In der schönsten Jahrszeit
entging ihnen weder Sonnenaufgang noch -untergang und keine der
tausend Schattierungen, mit denen das Himmelslicht sein Firmament und
von da See und Erde freigebigst überspendet und sich im Abglanz erst
vollkommen verherrlicht.

Eine üppige Pflanzenwelt, ausgesäet von Natur, durch Kunst gepflegt
und gefördert, umgab sie überall. Schon die ersten Kastanienwälder
hatten sie willkommen geheißen, und nun konnten sie sich eines
traurigen Lächelns nicht enthalten, wenn sie, unter Zypressen
gelagert, den Lorbeer aufsteigen, den Granatapfel sich röten, Orangen
und Zitronen in Blüte sich entfalten und Früchte zugleich aus dem
dunklen Laube hervorglühend erblickten.

Durch den frischen Gesellen entstand jedoch für Wilhelm ein neuer
Genuß. Unserm alten Freund hatte die Natur kein malerisches Auge
gegeben. Empfänglich für sichtbare Schönheit nur an menschlicher
Gestalt, ward er auf einmal gewahr: ihm sei durch einen
gleichgestimmten, aber zu ganz andern Genüssen und Tätigkeiten
gebildeten Freund die Umwelt aufgeschlossen.

In gesprächiger Hindeutung auf die wechselnden Herrlichkeiten der
Gegend, mehr aber noch durch konzentrierte Nachahmung wurden ihm die
Augen aufgetan und er von allen sonst hartnäckig gehegten Zweifeln
befreit. Verdächtig waren ihm von jeher Nachbildungen italienischer
Gegenden gewesen; der Himmel schien ihm zu blau, der violette Ton
reizender Fernen zwar höchst lieblich, doch unwahr und das mancherlei
frische Grün doch gar zu bunt; nun verschmolz er aber mit seinem
neuen Freunde aufs innigste und lernte, empfänglich wie er war, mit
dessen Augen die Welt sehen, und indem die Natur das offenbare
Geheimnis ihrer Schönheit entfaltete, mußte man nach Kunst als der
würdigsten Auslegerin unbezwingliche Sehnsucht empfinden.

Aber ganz unerwartet kam der malerische Freund ihm von einer andern
Seite entgegen; dieser hatte manchmal einen heitern Gesang angestimmt
und dadurch ruhige Stunden auf weit--und breiter Wellenfahrt gar
innig belebt und begleitet. Nun aber traf sich's, daß er in einem der
Paläste ein ganz eigenes Saitenspiel fand, eine Laute in kleinem
Format, kräftig, vollklingend, bequem und tragbar; er wußte das
Instrument alsbald zu stimmen, so glücklich und angenehm zu behandeln
und die Gegenwärtigen so freundlich zu unterhalten, daß er, als neuer
Orpheus, den sonst strengen und trocknen Kastellan erweichend bezwang
und ihn freundlich nötigte, das Instrument dem Sänger auf eine
Zeitlang zu überlassen, mit der Bedingung, solches vor der Abreise
treulich wiederzugeben, auch in der Zwischenzeit an irgendeinem
Sonn--oder Feiertage zu erscheinen und die Familie zu erfreuen.

Ganz anders war nunmehr See und Ufer belebt, Boot und Kahn buhlten
um ihre Nachbarschaft, selbst Fracht--und Marktschiffe verweilten in
ihrer Nähe, Reihen von Menschen zogen am Strande nach, und die
Landenden sahen sich sogleich von einer frohsinnigen Menge umgeben;
die Scheidenden segnete jedermann, zufrieden, doch sehnsuchtsvoll.

Nun hätte zuletzt ein Dritter, die Freunde beobachtend, gar wohl
bemerken können, daß die Sendung beider eigentlich geendigt sei: alle
die auf Mignon sich beziehenden Gegenden und Lokalitäten waren
sämtlich umrissen, teils in Licht, Schatten und Farbe gesetzt, teils
in heißen Tagesstunden treulich ausgeführt. Dies zu leiten, hatten
sie sich auf eine eigne Weise von Ort zu Ort bewegt, weil ihnen
Wilhelms Gelübde gar oft hinderlich war; doch wußten sie solches
gelegentlich zu umgehen durch die Auslegung: es gelte nur für das
Land, auf dem Wasser sei es nicht anwendbar.

Auch fühlte Wilhelm selbst, daß ihre eigentliche Absicht erreicht
sei, aber leugnen konnte er sich nicht, daß der Wunsch, Hilarien und
die schöne Witwe zu sehen, auch noch befriedigt werden müsse, wenn
man mit freiem Sinne diese Gegend verlassen wollte. Der Freund, dem
er die Geschichte vertraut, war nicht weniger neugierig und freute
sich schon, einen herrlichen Platz in einer seiner Zeichnungen leer
und ledig zu wissen, den er mit den Gestalten so holder Personen
künstlerisch zu verzieren gedachte.

Nun stellten sie Kreuz-und-Quer-Fahrten an, die Punkte, wo der
Fremde in dieses Paradies einzutreten pflegt, beobachtend. Ihre
Schiffer hatten sie mit der Hoffnung, Freunde hier zu sehen, bekannt
gemacht, und nun dauerte es nicht lange, so sahen sie ein
wohlverziertes Prachtschiff herangleiten, worauf sie Jagd machten und
sich nicht enthielten, sogleich leidenschaftlich zu entern. Die
Frauenzimmer, einigermaßen betroffen, faßten sich sogleich, als
Wilhelm das Blättchen vorwies und beide den von ihnen selbst
vorgezeichneten Pfeil ohne Bedenken anerkannten. Die Freunde wurden
alsbald zutraulich eingeladen, das Schiff der Damen zu besteigen,
welches eilig geschah.

Und nun vergegenwärtige man sich die viere, wie sie, im zierlichsten
Raum beisammen, gegen einander über sitzen in der seligsten Welt, von
lindem Lufthauch angeweht, auf glänzenden Wellen geschaukelt. Man
denke das weibliche Paar, wie wir sie vor kurzem geschildert gesehen,
das männliche, mit dem wir schon seit Wochen ein gemeinsames
Reiseleben führen, und wir sehen sie nach einiger Betrachtung
sämtlich in der anmutigsten, obgleich gefährlichsten Lage.

Für die drei, welche sich schon, willig oder unwillig, zu den
Entsagenden gezählt, ist nicht das Schwerste zu besorgen, der Vierte
jedoch dürfte sich nur allzubald in jenen Orden aufgenommen sehen.

Nachdem man einigemal den See durchkreuzt und auf die
interessantesten Lokalitäten sowohl des Ufers als der Inseln
hingedeutet hatte, brachte man die Damen gegen den Ort, wo sie
übernachten sollten und wo ein gewandter, für diese Reise angenommener
Führer alle wünschenswerten Bequemlichkeiten zu besorgen wußte. Hier
war nun Wilhelms Gelübde ein schicklicher, aber unbequemer
Zeremonienmeister; denn gerade an dieser Station hatten die Freunde
vor kurzem drei Tage zugebracht und alles Merkwürdige der Umgebung
erschöpft. Der Künstler, welchen kein Gelübde zurückhielt, wollte
die Erlaubnis erbitten, die Damen ans Land zu geleiten, die es aber
ablehnten, weswegen man sich in einiger Entfernung vom Hafen trennte.

Kaum war der Sänger in sein Schiff gesprungen, das sich eiligst vom
Ufer entfernte, als er nach der Laute griff und jenen
wundersam-klagenden Gesang, den die venezianischen Schiffer von Land
zu See, von See zu Land erschallen lassen, lieblich anzustimmen begann.
Geübt genug zu solchem Vortrag, der ihm diesmal eigens zart und
ausdrucksvoll gelang, verstärkte er, verhältnismäßig zur wachsenden
Entfernung, den Ton, so daß man am Ufer immer die gleiche Nähe des
Scheidenden zu hören glaubte. Er ließ zuletzt die Laute schweigen,
seiner Stimme allein vertrauend, und hatte das Vergnügen, zu bemerken,
daß die Damen, anstatt sich ins Haus zurückzuziehen, am Ufer zu
verweilen beliebten. Er fühlte sich so begeistert, daß er nicht
endigen konnte, auch selbst als zuletzt Nacht und Entfernung das
Anschauen aller Gegenstände entzogen; bis ihm endlich der mehr
beruhigte Freund bemerklich machte, daß, wenn auch Finsternis den Ton
begünstigte, das Schiff den Kreis doch längst verlassen habe, in
welchem derselbe wirken könne.

Der Verabredung gemäß traf man sich des andern Tags abermals auf
offener See. Vorüberfliegend befreundete man sich mit der schönen
Reihe merkwürdig hingelagerter, bald reihenweis übersehbarer, bald
sich verschiebender Ansichten, die, im Wasser sich gleichmäßig
verdoppelnd, bei Uferfahrten das mannigfaltigste Vergnügen gewähren.
Dabei ließen denn die künstlerischen Nachbildungen auf dem Papier
dasjenige vermuten und ahnen, was man auf dem heutigen Zug nicht
unmittelbar gewahrte. Für alles dieses schien die stille Hilarie
freien und schönen Sinn zu besitzen.

Aber nun gegen Mittag erschien abermals das Wunderbare: die Damen
landeten allein, die Männer kreuzten vor dem Hafen. Nun suchte der
Sänger seinen Vortrag einer solchen Annäherung zu bequemen, wo nicht
bloß von einem zart und lebhaft jodelnden allgemeinen Sehnsuchtston,
sondern von heiterer, zierlicher Andringlichkeit irgendeine glückliche
Wirkung zu hoffen wäre. Da wollte denn manchmal ein und das andere
der Lieder, die wir geliebten Personen der "Lehrjahre" schuldig sind,
über den Saiten, über den Lippen schweben; doch enthielt er sich, aus
wohlmeinender Schonung, deren er selbst bedurfte, und schwärmte
vielmehr in fremden Bildern und Gefühlen umher, zum Gewinn seines
Vortrags, der sich nur um desto einschmeichelnder vernehmen ließ.
Beide Freunde hätten, auf diese Weise den Hafen blockierend, nicht an
Essen und Trinken gedacht, wenn die vorsichtigen Freundinnen nicht
gute Bissen herübergesendet hätten, wozu ein begleitender Trunk
ausgesuchten Weins zum allerbesten schmeckte.

Jede Absonderung, jede Bedingung, die unsern aufkeimenden
Leidenschaften in den Weg tritt, schärft sie, anstatt sie zu dämpfen;
und auch diesmal läßt sich vermuten, daß die kurze Abwesenheit beiden
Teilen gleiche Sehnsucht erregt habe. Allerdings! man sah die Damen
in ihrer blendend-muntern Gondel gar bald wieder heranfahren.

Das Wort Gondel nehme man aber nicht im traurigen venezianischen
Sinne; hier bezeichnet es ein lustig-bequem-gefälliges Schiff, das,
hätte sich unser kleiner Kreis verdoppelt, immer noch geräumig genug
gewesen wäre.

Einige Tage wurden so auf diese eigene Weise zwischen Begegnen und
Scheiden, zwischen Trennen und Zusammensein hingebracht; im Genuß
vergnüglichster Geselligkeit schwebte immer Entfernen und Entbehren
vor der bewegten Seele. In Gegenwart der neuen Freunde rief man sich
die ältern zurück; vermißte man die neuen, so mußte man bekennen, daß
auch diese schon starken Anspruch an Erinnerung zu erwerben gewußt.
Nur ein gefaßter, geprüfter Geist wie unsere schöne Witwe konnte sich
zu solcher Stunde völlig im Gleichgewicht erhalten.

Hilariens Herz war zu sehr verwundet, als daß es einen neuen, reinen
Eindruck zu empfangen fähig gewesen wäre; aber wenn die Anmut einer
herrlichen Gegend uns lindernd umgibt, wenn die Milde gefühlvoller
Freunde auf uns einwirkt, so kommt etwas Eigenes über Geist und Sinn,
das uns Vergangenes, Abwesendes traumartig zurückruft und das
Gegenwärtige, als wäre es nur Erscheinung, geistermäßig entfernt. So
abwechselnd hin und wider geschaukelt, angezogen und abgelehnt,
genähert und entfernt, wallten und wogten sie verschiedene Tage.

Ohne diese Verhältnisse näher zu beurteilen, glaubte doch der
gewandte, wohlerfahrene Reiseführer einige Veränderung in dem ruhigen
Betragen seiner Heldinnen gegen das bisherige zu bemerken, und als
das Grillenhafte dieser Zustände sich ihm endlich aufgeklärt hatte,
wußte er auch hier das Erfreulichste zu vermitteln. Denn als man eben
die Damen abermals zu dem Orte, wo ihre Tafel bereitet wäre, bringen
wollte, begegnete ihnen ein anderes geschmücktes Schiff, das, an das
ihrige sich anlegend, einen gut gedeckten Tisch mit allen
Heiterkeiten einer festlichen Tafel einladend vorwies; man konnte nun
den Verlauf mehrerer Stunden zusammen abwarten, und erst die Nacht
entschied die herkömmliche Trennung.

Glücklicherweise hatten die männlichen Freunde auf ihren früheren
Fahrten gerade die geschmückteste der Inseln aus einer gewissen
Naturgrille zu betreten vernachlässigt und auch jetzt nicht gedacht,
die dortigen, keineswegs im besten Stand erhaltenen Künsteleien den
Freundinnen vorzuzeigen, ehe die herrlichen Weltszenen völlig
erschöpft wären. Doch zuletzt ging ihnen ein ander Licht auf! Man
zog den Führer ins Vertrauen, dieser wußte jene Fahrt sogleich zu
beschleunigen, und sie hielten solche für die seligste. Nun durften
sie hoffen und erwarten, nach so manchen unterbrochenen Freuden drei
volle himmlische Tage, in einem abgeschlossenen Bezirk versammelt,
zuzubringen.

Hier müssen wir nun den Reiseführer besonders rühmen; er gehörte zu
jenen beweglichen, tätig gewandten, welche, mehrere Herrschaften
geleitend, dieselben Routen oft zurücklegen; mit Bequemlichkeiten und
Unbequemlichkeiten genau bekannt, die einen zu vermeiden, die andern
zu benutzen und, ohne Hintansetzung eignen Vorteils, ihre Patrone doch
immer wohlfeiler und vergnüglicher durchs Land zu führen verstehen,
als diesen auf eigene Hand würde gelungen sein.

Zu gleicher Zeit tat sich eine lebhafte weibliche Bedienung der
Frauenzimmer zum erstenmal entschieden tätig hervor, so daß die
schöne Witwe zur Bedingung machen konnte, die beiden Freunde möchten
bei ihr als Gäste einkehren und mit mäßiger Bewirtung vorliebnehmen.
Auch hier gelang alles zum günstigsten: denn der kluge
Geschäftsträger hatte, bei dieser Gelegenheit wie früher, von den
Empfehlungs--und Kreditbriefen der Damen so klugen Gebrauch zu machen
gewußt, daß, in Abwesenheit der Besitzer, Schloß und Garten, nicht
weniger die Küche zu beliebigem Gebrauch eröffnet wurden, ja sogar
einige Aussicht auf den Keller blieb. Alles stimmte nun so zusammen,
daß man sich gleich vom ersten Augenblick an als einheimisch, als
eingeborne Herrschaft solcher Paradiese fühlen mußte.

Das sämtliche Gepäck aller unserer Reisenden ward sogleich auf die
Insel gebracht, wodurch für die Gesellschaft große Bequemlichkeit
entstand, der größte Vorteil aber dabei erzielt ward, indem die
sämtlichen Portefeuilles des trefflichen Künstlers, zum erstenmal
alle beisammen, ihm Gelegenheit gaben, den Weg, den er genommen, in
stetiger Folge den Schönen zu vergegenwärtigen. Man nahm die Arbeit
mit Entzücken auf. Nicht etwa wie Liebhaber und Künstler sich
wechselweise präkonisieren, hier ward einem vorzüglichen Manne das
gefühlteste und einsichtigste Lob erteilt. Damit wir aber nicht in
Verdacht geraten, als wollten wir mit allgemeinen Phrasen dasjenige,
was wir nicht vorzeigen können, gläubigen Lesern nur unterschieben,
so stehe hier das Urteil eines Kenners, der bei jenen fraglichen
sowohl als gleichen und ähnlichen Arbeiten mehrere Jahre nachher
bewundernd verweilte.

"Ihm gelingt, die heitere Ruhe stiller Seeaussichten darzustellen,
wo anliegend-freundliche Wohnungen, sich in der klaren Flut spiegelnd,
gleichsam zu baden scheinen; Ufer, mit begrünten Hügeln umgeben,
hinter denen Waldgebirge sind eisige Gletscherfirnen aufsteigen. Der
Farbenton solcher Szenen ist heiter, fröhlich-klar; die Fernen mit
milderndem Duft wie übergossen, der, nebelgrauer und einhüllender,
aus durchströmenden Gründen und Tälern hervorsteigt und ihre
Windungen andeutet. Nicht minder ist des Meisters Kunst zu loben in
Ansichten aus Tälern, näher am Hochgebirg gelegen, wo üppig
bewachsene Bergeshänge niedersteigen, frische Ströme sich am Fuß der
Felsen eilig fortwälzen.

Trefflich weiß er in mächtig schattenden Bäumen des Vordergrundes
den unterscheidenden Charakter verschiedener Arten so in Gestalt des
Ganzen wie in dem Gang der Zweige, den einzelnen Partien der Blätter
befriedigend anzudeuten; nicht weniger in dem auf mancherlei Weise
nuancierten frischen Grün, worin sanfte Lüfte mit gelindem Hauch zu
fächeln und die Lichter daher gleichsam bewegt erscheinen.

Im Mittelgrund ermattet allmählich der lebhafte grüne Ton und
vermählt sich auf entferntern Berghöhen schwach violett mit dem Blau
des Himmels. Doch unserm Künstler glücken über alles Darstellungen
höherer Alpgegenden; das einfach Große und Stille ihres Charakters,
die ausgedehnten Weiden am Bergeshang, mit dem frischesten Grün
überkleidet, wo dunkel einzeln stehende Tannen aus dem Rasenteppich
ragen und von hohen Felswänden sich schäumende Bäche stürzen. Mag er
die Weiden mit grasendem Rindvieh staffieren oder den engen, um
Felsen sich windenden Bergpfad mit beladenen Saumpferden und
Maultieren, er zeichnet alle gleich gut und geistreich; immer am
schicklichen Ort und nicht in zu großer Fülle angebracht, zieren und
beleben sie diese Bilder, ohne ihre ruhige Einsamkeit zu stören oder
auch nur zu mindern. Die Ausführung zeugt von der kühnsten
Meisterhand, leicht mit wenigen sichern Strichen und doch vollendet.
Er bediente sich später englischer glänzender Permanentfarben auf
Papier, daher sind diese Gemälde von vorzüglich blühendem Farbenton,
heiter, aber zugleich kräftig und gesättigt.

Seine Abbildungen tiefster Felsschluchten, wo um und um nur totes
Gestein starrt, im Abgrund, von kühner Brücke übersprungen, der wilde
Strom tobt, gefallen zwar nicht wie die vorigen, doch ergreift uns
ihre Wahrheit; wir bewundern die große Wirkung des Ganzen, durch
wenige bedeutende Striche und Massen von Lokalfarben mit dem
geringsten Aufwand hervorgebracht.

Ebenso charakteristisch weiß er die Gegenden des Hochgebirges
darzustellen, wo weder Baum noch Gesträuch mehr fortkommt, sondern
nur zwischen Felszacken und Schneegipfeln sonnige Flächen mit zartem
Rasen sich bedecken. So schön und gründuftig und einladend er
dergleichen Stellen auch koloriert, so sinnig hat er doch unterlassen,
hier mit weidenden Herden zu staffieren, denn diese Gegenden geben
nur Futter den Gemsen, und Wildheuern einen gefahrvollen Erwerb."





Wir entfernen uns nicht von der Absicht, unsern Lesern den Zustand
solcher wilden Gegenden so nah als möglich zu bringen, wenn wir das
eben gebrauchte Wort Wildheuer mit wenigem erklären. Man bezeichnet
damit ärmere Bewohner der Hochgebirge, welche sich unterfangen, auf
Grasplätzen, die für das Vieh schlechterdings unzugänglich sind, Heu
zu machen. Sie ersteigen deswegen, mit Steigehaken an den Füßen, die
steilsten, gefährlichsten Klippen, oder lassen sich, wo es nötig ist,
von hohen Felswänden an Stricken auf die besagten Grasplätze herab.
Ist nun das Gras von ihnen geschlagen und zu Heu getrocknet, so
werfen sie solches von den Höhen in tiefere Talgründe herab, wo
dasselbe, wieder gesammelt, an Viehbesitzer verkauft wird, die es der
vorzüglichen Beschaffenheit wegen gern erhandeln.





Jene Bilder, die zwar einen jeden erfreuen und anziehen müßten,
betrachtete Hilarie besonders mit großer Aufmerksamkeit; ihre
Bemerkungen gaben zu erkennen, daß sie selbst diesem Fache nicht
fremd sei; am wenigsten blieb dies dem Künstler verborgen, der sich
von niemand lieber erkannt gesehen hätte als gerade von dieser
anmutigsten aller Personen. Die ältere Freundin schwieg daher nicht
länger, sondern tadelte Hilarien, daß sie mit ihrer eigenen
Geschicklichkeit hervorzutreten auch diesmal, wie immer, zaudere; hier
sei die Frage nicht, gelobt oder getadelt zu werden, sondern zu
lernen. Eine schönere Gelegenheit finde sich vielleicht nicht wieder.


Nun zeigte sich erst, als sie genötigt war, ihre Blätter vorzuweisen,
welch ein Talent hinter diesem stillen, zierlichsten Wesen verborgen
liege; die Fähigkeit war eingeboren, fleißig geübt. Sie besaß ein
treues Auge, eine reinliche Hand, wie sie Frauen bei ihren sonstigen
Schmuck--und Putzarbeiten zu höherer Kunst befähigt. Man bemerkte
freilich Unsicherheit in den Strichen und deshalb nicht hinlänglich
ausgesprochenen Charakter der Gegenstände, aber man bewunderte
genugsam die fleißigste Ausführung; dabei jedoch das Ganze nicht aufs
vorteilhafteste gefaßt, nicht künstlerisch zurechtgerückt. Sie
fürchtet, so scheint es, den Gegenstand zu entweihen, bliebe sie ihm
nicht vollkommen getreu, deshalb ist sie ängstlich und verliert sich
im Detail.

Nun aber fühlt sie sich durch das große, freie Talent, die dreiste
Hand des Künstlers aufgeregt, erweckt, was von Sinn und Geschmack in
ihr treulich schlummerte; es geht ihr auf, daß sie nur Mut fassen,
einige Hauptmaximen, die ihr der Künstler gründlich,
freundlich-dringend, wiederholt überlieferte, ernst und sträcklich
befolgen müsse. Die Sicherheit des Striches findet sich ein, sie hält
sich allmählich weniger an die Teile als ans Ganze, und so schließt
sich die schönste Fähigkeit unvermutet zur Fertigkeit auf: wie eine
Rosenknospe, an der wir noch abends unbeachtend vorübergingen,
morgens mit Sonnenaufgang vor unsern Augen hervorbricht, so daß wir
das lebende Zittern, das die herrliche Erscheinung dem Lichte
entgegenregt, mit Augen zu schauen glauben.

Auch nicht ohne sittliche Nachwirkung war eine solche ästhetische
Ausbildung geblieben: denn einen magischen Eindruck auf ein reines
Gemüt bewirkt das Gewahrwerden der innigsten Dankbarkeit gegen irgend
jemand, dem wir entscheidende Belehrung schuldig sind. Diesmal war es
das erste frohe Gefühl, das in Hilariens Seele nach geraumer Zeit
hervortrat. Die herrliche Welt erst tagelang vor sich zu sehen und
nun die auf einmal verliehene vollkommenere Darstellungsgabe zu
empfinden! Welche Wonne, in Zügen und Farben dem Unaussprechlichen
näher zu treten! Sie fühlte sich mit einer neuen Jugend überrascht
und konnte sich eine besondere Anneigung zu jenem, dem sie dies Glück
schuldig geworden, nicht versagen.

So saßen sie nebeneinander; man hätte nicht unterscheiden können,
wer hastiger, Kunstvorteile zu überliefern oder sie zu ergreifen und
auszuüben, gewesen wäre. Der glücklichste Wettstreit, wie er sich
selten zwischen Schüler und Meister entzündet, tat sich hervor.
Manchmal schien der Freund auf ihr Blatt mit einem entscheidenden Zuge
einwirken zu wollen, sie aber, sanft ablehnend, eilte, gleich das
Gewünschte, das Notwendige zu tun, und immer zu seinem Erstaunen.

Der letzte Abend war nun herangekommen, und ein hervorleuchtender,
klarster Vollmond ließ den übergang von Tag zu Nacht nicht empfinden.
Die Gesellschaft hatte sich zusammen auf einer der höchsten
Terrassen gelagert, den ruhigen, von allen Seiten her erleuchteten und
rings widerglänzenden See, dessen Länge sich zum Teil verbarg, seiner
Breite nach ganz und klar zu überschauen.

Was man nun auch in solchen Zuständen besprechen mochte, so war doch
nicht zu unterlassen, das hundertmal Besprochene, die Vorzüge dieses
Himmels, dieses Wassers, dieser Erde, unter dem Einfluß einer
gewaltigern Sonne, eines mildern Mondes nochmals zu bereden, ja sie
ausschließlich und lyrisch anzuerkennen.

Was man sich aber nicht gestand, was man sich kaum selbst bekennen
mochte, war das tiefe, schmerzliche Gefühl, das in jedem Busen
stärker oder schwächer, durchaus aber gleich wahr und zart sich
bewegte. Das Vorgefühl des Scheidens verbreitete sich über die
Gesamtheit; ein allmähliches Verstummen wollte fast ängstlich werden.

Da ermannte, da entschloß sich der Sänger, auf seinem Instrumente
kräftig präludierend, uneingedenk jener früheren wohlbedachten
Schonung. Ihm schwebte Mignons Bild mit dem ersten Zartgesang des
holden Kindes vor. Leidenschaftlich über die Grenze gerissen, mit
sehnsüchtigem Griff die wohlklingenden Saiten aufregend, begann er
anzustimmen:



"Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunklen Laub---"




Hilarie stand erschüttert auf und entfernte sich, die Stirne
verschleiernd; unsere schöne Witwe bewegte ablehnend eine Hand gegen
den Sänger, indem sie mit der andern Wilhelms Arm ergriff. Hilarien
folgte der wirklich verworrene Jüngling, Wilhelmen zog die mehr
besonnene Freundin hinter beiden drein. Und als sie nun alle viere
im hohen Mondschein sich gegenüberstanden, war die allgemeine Rührung
nicht mehr zu verhehlen. Die Frauen warfen sich einander in die Arme,
die Männer umhalsten sich, und Luna ward Zeuge der edelsten,
keuschesten Tränen. Einige Besinnung kehrte langsam erst zurück, man
zog sich auseinander, schweigend, unter seltsamen Gefühlen und
Wünschen, denen doch die Hoffnung schon abgeschnitten war. Nun
fühlte sich unser Künstler, welchen der Freund mit sich riß, unter
dem hehren Himmel, in der ernst-lieblichen Nachtstunde, eingeweiht in
alle Schmerzen des ersten Grades der Entsagenden, welchen jene
Freunde schon überstanden hatten, nun aber sich in Gefahr sahen,
abermals schmerzlich geprüft zu werden.

Spät hatten sich die Jünglinge zur Ruhe begeben, und am frühen
Morgen zeitig erwachend, faßten sie ein Herz und glaubten sich stark
zu einem Abschied aus diesem Paradiese, ersannen mancherlei Plane,
wie sie ohne Pflichtverletzung in der angenehmen Nähe zu verharren
allenfalls möglich machten.

Ihre Vorschläge deshalb gedachten sie anzubringen, als die Nachricht
sie überraschte, schon beim frühsten Scheine des Tages seien die
Damen abgefahren. Ein Brief von der Hand unserer Herzenskönigin
belehrte sie des Weitern. Man konnte zweifelhaft sein, ob mehr
Verstand oder Güte, mehr Neigung oder Freundschaft, mehr Anerkennung
des Verdienstes oder leises, verschämtes Vorurteil darin
ausgesprochen sei. Leider enthielt der Schluß die harte Forderung,
daß man den Freundinnen weder folgen noch sie irgendwo aufsuchen, ja,
wenn man sich zufällig begegnete, einander treulich ausweichen wolle.

Nun war das Paradies wie durch einen Zauberschlag für die Freunde
zur völligen Wüste gewandelt; und gewiß hätten sie selbst gelächelt,
wäre ihnen in dem Augenblick klar geworden, wie ungerecht-undankbar
sie sich auf einmal gegen eine so schöne, so merkwürdige Umgebung
verhielten. Kein selbstsüchtiger Hypochondrist würde so scharf und
scheelsüchtig den Verfall der Gebäude, die Vernachlässigung der Mauern,
das Verwittern der Türme, den Grasüberzug der Gänge, das Aussterben
der Bäume, das vermoosende Vermodern der Kunstgrotten, und was noch
alles dergleichen zu bemerken wäre, gerügt und gescholten haben. Sie
faßten sich indes, so gut es sich fügen wollte; unser Künstler packte
sorgfältig seine Arbeit zusammen, sie schifften beide sich ein,
Wilhelm begleitete ihn bis in die obere Gegend des Sees, wo jener nach
früherer Verabredung seinen Weg zu Natalien suchte, um sie durch die
schönen landschaftlichen Bilder in Gegenden zu versetzen, die sie
vielleicht so bald nicht betreten sollte. Berechtigt ward er zugleich,
den unerwarteten Fall bekennend vorzutragen, wodurch er in die Lage
geraten, von den Bundesgliedern des Entsagens aufs freundlichste in
die Mitte genommen und durch liebevolle Behandlung, wo nicht geheilt,
doch getröstet zu werden. Lenardo an Wilhelm

Ihr Schreiben, mein Teuerster, traf mich in einer Tätigkeit, die ich
Verwirrung nennen könnte, wenn der Zweck nicht so groß, das Erlangen
nicht so sicher wäre. Die Verbindung mit den Ihrigen ist wichtiger,
als beide Teile sich denken konnten. Darüber darf ich nicht anfangen
zu schreiben, weil sich gleich hervortut, wie unübersehbar das Ganze,
wie unaussprechlich die Verknüpfung. Tun ohne Reden muß jetzt unsre
Losung sein. Tausend Dank, daß Sie mir auf ein so anmutiges
Geheimnis halb verschleiert in die Ferne hindeuten; ich gönne dem
guten Wesen einen so einfach glücklichen Zustand, indessen mich ein
Wirbel von Verschlingungen, doch nicht ohne Leitstern, umhertreiben
wird. Der Abbé übernimmt, das Weitere zu vermelden, ich darf nur
dessen gedenken, was fördert; die Sehnsucht verschwindet im Tun und
Wirken. Sie haben mich--und hier nicht weiter; wo genug zu schaffen
ist, bleibt kein Raum für Betrachtung. Der Abbé an Wilhelm

Wenig hätte gefehlt, so wäre Ihr wohlgemeinter Brief, ganz Ihrer
Absicht entgegen, uns höchst schädlich geworden. Die Schilderung der
Gefundenen ist so gemütlich und reizend, daß, um sie gleichfalls
aufzufinden, der wunderliche Freund vielleicht alles hätte stehen und
liegen lassen, wären unsre nunmehr verbündeten Plane nicht so groß
und weitaussehend. Nun aber hat er die Probe bestanden, und es
bestätigt sich, daß er von der wichtigen Angelegenheit völlig
durchdrungen ist und sich von allem andern ab--und allein dorthin
gezogen fühlt.

In diesem unserm neuen Verhältnis, dessen Einleitung wir Ihnen
verdanken, ergaben sich bei näherer Untersuchung für jene wie für uns
weit größere Vorteile, als man gedacht hätte.

Denn gerade durch eine von der Natur weniger begünstigte Gegend, wo
ein Teil der Güter gelegen ist, die ihm der Oheim abtritt, ward in
der neuern Zeit ein Kanal projektiert, der auch durch unsere
Besitzungen sich ziehen wird und wodurch, wenn wir uns aneinander
schließen, sich der Wert derselben ins Unberechenbare erhöht.

Hierbei kann er seine Hauptneigung, ganz von vorne anzufangen, sehr
bequem entwickeln. Zu beiden Seiten jener Wasserstraße wird
unbebautes und unbewohntes Land genugsam zu finden sein; dort mögen
Spinnerinnen und Weberinnen sich ansiedeln, Maurer, Zimmerleute und
Schmiede sich und ihnen mäßige Werkstätten bestellen; alles mag durch
die erste Hand verrichtet werden, indessen wir andern die
verwickelten Aufgaben zu lösen unternehmen und den Umschwung der
Tätigkeit zu befördern wissen.

Dieses ist also die nächste Aufgabe unsers Freundes. Aus den
Gebirgen vernimmt man Klagen über Klagen, wie dort Nahrungslosigkeit
überhandnehme; auch sollen jene Strecken im übermaß bevölkert sein.
Dort wird er sich umsehen, Menschen und Zustände beurteilen und die
wahrhaft Tätigen, sich selbst und andern Nützlichen in unsern Zug mit
aufnehmen.

Ferner hab' ich von Lothario zu berichten, er bereitet den völligen
Abschluß vor. Eine Reise zu den Pädagogen hat er unternommen, um
sich tüchtige Künstler, nur sehr wenige, zu erbitten. Die Künste
sind das Salz der Erde; wie dieses zu den Speisen, so verhalten sich
jene zu der Technik. Wir nehmen von der Kunst nicht mehr auf als nur,
daß das Handwerk nicht abgeschmackt werde.

Im ganzen wird zu jener pädagogischen Anstalt uns eine dauernde
Verbindung höchst nützlich und nötig werden. Wir müssen tun und
dürfen ans Bilden nicht denken; aber Gebildete heranzuziehen ist
unsre höchste Pflicht.

Tausend und aber tausend Betrachtungen schließen sich hier an;
erlauben Sie mir nach unsrer alten Weise nur noch ein allgemeines
Wort, veranlaßt durch eine Stelle Ihres Briefes an Lenardo. Wir
wollen der Hausfrömmigkeit das gebührende Lob nicht entziehen: auf ihr
gründet sich die Sicherheit des Einzelnen, worauf zuletzt denn auch
die Festigkeit und Würde des Ganzen beruhen mag; aber sie reicht
nicht mehr hin, wir müssen den Begriff einer Weltfrömmigkeit fassen,
unsre redlich menschlichen Gesinnungen in einen praktischen Bezug ins
Weite setzen und nicht nur unsre Nächsten fördern, sondern zugleich
die ganze Menschheit mitnehmen.

Um nun zuletzt Ihres Gesuches zu erwähnen, sag' ich so viel: Montan
hat es zu rechter Zeit bei uns angebracht. Der wunderliche Mann
wollte durchaus nicht erklären, was Sie eigentlich vorhätten, doch er
gab sein Freundeswort, daß es verständig und, wenn es gelänge, der
Gesellschaft höchst nützlich sein würde. Und so ist Ihnen verziehen,
daß Sie in Ihrem Schreiben gleichfalls ein Geheimnis davon machen.
Genug, Sie sind von aller Beschränktheit entbunden, wie es Ihnen
schon zugekommen sein sollte, wäre uns Ihr Aufenthalt bekannt gewesen.
Deshalb wiederhol' ich im Namen aller: Ihr Zweck, obschon
unausgesprochen, wird im Zutrauen auf Montan und Sie gebilligt.
Reisen Sie, halten Sie sich auf, bewegen Sie sich, verharren Sie! was
Ihnen gelingt, wird recht sein; möchten Sie sich zum notwendigsten
Glied unsrer Kette bilden.

Ich lege zum Schluß ein Täfelchen bei, woraus Sie den beweglichen
Mittelpunkt unsrer Kommunikationen erkennen werden. Sie finden darin
vor Augen gestellt, wohin Sie zu jeder Jahrszeit Ihre Briefe zu
senden haben; am liebsten sehen wir's durch sichere Boten, deren Ihnen
genugsame an mehreren Orten angedeutet sind. Ebenso finden Sie durch
Zeichen bemerkt, wo Sie einen oder den andern der Unsrigen
aufzusuchen haben.









Zwischenrede

Hier aber finden wir uns in dem Falle, dem Leser eine Pause und zwar
von einigen Jahren anzukündigen, weshalb wir gern, wäre es mit der
typographischen Einrichtung zu verknüpfen gewesen, an dieser Stelle
einen Band abgeschlossen hätten.

Doch wird ja wohl auch der Raum zwischen zwei Kapiteln genügen, um
sich über das Maß gedachter Zeit hinwegzusetzen, da wir längst
gewohnt sind, zwischen dem Sinken und Steigen des Vorhangs in unserer
persönlichen Gegenwart dergleichen geschehen zu lassen.

Wir haben in diesem zweiten Buche die Verhältnisse unsrer alten
Freunde bedeutend steigern sehen und zugleich frische Bekanntschaften
gewonnen; die Aussichten sind derart, daß zu hoffen steht, es werde
allen und jeden, wenn sie sich ins Leben zu finden wissen, ganz
erwünscht geraten. Erwarten wir also zunächst, einen nach dem andern,
sich verflechtend und entwindend, auf gebahnten und ungebahnten Wegen
wiederzufinden.









Achtes Kapitel

Suchen wir nun unsern seit einiger Zeit sich selbst überlassenen
Freund wieder auf, so finden wir ihn, wie er von seiten des flachen
Landes her in die pädagogische Provinz hineintritt. Er kommt über
Auen und Wiesen, umgeht auf trocknem Anger manchen kleinen See,
erblickt mehr bebuschte als waldige Hügel, überall freie Umsicht über
einen wenig bewegten Boden. Auf solchen Pfaden blieb ihm nicht lange
zweifelhaft, er befinde sich in der pferdenährenden Region, auch
gewahrte er hie und da kleinere und größere Herden dieses edlen Tiers,
verschiedenen Geschlechts und Alters. Auf einmal aber bedeckt sich
der Horizont mit einer furchtbaren Staubwolke, die, eiligst näher und
näher anschwellend, alle Breite des Raums völlig überdeckt, endlich
aber, durch frischen Seitenwind enthüllt, ihren innern Tumult zu
offenbaren genötigt ist.

In vollem Galopp stürzt eine große Masse solcher edlen Tiere heran,
sie werden durch reitende Hüter gelenkt und zusammengehalten. An dem
Wanderer sprengt das ungeheure Gewimmel vorbei, ein schöner Knabe
unter den begleitenden Hütern blickt ihn verwundert an, pariert,
springt ab und umarmt den Vater.

Nun geht es an ein Fragen und Erzählen; der Sohn berichtet, daß er
in der ersten Prüfungszeit viel ausgestanden, sein Pferd vermißt und
auf äckern und Wiesen sich zu Fuß herumgetrieben; da er sich denn
auch an dem stillen, mühseligen Landleben, wie er voraus protestiert,
nicht sonderlich erwiesen; das Erntefest habe ihm zwar ganz wohl, das
Bestellen hintendrein, Pflügen, Graben und Abwarten keineswegs
gefallen, mit den notwendigen und nutzbaren Haustieren habe er sich
zwar, doch immer lässig und unzufrieden beschäftigt, bis er denn zur
lebhafteren Reiterei endlich befördert worden. Das Geschäft, die
Stuten und Fohlen zu hüten, sei mitunter zwar langweilig genug,
indessen wenn man ein muntres Tierchen vor sich sehe, das einen
vielleicht in drei, vier Jahren lustig davontrüge, so sei es doch ein
ganz anderes Wesen, als sich mit Kälbern und Ferkeln abzugeben, deren
Lebenszweck dahinaus gehe, wohl gefüttert und angefettet
fortgeschafft zu werden.

Mit dem Wachstum des Knaben, der sich wirklich zum Jüngling
heranstreckte, seiner gesunden Haltung, einem gewissen frei-heitern,
um nicht zu sagen geistreichen Gespräche konnte der Vater wohl
zufrieden sein. Beide folgten reitend nunmehr eilig der eilenden
Herde, bei einsam gelegenen weitläufigen Gehöften vorüber, zu dem Ort
oder Flecken, wo das große Marktfest gehalten ward. Dort wühlt ein
unglaubliches Getümmel durcheinander, und man wüßte nicht zu
unterscheiden, ob Ware oder Käufer mehr Staub erregten. Aus allen
Landen treffen hier Kauflustige zusammen, um Geschöpfe edler Abkunft,
sorgfältiger Zucht sich zuzueignen. Alle Sprachen der Welt glaubt
man zu hören. Dazwischen tönt auch der lebhafte Schall wirksamster
Blasinstrumente, und alles deutet auf Bewegung, Kraft und Leben.

Unser Wanderer trifft nun den vorigen, schon bekannten Aufseher
wieder an, gesellt zu andern tüchtigen Männern, welche still und
gleichsam unbemerkt Zucht und Ordnung zu erhalten wissen. Wilhelm,
der hier abermals ein Beispiel ausschließlicher Beschäftigung und, wie
ihm bei aller Breite scheint, beschränkter Lebensleitung zu bemerken
glaubt, wünscht zu erfahren, worin man die Zöglinge sonst noch zu
üben pflege, um zu verhindern, daß bei so wilder, gewissermaßen roher
Beschäftigung, Tiere nährend und erziehend, der Jüngling nicht selbst
zum Tiere verwildere. Und so war ihm denn sehr lieb zu vernehmen,
daß gerade mit dieser gewaltsam und rauh scheinenden Bestimmung die
zarteste von der Welt verknüpft sei: Sprachübung und Sprachbildung.

In dem Augenblick vermißte der Vater den Sohn an seiner Seite, er
sah ihn zwischen den Lücken der Menge durch mit einem jungen
Tabulettkrämer über Kleinigkeiten eifrig handeln und feilschen. In
kurzer Zeit sah er ihn gar nicht mehr. Als nun der Aufseher nach der
Ursache einer gewissen Verlegenheit und Zerstreuung fragte und dagegen
vernahm, daß es den Sohn gelte: "Lassen Sie es nur", sagte er zur
Beruhigung des Vaters, "er ist unverloren; damit Sie aber sehen, wie
wir die Unsrigen zusammenhalten", stieß er mit Gewalt in ein
Pfeifchen, das an seinem Busen hing, in dem Augenblick antwortete es
dutzendweise von allen Seiten. Der Mann fuhr fort: "jetzt lass' ich
es dabei bewenden, es ist nur ein Zeichen, daß der Aufseher in der
Nähe ist und ungefähr wissen will, wie viel ihn hören. Auf ein
zweites Zeichen sind sie still, aber bereiten sich, auf das dritte
antworten sie und stürzen herbei. übrigens sind diese Zeichen auf gar
mannigfaltige Weise vervielfältigt und von besonderem Nutzen."

Auf einmal hatte sich um sie her ein freierer Raum gebildet, man
konnte freier sprechen, indem man gegen die benachbarten Höhen
spazierte. "Zu jenen Sprachübungen", fuhr der Aufsehende fort,
"wurden wir dadurch bestimmt, daß aus allen Weltgegenden Jünglinge
sich hier befinden. Um nun zu verhüten, daß sich nicht, wie in der
Fremde zu geschehen pflegt, die Landsleute vereinigen und, von den
übrigen Nationen abgesondert, Parteien bilden, so suchen wir durch
freie Sprachmitteilung sie einander zu nähern.

Am notwendigsten aber wird eine allgemeine Sprachübung, weil bei
diesem Festmarkte jeder Fremde in seinen eigenen Tönen und Ausdrücken
genugsame Unterhaltung, beim Feilschen und Markten aber alle
Bequemlichkeit gerne finden mag. Damit jedoch keine babylonische
Verwirrung, keine Verderbnis entstehe, so wird das Jahr über
monatweise nur eine Sprache im allgemeinen gesprochen, nach dem
Grundsatz, daß man nichts lerne außerhalb des Elements, welches
bezwungen werden soll.

Wir sehen unsere Schüler", sagte der Aufseher, "sämtlich als
Schwimmer an, welche mit Verwunderung im Elemente, das sie zu
verschlingen droht, sich leichter fühlen, von ihm gehoben und
getragen sind; und so ist es mit allem, dessen sich der Mensch
unterfängt.

Zeigt jedoch einer der Unsrigen zu dieser oder jener Sprache
besondere Neigung, so ist auch mitten in diesem tumultvoll
scheinenden Leben, das zugleich sehr viel ruhige, müßig-einsame, ja
langweilige Stunden bietet, für treuen und gründlichen Unterricht
gesorgt. Ihr würdet unsere reitenden Grammatiker, unter welchen
sogar einige Pedanten sind, aus diesen bärtigen und unbärtigen
Centauren wohl schwerlich herausfinden. Euer Felix hat sich zum
Italienischen bestimmt, und da, wie Ihr schon wißt, melodischer Gesang
bei unsern Anstalten durch alles durchgreift, so solltet Ihr ihn in
der Langweile des Hüterlebens gar manches Lied zierlich und
gefühlvoll vortragen hören. Lebenstätigkeit und Tüchtigkeit ist mit
auslangendem Unterricht weit verträglicher, als man denkt."

Da eine jede Region ihr eigenes Fest feiert, so führte man den Gast
zum Bezirk der Instrumentalmusik. Dieser, an die Ebene grenzend,
zeigte schon freundlich und zierlich abwechselnde Täler, kleine
schlanke Wälder, sanfte Bäche, an deren Seite hie und da ein bemooster
Fels hervortrat. Zerstreute, umbuschte Wohnungen erblickte man auf
den Hügeln, in sanften Gründen drängten sich die Häuser näher
aneinander. Jene anmutig vereinzelten Hütten lagen so weit
auseinander, daß weder Töne noch Mißtöne sich wechselseitig erreichen
konnten.

Sie näherten sich sodann einem weiten, rings umbauten und
umschatteten Raume, wo Mann an Mann gedrängt mit großer
Aufmerksamkeit und Erwartung gespannt schienen. Eben als der Gast
herantrat, ward eine mächtige Symphonie aller Instrumente aufgeführt,
deren vollständige Kraft und Zartheit er bewundern mußte. Dem
geräumig erbauten Orchester gegenüber stand ein kleineres, welches zu
besonderer Betrachtung Anlaß gab; auf demselben befanden sich jüngere
und ältere Schüler, jeder hielt sein Instrument bereit, ohne zu
spielen; es waren diejenigen, die noch nicht vermochten oder nicht
wagten, mit ins Ganze zu greifen. Mit Anteil bemerkte man, wie sie
gleichsam auf dem Sprunge standen, und hörte rühmen: ein solches Fest
gehe selten vorüber, ohne daß ein oder das andere Talent sich
plötzlich entwickele.

Da nun auch Gesang zwischen den Instrumenten sich hervortat, konnte
kein Zweifel übrigbleiben, daß auch dieser begünstigt werde. Auf
eine Frage sodann, was noch sonst für eine Bildung sich hier
freundlich anschließe, vernahm der Wanderer: die Dichtkunst sei es,
und zwar von der lyrischen Seite. Hier komme alles darauf an, daß
beide Künste, jede für sich und aus sich selbst, dann aber gegen--und
miteinander entwickelt werde. Die Schüler lernen eine wie die andre
in ihrer Bedingtheit kennen; sodann wird gelehrt, wie sie sich
wechselsweise bedingen und sich sodann wieder wechselseitig befreien.

Der poetischen Rhythmik stellt der Tonkünstler Takteinteilung und
Taktbewegung entgegen. Hier zeigt sich aber bald die Herrschaft der
Musik über die Poesie; denn wenn diese, wie billig und notwendig,
ihre Quantitäten immer so rein als möglich im Sinne hat, so sind für
den Musiker wenig Silben entschieden lang oder kurz; nach Belieben
zerstört dieser das gewissenhafteste Verfahren des Rhythmikers, ja
verwandelt sogar Prosa in Gesang, wo dann die wunderbarsten
Möglichkeiten hervortreten, und der Poet würde sich gar bald
vernichtet fühlen, wüßte er nicht von seiner Seite durch lyrische
Zartheit und Kühnheit dem Musiker Ehrfurcht einzuflößen und neue
Gefühle, bald in sanftester Folge, bald durch die raschesten
übergänge, hervorzurufen.

Die Sänger, die man hier findet, sind meist selbst Poeten. Auch der
Tanz wird in seinen Grundzügen gelehrt, damit sich alle diese
Fertigkeiten über sämtliche Regionen regelmäßig verbreiten können.

Als man den Gast über die nächste Grenze führte, sah er auf einmal
eine ganz andere Bauart. Nicht mehr zerstreut waren die Häuser,
nicht mehr hüttenartig; sie zeigten sich vielmehr regelmäßig, bequem
und zierlich von innen; man ward hier einer unbeengten, wohlgebauten,
der Gegend angemessenen Stadt gewahr. Hier sind bildende Kunst und
die ihr verwandten Handwerke zu Hause, und eine ganz eigene Stille
herrscht über diesen Räumen.

Der bildende Künstler denkt sich zwar immer in Bezug auf alles, was
unter den Menschen lebt und webt, aber sein Geschäft ist einsam, und
durch den sonderbarsten Widerspruch verlangt vielleicht kein anderes
so entschieden lebendige Umgebung. Hier nun bildet jeder im stillen,
was bald für immer die Augen der Menschen beschäftigen soll; eine
Feiertagsruhe waltet über dem ganzen Ort, und hätte man nicht hie und
da das Picken der Steinhauer oder abgemessene Schläge der Zimmerleute
vernommen, die soeben emsig beschäftigt waren, ein herrliches Gebäude
zu vollenden, so wäre die Luft von keinem Ton bewegt gewesen.

Unserm Wanderer fiel der Ernst auf, die wunderbare Strenge, mit
welcher sowohl Anfänger als Fortschreitende behandelt wurden; es
schien, als wenn keiner aus eigner Macht und Gewalt etwas leistete,
sondern als wenn ein geheimer Geist sie alle durch und durch belebte,
nach einem einzigen großen Ziele hinleitend. Nirgends erblickte man
Entwurf und Skizze, jeder Strich war mit Bedacht gezogen, und als
sich der Wanderer von dem Führer eine Erklärung des ganzen Verfahrens
erbat, äußerte dieser: die Einbildungskraft sei ohnehin ein vages,
unstätes Vermögen, während das ganze Verdienst des bildenden Künstlers
darin bestehe, daß er sie immer mehr bestimmen, festhalten, ja
endlich bis zur Gegenwart erhöhen lerne.

Man erinnerte an die Notwendigkeit sicherer Grundsätze in andern
Künsten. "Würde der Musiker einem Schüler vergönnen, wild auf den
Saiten herumzugreifen oder sich gar Intervalle nach eigner Lust und
Belieben zu erfinden? Hier wird auffallend, daß nichts der Willkür
des Lernenden zu überlassen sei; das Element, worin er wirken soll,
ist entschieden gegeben, das Werkzeug, das er zu handhaben hat, ist
ihm eingehändigt, sogar die Art und Weise, wie er sich dessen
bedienen soll, ich meine den Fingerwechsel, findet er vorgeschrieben,
damit ein Glied dem andern aus dem Wege gehe und seinem Nachfolger den
rechten Weg bereite; durch welches gesetzliche Zusammenwirken denn
zuletzt allein das Unmögliche möglich wird.

Was uns aber zu strengen Forderungen, zu entschiedenen Gesetzen am
meisten berechtigt, ist: daß gerade das Genie, das angeborne Talent
sie am ersten begreift, ihnen den willigsten Gehorsam leistet. Nur
das Halbvermögen wünschte gern seine beschränkte Besonderheit an die
Stelle des unbedingten Ganzen zu setzen und seine falschen Griffe,
unter Vorwand einer unbezwinglichen Originalität und
Selbstständigkeit zu beschönigen. Das lassen wir aber nicht gelten,
sondern hüten unsere Schüler vor allen Mißtritten, wodurch ein großer
Teil des Lebens, ja manchmal das ganze Leben verwirrt und zerpflückt
wird.

Mit dem Genie haben wir am liebsten zu tun, denn dieses wird eben
von dem guten Geiste beseelt, bald zu erkennen, was ihm nutz ist. Es
begreift, daß Kunst eben darum Kunst heiße, weil sie nicht Natur ist.
Es bequemt sich zum Respekt, sogar vor dem, was man konventionell
nennen könnte: denn was ist dieses anders, als daß die vorzüglichsten
Menschen übereinkamen, das Notwendige, das Unerläßliche für das Beste
zu halten; und gereicht es nicht überall zum Glück?

Zur großen Erleichterung für die Lehrer sind auch hier, wie überall
bei uns, die drei Ehrfurchten und ihre Zeichen mit einiger Abänderung,
der Natur des obwaltenden Geschäfts gemäß, eingeführt und eingeprägt."

Den ferner umhergeleiteten Wanderer mußte nunmehr in Verwunderung
setzen, daß die Stadt sich immer zu erweitern, Straße aus Straße sich
zu entwickeln schien, mannigfaltige Ansichten gewährend. Das äußere
der Gebäude sprach ihre Bestimmung unzweideutig aus, sie waren würdig
und stattlich, weniger prächtig als schön. Den edlern und ernsteren
in Mitte der Stadt schlossen sich die heitern gefällig an, bis zuletzt
zierliche Vorstädte anmutigen Stils gegen das Feld sich hinzogen und
endlich als Gartenwohnungen zerstreuten.

Der Wanderer konnte nicht unterlassen, hier zu bemerken, daß die
Wohnungen der Musiker in der vorigen Region keineswegs an Schönheit
und Raum den gegenwärtigen zu vergleichen seien, welche Maler,
Bildhauer und Baumeister bewohnen. Man erwiderte ihm, dies liege in
der Natur der Sache. Der Musikus müsse immer in sich selbst gekehrt
sein, sein Innerstes ausbilden, um es nach außen zu wenden. "Dem
Sinne des Auges hat er nicht zu schmeicheln. Das Auge bevorteilt gar
leicht das Ohr und lockt den Geist von innen nach außen. Umgekehrt
muß der bildende Künstler in der Außenwelt leben und sein Inneres
gleichsam unbewußt an und in dem Auswendigen manifestieren. Bildende
Künstler müssen wohnen wie Könige und Götter, wie wollten sie denn
sonst für Könige und Götter bauen und verzieren? Sie müssen sich
zuletzt dergestalt über das Gemeine erheben, daß die ganze
Volksgemeinde in und an ihren Werken sich veredelt fühle."

Sodann ließ unser Freund sich ein anderes Paradoxon erklären: warum
gerade in diesen festlichen, andere Regionen so belebenden,
tumultuarisch erregten Tagen hier die größte Stille herrsche und das
Arbeiten nicht auch ausgesetzt werde?

"Ein bildender Künstler", hieß es, "bedarf keines Festes, ihm ist
das ganze Jahr ein Fest. Wenn er etwas Treffliches geleistet hat, es
steht nach wie vor seinem Aug' entgegen, dem Auge der ganzen Welt.
Da bedarf es keiner Wiederholung, keiner neuen Anstrengung, keines
frischen Gelingens, woran sich der Musiker immerfort abplagt, dem
daher das splendideste Fest innerhalb des vollzähligsten Kreises zu
gönnen ist."









"Man sollte aber doch", versetzte Wilhelm, "in diesen Tagen eine
Ausstellung belieben, wo die dreijährigen Fortschritte der bravesten
Zöglinge mit Vergnügen zu beschauen und zu beurteilen wären."

"An anderen Orten", versetzte man, "mag eine Ausstellung sich nötig
machen, bei uns ist sie es nicht. Unser ganzes Wesen und Sein ist
Ausstellung. Sehen Sie hier die Gebäude aller Art, alle von
Zöglingen aufgeführt; freilich nach hundertmal besprochenen und
durchdachten Rissen: denn der Bauende soll nicht herumtasten und
versuchen; was stehenbleiben soll, muß recht stehen und, wo nicht für
die Ewigkeit, doch für geraume Zeit genügen. Mag man doch immer
Fehler begehen, bauen darf man keine.

Mit Bildhauern verfahren wir schon läßlicher, am läßlichsten mit
Malern, sie dürfen dies und jenes versuchen, beide in ihrer Art.
Ihnen steht frei, in den innern, an den äußern Räumen der Gebäude,
auf Plätzen sich eine Stelle zu wählen, die sie verzieren wollen.
Sie machen ihren Gedanken kund, und wenn er einigermaßen zu billigen
ist, so wird die Ausführung zugestanden, und zwar auf zweierlei Weise,
entweder mit Vergünstigung, früher oder später die Arbeit wegnehmen
zu dürfen, wenn sie dem Künstler selbst mißfiele, oder mit Bedingung,
das einmal Aufgestellte unabänderlich am Orte zu lassen. Die meisten
erwählen das erste und behalten sich jene Erlaubnis vor, wobei sie
immer am besten beraten sind. Der zweite Fall tritt seltner ein, und
man bemerkt, daß alsdann die Künstler sich weniger vertrauen, mit
Gesellen und Kennern lange Konferenzen halten und dadurch wirklich
schätzenswerte dauerwürdige Arbeiten hervorzubringen wissen."

Nach allem diesem versäumte Wilhelm nicht, sich zu erkundigen, was
für ein anderer Unterricht sich sonst noch anschließe, und man
gestand ihm, daß es die Dichtkunst, und zwar die epische sei.

Doch mußte dem Freunde dies sonderbar scheinen, als man hinzufügte:
es werde den Schülern nicht vergönnt, schon ausgearbeitete Gedichte
älterer und neuerer Dichter zu lesen oder vorzutragen; ihnen wird nur
eine Reihe von Mythen, überlieferungen und Legenden lakonisch
mitgeteilt. Nun erkennt man gar bald an malerischer oder poetischer
Ausführung das eigene Produktive des einer oder der andern Kunst
gewidmeten Talents. Dichter und Bildner, beide beschäftigen sich an
einer Quelle, und jeder sucht das Wasser nach seiner Seite, zu seinem
Vorteil hinzulenken, um nach Erfordernis eigne Zwecke zu erreichen;
welches ihm viel besser gelingt, als wenn er das schon Verarbeitete
nochmals umarbeiten wollte.

Der Reisende selbst hatte Gelegenheit, zu sehen, wie das vorging.
Mehrere Maler waren in einem Zimmer beschäftigt, ein munterer junger
Freund erzählte sehr ausführlich eine ganz einfache Geschichte, so
daß er fast ebenso viele Worte als jene Pinselstriche anwendete,
seinen Vortrag ebenfalls aufs rundeste zu vollenden.

Man versicherte, daß beim Zusammenarbeiten die Freunde sich gar
anmutig unterhielten und daß sich auf diesem Wege öfters
Improvisatoren entwickelten, welche großen Enthusiasmus für die
zwiefache Darstellung zu erregen wüßten.

Der Freund wendete nun seine Erkundigungen zur bildenden Kunst
zurück. "Ihr habt", so sprach er, "keine Ausstellung, also auch wohl
keine Preisaufgabe?"-- "Eigentlich nicht", versetzte jener, "hier
aber ganz in der Nähe können wir Euch sehen lassen, was wir für
nützlicher halten."

Sie traten in einen großen, von oben glücklich erleuchteten Saal;
ein weiter Kreis beschäftigter Künstler zeigte sich zuerst, aus
dessen Mitte sich eine kolossale Gruppe günstig aufgestellt erhob.
Männliche und weibliche Kraftgestalten in gewaltsamen Stellungen
erinnerten an jenes herrliche Gefecht zwischen Heldenjünglingen und
Amazonen, wo Haß und Feindseligkeit zuletzt sich in
wechselseitig-traulichen Beistand auflöst. Dieses merkwürdig
verschlungene Kunstwerk war von jedem Punkte ringsum gleich günstig
anzusehen. In einem weiten Umfang saßen und standen bildende Künstler,
jeder nach seiner Weise beschäftigt: der Maler an seiner Staffelei,
der Zeichner am Reißbrett; einige modellierten rund, einige flach
erhoben; ja sogar Baumeister entwarfen den Untersatz, worauf künftig
ein solches Kunstwerk gestellt werden sollte. Jeder Teilnehmende
verfuhr nach seiner Weise bei der Nachbildung, Maler und Zeichner
entwickelten die Gruppe zur Fläche, sorgfältig jedoch, sie nicht zu
zerstören, sondern so viel wie möglich beizubehalten. Ebenso wurden
die flacherhobenen Arbeiten behandelt. Nur ein einziger hatte die
ganze Gruppe in kleinerem Maßstabe wiederholt, und er schien das
Modell wirklich in gewissen Bewegungen und Gliederbezug übertroffen
zu haben.

Nun offenbarte sich, dies sei der Meister des Modells, der dasselbe
vor der Ausführung in Marmor hier einer nicht beurteilenden, sondern
praktischen Prüfung unterwarf und so alles, was jeder seiner
Mitarbeiter nach eigner Weise und Denkart daran gesehen, beibehalten
oder verändert, genau beobachtend bei nochmaligem Durchdenken zu
eignem Vorteil anzuwenden wußte; dergestalt, daß zuletzt, wenn das
hohe Werk in Marmor gearbeitet dastehen wird, obgleich nur von einem
unternommen, angelegt und ausgeführt, doch allen anzugehören scheinen
möge.

Die größte Stille beherrschte auch diesen Raum, aber der Vorsteher
erhob seine Stimme und rief: "Wer wäre denn hier, der uns in
Gegenwart dieses stationären Werkes mit trefflichen Worten die
Einbildungskraft dergestalt erregte, daß alles, was wir hier fixiert
sehen, wieder flüssig würde, ohne seinen Charakter zu verlieren, damit
wir uns überzeugen, daß, was der Künstler hier festgehalten, sei auch
das Würdigste?"

Namentlich aufgefordert von allen, verließ ein schöner Jüngling
seine Arbeit und begann heraustretend einen ruhigen Vortrag, worin er
das gegenwärtige Kunstwerk nur zu beschreiben schien, bald aber warf
er sich in die eigentliche Region der Dichtkunst, tauchte sich in die
Mitte der Handlung und beherrschte dies Element zur Bewunderung; nach
und nach steigerte sich seine Darstellung durch herrliche Deklamation
auf einen solchen Grad, daß wirklich die starre Gruppe sich um ihre
Achse zu bewegen und die Zahl der Figuren daran verdoppelt und
verdreifacht schien. Wilhelm stand entzückt und rief zuletzt: "Wer
will sich hier noch enthalten, zum eigentlichen Gesang und zum
rhythmischen Lied überzugehen!"

"Dies möcht' ich verbitten", versetzte der Aufseher; "denn wenn
unser trefflicher Bildhauer aufrichtig sein will, so wird er bekennen,


 


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